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Marietta

von Niekas
Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer, Übernatürlich / P12 / Gen
13.05.2020
13.05.2020
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Hey!
Das ist ein Beitrag zu Nymphens Challenge Superkräfte. Ich hatte die Nummer 57 und das habe ich daraus gemacht. Ich hoffe, es gefällt.



Der Hörsaal war schon gut gefüllt, aber einzelne Nachzügler trödelten noch auf dem Weg zu ihren Plätzen. Professor Hoffmann, ein Mann um die sechzig, schlängelte sich freundlich grüßend zwischen ihnen hindurch zu seinem Pult, wo Marietta bereits auf ihn wartete.
„Guten Morgen, Frau Jawinski“, sagte er und stellte seine Tasche auf dem Boden ab. „Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen gestern so spät geschrieben habe. Ich hoffe, die Mail hat Sie noch erreicht?“
„Natürlich, Herr Hoffmann“, sagte sie und deutete auf den PC. „Der Beamer zeigt jetzt die überarbeitete Präsentation.“
„Hervorragend. Wenn ich Sie nicht hätte, die jungen Leute, die so mit der Technik jonglieren.“ Er setzte seine Brille auf, griff nach der Maus und musterte den Bildschirm. „Wo muss ich noch gleich klicken, damit es losgeht? Ich weiß, ich frage das jedes Mal, aber ich bin ein alter Mann.“
Marietta griff nach seiner Hand, die auf der Maus lag, und bewegte den Cursor zum entsprechenden Symbol auf dem Bildschirm. „Genau da, dann geht es los.“
Er betrachtete ihre übereinandergelegten Hände und blinzelte. Eine kleine Falte erschien auf seiner Stirn. Marietta zog die Hand zurück und lächelte.
„Ich setze mich dann.“
„Ja, tun Sie das, Frau Jawinski“, sagte er, und vielleicht klang er ein wenig kühler als sonst. Marietta tat, als würde sie es nicht merken. Sie hatte ihn berühren müssen, wenn auch nicht aus dem Grund, den er jetzt vielleicht vermutete. Wenn er den wahren Grund gekannt hätte, wäre er beruhigt gewesen?
Während sie in die vorderste Sitzreihe schlüpfte, räusperte sich Professor Hoffmann an seinem Pult mehrmals, bis das Stimmengewirr im Hörsaal ein wenig verebbt war. „Ich wünsche Ihnen allen einen guten Morgen!“, sagte er und lächelte. „Wie Sie wissen, werden wir heute das Thema der letzten Sitzung fortsetzen. Wir sprachen über …“
Er verstummte. Langsam wandte er sich zur Wand hinter ihm, wo der Beamer die Titelseite seiner Präsentation an die Wand warf. Ökonomische Denkschulen: Die Neoklassik (Teil 2), stand dort.
„Herr Hoffmann?“, fragte ein junger Mann unter den Zuhörern ernst. „Stimmt etwas nicht?“
Der Professor wandte sich wieder nach vorn und sein Mund öffnete sich, aber er sagte nichts. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Hände begannen zu zittern.
Marietta stand auf. „Herr Hoffmann?“, fragte sie und gab sich alle Mühe, besorgt zu klingen. „Ist Ihnen nicht gut?“
Er starrte sie an, aber er brachte noch immer keinen Ton heraus.

*

Es war Vormittag und der Kirschbaum auf der Wiese vor den Hörsälen stand in voller Blüte. Marietta zupfte ein paar Blütenblätter von ihrem Ärmel und war gerade auf dem Weg zur U-Bahn, als ein junger Mann mit Vollbart zielstrebig auf sie zusteuerte.
