Wenn das Licht stärker als der Schatten ist
von rebelyell
Kurzbeschreibung
[She-Ra und die Rebellen-Prinzessinnen] Der Krieg ist vorbei und Etheria erlebt einen lange verwehrten Frieden. Doch jetzt heißt es, die politischen Strukturen wieder aufzubauen, und jedes Königreich muss einen eigenen Weg einschlagen. In dieser turbulenten Zeit der Neuorientierung erhält Micah, der ehemalige König über Bright Moon, einen Brief aus der Vergangenheit, der alles ändern könnte. Charaktere: Micah, Glimmer, Shadow Weaver
GeschichteDrama, Fantasy / P12 / Het
König Micah
Shadow Weaver
03.05.2020
18.06.2020
5
28.539
2
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18.05.2020
8.515
AN: Da sind wir also wieder. Staffel 5 hab ich auch gesehen... sie wird für diese Story irrelevant sein. Ich gehe sogar so weit, dass ich sage, dass die Staffel nicht existiert. =)
Living in denial kann manchmal doch ganz angenehm sein! :D
Kurz zur Geschichte: Die Anhörung findet kurz nach dem Krieg statt und liegt jetzt mittlerweile zwei Jahre zurück. Manchmal vergesse ich, sowas zu erwähnen... sorry!
And now: Enjoy!
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Lautes Stöhnen erfüllt von Schmerz und Leid durchbrach die nächtliche Stille, gefolgt von einem Aufschrei.
Schweißgebadet hatte er sich ruckartig aufgesetzt und schaute sich schlaftrunken um.
"Wo...? Oh, den Gründern sei Dank! Ich bin nicht auf Beast Island!" Erleichtert ließ er sich zurück auf das Kopfkissen sinken.
Die Albträume hatte er nach seiner Rückkehr jede Nacht gehabt, monatelang. Sie plagten seine Seele, seinen Verstand. Mit der Zeit waren sie allmählich verschwunden.
Umso erschütterter fühlte er sich über ihre Rückkehr.
Sein Blick fiel auf die kleine Uhr neben seinem Bett.
Die Nacht würde bald vorbei sein. Es lohnte sich nicht mehr, sich noch einmal schlafen zu legen, auch wenn der Tag erneut anstrengend und lang währen würde.
Müde raffte er sich auf und schwang die Beine über die Bettkante.
Der Boden war eiskalt.
Sein menschliches Gedächtnis war ein Segen, denn es vergaß recht schnell, wovon der Traum handelte. Er hatte lediglich das Gefühl, eine sehr lange Strecke gerannt zu sein, auf der Flucht vor... ja, vor was eigentlich?
Das war jetzt unwichtig.
Es spielte keine Rolle mehr, denn er war in seinen Gemächern auf Bright Moon. Die Monster, die hier lauerten, hatten keine scharfen Zähne und waren auch nicht riesig und von grauenvollem Antlitz. Die Monster bei Hofe waren gut gekleidete, intrigante Adelige, vor denen er sich in Acht nahm. Vielleicht war er aber auch einfach nur zu sehr in seiner alten Welt gefangen, so dass er hinter jedem Gesicht ein Monster erwartete.
Die blanken Fußsohlen tappten über den Boden zum Waschschrank. Er goss sich ein Glas Wasser ein und trank es mit großen Schlucken wie ein Verdurstender.
Die Schrecken der Nacht verebbten schließlich ins Nichts, und er fühlte sich langsam wieder wie er selbst.
Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel über dem Waschtisch. Seine grauen Strähnen leuchteten beinahe in der Dunkelheit.
"Nun, jünger wirst du auch nicht mehr, alter Mann", belächelte er sich selbst. "Wenn der Tag schon so früh beginnt, kann ich auch etwas für meine Figur tun. Der höfische Alltag lässt mich ganz schlaff aussehen..." Er betrachtete seinen Bauch. Die letzte Trainingseinheit war auch schon etwas länger her.
Entschlossen zog er sich also um und verließ seine Gemächer. Sein Ziel würde der Exerzierplatz sein, auf dem die Wachen und Soldaten trainierten. Zu dieser Nachtzeit dürfte er dort alleine sein.
Adora spürte jeden Knochen in ihrem Körper.
Und sie fühlte sich müder als die letzten Tage zuvor, obwohl sie in einem weichen Bett geschlafen hatte anstelle vom steinigen oder moosbewachsenen Boden.
Auch wenn sie als Heldin von Etheria gefeiert wurde und sich so manch anderer auf den Lorbeeren ausruhen würde, so etwas war ihr zutiefst zuwider. Sie spürte immer noch die Nachwirkungen der Erziehung als Horde Soldat. Müßiggang lag ihr gar nicht.
Und so nutzte sie die ersten Stunden des Morgens zum trainieren. Das hielt ihren Geist auf Trab und sie musste sich nicht mit Dingen beschäftigen, die sie gerne von sich schob. Problembewältigung sah anders aus und das war ihr auch bewusst, trotzdem ignorierte sie diese lieber.
Nach den ersten hundert Pushups ging sie zum Wasserbecken und füllte ihre Flasche nach.
Sie hatte sich schon in ihrem Zimmer umgezogen. Bei den Baracken der Soldaten gab es zwar einen Spind für sie, aber seit sie als Retterin des Planeten gefeiert wurde, fanden sich dort immer mehr Briefe und Blumen von Verehrern und Verehrerinnen ein. Sobald sie dann den Spind öffnete, fielen die Geschenke und Zettelchen dann explosionsartig heraus.
Dafür hatte sie weder die Lust noch die Zeit sich darum zu kümmern.
So viele Leute, die mit ihr befreundet sein wollten. Damit kam sie einfach nicht klar.
"Und ich dachte, ich hätte den Platz für mich allein!" hörte sie jemanden hinter ihr lachen.
Erschrocken drehte sie sich um als sich eine Person aus dem Schatten schälte.
"Micah!" stieß sie überrascht aus und konnte sich noch im letzten Moment davon abhalten, aus Reflex zu salutieren.
"Endlich jemand, der mich nicht mit irgendeinem Titel anspricht!" Micah ging zum Wasserbecken und ließ sich das Wasser in die zur Schale geformten Hände fließen, um sein Gesicht darin einzutauchen.
"Du hast mir oft genug gesagt, dass du nicht so angesprochen werden willst, und daran halte ich mich", erklärte Adora ihm.
Micah trocknete sein Gesicht mit einem Handtuch ab, das er über seine Schulter trug. "So früh schon wach? Ich hätte nicht damit gerechnet, dich heute überhaupt außerhalb deiner Kammer zu sehen. Du warst gestern am Tisch einfach eingeschlafen... wie ein Stein."
Adora kratzte sich verlegen am Kopf. "Ja, die Rückreise war etwas turbulent, und ich war spät dran!"
"Glimmer hat es überhaupt nicht gefallen, dass du von deiner Route abgewichen bist. Das solltest du als Vorwarnung sehen, wenn du dich heute mit ihr triffst", riet er ihr. "Also, was steht heute auf deinem Trainingsplan?"
"Eigentlich nur ein paar Krafttrainingsübungen", erklärte Adora hastig.
"Wie wäre es mit ein paar Aufwärmübungen und ein, zwei Runden mit einer Trainingswaffe deiner Wahl?" schlug Micah vor.
Adora lachte nervös auf. "Wenn ich nicht wegen Hochverrat verklagt werde, weil ich den ehemaligen König von Bright Moon verdroschen habe..." Und grinste dabei schelmisch.
"Ich werde versuchen, es dir nicht allzu leicht zu machen!"
Sie trainierten bis die Sonne aufging und das Schloss mit einem Mal zum Leben erwachte. Auf einmal liefen Soldateneinheiten geordnet und im Gleichschritt um den Platz herum.
Die Wachen wurden abgelöst.
Aus der Ferne waren Glockenschläge zu hören.
Micah atmete schwer und war ein wenig neidisch, dass Adora nur etwas schwitzte, aber ansonsten keine sonderlich große Anstrengung zeigte.
Verdammte Jugend!
Zum Ende hin stand es 5 zu 2 für Adora.
Mit erhobenen Händen hielt er seinen Trainingsstab von sich weg. "Ich gebe auf! Ich gebe auf!"
Adora hatte gerade zum nächsten Schlag angesetzt und hielt im letzten Augenblick inne.
Micah setzte den Stab auf den Boden und stützte sich darauf ab. "Ich weiß, wann ich verloren habe, und gegen dich habe ich einfach keine Chance!" Er lachte und suchte sich die nächste Bank zum verschnaufen.
"Dabei bin ich gerade erst richtig warm geworden!" Adora klopfte sich selbstgefällig den Staub von der Hose.
"Irgendwann kommst du auch in so ein Alter, und dann werde ich zur Stelle sein und... dich vermutlich immer noch nicht schlagen können, weil ich dann selber älter bin!" Beide lachten.
Adora setzte sich neben Micah auf die Bank und atmete tief durch. Die Soldaten exerzierten mittlerweile in Reih und Glied vor ihnen, so dass es teilweise richtig laut wurde.
"Kann ich dir etwas sagen?" fragte Adora schließlich so leise, dass er es beinahe überhört hätte.
"Adora, du weißt, dass ich dazu niemals nein sagen werde! Also, was hast du auf dem Herzen?" fragte Micah ermutigend.
"Ich finde es immer noch seltsam, mit anderen über Dinge zu sprechen, die mich beschäftigen. Mit Glimmer und Bow war das etwas anderes. Mit den beiden konnte ich immer sprechen... über alles. Aber seit der Krieg vorbei ist, scheint jeder mit seinen eigenen Aufgaben beschäftigt zu sein." Adora hielt kurz inne und schob den Kies mit ihren Schuhen vor der Bank umher. "Wir haben einen gemeinsamen Nenner", eröffnete sie schließlich.
Da wusste er schon, was Adora damit meinte.
"Und möchtest du über diesen Nenner sprechen?" fragte er nach.
"Ich weiß, dass du nicht mehr mit ihr gesprochen hast..." fing sie an.
"Um ehrlich zu sein, haben wir an einem Abend miteinander gesprochen. Oder besser gesagt, ich habe gesprochen und sie hatte nicht mehr viel hinzuzufügen. Ich bin nicht stolz darauf", erklärte Micah ohne Adora dabei anzusehen.
"Davon hat sie nie geredet!" rief Adora verwundert aus.
"Was meinst du damit?" hakte Micah nach.
"Ich habe es bisher niemandem gesagt, aber wenn ich auf einer Mission bin, besuche ich sie immer", gestand Adora hastig. "Ich habe es niemandem erzählt, weil ich nicht wollte, dass man mir Vorwürfe machen könnte, ich würde mit Verrätern sympathisieren... oder irgend etwas in der Art."
"Wie hast du sie gefunden?" wollte Micah wissen.
"Ich habe bei der Eskorte lange genug Zeit gehabt, um mit ihr zu reden, wenn es niemand mitbekam", erklärte Adora. "Sie hat mir gesagt, in welche Richtung sie gehen würde und ich bin ihr irgend wann einmal gefolgt, um sie zu suchen. Ich wusste auch nicht, was mich erwarten würde, ob sie wieder in ihr altes Verhaltensmuster zurückgefallen war, oder ob sie mich überhaupt nicht mehr sehen wollte. Irgend wann muss schließlich jeder mal einen Schlussstrich ziehen wollen... Aber ich habe sie dann wirklich gefunden!"
"Wie war das für dich?" fragte Micah, obwohl ihm andere Fragen auf der Zunge brannten.
"Sie hat sich gefreut, mich zu sehen und sie war ganz anders als sonst... Sie wirkte irgendwie... Ich weiß nicht, ob das das Wort ist, mit dem man Shadow Weaver in Verbindung bringen kann, aber sie wirkte tatsächlich beinahe glücklich."
"Wundert dich das?"
"Nein... Ich meine, eigentlich... Ja. Ich habe sie noch nie so... entspannt erlebt. Und sie hat auch keine Maske mehr getragen... Stattdessen... äh."
"Einen Schleier, der Nase und Mund verdeckt?" fragte Micah als Adora nicht mehr weitersprach.
"Ja. Ich konnte ihre Augen das erste Mal sehen... das war so merkwürdig. Daran konnte ich mich zuerst gar nicht gewöhnen", sagte Adora und rieb sich dabei die Arme als würde es sie vor Kälte schütteln.
"Ich kannte sie nur so... damals jedenfalls", warf Micah ein. "Das war auch gewöhnungsbedürftig. Auf Mystacor hat niemand sein Gesicht verschleiert. Aber bei Light Spinner hat es niemand in Frage gestellt. Sie war also glücklich, sagst du?"
"So wie ich das beurteilen konnte... Vielleicht konnte sie endlich nach langer Zeit sie selbst sein? Sie ist ein großes Mysterium für mich, und doch... liebe ich sie, glaube ich", gestand Adora zögernd.
"Das ist nur natürlich, sie hat dich aufgezogen. Hat sie dir deine Erinnerungen zurückgegeben? Ich habe mir den Rest der Verhandlung nicht mehr angesehen."
"Ja", antwortete Adora und wirkte auf einmal abwesend.
Es war der erste Tag der Verhandlung.
Die Allianz von Etheria gegen Shadow Weaver.
Dass die Verhandlung überhaupt stattfinden würde, hatte jeden überrascht.
Der Vorschlag war in einer kleinen Runde gefallen, gleich in der ersten Woche nachdem der Krieg beendet war.
Und der Vorschlag kam von Shadow Weaver selbst.
Der Tag hatte früh mit den Vorbereitungen begonnen. Die Verhandlung fand öffentlich statt und sollte als Exempel statuiert werden zu Gunsten Glimmers Ansehen als Königin.
So war der Plan.
Der Thronsaal war bestuhlt worden, damit die Wachen Kontrolle darüber hatten, wie viele Menschen in den Saal eingelassen wurden, und damit den wichtigen Personen, wie Zeugen und Ankläger, genügend Platz zur Verfügung stand.
Kein Stuhl blieb leer, und auch draußen standen die Leute Schlange und hofften noch darauf, einen Platz zu ergattern, sollte jemand den Saal verlassen wollen. Andere hatten sich im Gang aufgereiht, um Informationen gleich nach draußen zu tragen - etwa über die Anklagepunkte oder die vielleicht schockierenden Aussagen, die zutage gefördert würden.
Die Anklage war behelfsmäßig einen Tag vorher zusammengeschustert worden.
Glimmer hatte eine Voraussetzung festgelegt:
Es mussten alle Punkte rechtzeitig vorgelegt werden. Wenn Anklagen nachgereicht würden, dann würden sie nicht einbezogen werden und Shadow Weaver könnte nicht dafür belangt werden. Egal, was noch aufgedeckt werden könnte, und wie schwerwiegend dieses Verbrechen sein könnte.
Trotzdem waren eine Menge Akten in der kurzen Zeit vorgelegt worden.
Der Saal brummte wie ein Bienenstock.
Als die Türen sich öffneten und Shadow Weaver hereingeführt wurde, verstummte die Menge, so dass man eine Stecknadel fallen hören konnte.
Die Hände der Gefangenen waren mit eisernen Fäustlingen ummantelt und aneinander gekettet, so dass sie weder ihre Finger noch ihre Hände bewegen konnte, um etwa einen Zauberspruch zu weben.
