Wenn das Licht stärker als der Schatten ist
von rebelyell
Kurzbeschreibung
[She-Ra und die Rebellen-Prinzessinnen] Der Krieg ist vorbei und Etheria erlebt einen lange verwehrten Frieden. Doch jetzt heißt es, die politischen Strukturen wieder aufzubauen, und jedes Königreich muss einen eigenen Weg einschlagen. In dieser turbulenten Zeit der Neuorientierung erhält Micah, der ehemalige König über Bright Moon, einen Brief aus der Vergangenheit, der alles ändern könnte. Charaktere: Micah, Glimmer, Shadow Weaver
GeschichteDrama, Fantasy / P12 / Het
König Micah
Shadow Weaver
03.05.2020
18.06.2020
5
28.539
2
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03.05.2020
6.412
kurzes AN vorweg: Ich fürchte, kommenden Dienstag wird sich diese Geschichte wieder in Luft auflösen, wenn die neue Staffel auf Netflix verfügbar sein wird. Dann ist mein wohl durchdachter Plot hinfällig, weil ein wichtiger Charakter dieser Story sich in Staffel 5 entweder wie die Axt im Walde oder sich opfern wird. Man munkelt im Fandom... Ich hoffe, dabei bleibt es auch... Ich mag keinen Abschied nehmen von diesem Charakter! :(
Der Charakter erhält eh nur Hate Posts vom Fandom. Deswegen werde ich mit der Story wohl kaum jemanden begeistern.
Aber mein Fanfiction-Herz denkt sich dabei nur: Who cares! :D
Viel Spaß beim Lesen!
(kleines Edit: Ich verstehe übrigens nicht, warum die Wortanzahl hier so drastisch von der tatsächlichen Anzahl abweicht. Es sind "nur" 5934 ohne AN und keine 9000 Wörter O.o)
Er sollte glücklich sein.
Der Krieg war beendet. Etheria erholte sich langsam von den Bosheiten, die die Horde dem Planeten angetan hatten.
Die politischen Verhandlungen mit den anderen Königreichen verliefen bisher sehr gut.
Ein lang ersehnter Frieden stand dem Land in Aussicht.
Seine Tochter erwies sich als starke und gerechte Königin über Bright Moon. Er könnte nicht stolzer auf sie sein. Sie war alles, was er sich je für sie erhofft hatte.
Es würde lange dauern, bis sie sich ganz von der Bedrohung der Horde erholt haben würden. Vermutlich würde es sogar mehrere Generationen dauern bis Felder wieder blühen und Kinder unbeschwert durch die Wälder laufen könnten.
Es war ein Anfang.
Niemand behauptete, dass Anfänge leicht wären.
Er würde seiner Tochter so gut es ging als Berater beistehen, das stand außer Frage.
Die ersten Sonnenstrahlen blinzelten über den Horizont hinweg.
Micah mochte die Mußestunden am Morgen, wenn die meisten noch schliefen.
Der Garten war verlassen. Nur die Vögel zwitscherten bereits aufgeregt. Micah nutzte die Zeit für einen Spaziergang durch die verlassenen Wege des Schlossgartens. Es half ihm, sich auf den Tag vorzubereiten und neue Kraft zu schöpfen für das, was kommen mochte.
Und er endete immer vor der Statue seiner bildhübschen Frau.
War sie tot?
Oder nur verschollen?
Gewissheit gab es nicht.
Seine Zeit auf Beast Island hatte ihm Dankbarkeit gelehrt. Er hatte im Leben nicht mehr damit gerechnet, Bright Moon in lebendiger Gestalt noch einmal betreten zu dürfen, geschweige denn seine Tochter wiederzusehen.
Er hatte in den letzten zwölf Jahren die Hoffnung längst aufgegeben gehabt. Dass er seine Frau nicht mehr wiedersehen würde, damit hätte er sich längst abgefunden haben. Doch der Schmerz keimte frisch auf, als er mit Hilfe von Adora und Bow Beast Island entkommen konnte. Die Erkenntnis traf ihn tief, nie wieder mit seiner Frau zusammen sein zu können.