„Hallo“, sagte er. „Ich bin Timo vom Campusradio und mache eine Umfrage zum Thema Regelstudienzeit. Würdest du mir kurz zwei Fragen dazu beantworten? Dauert nur eine Minute.“
Marietta lächelte. „Okay.“
„Perfekt!“ Timo drückte kurz auf dem tragbaren Aufnahmegerät herum, das er dabei hatte. „Im wievielten Semester bist du und wie weit bist du vom Abschluss noch entfernt?“
„Ich studiere BWL im vierten Semester und mache noch dieses Semester meinen Bachelor.“
Timo blinzelte kurz verwirrt. „So früh schon? Alle Achtung. Wie macht man das? Ich meine, dass höchstens Chuck Norris seinen Bachelor in der Regelstudienzeit schafft, ist ja schon sprichwörtlich geworden.“
„Ich konnte schon immer gut lernen. Ich sauge das Wissen förmlich auf, hat meine Mutter immer gesagt.“ Marietta lachte. „Das klingt jetzt hoffentlich nicht eingebildet.“
Timo machte eine nichtssagende Handbewegung und schaltete das Gerät ab. „Danke. Damit erübrigt sich die zweite Frage, ob du je in Zeitnot warst. Also war es das schon.“
„Das ging aber schnell.“ Sie lächelte. „Und das kommt in deine Reportage?“
„Jap. Ich schneide einen Haufen unterschiedlicher Aussagen hintereinander, als Campusumfrage. Der Beitrag läuft wahrscheinlich schon heute ab siebzehn Uhr, wenn du reinhören willst.“
„Heute noch? Da musst du ja schnell mit dem Schneiden sein.“
„Tja, Radio eben, immer aktuell.“ Er seufzte. „Ich wäre sogar früher fertig gewesen, wenn es nicht so verdammt schwierig gewesen wäre, zu dem Thema einen kurzen O-Ton von einem Prof zu kriegen. Normalerweise habe ich einfach Herrn Hoffmann gefragt, falls du den kennst – der hat sich immer Zeit genommen. Aber der ist im Moment verhindert.“
„Oh, ich saß in der Vorlesung, in der er diesen Zusammenbruch hatte“, sagte Marietta besorgt. „Aber das ist doch bestimmt schon zwei Monate her. Hat er sich noch nicht erholt?“
„Nein. Keiner weiß, was genau mit ihm los ist. Plötzliche Demenz oder so, habe ich gehört.“ Timo schüttelte den Kopf. „Ziemlich furchtbar. Na ja, deswegen habe ich jedenfalls um drei noch ein Gespräch mit einer anderen Professorin, die eingesprungen ist. Also, hat mich gefreut! Man sieht sich! Ich muss noch ein paar Stimmen sammeln.“
Er winkte und joggte hinüber zu einem Pärchen, das ein Stück weiter auf einer Mauer saß und frühstückte. Marietta sah ihm nach, schüttelte dann den Kopf und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Für Radio hatte sie sich nie interessiert. Sie mochte leicht lernen, aber man musste sich das Gedächtnis ja auch nicht mit überflüssigen Informationen zumüllen.

*

Marietta schloss die Wohnungstür auf. Drinnen unter der Garderobe lagen in einem Sammelsurium von Schuhen auch die Hauspantoffeln ihrer Mitbewohnerin Kathrin, also konnte die noch nicht zu Hause sein. Herrlich. In einer WG musste man ja die kostbaren Stunden nutzen, in denen man die Wohnung ganz für sich hatte.
Sie öffnete die etwas abgenutzte Tür ihres Zimmers und stellte ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab. Dann wandte sie sich um und musste einen Aufschrei unterdrücken. Auf ihrem Bett saß im Schneidersitz eine junge Frau, vielleicht noch jünger als Marietta und auffällig dürr, mit weit auseinanderstehenden Augen. Sie spielte konzentriert mit einer Switch.
„Was zum Teufel …“, begann Marietta und wich bis gegen den Schreibtisch zurück.
Die Frau hob den Kopf. „Oh, da bist du ja schon. Ich sollte mich wohl vorstellen. Ich bin Ina.“
„Du solltest … was?“
„Moment.“ Ina drückte auf einige Tasten, schaltete die Konsole aus und verstaute sie sorgfältig in ihrer Umhängetasche. „So. Jetzt können wir reden.“
Reden? Was in aller Welt machst du hier?“
„Ich habe auf dich gewartet.“
„Du bist in meine Wohnung eingebrochen!“
„Quasi“, gab Ina zu. „Ich wollte, dass wir ungestört sind. Das ist besser, glaub mir.“
„Besser? Was in aller Welt … Ich rufe die Polizei!“
„Es wäre für uns beide besser, wenn du das nicht tun würdest“, sagte Ina ernst.