Shadow Weaver war von zwei Soldaten gesäumt und drei Magiern, die von Mystacor geschickt wurden, um für ihren sicheren Gewahrsam zu sorgen.
Vor dem Thron waren zwei Stände aufgestellt, welche den Sprecher von der Menge abheben sollte. Die Wachen führten Shadow Weaver die Treppenstufen eines der Stände hinauf und verließen sie dann wieder. Shadow Weaver konnte sich lediglich auf das Gelände stützen. Ein Stuhl blieb ihr verwehrt.
Die drei Magier woben einen mächtigen Spruch in die Luft, der sich um den Stand herum aufbaute und Shadow Weaver in eine magische Kuppel aus einer blau leuchtenden Membran sperrte. Auch wenn sie sich von den Ketten befreien würde, so konnten die Magier dafür sorgen, dass die Angeklagte nicht fliehen konnte.
Aber wozu sollte sie das auch?
Es war schließlich ihr eigener Vorschlag gewesen.
Die Anwesenden fingen erneut zu tuscheln an. Wobei einer dann etwas sehr groteskes in den Saal hinein rief und alle auf einmal lauthals zustimmten.
"Ruhe!" herrschte George, der neue Berater der Königin. Er stand auf der zweiten Stufe zum Thron hin und zog eine Pergamentrolle aus. "Wir sind heute versammelt, um über das Schicksal von Shadow Weaver, ehemals bekannt unter dem Namen Light Spinner, zu entscheiden. Es werden Zeugen für und gegen sie aussagen und Beweise vorgelegt werden. Die Entscheidung wird allein von Königin Glimmer gefällt. Ruhestörungen werden mit sofortiger Entfernung aus dem Thronsaal bestraft! Erhebt Euch jetzt für die Königin!"
Stühle quietschten über den Boden und Schuhsohlen schabten als alle aufstanden.
Glimmer trat durch einen Seiteneingang ein, begleitet von drei Wachen. Ihr folgten Micah als ehemaliger Regent Bright Moons, die Prinzessinnen und mindestens ein Vertreter ihres Volkes und zum Schluss Adora. Sie wirkte niedergeschlagen und sah nicht einmal zu Shadow Weaver herüber.
Die Königin stellte sich vor ihren Thron und wartete darauf, dass alle Prinzessinnen und Abgesandten ihren Platz erreicht hatten. Erst als sie sich hinsetzte, nahmen auch alle anderen Platz und die Anhörung konnte beginnen.
"Ruhe!" ermahnte George die Menge erneut. "Shadow Weaver, ich werde die Verbrechen verlesen, welcher Ihr angeklagt werdet, danach werde ich Euch fragen, ob Ihr Euch schuldig oder nicht schuldig bekennt. Habt Ihr das verstanden? Antwortet mit Ja oder Nein."
"Ja", antwortete Shadow Weaver ruhig.
"Anklagepunkt Nummer 1: Der eindeutig und bezeugbare Mord an drei Mitgliedern des magischen Hohen Rates von Mystacor vor vierundzwanzig Jahren, darunter Magistrat Norwyn. Anklagepunkt Nummer 2: Verrat an der magischen Akademie und an allen Königreichen von Etheria mit Wechsel der Seite zur Seite von Hordak und seiner Horde. Anklagepunkt Nummer 3: Beihilfe zum Annektierungsversuch von Etheria durch eine außerweltliche Macht. Anklagepunkt Nummer 4: Beihilfe zum Mord von etwa vier Millionen Etherianern. Anklagepunkt Nummer 5: Beihilfe von Kindesentführungen in mehr als 300 000 Fällen. Anklagepunkt 6: Psychische Manipulation und Missbrauch der entführten Kinder."
Das war es also, was sie in den letzten 24 Stunden notgedrungen zusammentragen konnten.
Die Menge tuschelte wieder aufgebracht, so dass George warten musste bis sie sich wieder beruhigt hatten.
"Ich werde Euch jetzt zu jedem Punkt auffordern, Euch schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Habt Ihr das verstanden?" fragte George mit ernster Mine und bereit dazu, ihr Bekenntnis zu notieren.
"Ja", erklärte Shadow Weaver.
"Gut, Anklagepunkt 1: Der Mord an Magistrat Norwyn und zwei seiner Ratsmitglieder."
"Schuldig", antwortete Shadow Weaver schlicht. Die Menge raunte. Bisher war nie wirklich an die Öffentlichkeit gelangt, was auf Mystacor passiert war an diesem verhängnisvollen Tag vor vierundzwanzig Jahren.
George notierte sich die Antwort.
"Anklagepunkt 2: Verrat an der magischen Akademie und allen Königreichen von Etheria."
"Schuldig."
"Anklagepunkt 3: Beihilfe zum Annektierungsversuch von Etheria."
"Schuldig."
"Anklagepunkt 4: Beihilfe zum Mord von zirka vier Millionen Etherianern."
"Nicht schuldig."
George notierte alles mit und sah doch etwas verwundert zur Angeklagten hinüber.
"Anklagepunkt Nummer 5: Beihilfe von Kindesentführungen in mindestens 300 000 Fällen."
"Nicht schuldig."
Das war der Punkt, an dem Micah zu Adora hinüber blickte. Ihr Gesichtsausdruck war stoisch und ließ nicht erahnen, wie sie das alles auffasste.
"Anklagepunkt 6: Psychische Manipulation und Missbrauch der entführten Kinder."
"Nicht schuldig."
Sechs Anklagepunkte und die dazugehörigen Beweise und Zeugen. Das würde eine lange Verhandlung werden.
Glimmer schien bereits von Anfang an missgelaunt und dem ganzen Prozess abgeneigt gewesen zu sein. Doch sie hörte sich alles an, denn sie würde am Ende die Entscheidung fällen müssen.
"Ich übergebe das Wort an die Ankläger von Mystacor, Magistratin Castaspella und Archivar Namorien. Sollte an Eurer Aussage, Shadow Weaver, während der Befragung Zweifel entstehen, werdet Ihr mit einem Wahrheitszauber belegt. Überlegt Euch also gut, ob es sich lohnt, die Wahrheit zu verschweigen."
George zog sich zurück an seinen Platz, wo drei weitere Archivare aus seiner Bibliothek saßen und eifrig Protokoll führten.
Castaspella und Namorien stellten sich auf den zweiten Stand mit dem Blick zur Königin gerichtet.
"Am Tag als die drei Monde der Verzauberung in einer Linie standen wurde von Light Spinner mit der Unterstützung von meinem Bruder einen Spruch geschaffen, der seit Jahrhunderten verboten ist", fing Castaspella an.
"Welcher Spruch war das und warum ist er verboten?" fragte George.
"Es war der Spruch des Obsiegens. Er ist verboten, weil er unkontrollierbar ist. Er kann dem Magier unendlich viel Macht verleihen oder ihn zerstören und in einen Parasiten verwandeln, der sich an jede magische Kraft haftet und sie anzapft. Shadow Weaver, damals noch Light Spinner, hat dem Hohen Rat den Vorschlag gemacht, den Spruch anzuwenden, um Macht zu erlangen und somit imstande zu sein, die Horde zu vertreiben. Der Hohe Rat hat den Vorschlag abgelehnt. Das hat Light Spinner aber nicht davon abgehalten, den Spruch trotzdem vorzubereiten und durchzuführen, mit Hilfe meines Bruders, der zu der Zeit erst vierzehn Jahre alt war!"
Die Menge begann unruhig zu werden und Castaspella hielt irritiert inne.
"Ruhe!" herrschte Königin Glimmer und prompt war es wieder still. "Fahrt fort."
"Ja, Eure Majestät. Light Spinner hat den Spruch durchgeführt als die Mondkonstellation richtig stand, und der Spruch schlug fehl. Als Magistrat Norwyn mit zwei anderen Mitgliedern des Hohen Rates eintraf war es schon zu spät, den Spruch wieder abzubrechen. Er hatte die Dimension durchbrochen und schwarze Dämonen erlangten Eintritt in die Halle der Magier. Sie ermächtigten sich Light Spinners Körper und machten sie zu dem, wovor Norwyn sie gewarnt hatte. Norwyn hat versucht, Light Spinner unschädlich zu machen, aber sie war zu stark für ihn. Sie konnten sich nicht einmal zu dritt gegen sie behaupten und verloren dadurch ihr Leben. Nur Micah hat sie damals verschont."
"Wie kam es dazu, dass die Ratsmitglieder ihr Leben verloren?" hakte George nach.
"Magistrat Norwyn wurde von ihrer Macht absorbiert. Die anderen zwei erlagen ihren Verletzungen kurz nach dem Vorfall", erklärte Castaspella.
"Wieso wurden sie nicht geheilt?" fragte George weiter.
"Die Verletzungen waren nicht natürlicher Art. Sie hatten dämonische Narben und Abzeichnungen auf ihren Körpern. Die Heiler konnten sie nicht retten und kein Magier auf Mystacor hatte die Macht, die Dämonen zu verbannen, die von ihren Körpern zehrten", meldete sich Namorien das erste Mal zu Wort.
"Welche Nachwirkungen hatte der Vorfall für Mystacor? Schließlich waren drei von sieben Mitgliedern des Hohen Rates getötet worden oder sind gestorben und Light Spinner, die auch dem Hohen Rat angehörte, war geflohen", wies George sie darauf hin.
"Mystacor wäre beinahe zerstört worden. Aufgrund der dämonischen Mächte, die Einlass erhalten hatten in die magische Halle, war der Schutzschild geschwächt worden, der Mystacor umgibt. Es fehlten erfahrene Magier, die das Gleichgewicht in der Halle wiederherstellen konnten. Es kam außerdem heraus, dass Light Spinner unerlaubt magische Kristalle aus der Halle entfernt hat. Alte Kristalle mit hohem magischen Potential", beschrieb Namorien.
"Zum Verständnis aller: Was hat es mit den Kristallen auf sich?" fragte George.
"Die Kristalle werden in aufwendigen Verfahren erschaffen. Man benötigt eine Menge magischer Zutaten und Kraft, um sie zu erschaffen. Die Kristalle waren sehr alt und somit ein Teil der Geschichte von Mystacor. Die fehlenden Kristalle und der geschwächte Schild hat Mystacor lange Zeit verwundbar gemacht. Ohne die Hilfe von Bright Moon hätte Mystacor ein leichtes Ziel der Horde werden können. Der Vorfall hat jahrelang für Lehrermangel und Ressourceneinbußungen gesorgt", erläuterte Namorien weiter. Seine Stimme klang dünn und fasrig, und er gab sich sehr viel Mühe, verständlich zu sprechen. Dieser Archivar hatte zu viele Jahre in seiner eigenen Kammer verbracht und war diese Art von Aufmerksamkeit nicht gewohnt.
"Wurde Mystacor angegriffen, nachdem Light Spinner die Seite gewechselt hatte?" fragte George.
"Nein", antwortete Castaspella. "Wir wären ein leichtes Ziel gewesen, aber wir wurden nie angegriffen."
"Obwohl Light Spinner wichtige Informationen jederzeit an Hordak weitergeben konnte?" merkte George an.
"Mystacor wurde nie von der Horde angegriffen", bestätigte Castaspella schlicht.
"Danke für Eure Auskunft."
George entließ die beiden Zeugen und die Verhandlung ging weiter. Es wurden noch mehr Zeugen aus Mystacor und aus anderen magischen Akademien befragt.
Die Verbrechen waren kleine Bagatellen, die zutage gefördert wurden. Versteckte Bücher, verbotenes Wissen. Sie zeichneten ein Gesamtbild von Light Spinners Handlungen ab, die vom Hohen Rat nicht genehmigt waren. Ein Zutagefördern hätte sie damals schon ihren Posten als Ratsmitglied kosten können.
Die Anklage allein zu Punkt eins zog sich bis zum frühen Nachmittag hin.
Dabei konnte die Anklage nur durch Dokumente bezeugt werden.
Der Vorfall, der zum Tod der drei Ratsmitglieder geführt hatte, konnte nur durch eine Person bezeugt werden, und diese Person hatte schon vor Beginn der Anhörung darum gebeten, nicht aussagen zu müssen.
Micah wollte und konnte nicht gegen sie aussagen.
Der nächste Tag war angebrochen.
Der Andrang war immer noch groß, wenn nicht noch größer als am Tag zuvor. Noch immer wollten mehr Leute in der Anhörung Platz finden. Doch die Stühle waren alle besetzt und Stehplätze gab es nicht. So wollte man der Menge Herr werden. Kleinere Gruppen waren schneller zu bewältigen, sollte es während der Anhörung unruhig werden.
Die Verhandlung befand sich immer noch in der ersten Phase. Die Zeugen wurden vorgeladen und die Aussagen notiert. Bisher hatte niemand nach Shadow Weavers Motiven gefragt oder sie überhaupt zu Wort kommen lassen. Am ersten Tag hatte sie lediglich zehn Stunden mit zwei Pausen dazwischen auf ihrem Anklagestand verweilt und dabei zugehört, wie ihre Verbrechen Stück für Stück zutage gefördert wurden.
Micah hatte sie beobachtet, und versucht, irgend eine Gefühlsregung in ihr zu erkennen. Aber nicht einmal ihre Augen verrieten ihr Gemüt.
Er hasste diese Maske. Ihren Schleier hatte er ignorieren können, damals in der Akademie. Da konnte er wenigstens ihre Augen sehen.
Ihre Augen!
Einst konnte er in ihnen lesen wie in einem offenen Buch. Aber jetzt...?
Er hasste ihre Maske!
"Steht auf für Königin Glimmer!" kündigte George den Eintritt der Königin an.
Glimmer wirkte angespannter als am Tag davor. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe, die sie nicht kaschiert hatte. Auf Ihr Zeichen nahm die Menge wieder Platz und George begann mit seiner Ansprache.
"Wir haben uns heute versammelt, um die Anhörung fortzusetzen. Wir werden heute die Anklagepunkte 4 bis 6 erörtern. Zur Rekapitulation: Beihilfe zum Mord von zirka vier Millionen Etherianern. Beihilfe von Kindesentführungen in mindestens 300 000 Fällen. Und psychische Manipulation und Missbrauch der entführten Kinder. Vorwürfe, zu denen sich die Angeklagte als nicht schuldig bekannt hat." George setzte sein Tableau ab und sah Shadow Weaver ernst an. "Hat sich daran etwas geändert?"
"Nein", antwortete Shadow Weaver schlicht, und die Menge redete angespannt.
"Ruhe!" rief George.
Als die Zuschauer sich wieder beruhigt hatten, schaute er kurz auf seine Mitschrift und verkündete schließlich: "Es werden stellvertretend für unter Punkt vier und fünf aufgeführten 'Beihilfe zum Mord von zirka vier Millionen Etherianern' und 'Beihilfe von Kindesentführungen in mindestens 300 000 Fällen' Familien und Zeugen aus besetzten Dörfern und Städten vorgeladen, die in den letzten zwanzig Jahren von der Horde annektiert, zerstört oder vertrieben wurden."
Das überraschte die Anwesenden.
Wer bisher davon ausgegangen war, dass der Prozess im Schnelldurchlauf abgefertigt werden würde, wurde eines Besseren belehrt.