Marietta lachte schrill. „Ist das eine Drohung?“
„Eigentlich nicht. Aber wenn ich das mit dir nicht zivilisiert klären kann, dann müssen wir andere Maßnahmen ergreifen.“ Ina überlegte kurz. „Das ist jetzt wahrscheinlich eine Drohung.“
„Maßnahmen ergreifen? Wer in aller Welt sind wir? Was …“
„Also, ich fange am besten von vorne an“, sagte Ina. „Es geht darum, dass wir auf dich aufmerksam geworden sind nach diesem Vorfall mit Professor Hoffmann.“
Marietta runzelte die Stirn. „Ich kenne ihn, ja. Er hatte vor zwei Monaten einen Zusammenbruch und …“
„Du brauchst mich nicht anzulügen“, sagte Ina. „Es gibt in deinem Umfeld etwas zu viele Menschen mit plötzlichem Gedächtnisverlust. Und ich kenne andere, die ähnliche Fähigkeiten haben wie du. Gedankenlesen, Gedächtnisse manipulieren … Erinnerungen allerdings mit einem Wimpernschlag komplett zu löschen, ist schon eine andere Hausnummer.“
Marietta wollte sagen, dass das alles Unsinn war, aber als sie Inas völlig nüchternen Blick sah, wusste sie, dass die ihr nicht glauben würde. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Nie hatte sie mit jemandem über ihre Fähigkeit gesprochen. Nicht damals, als man ihrer großen Schwester eine Rechtschreibschwäche attestiert hatte, weil sie in der zweiten Klasse keinen einzigen Buchstaben gekannt hatte und die vierjährige Marietta das ganze Alphabet. Nicht damals, als ihre Großmutter an Weihnachten zu weinen angefangen hatte, weil sie sich plötzlich nicht mehr an das Rezept für ihren vorzüglichen Mandelpudding erinnert hatte. Niemand hatte je Verdacht geschöpft. Wenn die Wahrheit nur absurd genug war, kam niemand darauf.
„Es nützt wohl nichts, es zu bestreiten“, murmelte sie.
„Nein“, gab Ina zu. „Aber meinetwegen kannst du mir erklären, wieso du Menschen das Leben zerstörst, indem du ihr Gedächtnis löschst. Nur, weil du es kannst?“
„Ich lösche es nicht“, sagte Marietta. „Ich sauge es auf.“
Inas Augen weiteten sich. „Natürlich. Das erklärt Einiges. Dann bist du also rücksichtslos und egozentrisch, aber wenigstens nicht sinnlos bösartig.“
„War das eine Beleidigung?“
„Nur eine Feststellung.“ Ina legte den Kopf schief und spielte am Trageriemen ihrer Tasche. „Darf ich also davon ausgehen, dass du nur studierst, damit du ein Zeugnis bekommst? Das entsprechende Wissen dürftest du dir ja auch ohne Studium aneignen können.“
„Natürlich“, sagte Marietta. „Aber ohne Zeugnis kommt man nirgendwo hin. Bürokratie ist lästig.“
„Und was machst du damit, wenn du fertig bist?“
„Ich hatte an Wirtschaftsspionage gedacht. Mal sehen.“
Ina überlegte einen Moment lang. „Ich kann dir einen Deal anbieten“, sagte sie dann. „Ich habe ein Händchen dafür, Akten zu manipulieren. Kenne mich mit den Ämtern aus und so. Ich könnte dir alle möglichen Zeugnisse besorgen, wenn du welche willst.“
„Ach ja? Und was wäre mein Teil des Deals?“
„Hauptsächlich, dass du aufhörst, deine Professoren ins Pflegeheim zu schicken. Wir müssen darüber reden, wann und ob du deine Fähigkeit überhaupt noch einsetzen solltest.“
Kurz flackerte Angst in Mariettas Magen auf. Sie hatte sich immer genommen, was sie wollte, und nie hatte jemand ihr auf die Finger geschlagen. „Abgelehnt“, sagte sie. „Du kannst mir keine Vorschriften machen.“
„Du lehnst ab? Bist du sicher? Denn für den Fall haben wir einen gut abschließbaren Dachboden.“
Marietta starrte sie an.
„Der ist gar nicht so übel“, fügte Ina beruhigend hinzu. „Er ist isoliert. Sogar beheizt, soweit ich weiß.“
„Ihr habt … Wer seid ihr überhaupt?“
„Homunkuli.“
„Was?“
„Du weißt schon. Wesen aus dem Reagenzglas. Was dachtest du denn bis jetzt, warum du ausgesetzt und adoptiert wurdest? Du bist Teil einer Homukulus-Serie aus den Neunzigern.“
„Ich bin Teil einer Serie?!“
„Na ja, der Mann, der dich erschaffen hat, wollte auf Nummer sicher gehen. Er war hinter einer bestimmten Fähigkeit her, aber Fähigkeiten sind etwas schwer vorauszuberechnen. Deswegen ist die Strategie normalerweise, einen ganzen Haufen Homunkuli zu erschaffen und als Findelkinder auszusetzen. Auch, weil viele davon schon früh eingehen.“
Marietta griff sich an den Kopf. „Das ist doch verrückt.“
„Es ist etwas viel zu schlucken auf einmal“, gab Ina zu. „Lass dir ruhig Zeit.“
Mariettas Gedanken drehten sich im Kreis. Als kleines Mädchen hatte sie nach einer Erklärung dafür gesucht, dass sie jedes Mal, wenn sie sich in der Grundschule Hand in Hand aufstellen mussten, den Stoff der vergangenen Stunden aus dem Gedächtnis ihrer Klassenkameraden saugen konnte (und es zum Spaß auch meistens getan hatte). Mit den Jahren hatte sie es aufgegeben, eine Erklärung zu suchen. Sie war einzigartig, und sie hatte sich in dieser Rolle immer gefallen. Eben weil es niemanden gab, der war wie sie, konnte niemand ihr sagen, was sie zu tun hatte. Aber wenn es noch mehr wie sie gab, dann würde Marietta zum ersten Mal Regeln haben.
Vorausgesetzt, Ina sagte die Wahrheit. Aber sicher gab es Dinge, die Ina ihr nicht sagte, und niemand hatte das Recht, Marietta etwas vorzuenthalten.
Sie machte einen Satz auf Ina zu, die mit einem spitzen Schrei auf dem Bett zurückwich. Mariettas Hand fuhr zu ihrem nackten Arm. Sie brauchte Hautkontakt, nur für einen Augenblick, das genügte. Wissen war wie eine Pflanze, die man herauszog. Es kamen mehr und mehr ungeahnte Wurzeln mit, manchmal klebte noch ein Brocken privater Erinnerungen und Anekdoten daran, die Marietta aus Versehen mit einzog, aber am Ende hielt sie die ganze Pflanze in der Hand, und dann war es ihre. In Marietta wuchs ein ganzer Garten von Pflanzen, und manchmal fragte sie sich, wie langweilig es in anderen Menschen aussehen musste, die nur über Eigengewächse verfügten.
Plötzlich war Ina verschwunden. Marietta gab einen Aufschrei von sich und landete bäuchlings auf dem Bett.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du es auf mich abgesehen hast“, sagte Inas Stimme hinter ihr. Sie klang etwas vorsichtiger als zuvor.
Hastig rappelte Marietta sich wieder auf und sah sich zu Ina um, die drei Meter weiter an der Tür stand. „Wie hast du das gemacht?“, spuckte sie aus.
Ina zuckte die Achseln. „Teleportation. So bin ich auch hier reingekommen, ohne die Tür zu beschädigen. Gern geschehen, übrigens.“
Langsam setzte Marietta sich auf dem Bett auf. Sie musste irgendwie an Ina herankommen, wenn sie herausfinden wollte, was hier vor sich ging. Ihre Fähigkeit hatte noch bei niemandem versagt, also würde sie es bei Ina auch nicht tun, oder?
„Können Homunkuli andere Homunkuli mit ihren Fähigkeiten beeinflussen?“, fragte sie.