Die ersten Zeugen wurden über einen Seiteneingang hereingeführt und zum Zeugenstand gebracht. Es waren Leddrier aus der Bergregion von Talleddri. Ein Volk, dessen Gesichter dem einer Bergziege ähnelten, mit Hörnern, die aus der Stirn herausragten und Ohren, die mal mehr, mal weniger lang an den Seiten ihrer Köpfe herunterhingen. Auch Mund und Nase ähnelten mehr denen eines Tieres. Die Zeugen, die vorgeladen wurden, waren drei ältere Personen. Zwei Männer und eine Frau.
George verlies ihre Namen und Herkunft und begann die erste Befragung. "Wann wurde Eure Stadt das erste Mal angegriffen?"
Die ältere Frau meldete sich zuerst. Ihr Gesicht war ledrig vom Wetter gezeichnet. Ihre Stimme war fest und rau als sie sprach: "Der erste Angriff kam wie aus dem Nichts vor zirka 21 Jahren."
"Wie groß ist Ihre Stadt damals gewesen?" fragte George weiter.
"So weit ich mich erinnern kann, waren wir 23 Familien. Kinder, Eltern, Großeltern, Vettern", antwortete die Frau.
"Und was wurde in Ihrer Gemeinde hergestellt?"
"Wir waren nur ein paar Bergbauern, die Reis und Tee an den Bergausläufern anbauten. Wir hatten keine militärische Ausbildung und waren von den meisten Städten und Dörfern abgeschnitten", meldete sich einer der Männer zu Wort.
"Bitte schildern Sie den Tag, als die Horde eintraf", forderte George die Zeugen auf.
"Es war im Spätsommer. Die ganze Gemeinde war auf den Reisterrassen mit der Ernte beschäftigt. Sie kamen mit Fluggeräten und landeten mitten in den Feldern. Keiner wusste, wie es um ihn geschehen war. Wir hatten keinen wichtigen Einfluss. Unsere Gemeinde lag so weit ab vom Schuss, dass wir manchmal sogar von den anderen Städten abgeschnitten waren. Die Horde kam und nahm alle jungen Leute mit. Wir hatten keine andere Wahl. Selbst die Kleinsten haben sie uns genommen. Wir saßen auf einmal ohne Zukunft da. Wir waren nur noch eine Ansammlung von älteren Leuten, die ohne die Hilfe der Jüngeren die Ernte nicht einbringen konnten", erklärte der andere Mann.
"Wie viele Kinder und Jugendliche hat die Horde damals entführt?" hakte George nach.
"Das waren um die sechzig Kinder und junge Erwachsene", kam als Antwort.
"Sind Sie im Dorf geblieben oder gehörten Sie zu den Entführten?" fragte George, denn nach zwanzig Jahren sah jeder älter aus, und man konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer von der Horde tatsächlich mitgenommen wurde.
Die Frau meldete sich mit einem Handzeichen. "Mich haben sie entführt."
"Und Sie beide sind im Dorf geblieben?" hakte George nach.
Einstimmiges Nicken.
"Verzeihen Sie, wenn ich zu forsch klinge, aber sind Sie nicht alle im etwa gleichen Alter? Warum hat die Horde nicht Sie alle mitgenommen?" fragte George verwundert.
"Sie haben nur die Gesunden mitgenommen. Alle anderen, die krank waren oder ein Gebrechen hatten, wurden da gelassen."
"Und sie hatten so ein Gebrechen?"
"Wir hatten das Rotfieber mit geringer Überlebenschance. Deswegen hat die Horde uns nicht mitgenommen", erklärte einer der Männer.
"Was geschah dann? Mit dem Dorf? Und mit Ihnen bei der Horde?" fragte George sie nacheinander.
"Die Familien betrauerten den Verlust natürlich. Wir hatten schließlich keine Chance gegen sie. Die einzigen Gegenstände, die wir als Waffen hätten einsetzen können, wären unsere Erntemesser gewesen. Aber Messer sind wirkungslos gegen Schusswaffen und Kanonen, von denen wir gleicherart keine zuvor gesehen hatten. Der Winter kam und dann auch der nächste Sommer. Die Ernte folgte und wir hatten Schwierigkeiten, die Felder abzuernten. Die Horde kam wieder. Fast ein Jahr nachdem sie unsere jungen Leute mitgenommen hatten. Wir hatten Angst und die Leute flohen sofort von den Feldern zurück in ihre Häuser. Die Horde ließ sich davon natürlich nicht abhalten. Sie quartierten sich in unserem Dorf ein und machten uns einen Vorschlag."
"Was für ein Vorschlag war das?" fragte George weiter.
"Die Horde wollte auf dem Bergkamm, nahe dem Dorf, einen Wachtposten errichten. Sie quartierten sich also im Dorf ein und sorgten dafür, dass wir grundlegend versorgt waren. Wir hatten keine andere Wahl als mit ihnen den Handel einzugehen. Sie kümmerten sich um bessere Straßen bergauf und ins Tal hinein. Das brachte unserem kleinen Dorf ungemein viel Geld ein. Der Handel war vorher nie so gut und einfach gewesen. Die Entführten kamen jedoch nie zurück. Erst nach dem Krieg kamen einige, die sich noch an ihre alte Heimat erinnern konnten."
"Ihr wollt also damit sagen, dass ihr der Horde bessere Wege zu verdanken habt?"
"Ja, und eine bessere Versorgung", erklärte sein Gegenüber. "Unsere Region gehört keinem Königreich an. Wir sind also auf uns allein gestellt gewesen für sehr lange Zeit."
George rieb sich den Nasenrücken und atmete einmal tief durch. Sein Team von Schreiberlingen notierte eifrig die Aussage mit.
"Wie war es in der Horde als Jugendliche?" fragte George die Frau.
"Anfangs war es schwer, seinen Platz zu finden. Wenn man neu ist, kennt man die Regeln noch nicht so gut. Aber ich habe mich schnell zurecht gefunden", erinnerte sie sich.
"Haben Sie jemals Kontakt mit Shadow Weaver in Ihrer Zeit in der Horde gehabt?"
"Ja, sie hat uns unterrichtet. Die meisten kamen aus ländlichen Gegenden wie ich, da lernt man nur das, was man für den täglichen Gebrauch wissen muss. Shadow Weaver hat uns Lesen und Schreiben beigebracht, und auch Mathematik. Wenn ich im Dorf geblieben wäre, würde ich nur wissen, bis wann man die Saat ausgesetzt haben muss oder wann es eventuell Regen gibt, aber Schreiben konnte niemand von uns im Dorf."
"Und als Ihre Ausbildung bei der Horde beendet war und Sie ausgeschickt wurden, um bei der Einnahme von anderen Dörfern zu helfen, war Shadow Weaver da jemals anwesend und hat die Horde dabei aktiv unterstützt?" wollte George wissen.
"Nein, ich war nie auf einer Mission, bei der Shadow Weaver mitgekommen ist. Ich weiß gar nicht, ob sie jemals auf solchen Missionen dabei war", erläuterte sie.
George griff sich wieder an die Nasenwurzel und massierte seine Augenwinkel.
Dieser Auftakt war also gründlich missglückt und das war jedem klar.
Er entließ die Zeugen und die Nächsten kamen herein.
"Hat euer Dorf lange standhalten können?" fragte George eine Arnesiani aus den südlichen Ländern.
"Wir haben alles verloren. Die Horde hat niemanden am leben gelassen, der nicht mehr arbeiten konnte", erklärte die Arnesiani, die vielleicht Mitte 20, aber nicht älter sein konnte.
"Sie kamen also als Kind zur Horde?"
"Ja", antwortete sie schlicht.
"Wurden Sie von Shadow Weaver unterrichtet?" hakte er nach.
"Ja."
"Wie war sie als Lehrerin? Hat sie Sie jemals geschlagen? Oder schlecht behandelt?"
"Shadow Weaver hatte den Ruf, sehr streng zu sein. Wir hatten Respekt vor ihr und auch Angst, aber sie hat niemanden von uns jemals geschlagen."
"Ich konnte mich gerade vor ihnen retten. Sonst hätten sie mich auch abgeführt wie einen Vagabunden!" rief ein gesetzter älterer Drasi aus den purpurnen Wäldern. "Sie kamen von überall, über Nacht! Wir hatten als Jugendbande immer ein Versteck. Dahin hab ich mich verkrochen. Neben mir haben es noch zwei andere geschafft. Die anderen wurden abgeführt oder kamen bei den Kämpfen um."
"Hatten Sie jemals Kontakt mit der angeklagten Person zu Ihrer Rechten?" fragte George, obwohl er die Antwort schon erahnte.
"Nein, ich habe sie nie gesehen. Auch nicht in den Kämpfen die darauf folgten."
So ging das den ganzen Vormittag.
Keiner der Zeugen konnte ein grundlegendes Verbrechen gegen die Angeklagte hervorbringen. Nach ihren Aussagen war Shadow Weaver lediglich für die Ausbildung zuständig, und das sogar in einer durchaus humaneren Weise als man ihr zugetraut hätte.
George, sichtlich zerschlagen, holte den nächsten Zeugen herein.
"Das ist doch alles nur ein schlechtes Schauspiel!" rief eine erboste Stimme in den Raum. Es war Adora und sie war von ihrem Platz aufgesprungen, empört, und die Hände an ihren Seiten zu Fäusten gebildet.
"Adora?" fragte George verwirrt.
"Die Anklagepunkte sind falsch! Wann versteht das hier einer?" führte sie weiter aus. "Shadow Weaver hat nie aktiv an der Zerstörung des Planeten mitgewirkt! Sie hat auch keine Kinder geschlagen oder sonst wie misshandelt. Ihre Erziehungsmethoden waren reichlich fragwürdig, das gebe ich zu, aber sie hat niemals Hand angelegt oder anderen sonstigen körperlichen Schaden zugeführt. Die einzigen, die sie wirklich manipuliert hatte, waren Catra und ich! Und wir wissen mittlerweile, warum sie das getan hat! Also warum weiterhin um den heißen Brei herumtanzen?" Sie hatte sich so in Rage geredet, dass ihr Gesicht leicht errötet war.
George nickte kurz dem Wachtposten zu, der den neuen Zeugen hereingebracht hatte. Dieser wurde gleich wieder aus dem Saal herausgeführt.
"Also gut, dann berufe ich Adora in den Zeugenstand."
Adora starrte ihn fassungslos mit aufgerissenen Augen an.
"Aber...", stammelte sie.
Ihre Bewegungen wirkten abgehackt und fremdgesteuert als sie einen Schritt zurückwich bis sie mit den Kniekehlen gegen ihren Stuhl stieß.
"Du kannst mit deiner Aussage, die Angeklagte entweder be- oder entlasten. Die Wahl liegt bei dir, Adora", ermahnte George sie.
Als sie immer noch nicht reagierte, wandte er sich an die Königin: "Meine Königin, soll Adora verpflichtet werden, eine Aussage zu tätigen?"
Glimmer sah ihre Freundin zweifelnd an. Sollte sie als ihre Freundin handeln oder als ihre Souveränin?
Ihr wurde die Entscheidung abgenommen.
"Adora, es ist für das Beste, wenn du aussagst." Das kam weder von der Königin, noch von George. Es war Shadow Weaver, die zum ersten Mal seit zwei Tagen ihre Stimme erhoben hatte.
"Aber..." Adora zögerte immer noch und sie blickte Shadow Weaver entsetzt an.
"Du brauchst keine Angst zu haben..." erinnerte Shadow Weaver sie.
"Ich habe keine Angst! Weder vor dir noch vor jemand anderen!" Jetzt wirkte Adora regelrecht angestachelt.
"Ich muss die Angeklagte daran erinnern, dass sie erst sprechen darf, wenn sie gefragt wird!" ermahnte George Shadow Weaver und die Soldaten, die sie bewachten, rückten näher an die leuchtende Barriere heran.
Adora stapfte indes an Shadow Weaver mit eiskaltem Blick vorbei und betrat den Zeugenstand.
"Dann berichte uns, wie es war, von Shadow Weaver aufgezogen zu werden", forderte George sie auf.
"Ich..." Adora starrte hinab auf ihre Hände. Sie hielt sich krampfhaft am Gelände fest. Die Knöchel zeichneten sich weiß ab. "Sie hat uns nie geschlagen oder derartiges. Aber es reichte schon, wenn sie die Stimme erhob. Sie spielte Catra und mich gegeneinander aus und sie versuchte einem von uns immer ein schlechtes Gewissen einzureden. Wir haben trotzdem aufeinander aufgepasst, auch wenn Shadow Weaver das missbilligte und auch keinen Hehl daraus machte."
"Du bist eine Nachfahrin der Gründer. Kannst du dich an deine Familie erinnern? Wie bist du nach Etheria gekommen?" fragte George.
"Nein, ich habe keine Erinnerung mehr. Ich kam durch ein Portal nach Etheria. Hordak hat mich dort gefunden und zur Horde gebracht. Ich habe mein bisheriges Leben bei der Horde verbracht", erinnerte Adora sich beinahe ungern.
"Und wer war für dich in der Horde zuständig? Es muss doch jemanden gegeben haben, dem du untergeordnet wurdest."
"Ich war von Anfang an Shadow Weaver zugeteilt. Sie hat mich zwar bevorzugt behandelt, aber es gab keine wirkliche Beziehung, wie man sie sich als Kind wünscht. Stattdessen hat sie immer versucht, uns Schuld einzureden oder zu manipulieren." Adoras Stimme wurde mit jedem Wort immer leiser und sie wirkte mit einem Mal fast abwesend.
"Kannst du..." George kam nicht dazu, seine Frage zu stellen, denn Adora hatte sich plötzlich zu Shadow Weaver gewandt.
"Ich will nur wissen, warum? Warum hast du uns nicht einmal in den Arm genommen, wenn du doch dafür zuständig warst, so etwas wie eine Mutter für uns zu sein? Du hattest nie ein offenes Ohr für Catras oder meine Sorgen oder hast auch nie etwas mit uns unternommen, wenn es nicht der unbedingten Notwendigkeit unterlag! Du hattest nur den notwendigsten Kontakt zu uns gehalten. Alles andere war dir anscheinend egal! Warum? Wie kann man nur so kalt zu einem Kind sein, das dein Schutzbefohlener war? War es eine Art Sport für dich? Den perfekten Soldaten heranzuziehen, damit du mit uns vor Hordak glänzen konntest?" Adora atmete schwer. Eine blonde Strähne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst und war ihr in die Stirn gefallen. "Antworte!" schrie sie beinahe.
Shadow Weaver sah George an, der ihr stumm billigend zunickte. Wenn sie schon diese lächerlichen Regeln aufstellten, so wollte Shadow Weaver dieses eine Mal nach den Regeln spielen.
Ihre Stimme war ruhig und beinahe melancholisch. "Es war nicht immer so. Sag, Adora, was ist deine früheste Erinnerung? Deine liebste Kindheitserinnerung? Etwas, das jeder von uns hat, wenn er sich an seine Kindheit zurück erinnert."
Adora schaute verunsichert zu Boden.
"Das ist eine nicht genehmigte Frage!" warf George ein. "Du musst sie nicht beantworten, Adora."
Castaspella hatte sich in der Zwischenzeit vor Shadow Weaver gestellt und damit begonnen einen Bannspruch in die Luft zu weben, jederzeit bereit, ihn auf Shadow Weaver wirken zu lassen.