„Meistens schon, Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich deute die Frage mal als Kampfansage.“
„Ich will nicht kämpfen“, sagte Marietta. „Ich will nur, dass du mich in Ruhe lässt. Oder ihr. Wer auch immer ihr seid.“
„Und wir wollen, dass du aufhörst, Leuten das Gedächtnis zu löschen.“
„Tja, wir wollen alle etwas, wie es aussieht.“
„Hör mal“, sagte Ina ernst. „Wir sind nicht deine Gegner. Es wäre in deinem Interesse, mit uns zusammenzuarbeiten.“
„Weil ich sonst auf dem Dachboden lande?“
„Das wäre noch das Harmloseste, was dir passieren könnte. Warte.“ Ina zog ein Smartphone aus ihrer Umhängetasche, drückte kurz darauf herum und hielt Marietta ein Foto hin. Marietta musste blinzeln, um es erkennen zu können, weil Ina mit gehörigem Sicherheitsabstand an der Tür stehen blieb. Das Bild zeigte eine sommersprossige junge Frau mit wilden, braunen Locken und einem strahlenden Lächeln.
„Die kenne ich nicht“, sagte Marietta. „Wer soll das sein?“
„Das ist Lotte“, antwortete Ina. „Ein Homunkulus vom selben Schöpfer wie du. Normalerweise ist sie umgänglich. Das Problem ist, dass sie eine … nun, besondere Beziehung zu eurem Schöpfer hat. Sie neigt deshalb ein bisschen zu Eifersucht gegenüber ihren jüngeren Quasi-Geschwistern.“
„Was bedeutet neigt ein bisschen zu Eifersucht?“
„Sie hat mindestens drei davon ermordet.“
Marietta starrte sie an. „Du willst mich verarschen.“
„Nein“, sagte Ina achselzuckend und steckte das Handy weg. „Ich halte es für fair, dich darauf hinzuweisen, dass sie dich aufspüren könnte. Und allein wirst du mit ihr nicht fertig werden. Wenn sie also auftaucht, ruf mich besser an.“
„Es würde mich nicht wundern, wenn du dir diese Frau gerade ausgedacht hättest, um mir Angst zu machen“, sagte Marietta und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass es funktionierte.
Ina seufzte leise. „Wir sind nicht deine Gegner, Marietta. Ich will nur, dass du mit uns zusammenarbeitest.“
„Und dass ich aufhöre, das zu tun, was mir zusteht.“
„Was du dein ganzes Leben lang getan hast. Das ist nicht dasselbe.“ Ina deutete hinüber zum Schreibtisch. „Ich habe dir meine Nummer aufgeschrieben. Du wirst Zeit brauchen, um über alles nachzudenken. Tu uns allen den Gefallen und sauge in der Zeit niemandem das Gedächtnis leer. Wenn du bereit bist, ruf mich an. Wir würden uns über ein neues Familienmitglied freuen.“
„Ich werde nicht anrufen“, sagte Marietta. „Ich brauche niemanden.“
„Überlege es dir“, sagte Ina. „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Im Guten.“
Im nächsten Moment war sie verschwunden.
Eine ganze Weile noch saß Marietta auf dem Bett und starrte auf die leere Türschwelle, wo Ina zuletzt gewesen war. Homunkuli und eine Frau, die angeblich Jagd auf sie machte. Sicher hatte Ina sich diese Lotte nur ausgedacht, oder? Das war doch völlig verrückt.
Dann wiederum war Mariettas Fähigkeit auch ziemlich verrückt.
Sie stand auf und ging zum Schreibtisch. In einer altmodischen Schreibschrift hatte Ina ihren Namen und eine Handynummer auf einen Notizblock geschrieben, der dort lag. Kurz zögerte Marietta. Dann riss sie das Blatt ab, knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb.

*

Es war der Tag nach ihrer letzten Bachelorprüfung, und Marietta saß in ihrer Küche und aß zur Feier des Tages  selbstgemachten Mandelpudding, als es an der Tür klingelte.