"Nein, ist schon gut", wandte Adora kleinlaut ein. Ihr Blick wanderte von George zu Castaspella, die den Spruch wieder verblassen ließ, und dann schließlich zu Shadow Weaver.
"Ich weiß es nicht", antwortete sie gerade heraus. "Ich kann mich nicht an meine Kindheit erinnern. Ich weiß, dass ich irgendwann in den Unterricht kam und zeitgleich meine Einstufung als Kadett erhielt. Aber ich habe keine Ahnung, was davor war."
Shadow Weaver wandte sich an Castaspella. Ihre Augen verengten sich zu dünnen Schlitzen während sie sprach: "Wenn du mich immer noch mit einem Wahrheitsbann belegen willst, dann schlage ich vor, dass du deine Arbeit gewissenhaft und weniger schlampig verrichtest, oder du überlässt es jemanden, der den Spruch beherrscht. Jeder Fehler kann Nebenwirkungen verursachen oder Schlupflöcher bieten."
Castaspella wich wie ein geschlagener Hund zurück. Sie fasste sich jedoch schnell wieder und ging beinahe wütend auf Shadow Weaver los. Der Bannkreis erinnerte sie daran, wo sie war und was ihre Aufgabe war. "Wie kannst du es wagen? Du bist hier diejenige, die angeklagt wird. Weißt du überhaupt, was für dich hier auf dem Spiel steht?" stieß Castaspella erregt aus. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte.
George schickte sich an, sich mit ihr zu beraten.
"Ich werde es machen", hörten sie eine weitere Stimme, die bisher geschwiegen hatte. Es war Micah.
"Vater, bist du dir sicher?" fragte die Königin vom Thron herab.
Micah schaute zu ihr hinauf und nickte knapp. "Wenn die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage in Frage steht, stelle ich mich für den Zauberspruch zur Verfügung." Dann wandte er sich an George. "Steht die Glaubwürdigkeit denn in Frage?" Und schaute auch Adora fragend an.
"Ich will die Wahrheit wissen", verlangte Adora mit gepresster Stimme.
"Also gut." Micah hatte diesen Moment gefürchtet. Er hätte sich lieber mit den Monstern auf Beast Island angelegt als seinem ehemaligen Mentor gegenüber zu stehen. Sein Bann erleuchtete unter sorgfältigen und eleganten Bewegungen. Seine Hände glitten durch die Luft wie Wasser.
"Bist du sicher?" hörte er die neckische Stimme Shadow Weavers.
Vorsichtshalber verstärkte er den Bann noch einmal an einigen Stellen. Der Spruch durchbrach den Bannkreis, der Shadow Weaver einsperrte, und drang in ihren Körper.
"Klever", kommentierte sie. Das Lächeln konnte man regelrecht aus ihrer Stimme entnehmen.
"Was hast du mit mir gemacht?" fragte Adora ohne Umschweife.
"Ich habe dich geliebt, wie jede Mutter ihr Kind lieben würde, auch wenn du nicht mein eigen Fleisch und Blut warst. Im Gegensatz zu den anderen Säuglingen, die in der Säuglingsstation aufgepäppelt und aufgezogen wurden, habe ich dich unter meine Fittiche genommen. Du hast mit mir in meinen Räumen gewohnt. Du warst ein herzliches Kind. Jeden Abend musste ich dir Geschichten vorlesen, auch wenn du sie schon hunderte Male gehört hattest. Du wolltest alles erkunden und hattest so viele Fragen. Dann kam Catra dazu. Ich ahnte, dass ihr beide eine besondere Rolle haben würdet in eurem Leben. Ich zog euch beide auf, so gut ich konnte. Aber Gefühle und Verbundenheit untereinander in der Horde zu zeigen, konnte ein böses Ende nehmen, und das tat es auch. Hordak fand heraus, welche Verbindung zwischen uns bestand. Familiäre Beziehungen waren strengstens untersagt. Emotionale Abhängigkeit würde keine guten Soldaten aus euch machen. Er wollte euch dafür bestrafen an meiner statt. Ihr wärt aus der Horde verbannt worden, und so klein wie ihr beide noch wart, hättet ihr nicht lange überlebt. Also machte ich Hordak einen Vorschlag. Ich wusste, dass er euch bestrafen wollte, um mir eins auszuwischen. Ich schlug ihm also vor, dass ich eure Erinnerung an die vergangenen Jahre in eurem Gedächtnis blockieren würde, und dass er mich stattdessen bestrafen sollte. Es hat lange gedauert, bis Hordak mir wieder vertraute. Ich war jedenfalls froh, dass er euch nicht euch selbst überlassen und ausgesetzt hat. Auch wenn die schöne Zeit vorbei war und ihr beide nun, wie jeder andere auch, eine Kadettenausbildung bekamt, so wusste ich jedenfalls, dass ihr beide weiterleben würdet."
Die Zuschauer schwiegen wie gebannt.
George sah Micah ratsuchend an.
"Der Spruch war korrekt. Sie sagt die Wahrheit", erklärte dieser.
"Wir machen eine Stunde Pause!" befahl die Königin und kam die Treppe hinunter. "Adora, auf ein Wort!"
Micah war außer sich vor Wut, die er kaum verbergen konnte als er den Thronsaal verließ.
Sie wurde an ihm vorbeigeführt, während er wie angewurzelt stehen blieb. Die Ketten an ihren eisernen Fäustlingen klingelten wie helle Glocken, die sich von dem lauten Gerede und Gemurmel der Menge abhoben.
Er hatte sich vorgenommen, in die Verhandlung nicht einzugreifen, weder unterstützend, noch mit einer Aussage gegen sie. Er war nicht bereit für eine Gegenüberstellung. Die letzten Wochen hatten seine Welt vollkommen auf den Kopf gestellt.
Erst wurde er von Beast Island gerettet, einer Insel, auf die man normalerweise zum Sterben geschickt wird.
Die Hoffnung, seine Frau endlich wiederzusehen, hatte beinahe säuerlich in seinem Inneren gebrannt.
Hatte sie sich einen neuen Mann gesucht? Micah hätte dafür Verständnis gehabt. Keine Frau wartet fünfzehn Jahre auf ihren Mann. Sie hatten ihn vermutlich schon kurz nach der Schlacht für tot erklärt.
Auf Beast Island gibt es keine Verbindung zur Außenwelt. Wer dort lebt, führt ein Leben ohne Nachrichten seiner Hinterbliebenen.
Doch die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Angella schwand so schnell wie sie aufgekommen war. Er hatte bis heute nicht nachgefragt, was mit ihr passiert war. Dazu war er ebenfalls nicht bereit.
Aber Glimmer war Königin. Das war immerhin eine Nachricht, auf die er sich freuen konnte.
Das letzte Mal hatte er seine Tochter gesehen, da war sie noch ein Säugling.
Am Tag seiner Abreise schlief sie tief und fest in den Armen ihrer Mutter. Angella hatte sich in einen Schaukelstuhl ans Fenster gesetzt. Das Licht fiel durch die pastellfarbenen Vorhänge. Es wirkte so friedlich, dass er sie nicht stören wollte.
Anstatt sich von seiner Frau und seinem Kind zu verabschieden, brannte er sich dieses Bild in sein Gedächtnis, um möglichst schnell wieder an ihre Seite zurückzukehren.
Er war so ein Narr gewesen!
Statt seiner Tochter sah er sich bei seiner Rückkehr dann mit seinem schlimmsten Albtraum konfrontiert. Schlimmer als jedes Monster auf Beast Island. Dieser Albtraum fläzte sich regelrecht respektlos auf dem Thron seiner Frau!
Shadow Weaver wieder zu sehen brach alte Wunden auf... und lang vergessene, unerledigte Angelegenheiten.
Das würde sich jetzt ändern. Ein für allemal!
Er folgte in sicherer Entfernung dem Trupp, der Shadow Weaver umgab. Als ehemaliger König befolgten die meisten immer noch seine Befehle, ohne sie zu hinterfragen. In Shadow Weavers Kammer zu gelangen, war kein großes Hindernis für ihn.
Die Gildenmitglieder von Mystacor hatten den Bannkreis um Shadow Weaver herum vollendet, der ihr selbst in dem kleinen Raum die Bewegung einschränken sollte. Sie errichteten ihn lediglich um die Angeklagte herum, ohne ihr das mindeste an Annehmlichkeiten zu gewähren.
Die Magier blickten Micah verwundert und ratlos an.
"Lasst uns allein", befahl er ihnen.
Sie reagierten nicht, stattdessen tauschten sie gegenseitig unsichere Blicke aus.
Micah verlor sehr schnell die Geduld. Im nu wob er einen Zauberspruch in die Luft - ein einfacher Feuerzauber ohne jegliche Kraft oder Hitze. Er warf ihn auf die verwirrten Magier. "Ich sagte: Lasst uns allein!"
Shadow Weaver schmunzelte. "So begierig darauf, mit mir allein zu sein? Ich wusste gar nicht, dass du solche Gefühle hegst", spottete sie als die Magier den Raum verlassen hatten.
Micah wartete darauf, dass die Tür sich schloss und drehte sich schließlich entschlossen zu ihr um.
"Du wirst mich so nicht ansprechen, egal, ob wir alleine sind oder nicht! Hörst du? Ich werde es nicht zulassen, dass du dich in den Köpfen anderer austobst, wie du es anscheinend die letzten zwanzig Jahre auch getan hast! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es danach war? Wie viel Kraft es gekostet hat, das Chaos zu beseitigen, das DU hinterlassen hast? Du hast nicht nur Mystacor geschwächt, dass wir jederzeit mit einem Angriff rechnen mussten, nein, du hast auch alle anderen Schüler mit deiner selbstgefälligen Suche nach mehr Macht in Gefahr gebracht! Ich habe dir vertraut! Du warst ein Vorbild für mich! Ich dachte, die Verbindung zwischen uns hätte dir irgend etwas bedeutet! Aber du hast mich nur benutzt... oder? Ich war nur eine weitere Puppe für dich, die du nach Herzenslust benutzen konntest. Waren all die Jahre nur eine Scharade für dich?" Micah lachte und schüttelte den Kopf.
"Du warst ... nein, du bist eine sehr gute Schauspielerin. Du nimmst dir die innersten Wünsche deiner Schüler, Kadetten, Gegner... Vorgesetzten oder von wem auch immer, und verdrehst sie so, dass sie alles für dich tun. Aber glaube mir, darüber bin ich längst hinweg! Ich habe mir lange Zeit danach noch Vorwürfe gemacht! Auch als man mich zum Magistrat ernannte! Ich habe mich immer gefragt, was hätte sein können, ob ich etwas übersehen hatte... oder ob ich etwas anders hätte machen können! Damit das Ganze nicht passiert wäre! Damit du nicht zu dem wurdest, was du heute bist!"
Micah atmete schwer. Sie stand einfach da und blickte ihn schweigend an. Ruhig. Berechnend. Die eisernen Fäustlinge übereinander gelegt. Nicht einmal ihre Augen ließen eine Gefühlsregung erkennen.
"Ich wollte es lange Zeit nicht wahr haben. Die ganzen Jahre habe ich die Schuld bei mir gesucht. Light Spinner würde doch niemanden in Gefahr bringen... Alles andere wäre eine aufschlussreiche Erklärung gewesen, aber Light Spinner würde so etwas doch nicht tun! Nie! Selbst als Magistrat konnte ich dir nicht die Schuld dafür geben! Dabei hast du die ganze Zeit damit gerechnet, dass es fehl schlagen könnte, oder nicht? Und trotzdem hast du es durchgezogen!"
Er drehte ihr den Rücken zu. Die Schultern gesenkt. Mit einer ausgelaugten Handbewegung fuhr er sich über das müde Gesicht.
"Dein ganzes Leben lang hast du die Menschen in deiner Umgebung nur benutzt und manipuliert. Und für was? Für deine eigenen persönlichen Ziele. Mehr Macht! Mehr Magie! Mehr Kontrolle über alle anderen! Und nur du solltest sie bekommen. Was hattest du damit überhaupt vor? Wenn dein Plan damals funktioniert hätte: Was hättest du danach getan? Wenn alles wieder seine normalen Wege gegangen wäre und wir mit deiner Hilfe Hordak von Etheria verbannt hätten, bevor Horde Prime uns entdecken konnte... Was hättest du dann gemacht? Wenn jemand nicht in deinen Plan gepasst hätte? Du als allmächtige Magierin auf dem ganzen Planeten! Hättest du dann dein eigenes Imperium errichtet? Deine eigenen Freunde und Familie in den Kerker geworfen und verrotten lassen, wenn sie dir widersprochen hätten? Wo hättest du den Schlussstrich gezogen? Wer hätte dich stoppen können, wenn du die falschen Entscheidungen getroffen hättest? Hättest du die Leute in Frieden leben lassen oder in einer Diktatur der Sklaverei unterjocht?"
Er atmete tief durch. Das Ganze hatte ihn doch mehr aufgeregt als er vorher zugeben wollte. All die aufgestauten Selbstzweifel, die verwirrten Gefühle, alle Schuld, die er seitdem verspürte, brachen wie eine Welle über ihn herein.
Nein, den Sieg über seine Gefühle wollte er ihr nicht gönnen.
Er drehte sich wieder zu ihr um. Gesammelt, ruhig, besonnen. Seine Stimme klang rau als er weitersprach. "Du hast mich benutzt, und ich konnte dich nicht dafür hassen. Du hast mich manipuliert und mir das Gefühl vermittelt, wichtig zu sein... für dich. Es war alles nur ein Spiel für dich, und ich konnte dich nicht dafür hassen. Du hast uns verraten und im Stich gelassen! Und selbst dafür konnte ich dich nicht hassen. Egal, was du gemacht hast, wie schlimm es auch war... ich konnte dich nicht hassen... und dafür hasse ich dich am meisten!"
Die Ketten ihrer Fesseln erklangen hell als sie ihre Hände sinken ließ. Und dennoch stand sie regungslos da wie zuvor.
Erbost wandte er den Blick ab. "Hast du dazu nichts zu sagen?" fragte er schließlich nach einer langen Pause.
"Du hast genug für uns beide gesagt. Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen", war ihre Antwort.
Damit wollte er sich nicht zufrieden geben.
Bevor er etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgestoßen. Einige Soldaten und Magier versuchten, den Eindringling abzuhalten, aber sie hatten keine Chance.
Es war Adora, und sie war sehr wütend.
"Ich will meine Erinnerungen zurück!"
Die Sonne war bereits untergegangen als er in seine Gemächer zurückkehrte. Der Tag war wie vorhergesehen anstrengend gewesen und der Schlafmangel hatte Micah daran erinnert, dass er wirklich nicht mehr der Jüngste war.
Es waren Tage wie dieser, an denen er an sich zweifelte. An seinen Entscheidungen. An seinem Leben. Nicht, was er hervorgebracht hat, aber was hätte sein können.
Er erinnerte sich nur ungern an die Verhandlung gegen Shadow Weaver vor zwei Jahren. Die Urteilsverkündung hatte er sich nicht mehr angesehen.
Das Leben hatte ihm bereits eine zweite Chance gegeben. Er hatte seine Tochter, eine sehr fähige Königin. Sein Leben verlief wieder in geordneter Bahn, ohne dass er sich darum fürchten musste, den nächsten Morgen zu erleben und nicht nachts von Monstern getötet zu werden.