Einen Moment lang wartete sie darauf, dass Kathrin öffnete, ehe ihr auffiel, dass sie wieder einmal allein war. Es klingelte erneut, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihr erster Instinkt war, nicht zu öffnen. Dann wiederum konnte es nicht Ina sein, die hätte sich einfach nach drinnen teleportiert. Sicher war es nur der Paketbote.
Widerwillig stellte sie den Pudding beiseite, ging in den Flur und öffnete die Wohnungstür. Davor stand eine sommersprossige junge Frau mit einem klatschmohnroten Kleid und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.
„Hi“, sagte sie. „Ich bin Lotte.“
Marietta konnte nicht mehr tun, als sie anzustarren. Ina hatte sie sich nicht ausgedacht. Ob sie über den Rest auch nicht gelogen hatte?
Lotte hob eine Augenbraue. „Ein Hallo wäre nett gewesen“, sagte sie. „Aber dann eben nicht. Ich habe von den anderen ein bisschen was über dich erfahren. Neulich mal wieder jemanden um den Verstand gebracht?“
„Nein“, sagte Marietta dumpf. „Ich war mit anderen Dingen beschäftigt.“
„Ja, man kann auch nicht ständig den Staubsauger spielen, denke ich. Kann ich reinkommen?“
Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern schob sich auf Marietta zu, die überrumpelt zurückwich. Lotte grinste und schloss die Tür hinter sich.
„Du hast dich also ein wenig zurückgehalten, ja?“, fragte sie. „Umso besser.“
„Ich …“, murmelte Marietta. Ina hatte gesagt, Lotte wollte sie umbringen. War es zu früh, um die Polizei zu rufen?
„Du?“, fragte Lotte.
„Ich habe gerade Mandelpudding gegessen.“
„Ach ja? Klingt gut. Selbst geklautes Rezept?“ Lotte lachte und steuerte auf die Küchentür zu. „Riecht echt ganz angenehm hier drinnen. Ist noch etwas da?“
Sie trat in die Küche und sah sich neugierig um, die Arme verschränkt. Marietta pirschte ihr nach und konnte nicht anders, als die Arme anzustarren, die ihr kurzärmliges Kleid freiließ. Lotte wusste doch sicher, was von Inas Geschichten wahr gewesen war, was genau es mit Homunkuli auf sich hatte. Und natürlich, ob die Sache mit den ermordeten Homunkuli überhaupt stimmte und sie hier war, um Marietta zu töten. Marietta musste so viel wissen.
Mit einer blitzschnellen Bewegung packte sie Lottes Arm.
Es war, als versuche man, einen kleinen Schössling aus dem Boden zu ziehen, und dann verwandelte er sich in der Hand in eine Eiche. Aus jeder herausgezogenen Wurzel schossen sofort neue, die sich im Erdreich festklammerten. Dazwischen brach der Boden auf und das Wissen flog auf Marietta zu, mehr als bei ihrer Schwester damals, mehr sogar als bei Professor Hoffmann nach dreißig Jahren der Forschung. Sie hatte Erinnerungen an Gesichter, die sie nicht kannte, an Aufzeichnungen auf altem Papier mit chemischen Formeln und Zutatenlisten, die sie nicht verstand, an winzige Menschen in Reagenzgläsern. Und an ihren eigenen Hausflur, unterschiedlichste Bilder, die durcheinander wirbelten, von diesem und jenem Treppenabsatz. Wieso von ihrem eigenen Hausflur? Alles blitzte auf und war nach einem Sekundenbruchteil wieder verschwunden, ehe Marietta entschieden hatte, was für sie wichtig war. Es war zu viel. Noch ein Bild mehr, und ihr Kopf würde platzen.
Lotte riss ihren Arm aus Mariettas Griff und stieß sie weg. „Was hast du gerade gemacht?“, fauchte sie.
Marietta prallte gegen die Spüle und konnte sich nur mit Mühe abfangen. Ihr Herz raste. Es hatte nicht geklappt. Das war noch nie passiert.