Es herrschte Frieden überall.
Sah sein Frieden so aus? Bei Hofe und politischen Beschlüssen?
Seine Finger strichen sanft über den Brief, den er wieder aus der Schublade geholt hatte.
Sein Zögern verebbte.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und Papier und Tinte hervor. Die Zeilen schrieben sich fast von selbst.
Living in denial kann manchmal doch ganz angenehm sein! :D
Kurz zur Geschichte: Die Anhörung findet kurz nach dem Krieg statt und liegt jetzt mittlerweile zwei Jahre zurück. Manchmal vergesse ich, sowas zu erwähnen... sorry!
And now: Enjoy!
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Kapitel 2 - Zweifel
Lautes Stöhnen erfüllt von Schmerz und Leid durchbrach die nächtliche Stille, gefolgt von einem Aufschrei.
Schweißgebadet hatte er sich ruckartig aufgesetzt und schaute sich schlaftrunken um.
"Wo...? Oh, den Gründern sei Dank! Ich bin nicht auf Beast Island!" Erleichtert ließ er sich zurück auf das Kopfkissen sinken.
Die Albträume hatte er nach seiner Rückkehr jede Nacht gehabt, monatelang. Sie plagten seine Seele, seinen Verstand. Mit der Zeit waren sie allmählich verschwunden.
Umso erschütterter fühlte er sich über ihre Rückkehr.
Sein Blick fiel auf die kleine Uhr neben seinem Bett.
Die Nacht würde bald vorbei sein. Es lohnte sich nicht mehr, sich noch einmal schlafen zu legen, auch wenn der Tag erneut anstrengend und lang währen würde.
Müde raffte er sich auf und schwang die Beine über die Bettkante.
Der Boden war eiskalt.
Sein menschliches Gedächtnis war ein Segen, denn es vergaß recht schnell, wovon der Traum handelte. Er hatte lediglich das Gefühl, eine sehr lange Strecke gerannt zu sein, auf der Flucht vor... ja, vor was eigentlich?
Das war jetzt unwichtig.
Es spielte keine Rolle mehr, denn er war in seinen Gemächern auf Bright Moon. Die Monster, die hier lauerten, hatten keine scharfen Zähne und waren auch nicht riesig und von grauenvollem Antlitz. Die Monster bei Hofe waren gut gekleidete, intrigante Adelige, vor denen er sich in Acht nahm. Vielleicht war er aber auch einfach nur zu sehr in seiner alten Welt gefangen, so dass er hinter jedem Gesicht ein Monster erwartete.
Die blanken Fußsohlen tappten über den Boden zum Waschschrank. Er goss sich ein Glas Wasser ein und trank es mit großen Schlucken wie ein Verdurstender.
Die Schrecken der Nacht verebbten schließlich ins Nichts, und er fühlte sich langsam wieder wie er selbst.
Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel über dem Waschtisch. Seine grauen Strähnen leuchteten beinahe in der Dunkelheit.
"Nun, jünger wirst du auch nicht mehr, alter Mann", belächelte er sich selbst. "Wenn der Tag schon so früh beginnt, kann ich auch etwas für meine Figur tun. Der höfische Alltag lässt mich ganz schlaff aussehen..." Er betrachtete seinen Bauch. Die letzte Trainingseinheit war auch schon etwas länger her.
Entschlossen zog er sich also um und verließ seine Gemächer. Sein Ziel würde der Exerzierplatz sein, auf dem die Wachen und Soldaten trainierten. Zu dieser Nachtzeit dürfte er dort alleine sein.
***
Adora spürte jeden Knochen in ihrem Körper.
Und sie fühlte sich müder als die letzten Tage zuvor, obwohl sie in einem weichen Bett geschlafen hatte anstelle vom steinigen oder moosbewachsenen Boden.
Auch wenn sie als Heldin von Etheria gefeiert wurde und sich so manch anderer auf den Lorbeeren ausruhen würde, so etwas war ihr zutiefst zuwider. Sie spürte immer noch die Nachwirkungen der Erziehung als Horde Soldat. Müßiggang lag ihr gar nicht.
Und so nutzte sie die ersten Stunden des Morgens zum trainieren. Das hielt ihren Geist auf Trab und sie musste sich nicht mit Dingen beschäftigen, die sie gerne von sich schob. Problembewältigung sah anders aus und das war ihr auch bewusst, trotzdem ignorierte sie diese lieber.
Nach den ersten hundert Pushups ging sie zum Wasserbecken und füllte ihre Flasche nach.
Sie hatte sich schon in ihrem Zimmer umgezogen. Bei den Baracken der Soldaten gab es zwar einen Spind für sie, aber seit sie als Retterin des Planeten gefeiert wurde, fanden sich dort immer mehr Briefe und Blumen von Verehrern und Verehrerinnen ein. Sobald sie dann den Spind öffnete, fielen die Geschenke und Zettelchen dann explosionsartig heraus.
Dafür hatte sie weder die Lust noch die Zeit sich darum zu kümmern.
So viele Leute, die mit ihr befreundet sein wollten. Damit kam sie einfach nicht klar.
"Und ich dachte, ich hätte den Platz für mich allein!" hörte sie jemanden hinter ihr lachen.
Erschrocken drehte sie sich um als sich eine Person aus dem Schatten schälte.
"Micah!" stieß sie überrascht aus und konnte sich noch im letzten Moment davon abhalten, aus Reflex zu salutieren.
"Endlich jemand, der mich nicht mit irgendeinem Titel anspricht!" Micah ging zum Wasserbecken und ließ sich das Wasser in die zur Schale geformten Hände fließen, um sein Gesicht darin einzutauchen.
"Du hast mir oft genug gesagt, dass du nicht so angesprochen werden willst, und daran halte ich mich", erklärte Adora ihm.
Micah trocknete sein Gesicht mit einem Handtuch ab, das er über seine Schulter trug. "So früh schon wach? Ich hätte nicht damit gerechnet, dich heute überhaupt außerhalb deiner Kammer zu sehen. Du warst gestern am Tisch einfach eingeschlafen... wie ein Stein."
Adora kratzte sich verlegen am Kopf. "Ja, die Rückreise war etwas turbulent, und ich war spät dran!"
"Glimmer hat es überhaupt nicht gefallen, dass du von deiner Route abgewichen bist. Das solltest du als Vorwarnung sehen, wenn du dich heute mit ihr triffst", riet er ihr. "Also, was steht heute auf deinem Trainingsplan?"
"Eigentlich nur ein paar Krafttrainingsübungen", erklärte Adora hastig.
"Wie wäre es mit ein paar Aufwärmübungen und ein, zwei Runden mit einer Trainingswaffe deiner Wahl?" schlug Micah vor.
Adora lachte nervös auf. "Wenn ich nicht wegen Hochverrat verklagt werde, weil ich den ehemaligen König von Bright Moon verdroschen habe..." Und grinste dabei schelmisch.
"Ich werde versuchen, es dir nicht allzu leicht zu machen!"
Sie trainierten bis die Sonne aufging und das Schloss mit einem Mal zum Leben erwachte. Auf einmal liefen Soldateneinheiten geordnet und im Gleichschritt um den Platz herum.
Die Wachen wurden abgelöst.
Aus der Ferne waren Glockenschläge zu hören.
Micah atmete schwer und war ein wenig neidisch, dass Adora nur etwas schwitzte, aber ansonsten keine sonderlich große Anstrengung zeigte.
Verdammte Jugend!
Zum Ende hin stand es 5 zu 2 für Adora.
Mit erhobenen Händen hielt er seinen Trainingsstab von sich weg. "Ich gebe auf! Ich gebe auf!"
Adora hatte gerade zum nächsten Schlag angesetzt und hielt im letzten Augenblick inne.
Micah setzte den Stab auf den Boden und stützte sich darauf ab. "Ich weiß, wann ich verloren habe, und gegen dich habe ich einfach keine Chance!" Er lachte und suchte sich die nächste Bank zum verschnaufen.
"Dabei bin ich gerade erst richtig warm geworden!" Adora klopfte sich selbstgefällig den Staub von der Hose.
"Irgendwann kommst du auch in so ein Alter, und dann werde ich zur Stelle sein und... dich vermutlich immer noch nicht schlagen können, weil ich dann selber älter bin!" Beide lachten.
Adora setzte sich neben Micah auf die Bank und atmete tief durch. Die Soldaten exerzierten mittlerweile in Reih und Glied vor ihnen, so dass es teilweise richtig laut wurde.
"Kann ich dir etwas sagen?" fragte Adora schließlich so leise, dass er es beinahe überhört hätte.
"Adora, du weißt, dass ich dazu niemals nein sagen werde! Also, was hast du auf dem Herzen?" fragte Micah ermutigend.
"Ich finde es immer noch seltsam, mit anderen über Dinge zu sprechen, die mich beschäftigen. Mit Glimmer und Bow war das etwas anderes. Mit den beiden konnte ich immer sprechen... über alles. Aber seit der Krieg vorbei ist, scheint jeder mit seinen eigenen Aufgaben beschäftigt zu sein." Adora hielt kurz inne und schob den Kies mit ihren Schuhen vor der Bank umher. "Wir haben einen gemeinsamen Nenner", eröffnete sie schließlich.
Da wusste er schon, was Adora damit meinte.
"Und möchtest du über diesen Nenner sprechen?" fragte er nach.
"Ich weiß, dass du nicht mehr mit ihr gesprochen hast..." fing sie an.
"Um ehrlich zu sein, haben wir an einem Abend miteinander gesprochen. Oder besser gesagt, ich habe gesprochen und sie hatte nicht mehr viel hinzuzufügen. Ich bin nicht stolz darauf", erklärte Micah ohne Adora dabei anzusehen.
"Davon hat sie nie geredet!" rief Adora verwundert aus.
"Was meinst du damit?" hakte Micah nach.
"Ich habe es bisher niemandem gesagt, aber wenn ich auf einer Mission bin, besuche ich sie immer", gestand Adora hastig. "Ich habe es niemandem erzählt, weil ich nicht wollte, dass man mir Vorwürfe machen könnte, ich würde mit Verrätern sympathisieren... oder irgend etwas in der Art."
"Wie hast du sie gefunden?" wollte Micah wissen.
"Ich habe bei der Eskorte lange genug Zeit gehabt, um mit ihr zu reden, wenn es niemand mitbekam", erklärte Adora. "Sie hat mir gesagt, in welche Richtung sie gehen würde und ich bin ihr irgend wann einmal gefolgt, um sie zu suchen. Ich wusste auch nicht, was mich erwarten würde, ob sie wieder in ihr altes Verhaltensmuster zurückgefallen war, oder ob sie mich überhaupt nicht mehr sehen wollte. Irgend wann muss schließlich jeder mal einen Schlussstrich ziehen wollen... Aber ich habe sie dann wirklich gefunden!"
"Wie war das für dich?" fragte Micah, obwohl ihm andere Fragen auf der Zunge brannten.
"Sie hat sich gefreut, mich zu sehen und sie war ganz anders als sonst... Sie wirkte irgendwie... Ich weiß nicht, ob das das Wort ist, mit dem man Shadow Weaver in Verbindung bringen kann, aber sie wirkte tatsächlich beinahe glücklich."
"Wundert dich das?"
"Nein... Ich meine, eigentlich... Ja. Ich habe sie noch nie so... entspannt erlebt. Und sie hat auch keine Maske mehr getragen... Stattdessen... äh."
"Einen Schleier, der Nase und Mund verdeckt?" fragte Micah als Adora nicht mehr weitersprach.
"Ja. Ich konnte ihre Augen das erste Mal sehen... das war so merkwürdig. Daran konnte ich mich zuerst gar nicht gewöhnen", sagte Adora und rieb sich dabei die Arme als würde es sie vor Kälte schütteln.
"Ich kannte sie nur so... damals jedenfalls", warf Micah ein. "Das war auch gewöhnungsbedürftig. Auf Mystacor hat niemand sein Gesicht verschleiert. Aber bei Light Spinner hat es niemand in Frage gestellt. Sie war also glücklich, sagst du?"
"So wie ich das beurteilen konnte... Vielleicht konnte sie endlich nach langer Zeit sie selbst sein? Sie ist ein großes Mysterium für mich, und doch... liebe ich sie, glaube ich", gestand Adora zögernd.
"Das ist nur natürlich, sie hat dich aufgezogen. Hat sie dir deine Erinnerungen zurückgegeben? Ich habe mir den Rest der Verhandlung nicht mehr angesehen."
"Ja", antwortete Adora und wirkte auf einmal abwesend.
***
Es war der erste Tag der Verhandlung.
Die Allianz von Etheria gegen Shadow Weaver.
Dass die Verhandlung überhaupt stattfinden würde, hatte jeden überrascht.
Der Vorschlag war in einer kleinen Runde gefallen, gleich in der ersten Woche nachdem der Krieg beendet war.
Und der Vorschlag kam von Shadow Weaver selbst.
Der Tag hatte früh mit den Vorbereitungen begonnen. Die Verhandlung fand öffentlich statt und sollte als Exempel statuiert werden zu Gunsten Glimmers Ansehen als Königin.
So war der Plan.
Der Thronsaal war bestuhlt worden, damit die Wachen Kontrolle darüber hatten, wie viele Menschen in den Saal eingelassen wurden, und damit den wichtigen Personen, wie Zeugen und Ankläger, genügend Platz zur Verfügung stand.
Kein Stuhl blieb leer, und auch draußen standen die Leute Schlange und hofften noch darauf, einen Platz zu ergattern, sollte jemand den Saal verlassen wollen. Andere hatten sich im Gang aufgereiht, um Informationen gleich nach draußen zu tragen - etwa über die Anklagepunkte oder die vielleicht schockierenden Aussagen, die zutage gefördert würden.
Die Anklage war behelfsmäßig einen Tag vorher zusammengeschustert worden.
Glimmer hatte eine Voraussetzung festgelegt:
Es mussten alle Punkte rechtzeitig vorgelegt werden. Wenn Anklagen nachgereicht würden, dann würden sie nicht einbezogen werden und Shadow Weaver könnte nicht dafür belangt werden. Egal, was noch aufgedeckt werden könnte, und wie schwerwiegend dieses Verbrechen sein könnte.
Trotzdem waren eine Menge Akten in der kurzen Zeit vorgelegt worden.
Der Saal brummte wie ein Bienenstock.
Als die Türen sich öffneten und Shadow Weaver hereingeführt wurde, verstummte die Menge, so dass man eine Stecknadel fallen hören konnte.
Die Hände der Gefangenen waren mit eisernen Fäustlingen ummantelt und aneinander gekettet, so dass sie weder ihre Finger noch ihre Hände bewegen konnte, um etwa einen Zauberspruch zu weben.
Shadow Weaver war von zwei Soldaten gesäumt und drei Magiern, die von Mystacor geschickt wurden, um für ihren sicheren Gewahrsam zu sorgen.
Vor dem Thron waren zwei Stände aufgestellt, welche den Sprecher von der Menge abheben sollte. Die Wachen führten Shadow Weaver die Treppenstufen eines der Stände hinauf und verließen sie dann wieder. Shadow Weaver konnte sich lediglich auf das Gelände stützen. Ein Stuhl blieb ihr verwehrt.