„Ina hat gesagt, du könntest sowas.“ Lottes Stimme war schrill. „Mädchen, du weißt wirklich nicht, wann die Zeit ist, die Füße stillzuhalten!“
Ihre Augen funkelten vor Wut, und Mariettas Blick huschte hastig umher auf der Suche nach einem Fluchtweg. In der Spüle stapelte sich wie üblich schmutziges Geschirr, und aus den Augenwinkeln sah sie das große Messer, das sie vor zwei Tagen für die Tomaten benutzt hatte. Lotte war wütend und wollte sie vielleicht umbringen, und Marietta musste dieses Messer haben, ehe Lotte es in die Finger bekam.
Mit beiden Händen packte sie den Griff, und Lotte war im nächsten Moment hinter ihr, eine Hand an ihrem Kragen. Mit einem Aufschrei fuhr Marietta herum, das Messer gepackt. Sie stieß zu, und die Klinge drang in Lottes Brust ein.
Marietta ließ das Messer los und stolperte zurück. Lotte starrte auf den Griff, der noch aus ihrer Brust ragte. Sie japste nach Luft, wollte sich an der Küchentheke festhalten, stieß aber nur ein Glas um und sackte zu Boden. Ihre Finger tasteten nach dem Messer, wagten es aber nicht, es zu berühren. Um die Klinge herum drang Blut hervor.
„Was …“, brachte sie heiser hervor.
Mariettas Knie waren weich und ihr war so schwindelig, dass sie fürchtete, sie würde gleich neben Lotte auf dem Boden liegen. Sie drehte sich um, floh aus der Küche und schlug die Tür hinter sich zu. An ihren Händen befanden sich kleine Blutspritzer, und sie wischte sie hektisch an der Hose ab.
Ob Lotte das überleben würde? Man überlebte es nicht, wenn man ein Messer in die Brust bekam, oder? Marietta lauschte an der Tür, aber in der Küche rührte sich nichts mehr. Kurz kam ihr der Gedanke, Lotte wäre verschwunden, wie Ina es getan hätte. Aber beim Gedanken, nachzusehen, ob sie noch da war, sträubte sich alles in ihr. Und wenn Lotte sich nicht rührte, musste sie tot sein, oder?
Wenn ja, hatte Marietta eine Leiche in ihrer Küche.
Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Niemand durfte hiervon erfahren. Wenn sie Wissen aufsaugen konnte, dann sicher auch das Wissen über einen Leichenfund, oder? Sie wollte nicht ins Gefängnis, und sie würde auch nicht dorthin müssen, wenn sie sich nur zusammenriss. Ihr ganzes Leben lang war sie allein zurechtgekommen. Sie konnte etwas, das niemand sonst konnte. Und sie brauchte nicht die Hilfe von Ina, sie brauchte niemanden. Sie kam allein zurecht.
Etwas krachte von außen gegen die Wohnungstür. Marietta machte einen Satz vor Schreck und starrte hinüber.
„Hallo?“, rief sie schrill, ehe sie darüber nachdenken konnte, ob das klug war. Es kam keine Antwort, aber es krachte erneut. Die Tür, nur eine abgenutzte WG-Tür mit aufgeklebtem Bahnfahrplan, erbebte deutlich.
Marietta war völlig verschwitzt. Jemand versuchte, ihre Tür aufzubrechen. Es war zu viel auf einmal. Sie brauchte Hilfe, aber sie konnte nicht die Polizei rufen, doch nicht mit einer Leiche in der Küche. Ina, durchzuckte es sie. Sie könnte in Sekunden hier sein, wenn Marietta sie rief. Ihr würde sicher irgendetwas zu tun einfallen. Und sie hatte ihre Nummer dagelassen.
Ein neues Krachen an der Tür übertönte fast ein leiseres Knirschen wie von brechendem Holz. Marietta stürzte in ihr Zimmer und sah sich um. Die Nummer, wo war die verdammte Nummer? Sie zog den Papierkorb unter dem Tisch hervor und schob die Hände hinein.
Ein ohrenbetäubendes Splittern erklang aus dem Flur und hastige Schritte erklangen. Marietta zog ein zusammengeknülltes Blatt Papier aus dem Müll und versuchte hektisch, es zu glätten. Hinter ihr wurde die Tür aufgerissen und das Papier fiel ihr aus den Fingern.
„Was suchst du denn da?“, fragte Lotte.