Die drei Magier woben einen mächtigen Spruch in die Luft, der sich um den Stand herum aufbaute und Shadow Weaver in eine magische Kuppel aus einer blau leuchtenden Membran sperrte. Auch wenn sie sich von den Ketten befreien würde, so konnten die Magier dafür sorgen, dass die Angeklagte nicht fliehen konnte.
Aber wozu sollte sie das auch?
Es war schließlich ihr eigener Vorschlag gewesen.
Die Anwesenden fingen erneut zu tuscheln an. Wobei einer dann etwas sehr groteskes in den Saal hinein rief und alle auf einmal lauthals zustimmten.
"Ruhe!" herrschte George, der neue Berater der Königin. Er stand auf der zweiten Stufe zum Thron hin und zog eine Pergamentrolle aus. "Wir sind heute versammelt, um über das Schicksal von Shadow Weaver, ehemals bekannt unter dem Namen Light Spinner, zu entscheiden. Es werden Zeugen für und gegen sie aussagen und Beweise vorgelegt werden. Die Entscheidung wird allein von Königin Glimmer gefällt. Ruhestörungen werden mit sofortiger Entfernung aus dem Thronsaal bestraft! Erhebt Euch jetzt für die Königin!"
Stühle quietschten über den Boden und Schuhsohlen schabten als alle aufstanden.
Glimmer trat durch einen Seiteneingang ein, begleitet von drei Wachen. Ihr folgten Micah als ehemaliger Regent Bright Moons, die Prinzessinnen und mindestens ein Vertreter ihres Volkes und zum Schluss Adora. Sie wirkte niedergeschlagen und sah nicht einmal zu Shadow Weaver herüber.
Die Königin stellte sich vor ihren Thron und wartete darauf, dass alle Prinzessinnen und Abgesandten ihren Platz erreicht hatten. Erst als sie sich hinsetzte, nahmen auch alle anderen Platz und die Anhörung konnte beginnen.
"Ruhe!" ermahnte George die Menge erneut. "Shadow Weaver, ich werde die Verbrechen verlesen, welcher Ihr angeklagt werdet, danach werde ich Euch fragen, ob Ihr Euch schuldig oder nicht schuldig bekennt. Habt Ihr das verstanden? Antwortet mit Ja oder Nein."
"Ja", antwortete Shadow Weaver ruhig.
"Anklagepunkt Nummer 1: Der eindeutig und bezeugbare Mord an drei Mitgliedern des magischen Hohen Rates von Mystacor vor vierundzwanzig Jahren, darunter Magistrat Norwyn. Anklagepunkt Nummer 2: Verrat an der magischen Akademie und an allen Königreichen von Etheria mit Wechsel der Seite zur Seite von Hordak und seiner Horde. Anklagepunkt Nummer 3: Beihilfe zum Annektierungsversuch von Etheria durch eine außerweltliche Macht. Anklagepunkt Nummer 4: Beihilfe zum Mord von etwa vier Millionen Etherianern. Anklagepunkt Nummer 5: Beihilfe von Kindesentführungen in mehr als 300 000 Fällen. Anklagepunkt 6: Psychische Manipulation und Missbrauch der entführten Kinder."
Das war es also, was sie in den letzten 24 Stunden notgedrungen zusammentragen konnten.
Die Menge tuschelte wieder aufgebracht, so dass George warten musste bis sie sich wieder beruhigt hatten.
"Ich werde Euch jetzt zu jedem Punkt auffordern, Euch schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Habt Ihr das verstanden?" fragte George mit ernster Mine und bereit dazu, ihr Bekenntnis zu notieren.
"Ja", erklärte Shadow Weaver.
"Gut, Anklagepunkt 1: Der Mord an Magistrat Norwyn und zwei seiner Ratsmitglieder."
"Schuldig", antwortete Shadow Weaver schlicht. Die Menge raunte. Bisher war nie wirklich an die Öffentlichkeit gelangt, was auf Mystacor passiert war an diesem verhängnisvollen Tag vor vierundzwanzig Jahren.
George notierte sich die Antwort.
"Anklagepunkt 2: Verrat an der magischen Akademie und allen Königreichen von Etheria."
"Schuldig."
"Anklagepunkt 3: Beihilfe zum Annektierungsversuch von Etheria."
"Schuldig."
"Anklagepunkt 4: Beihilfe zum Mord von zirka vier Millionen Etherianern."
"Nicht schuldig."
George notierte alles mit und sah doch etwas verwundert zur Angeklagten hinüber.
"Anklagepunkt Nummer 5: Beihilfe von Kindesentführungen in mindestens 300 000 Fällen."
"Nicht schuldig."
Das war der Punkt, an dem Micah zu Adora hinüber blickte. Ihr Gesichtsausdruck war stoisch und ließ nicht erahnen, wie sie das alles auffasste.
"Anklagepunkt 6: Psychische Manipulation und Missbrauch der entführten Kinder."
"Nicht schuldig."
Sechs Anklagepunkte und die dazugehörigen Beweise und Zeugen. Das würde eine lange Verhandlung werden.
Glimmer schien bereits von Anfang an missgelaunt und dem ganzen Prozess abgeneigt gewesen zu sein. Doch sie hörte sich alles an, denn sie würde am Ende die Entscheidung fällen müssen.
"Ich übergebe das Wort an die Ankläger von Mystacor, Magistratin Castaspella und Archivar Namorien. Sollte an Eurer Aussage, Shadow Weaver, während der Befragung Zweifel entstehen, werdet Ihr mit einem Wahrheitszauber belegt. Überlegt Euch also gut, ob es sich lohnt, die Wahrheit zu verschweigen."
George zog sich zurück an seinen Platz, wo drei weitere Archivare aus seiner Bibliothek saßen und eifrig Protokoll führten.
Castaspella und Namorien stellten sich auf den zweiten Stand mit dem Blick zur Königin gerichtet.
"Am Tag als die drei Monde der Verzauberung in einer Linie standen wurde von Light Spinner mit der Unterstützung von meinem Bruder einen Spruch geschaffen, der seit Jahrhunderten verboten ist", fing Castaspella an.
"Welcher Spruch war das und warum ist er verboten?" fragte George.
"Es war der Spruch des Obsiegens. Er ist verboten, weil er unkontrollierbar ist. Er kann dem Magier unendlich viel Macht verleihen oder ihn zerstören und in einen Parasiten verwandeln, der sich an jede magische Kraft haftet und sie anzapft. Shadow Weaver, damals noch Light Spinner, hat dem Hohen Rat den Vorschlag gemacht, den Spruch anzuwenden, um Macht zu erlangen und somit imstande zu sein, die Horde zu vertreiben. Der Hohe Rat hat den Vorschlag abgelehnt. Das hat Light Spinner aber nicht davon abgehalten, den Spruch trotzdem vorzubereiten und durchzuführen, mit Hilfe meines Bruders, der zu der Zeit erst vierzehn Jahre alt war!"
Die Menge begann unruhig zu werden und Castaspella hielt irritiert inne.
"Ruhe!" herrschte Königin Glimmer und prompt war es wieder still. "Fahrt fort."
"Ja, Eure Majestät. Light Spinner hat den Spruch durchgeführt als die Mondkonstellation richtig stand, und der Spruch schlug fehl. Als Magistrat Norwyn mit zwei anderen Mitgliedern des Hohen Rates eintraf war es schon zu spät, den Spruch wieder abzubrechen. Er hatte die Dimension durchbrochen und schwarze Dämonen erlangten Eintritt in die Halle der Magier. Sie ermächtigten sich Light Spinners Körper und machten sie zu dem, wovor Norwyn sie gewarnt hatte. Norwyn hat versucht, Light Spinner unschädlich zu machen, aber sie war zu stark für ihn. Sie konnten sich nicht einmal zu dritt gegen sie behaupten und verloren dadurch ihr Leben. Nur Micah hat sie damals verschont."
"Wie kam es dazu, dass die Ratsmitglieder ihr Leben verloren?" hakte George nach.
"Magistrat Norwyn wurde von ihrer Macht absorbiert. Die anderen zwei erlagen ihren Verletzungen kurz nach dem Vorfall", erklärte Castaspella.
"Wieso wurden sie nicht geheilt?" fragte George weiter.
"Die Verletzungen waren nicht natürlicher Art. Sie hatten dämonische Narben und Abzeichnungen auf ihren Körpern. Die Heiler konnten sie nicht retten und kein Magier auf Mystacor hatte die Macht, die Dämonen zu verbannen, die von ihren Körpern zehrten", meldete sich Namorien das erste Mal zu Wort.
"Welche Nachwirkungen hatte der Vorfall für Mystacor? Schließlich waren drei von sieben Mitgliedern des Hohen Rates getötet worden oder sind gestorben und Light Spinner, die auch dem Hohen Rat angehörte, war geflohen", wies George sie darauf hin.
"Mystacor wäre beinahe zerstört worden. Aufgrund der dämonischen Mächte, die Einlass erhalten hatten in die magische Halle, war der Schutzschild geschwächt worden, der Mystacor umgibt. Es fehlten erfahrene Magier, die das Gleichgewicht in der Halle wiederherstellen konnten. Es kam außerdem heraus, dass Light Spinner unerlaubt magische Kristalle aus der Halle entfernt hat. Alte Kristalle mit hohem magischen Potential", beschrieb Namorien.
"Zum Verständnis aller: Was hat es mit den Kristallen auf sich?" fragte George.
"Die Kristalle werden in aufwendigen Verfahren erschaffen. Man benötigt eine Menge magischer Zutaten und Kraft, um sie zu erschaffen. Die Kristalle waren sehr alt und somit ein Teil der Geschichte von Mystacor. Die fehlenden Kristalle und der geschwächte Schild hat Mystacor lange Zeit verwundbar gemacht. Ohne die Hilfe von Bright Moon hätte Mystacor ein leichtes Ziel der Horde werden können. Der Vorfall hat jahrelang für Lehrermangel und Ressourceneinbußungen gesorgt", erläuterte Namorien weiter. Seine Stimme klang dünn und fasrig, und er gab sich sehr viel Mühe, verständlich zu sprechen. Dieser Archivar hatte zu viele Jahre in seiner eigenen Kammer verbracht und war diese Art von Aufmerksamkeit nicht gewohnt.
"Wurde Mystacor angegriffen, nachdem Light Spinner die Seite gewechselt hatte?" fragte George.
"Nein", antwortete Castaspella. "Wir wären ein leichtes Ziel gewesen, aber wir wurden nie angegriffen."
"Obwohl Light Spinner wichtige Informationen jederzeit an Hordak weitergeben konnte?" merkte George an.
"Mystacor wurde nie von der Horde angegriffen", bestätigte Castaspella schlicht.
"Danke für Eure Auskunft."
George entließ die beiden Zeugen und die Verhandlung ging weiter. Es wurden noch mehr Zeugen aus Mystacor und aus anderen magischen Akademien befragt.
Die Verbrechen waren kleine Bagatellen, die zutage gefördert wurden. Versteckte Bücher, verbotenes Wissen. Sie zeichneten ein Gesamtbild von Light Spinners Handlungen ab, die vom Hohen Rat nicht genehmigt waren. Ein Zutagefördern hätte sie damals schon ihren Posten als Ratsmitglied kosten können.
Die Anklage allein zu Punkt eins zog sich bis zum frühen Nachmittag hin.
Dabei konnte die Anklage nur durch Dokumente bezeugt werden.
Der Vorfall, der zum Tod der drei Ratsmitglieder geführt hatte, konnte nur durch eine Person bezeugt werden, und diese Person hatte schon vor Beginn der Anhörung darum gebeten, nicht aussagen zu müssen.
Micah wollte und konnte nicht gegen sie aussagen.
***
Der nächste Tag war angebrochen.
Der Andrang war immer noch groß, wenn nicht noch größer als am Tag zuvor. Noch immer wollten mehr Leute in der Anhörung Platz finden. Doch die Stühle waren alle besetzt und Stehplätze gab es nicht. So wollte man der Menge Herr werden. Kleinere Gruppen waren schneller zu bewältigen, sollte es während der Anhörung unruhig werden.
Die Verhandlung befand sich immer noch in der ersten Phase. Die Zeugen wurden vorgeladen und die Aussagen notiert. Bisher hatte niemand nach Shadow Weavers Motiven gefragt oder sie überhaupt zu Wort kommen lassen. Am ersten Tag hatte sie lediglich zehn Stunden mit zwei Pausen dazwischen auf ihrem Anklagestand verweilt und dabei zugehört, wie ihre Verbrechen Stück für Stück zutage gefördert wurden.
Micah hatte sie beobachtet, und versucht, irgend eine Gefühlsregung in ihr zu erkennen. Aber nicht einmal ihre Augen verrieten ihr Gemüt.
Er hasste diese Maske. Ihren Schleier hatte er ignorieren können, damals in der Akademie. Da konnte er wenigstens ihre Augen sehen.
Ihre Augen!
Einst konnte er in ihnen lesen wie in einem offenen Buch. Aber jetzt...?
Er hasste ihre Maske!
"Steht auf für Königin Glimmer!" kündigte George den Eintritt der Königin an.
Glimmer wirkte angespannter als am Tag davor. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe, die sie nicht kaschiert hatte. Auf Ihr Zeichen nahm die Menge wieder Platz und George begann mit seiner Ansprache.
"Wir haben uns heute versammelt, um die Anhörung fortzusetzen. Wir werden heute die Anklagepunkte 4 bis 6 erörtern. Zur Rekapitulation: Beihilfe zum Mord von zirka vier Millionen Etherianern. Beihilfe von Kindesentführungen in mindestens 300 000 Fällen. Und psychische Manipulation und Missbrauch der entführten Kinder. Vorwürfe, zu denen sich die Angeklagte als nicht schuldig bekannt hat." George setzte sein Tableau ab und sah Shadow Weaver ernst an. "Hat sich daran etwas geändert?"
"Nein", antwortete Shadow Weaver schlicht, und die Menge redete angespannt.
"Ruhe!" rief George.
Als die Zuschauer sich wieder beruhigt hatten, schaute er kurz auf seine Mitschrift und verkündete schließlich: "Es werden stellvertretend für unter Punkt vier und fünf aufgeführten 'Beihilfe zum Mord von zirka vier Millionen Etherianern' und 'Beihilfe von Kindesentführungen in mindestens 300 000 Fällen' Familien und Zeugen aus besetzten Dörfern und Städten vorgeladen, die in den letzten zwanzig Jahren von der Horde annektiert, zerstört oder vertrieben wurden."
Das überraschte die Anwesenden.
Wer bisher davon ausgegangen war, dass der Prozess im Schnelldurchlauf abgefertigt werden würde, wurde eines Besseren belehrt.
Die ersten Zeugen wurden über einen Seiteneingang hereingeführt und zum Zeugenstand gebracht. Es waren Leddrier aus der Bergregion von Talleddri. Ein Volk, dessen Gesichter dem einer Bergziege ähnelten, mit Hörnern, die aus der Stirn herausragten und Ohren, die mal mehr, mal weniger lang an den Seiten ihrer Köpfe herunterhingen. Auch Mund und Nase ähnelten mehr denen eines Tieres. Die Zeugen, die vorgeladen wurden, waren drei ältere Personen. Zwei Männer und eine Frau.