Marietta zuckte herum. Lotte stand an der Tür und grinste. Erst im zweiten Moment fiel Marietta ihre Brust auf. Sie war völlig unverletzt.
„Das kann nicht sein“, flüsterte sie. „Du … du bist …“
„Was?“, fragte Lotte überrascht.
Auf dem Flur erklangen Schritte, und eine zweite Frau streckte den Kopf über Lottes Schulter. Sie hatte dieselben Locken wie Lotte, dieselben Sommersprossen und dieselbe unverletzte Brust. Die beiden sahen aus wie Zwillinge.
„Wer seid ihr?“, fragte Marietta heiser.
Beide Versionen von Lotte runzelten in einer synchronen Bewegung die Stirn. „Ich bin Lotte. Ich habe mich vorgestellt, weißt du noch?“
Sie sprachen im Chor. Ina hatte sie nicht vor so etwas gewarnt. Dann wiederum konnte sie selbst teleportieren, und eigentlich hätte es Marietta nicht überraschen sollen, dass Lotte sich augenscheinlich klonen konnte. Sie hatte einen Kloß im Hals. „Konnte ich deswegen dein Wissen nicht bekommen?“, fragte sie mit belegter Stimme. „Weil diese andere Version von dir nur ein Klon war?“
„Was heißt hier nur?“, fragten die beiden Lottes. „Wir sind alle gleichberechtigt.“
„Aber was …“ Mariettas Mund war trocken. Ina hatte gesagt, sie sollte anrufen, denn allein würde sie Lotte nicht loswerden. Hatte sie nicht so etwas gesagt? Sie musste Ina anrufen, jetzt sofort. Hastig sah sie nach dem heruntergefallenen Stück Papier, aber ehe sie es fand, zog die vordere Lotte eine Pistole aus der Tasche. Marietta schrie auf und wich zurück. Das hier konnte nicht wirklich passieren.
„Du bist zu auffällig, sagt Ina“, sagte Lotte. „Mir persönlich ist das ja komplett egal – Ina ist paranoid, was die Geheimhaltung angeht, und ich kann es verstehen, wenn jemand Spaß haben will. So handhabe ich das auch. Wozu hat man denn Fähigkeiten, wenn nicht, um sich selbst zu unterhalten?“
Sie entsicherte die Waffe.
„Ganz meine Meinung“, sagte Marietta hastig, deren Herz raste. „Was ist, wenn wir beide Frieden schließen? Ich habe von Ina gehört, dass wir quasi Geschwister sind, und …“
„Ach, was interessieren mich Geschwister?“ Lotte richtete die Waffe probeweise auf Marietta, die noch weiter zurückwich und hart gegen den Schreibtisch prallte. „Ich kann es nicht leiden, wenn jemand an meine Erinnerungen will. Das ist verdammt unangenehm, weißt du das eigentlich? Fühlt sich an, als würde man dir deine Persönlichkeit durch die Nase aussaugen.“
„Es tut mir leid“, sprudelte Marietta heraus. „Das war nicht persönlich gemeint. Ich tue es nie wieder, ja? Bei niemandem! Ich rufe Ina an, jetzt gleich. Ich werde kein Wissen mehr stehlen, versprochen, ich halte mich an die Regeln. Aber lass mich …“
Lotte schüttelte den Kopf. „Irgendwie glaube ich dir das nicht.“
Das letzte, was Marietta hörte, war der Knall.



Meine Superkraft war „57: Wissensstaubsauger (Wissen anderer Leute aufsaugen und damit darauf zugreifen zu können; die betroffene Person kann sich danach aber nicht mehr an sein früheres Wissen erinnern)“. Das war als Prompt sehr genial, danke dafür.
Ina und das vielfache Lottchen kommen aus einem Original von mir. Lotte ist ein Hivemind mit drölfzig identischen Körpern und immun gegen Gedächtnismanipulation, weil ihr Gedächtnis nicht in einem Körper gespeichert ist, sondern quasi in der Cloud.
Ich habe zwar Ahnung von Unis, aber keine von BWL. Hoffentlich ist der Vorlesungstitel irgendwie sinnvoll.
 
 
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