George verlies ihre Namen und Herkunft und begann die erste Befragung. "Wann wurde Eure Stadt das erste Mal angegriffen?"
Die ältere Frau meldete sich zuerst. Ihr Gesicht war ledrig vom Wetter gezeichnet. Ihre Stimme war fest und rau als sie sprach: "Der erste Angriff kam wie aus dem Nichts vor zirka 21 Jahren."
"Wie groß ist Ihre Stadt damals gewesen?" fragte George weiter.
"So weit ich mich erinnern kann, waren wir 23 Familien. Kinder, Eltern, Großeltern, Vettern", antwortete die Frau.
"Und was wurde in Ihrer Gemeinde hergestellt?"
"Wir waren nur ein paar Bergbauern, die Reis und Tee an den Bergausläufern anbauten. Wir hatten keine militärische Ausbildung und waren von den meisten Städten und Dörfern abgeschnitten", meldete sich einer der Männer zu Wort.
"Bitte schildern Sie den Tag, als die Horde eintraf", forderte George die Zeugen auf.
"Es war im Spätsommer. Die ganze Gemeinde war auf den Reisterrassen mit der Ernte beschäftigt. Sie kamen mit Fluggeräten und landeten mitten in den Feldern. Keiner wusste, wie es um ihn geschehen war. Wir hatten keinen wichtigen Einfluss. Unsere Gemeinde lag so weit ab vom Schuss, dass wir manchmal sogar von den anderen Städten abgeschnitten waren. Die Horde kam und nahm alle jungen Leute mit. Wir hatten keine andere Wahl. Selbst die Kleinsten haben sie uns genommen. Wir saßen auf einmal ohne Zukunft da. Wir waren nur noch eine Ansammlung von älteren Leuten, die ohne die Hilfe der Jüngeren die Ernte nicht einbringen konnten", erklärte der andere Mann.
"Wie viele Kinder und Jugendliche hat die Horde damals entführt?" hakte George nach.
"Das waren um die sechzig Kinder und junge Erwachsene", kam als Antwort.
"Sind Sie im Dorf geblieben oder gehörten Sie zu den Entführten?" fragte George, denn nach zwanzig Jahren sah jeder älter aus, und man konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer von der Horde tatsächlich mitgenommen wurde.
Die Frau meldete sich mit einem Handzeichen. "Mich haben sie entführt."
"Und Sie beide sind im Dorf geblieben?" hakte George nach.
Einstimmiges Nicken.
"Verzeihen Sie, wenn ich zu forsch klinge, aber sind Sie nicht alle im etwa gleichen Alter? Warum hat die Horde nicht Sie alle mitgenommen?" fragte George verwundert.
"Sie haben nur die Gesunden mitgenommen. Alle anderen, die krank waren oder ein Gebrechen hatten, wurden da gelassen."
"Und sie hatten so ein Gebrechen?"
"Wir hatten das Rotfieber mit geringer Überlebenschance. Deswegen hat die Horde uns nicht mitgenommen", erklärte einer der Männer.
"Was geschah dann? Mit dem Dorf? Und mit Ihnen bei der Horde?" fragte George sie nacheinander.
"Die Familien betrauerten den Verlust natürlich. Wir hatten schließlich keine Chance gegen sie. Die einzigen Gegenstände, die wir als Waffen hätten einsetzen können, wären unsere Erntemesser gewesen. Aber Messer sind wirkungslos gegen Schusswaffen und Kanonen, von denen wir gleicherart keine zuvor gesehen hatten. Der Winter kam und dann auch der nächste Sommer. Die Ernte folgte und wir hatten Schwierigkeiten, die Felder abzuernten. Die Horde kam wieder. Fast ein Jahr nachdem sie unsere jungen Leute mitgenommen hatten. Wir hatten Angst und die Leute flohen sofort von den Feldern zurück in ihre Häuser. Die Horde ließ sich davon natürlich nicht abhalten. Sie quartierten sich in unserem Dorf ein und machten uns einen Vorschlag."
"Was für ein Vorschlag war das?" fragte George weiter.
"Die Horde wollte auf dem Bergkamm, nahe dem Dorf, einen Wachtposten errichten. Sie quartierten sich also im Dorf ein und sorgten dafür, dass wir grundlegend versorgt waren. Wir hatten keine andere Wahl als mit ihnen den Handel einzugehen. Sie kümmerten sich um bessere Straßen bergauf und ins Tal hinein. Das brachte unserem kleinen Dorf ungemein viel Geld ein. Der Handel war vorher nie so gut und einfach gewesen. Die Entführten kamen jedoch nie zurück. Erst nach dem Krieg kamen einige, die sich noch an ihre alte Heimat erinnern konnten."
"Ihr wollt also damit sagen, dass ihr der Horde bessere Wege zu verdanken habt?"
"Ja, und eine bessere Versorgung", erklärte sein Gegenüber. "Unsere Region gehört keinem Königreich an. Wir sind also auf uns allein gestellt gewesen für sehr lange Zeit."
George rieb sich den Nasenrücken und atmete einmal tief durch. Sein Team von Schreiberlingen notierte eifrig die Aussage mit.
"Wie war es in der Horde als Jugendliche?" fragte George die Frau.
"Anfangs war es schwer, seinen Platz zu finden. Wenn man neu ist, kennt man die Regeln noch nicht so gut. Aber ich habe mich schnell zurecht gefunden", erinnerte sie sich.
"Haben Sie jemals Kontakt mit Shadow Weaver in Ihrer Zeit in der Horde gehabt?"
"Ja, sie hat uns unterrichtet. Die meisten kamen aus ländlichen Gegenden wie ich, da lernt man nur das, was man für den täglichen Gebrauch wissen muss. Shadow Weaver hat uns Lesen und Schreiben beigebracht, und auch Mathematik. Wenn ich im Dorf geblieben wäre, würde ich nur wissen, bis wann man die Saat ausgesetzt haben muss oder wann es eventuell Regen gibt, aber Schreiben konnte niemand von uns im Dorf."
"Und als Ihre Ausbildung bei der Horde beendet war und Sie ausgeschickt wurden, um bei der Einnahme von anderen Dörfern zu helfen, war Shadow Weaver da jemals anwesend und hat die Horde dabei aktiv unterstützt?" wollte George wissen.
"Nein, ich war nie auf einer Mission, bei der Shadow Weaver mitgekommen ist. Ich weiß gar nicht, ob sie jemals auf solchen Missionen dabei war", erläuterte sie.
George griff sich wieder an die Nasenwurzel und massierte seine Augenwinkel.
Dieser Auftakt war also gründlich missglückt und das war jedem klar.
Er entließ die Zeugen und die Nächsten kamen herein.
"Hat euer Dorf lange standhalten können?" fragte George eine Arnesiani aus den südlichen Ländern.
"Wir haben alles verloren. Die Horde hat niemanden am leben gelassen, der nicht mehr arbeiten konnte", erklärte die Arnesiani, die vielleicht Mitte 20, aber nicht älter sein konnte.
"Sie kamen also als Kind zur Horde?"
"Ja", antwortete sie schlicht.
"Wurden Sie von Shadow Weaver unterrichtet?" hakte er nach.
"Ja."
"Wie war sie als Lehrerin? Hat sie Sie jemals geschlagen? Oder schlecht behandelt?"
"Shadow Weaver hatte den Ruf, sehr streng zu sein. Wir hatten Respekt vor ihr und auch Angst, aber sie hat niemanden von uns jemals geschlagen."
"Ich konnte mich gerade vor ihnen retten. Sonst hätten sie mich auch abgeführt wie einen Vagabunden!" rief ein gesetzter älterer Drasi aus den purpurnen Wäldern. "Sie kamen von überall, über Nacht! Wir hatten als Jugendbande immer ein Versteck. Dahin hab ich mich verkrochen. Neben mir haben es noch zwei andere geschafft. Die anderen wurden abgeführt oder kamen bei den Kämpfen um."
"Hatten Sie jemals Kontakt mit der angeklagten Person zu Ihrer Rechten?" fragte George, obwohl er die Antwort schon erahnte.
"Nein, ich habe sie nie gesehen. Auch nicht in den Kämpfen die darauf folgten."
So ging das den ganzen Vormittag.
Keiner der Zeugen konnte ein grundlegendes Verbrechen gegen die Angeklagte hervorbringen. Nach ihren Aussagen war Shadow Weaver lediglich für die Ausbildung zuständig, und das sogar in einer durchaus humaneren Weise als man ihr zugetraut hätte.
George, sichtlich zerschlagen, holte den nächsten Zeugen herein.
"Das ist doch alles nur ein schlechtes Schauspiel!" rief eine erboste Stimme in den Raum. Es war Adora und sie war von ihrem Platz aufgesprungen, empört, und die Hände an ihren Seiten zu Fäusten gebildet.
"Adora?" fragte George verwirrt.
"Die Anklagepunkte sind falsch! Wann versteht das hier einer?" führte sie weiter aus. "Shadow Weaver hat nie aktiv an der Zerstörung des Planeten mitgewirkt! Sie hat auch keine Kinder geschlagen oder sonst wie misshandelt. Ihre Erziehungsmethoden waren reichlich fragwürdig, das gebe ich zu, aber sie hat niemals Hand angelegt oder anderen sonstigen körperlichen Schaden zugeführt. Die einzigen, die sie wirklich manipuliert hatte, waren Catra und ich! Und wir wissen mittlerweile, warum sie das getan hat! Also warum weiterhin um den heißen Brei herumtanzen?" Sie hatte sich so in Rage geredet, dass ihr Gesicht leicht errötet war.
George nickte kurz dem Wachtposten zu, der den neuen Zeugen hereingebracht hatte. Dieser wurde gleich wieder aus dem Saal herausgeführt.
"Also gut, dann berufe ich Adora in den Zeugenstand."
Adora starrte ihn fassungslos mit aufgerissenen Augen an.
"Aber...", stammelte sie.
Ihre Bewegungen wirkten abgehackt und fremdgesteuert als sie einen Schritt zurückwich bis sie mit den Kniekehlen gegen ihren Stuhl stieß.
"Du kannst mit deiner Aussage, die Angeklagte entweder be- oder entlasten. Die Wahl liegt bei dir, Adora", ermahnte George sie.
Als sie immer noch nicht reagierte, wandte er sich an die Königin: "Meine Königin, soll Adora verpflichtet werden, eine Aussage zu tätigen?"
Glimmer sah ihre Freundin zweifelnd an. Sollte sie als ihre Freundin handeln oder als ihre Souveränin?
Ihr wurde die Entscheidung abgenommen.
"Adora, es ist für das Beste, wenn du aussagst." Das kam weder von der Königin, noch von George. Es war Shadow Weaver, die zum ersten Mal seit zwei Tagen ihre Stimme erhoben hatte.
"Aber..." Adora zögerte immer noch und sie blickte Shadow Weaver entsetzt an.
"Du brauchst keine Angst zu haben..." erinnerte Shadow Weaver sie.
"Ich habe keine Angst! Weder vor dir noch vor jemand anderen!" Jetzt wirkte Adora regelrecht angestachelt.
"Ich muss die Angeklagte daran erinnern, dass sie erst sprechen darf, wenn sie gefragt wird!" ermahnte George Shadow Weaver und die Soldaten, die sie bewachten, rückten näher an die leuchtende Barriere heran.
Adora stapfte indes an Shadow Weaver mit eiskaltem Blick vorbei und betrat den Zeugenstand.
"Dann berichte uns, wie es war, von Shadow Weaver aufgezogen zu werden", forderte George sie auf.
"Ich..." Adora starrte hinab auf ihre Hände. Sie hielt sich krampfhaft am Gelände fest. Die Knöchel zeichneten sich weiß ab. "Sie hat uns nie geschlagen oder derartiges. Aber es reichte schon, wenn sie die Stimme erhob. Sie spielte Catra und mich gegeneinander aus und sie versuchte einem von uns immer ein schlechtes Gewissen einzureden. Wir haben trotzdem aufeinander aufgepasst, auch wenn Shadow Weaver das missbilligte und auch keinen Hehl daraus machte."
"Du bist eine Nachfahrin der Gründer. Kannst du dich an deine Familie erinnern? Wie bist du nach Etheria gekommen?" fragte George.
"Nein, ich habe keine Erinnerung mehr. Ich kam durch ein Portal nach Etheria. Hordak hat mich dort gefunden und zur Horde gebracht. Ich habe mein bisheriges Leben bei der Horde verbracht", erinnerte Adora sich beinahe ungern.
"Und wer war für dich in der Horde zuständig? Es muss doch jemanden gegeben haben, dem du untergeordnet wurdest."
"Ich war von Anfang an Shadow Weaver zugeteilt. Sie hat mich zwar bevorzugt behandelt, aber es gab keine wirkliche Beziehung, wie man sie sich als Kind wünscht. Stattdessen hat sie immer versucht, uns Schuld einzureden oder zu manipulieren." Adoras Stimme wurde mit jedem Wort immer leiser und sie wirkte mit einem Mal fast abwesend.
"Kannst du..." George kam nicht dazu, seine Frage zu stellen, denn Adora hatte sich plötzlich zu Shadow Weaver gewandt.
"Ich will nur wissen, warum? Warum hast du uns nicht einmal in den Arm genommen, wenn du doch dafür zuständig warst, so etwas wie eine Mutter für uns zu sein? Du hattest nie ein offenes Ohr für Catras oder meine Sorgen oder hast auch nie etwas mit uns unternommen, wenn es nicht der unbedingten Notwendigkeit unterlag! Du hattest nur den notwendigsten Kontakt zu uns gehalten. Alles andere war dir anscheinend egal! Warum? Wie kann man nur so kalt zu einem Kind sein, das dein Schutzbefohlener war? War es eine Art Sport für dich? Den perfekten Soldaten heranzuziehen, damit du mit uns vor Hordak glänzen konntest?" Adora atmete schwer. Eine blonde Strähne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst und war ihr in die Stirn gefallen. "Antworte!" schrie sie beinahe.
Shadow Weaver sah George an, der ihr stumm billigend zunickte. Wenn sie schon diese lächerlichen Regeln aufstellten, so wollte Shadow Weaver dieses eine Mal nach den Regeln spielen.
Ihre Stimme war ruhig und beinahe melancholisch. "Es war nicht immer so. Sag, Adora, was ist deine früheste Erinnerung? Deine liebste Kindheitserinnerung? Etwas, das jeder von uns hat, wenn er sich an seine Kindheit zurück erinnert."
Adora schaute verunsichert zu Boden.
"Das ist eine nicht genehmigte Frage!" warf George ein. "Du musst sie nicht beantworten, Adora."
Castaspella hatte sich in der Zwischenzeit vor Shadow Weaver gestellt und damit begonnen einen Bannspruch in die Luft zu weben, jederzeit bereit, ihn auf Shadow Weaver wirken zu lassen.
"Nein, ist schon gut", wandte Adora kleinlaut ein. Ihr Blick wanderte von George zu Castaspella, die den Spruch wieder verblassen ließ, und dann schließlich zu Shadow Weaver.
"Ich weiß es nicht", antwortete sie gerade heraus. "Ich kann mich nicht an meine Kindheit erinnern. Ich weiß, dass ich irgendwann in den Unterricht kam und zeitgleich meine Einstufung als Kadett erhielt. Aber ich habe keine Ahnung, was davor war."
Shadow Weaver wandte sich an Castaspella. Ihre Augen verengten sich zu dünnen Schlitzen während sie sprach: "Wenn du mich immer noch mit einem Wahrheitsbann belegen willst, dann schlage ich vor, dass du deine Arbeit gewissenhaft und weniger schlampig verrichtest, oder du überlässt es jemanden, der den Spruch beherrscht. Jeder Fehler kann Nebenwirkungen verursachen oder Schlupflöcher bieten."
Castaspella wich wie ein geschlagener Hund zurück. Sie fasste sich jedoch schnell wieder und ging beinahe wütend auf Shadow Weaver los. Der Bannkreis erinnerte sie daran, wo sie war und was ihre Aufgabe war. "Wie kannst du es wagen? Du bist hier diejenige, die angeklagt wird. Weißt du überhaupt, was für dich hier auf dem Spiel steht?" stieß Castaspella erregt aus. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte.
George schickte sich an, sich mit ihr zu beraten.
"Ich werde es machen", hörten sie eine weitere Stimme, die bisher geschwiegen hatte. Es war Micah.
"Vater, bist du dir sicher?" fragte die Königin vom Thron herab.
Micah schaute zu ihr hinauf und nickte knapp. "Wenn die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage in Frage steht, stelle ich mich für den Zauberspruch zur Verfügung." Dann wandte er sich an George. "Steht die Glaubwürdigkeit denn in Frage?" Und schaute auch Adora fragend an.
"Ich will die Wahrheit wissen", verlangte Adora mit gepresster Stimme.
"Also gut." Micah hatte diesen Moment gefürchtet. Er hätte sich lieber mit den Monstern auf Beast Island angelegt als seinem ehemaligen Mentor gegenüber zu stehen. Sein Bann erleuchtete unter sorgfältigen und eleganten Bewegungen. Seine Hände glitten durch die Luft wie Wasser.
"Bist du sicher?" hörte er die neckische Stimme Shadow Weavers.
Vorsichtshalber verstärkte er den Bann noch einmal an einigen Stellen. Der Spruch durchbrach den Bannkreis, der Shadow Weaver einsperrte, und drang in ihren Körper.
"Klever", kommentierte sie. Das Lächeln konnte man regelrecht aus ihrer Stimme entnehmen.
"Was hast du mit mir gemacht?" fragte Adora ohne Umschweife.
"Ich habe dich geliebt, wie jede Mutter ihr Kind lieben würde, auch wenn du nicht mein eigen Fleisch und Blut warst. Im Gegensatz zu den anderen Säuglingen, die in der Säuglingsstation aufgepäppelt und aufgezogen wurden, habe ich dich unter meine Fittiche genommen. Du hast mit mir in meinen Räumen gewohnt. Du warst ein herzliches Kind. Jeden Abend musste ich dir Geschichten vorlesen, auch wenn du sie schon hunderte Male gehört hattest. Du wolltest alles erkunden und hattest so viele Fragen. Dann kam Catra dazu. Ich ahnte, dass ihr beide eine besondere Rolle haben würdet in eurem Leben. Ich zog euch beide auf, so gut ich konnte. Aber Gefühle und Verbundenheit untereinander in der Horde zu zeigen, konnte ein böses Ende nehmen, und das tat es auch. Hordak fand heraus, welche Verbindung zwischen uns bestand. Familiäre Beziehungen waren strengstens untersagt. Emotionale Abhängigkeit würde keine guten Soldaten aus euch machen. Er wollte euch dafür bestrafen an meiner statt. Ihr wärt aus der Horde verbannt worden, und so klein wie ihr beide noch wart, hättet ihr nicht lange überlebt. Also machte ich Hordak einen Vorschlag. Ich wusste, dass er euch bestrafen wollte, um mir eins auszuwischen. Ich schlug ihm also vor, dass ich eure Erinnerung an die vergangenen Jahre in eurem Gedächtnis blockieren würde, und dass er mich stattdessen bestrafen sollte. Es hat lange gedauert, bis Hordak mir wieder vertraute. Ich war jedenfalls froh, dass er euch nicht euch selbst überlassen und ausgesetzt hat. Auch wenn die schöne Zeit vorbei war und ihr beide nun, wie jeder andere auch, eine Kadettenausbildung bekamt, so wusste ich jedenfalls, dass ihr beide weiterleben würdet."
Die Zuschauer schwiegen wie gebannt.
George sah Micah ratsuchend an.
"Der Spruch war korrekt. Sie sagt die Wahrheit", erklärte dieser.
"Wir machen eine Stunde Pause!" befahl die Königin und kam die Treppe hinunter. "Adora, auf ein Wort!"
***
Micah war außer sich vor Wut, die er kaum verbergen konnte als er den Thronsaal verließ.
Sie wurde an ihm vorbeigeführt, während er wie angewurzelt stehen blieb. Die Ketten an ihren eisernen Fäustlingen klingelten wie helle Glocken, die sich von dem lauten Gerede und Gemurmel der Menge abhoben.
Er hatte sich vorgenommen, in die Verhandlung nicht einzugreifen, weder unterstützend, noch mit einer Aussage gegen sie. Er war nicht bereit für eine Gegenüberstellung. Die letzten Wochen hatten seine Welt vollkommen auf den Kopf gestellt.
Erst wurde er von Beast Island gerettet, einer Insel, auf die man normalerweise zum Sterben geschickt wird.
Die Hoffnung, seine Frau endlich wiederzusehen, hatte beinahe säuerlich in seinem Inneren gebrannt.
Hatte sie sich einen neuen Mann gesucht? Micah hätte dafür Verständnis gehabt. Keine Frau wartet fünfzehn Jahre auf ihren Mann. Sie hatten ihn vermutlich schon kurz nach der Schlacht für tot erklärt.
Auf Beast Island gibt es keine Verbindung zur Außenwelt. Wer dort lebt, führt ein Leben ohne Nachrichten seiner Hinterbliebenen.
Doch die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Angella schwand so schnell wie sie aufgekommen war. Er hatte bis heute nicht nachgefragt, was mit ihr passiert war. Dazu war er ebenfalls nicht bereit.
Aber Glimmer war Königin. Das war immerhin eine Nachricht, auf die er sich freuen konnte.
Das letzte Mal hatte er seine Tochter gesehen, da war sie noch ein Säugling.
Am Tag seiner Abreise schlief sie tief und fest in den Armen ihrer Mutter. Angella hatte sich in einen Schaukelstuhl ans Fenster gesetzt. Das Licht fiel durch die pastellfarbenen Vorhänge. Es wirkte so friedlich, dass er sie nicht stören wollte.
Anstatt sich von seiner Frau und seinem Kind zu verabschieden, brannte er sich dieses Bild in sein Gedächtnis, um möglichst schnell wieder an ihre Seite zurückzukehren.
Er war so ein Narr gewesen!
Statt seiner Tochter sah er sich bei seiner Rückkehr dann mit seinem schlimmsten Albtraum konfrontiert. Schlimmer als jedes Monster auf Beast Island. Dieser Albtraum fläzte sich regelrecht respektlos auf dem Thron seiner Frau!
Shadow Weaver wieder zu sehen brach alte Wunden auf... und lang vergessene, unerledigte Angelegenheiten.
Das würde sich jetzt ändern. Ein für allemal!
Er folgte in sicherer Entfernung dem Trupp, der Shadow Weaver umgab. Als ehemaliger König befolgten die meisten immer noch seine Befehle, ohne sie zu hinterfragen. In Shadow Weavers Kammer zu gelangen, war kein großes Hindernis für ihn.
Die Gildenmitglieder von Mystacor hatten den Bannkreis um Shadow Weaver herum vollendet, der ihr selbst in dem kleinen Raum die Bewegung einschränken sollte. Sie errichteten ihn lediglich um die Angeklagte herum, ohne ihr das mindeste an Annehmlichkeiten zu gewähren.
Die Magier blickten Micah verwundert und ratlos an.
"Lasst uns allein", befahl er ihnen.
Sie reagierten nicht, stattdessen tauschten sie gegenseitig unsichere Blicke aus.
Micah verlor sehr schnell die Geduld. Im nu wob er einen Zauberspruch in die Luft - ein einfacher Feuerzauber ohne jegliche Kraft oder Hitze. Er warf ihn auf die verwirrten Magier. "Ich sagte: Lasst uns allein!"
Shadow Weaver schmunzelte. "So begierig darauf, mit mir allein zu sein? Ich wusste gar nicht, dass du solche Gefühle hegst", spottete sie als die Magier den Raum verlassen hatten.
Micah wartete darauf, dass die Tür sich schloss und drehte sich schließlich entschlossen zu ihr um.
"Du wirst mich so nicht ansprechen, egal, ob wir alleine sind oder nicht! Hörst du? Ich werde es nicht zulassen, dass du dich in den Köpfen anderer austobst, wie du es anscheinend die letzten zwanzig Jahre auch getan hast! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es danach war? Wie viel Kraft es gekostet hat, das Chaos zu beseitigen, das DU hinterlassen hast? Du hast nicht nur Mystacor geschwächt, dass wir jederzeit mit einem Angriff rechnen mussten, nein, du hast auch alle anderen Schüler mit deiner selbstgefälligen Suche nach mehr Macht in Gefahr gebracht! Ich habe dir vertraut! Du warst ein Vorbild für mich! Ich dachte, die Verbindung zwischen uns hätte dir irgend etwas bedeutet! Aber du hast mich nur benutzt... oder? Ich war nur eine weitere Puppe für dich, die du nach Herzenslust benutzen konntest. Waren all die Jahre nur eine Scharade für dich?" Micah lachte und schüttelte den Kopf.
"Du warst ... nein, du bist eine sehr gute Schauspielerin. Du nimmst dir die innersten Wünsche deiner Schüler, Kadetten, Gegner... Vorgesetzten oder von wem auch immer, und verdrehst sie so, dass sie alles für dich tun. Aber glaube mir, darüber bin ich längst hinweg! Ich habe mir lange Zeit danach noch Vorwürfe gemacht! Auch als man mich zum Magistrat ernannte! Ich habe mich immer gefragt, was hätte sein können, ob ich etwas übersehen hatte... oder ob ich etwas anders hätte machen können! Damit das Ganze nicht passiert wäre! Damit du nicht zu dem wurdest, was du heute bist!"
Micah atmete schwer. Sie stand einfach da und blickte ihn schweigend an. Ruhig. Berechnend. Die eisernen Fäustlinge übereinander gelegt. Nicht einmal ihre Augen ließen eine Gefühlsregung erkennen.
"Ich wollte es lange Zeit nicht wahr haben. Die ganzen Jahre habe ich die Schuld bei mir gesucht. Light Spinner würde doch niemanden in Gefahr bringen... Alles andere wäre eine aufschlussreiche Erklärung gewesen, aber Light Spinner würde so etwas doch nicht tun! Nie! Selbst als Magistrat konnte ich dir nicht die Schuld dafür geben! Dabei hast du die ganze Zeit damit gerechnet, dass es fehl schlagen könnte, oder nicht? Und trotzdem hast du es durchgezogen!"
Er drehte ihr den Rücken zu. Die Schultern gesenkt. Mit einer ausgelaugten Handbewegung fuhr er sich über das müde Gesicht.
"Dein ganzes Leben lang hast du die Menschen in deiner Umgebung nur benutzt und manipuliert. Und für was? Für deine eigenen persönlichen Ziele. Mehr Macht! Mehr Magie! Mehr Kontrolle über alle anderen! Und nur du solltest sie bekommen. Was hattest du damit überhaupt vor? Wenn dein Plan damals funktioniert hätte: Was hättest du danach getan? Wenn alles wieder seine normalen Wege gegangen wäre und wir mit deiner Hilfe Hordak von Etheria verbannt hätten, bevor Horde Prime uns entdecken konnte... Was hättest du dann gemacht? Wenn jemand nicht in deinen Plan gepasst hätte? Du als allmächtige Magierin auf dem ganzen Planeten! Hättest du dann dein eigenes Imperium errichtet? Deine eigenen Freunde und Familie in den Kerker geworfen und verrotten lassen, wenn sie dir widersprochen hätten? Wo hättest du den Schlussstrich gezogen? Wer hätte dich stoppen können, wenn du die falschen Entscheidungen getroffen hättest? Hättest du die Leute in Frieden leben lassen oder in einer Diktatur der Sklaverei unterjocht?"
Er atmete tief durch. Das Ganze hatte ihn doch mehr aufgeregt als er vorher zugeben wollte. All die aufgestauten Selbstzweifel, die verwirrten Gefühle, alle Schuld, die er seitdem verspürte, brachen wie eine Welle über ihn herein.
Nein, den Sieg über seine Gefühle wollte er ihr nicht gönnen.
Er drehte sich wieder zu ihr um. Gesammelt, ruhig, besonnen. Seine Stimme klang rau als er weitersprach. "Du hast mich benutzt, und ich konnte dich nicht dafür hassen. Du hast mich manipuliert und mir das Gefühl vermittelt, wichtig zu sein... für dich. Es war alles nur ein Spiel für dich, und ich konnte dich nicht dafür hassen. Du hast uns verraten und im Stich gelassen! Und selbst dafür konnte ich dich nicht hassen. Egal, was du gemacht hast, wie schlimm es auch war... ich konnte dich nicht hassen... und dafür hasse ich dich am meisten!"
Die Ketten ihrer Fesseln erklangen hell als sie ihre Hände sinken ließ. Und dennoch stand sie regungslos da wie zuvor.
Erbost wandte er den Blick ab. "Hast du dazu nichts zu sagen?" fragte er schließlich nach einer langen Pause.
"Du hast genug für uns beide gesagt. Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen", war ihre Antwort.
Damit wollte er sich nicht zufrieden geben.
Bevor er etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgestoßen. Einige Soldaten und Magier versuchten, den Eindringling abzuhalten, aber sie hatten keine Chance.
Es war Adora, und sie war sehr wütend.
"Ich will meine Erinnerungen zurück!"
***
Die Sonne war bereits untergegangen als er in seine Gemächer zurückkehrte. Der Tag war wie vorhergesehen anstrengend gewesen und der Schlafmangel hatte Micah daran erinnert, dass er wirklich nicht mehr der Jüngste war.
Es waren Tage wie dieser, an denen er an sich zweifelte. An seinen Entscheidungen. An seinem Leben. Nicht, was er hervorgebracht hat, aber was hätte sein können.
Er erinnerte sich nur ungern an die Verhandlung gegen Shadow Weaver vor zwei Jahren. Die Urteilsverkündung hatte er sich nicht mehr angesehen.
Das Leben hatte ihm bereits eine zweite Chance gegeben. Er hatte seine Tochter, eine sehr fähige Königin. Sein Leben verlief wieder in geordneter Bahn, ohne dass er sich darum fürchten musste, den nächsten Morgen zu erleben und nicht nachts von Monstern getötet zu werden.
Es herrschte Frieden überall.
Sah sein Frieden so aus? Bei Hofe und politischen Beschlüssen?
Seine Finger strichen sanft über den Brief, den er wieder aus der Schublade geholt hatte.
Sein Zögern verebbte.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und Papier und Tinte hervor. Die Zeilen schrieben sich fast von selbst.