Er sollte glücklich sein.
Doch morgens fand er nicht die Kraft dazu.
"Altregent!" störte eine weibliche Stimme die morgendliche Ruhe. "Micah! Ich wusste doch, dass ich dich hier finden würde."
Es war Castaspella. Sie war völlig außer Atem als sie schließlich vor ihm stand.
"Castaspella, ich habe dir doch gesagt, dass mein Name vollkommen ausreicht. Du bist meine Schwester!"
"Das kommt gar nicht in Frage! Du bist der Altregent von Bright Moon und du hast dir den Respekt verdient. Außerdem muss deine kleine Schwester es doch hin und wieder ausnutzen, dich zu necken!"
Micah gab sich geschlagen. "In Ordnung, ich weiß, wann ich auf verlorenem Posten stehe. Also, was führt dich so früh nach Bright Moon?"
Castaspella rang mit ihren Händen. Es war gar nicht ihre Art, nervös zu werden. "Ich glaube, dazu sollten wir uns lieber setzen."
Die Statue war umringt von zierlichen Blumenbeeten und mehreren Steinbänken, die im Kreis um die Statue herum aufgestellt waren.
Die Bank war kalt. Der Sommer hatte das Land noch nicht ereilt. Castaspella schob sich also auf die Kante der Bank, damit das Sitzen ein wenig angenehmer war.
Micah zeichnete ein magisches Symbol auf die Bank. "Das sollte den Stein ein wenig erwärmen."
"Danke, großer Bruder! Wie immer sehr aufmerksam." Dann verfinsterte sich ihre Mine und sie zog einen Umschlag aus ihrer Robe. "Wir haben regen Zuwachs auf Mystacor. Das ist eine sehr schöne Sache! Wir haben so viele neue Schüler! So viele talentierte Kinder aus allen Königreichen des Planeten! Das müsstest du mit eigenen Augen sehen! So viele Schüler hatten wir in der ganzen Geschichte von Mystacor noch nicht!"
Castaspellas Augen begannen zu glänzen und für einen Augenblick waren alle traurigen Gedanken wie fortgeblasen.
"Du musst uns unbedingt besuchen kommen, sehr bald, Bruderherz! Wir könnten dich gut als Lehrer für die Fortgeschrittenen gebrauchen."
Micah seufzte. "Castaspella..."
"Ich weiß, dass wir schon öfter darüber gesprochen haben. Aber wenn du es dir einmal ansehen würdest... Vielleicht stimmt es dich ja um. Es sind einige sehr talentierte Schüler darunter, die so wissbegierig sind, dass wir nicht allen gerecht werden können. Überlege es dir bitte, Micah."
Micah lächelte, mehr zu sich selbst. Sein Blick wanderte über den Kiesboden. Wie gerne würde er ihr doch zustimmen, aber die Erinnerungen an diesen Ort ließen es einfach nicht zu.
"Weißt du was, Micah? Überlege es dir einfach. Wir würden es sehr begrüßen, aber du musst dich nicht bedrängt fühlen."
"Was ist du da in der Hand?" Er deutete mit der Hand auf den Umschlag, den sie sich mit beiden Armen mittlerweile an die Brust gepresst hatte.
"Oh." Für einen Augenblick schien sie diesen tatsächlich vergessen zu haben. "Du weißt ja... wir haben viele Schüler jetzt. Mehr als wir aufnehmen könnten. Deswegen ist der Platz eng geworden auf Mystacor. Wir haben zwar zunächst die Säle behelfsmäßig umgebaut, aber auf Dauer hat das nicht geholfen. Also haben wir einige Räume ausgeräumt und umgebaut. Auch ihre persönlichen Studienzimmer und ihre Kammer... Du weißt schon..."
"Ja", hielt er sie davon ab, den Namen auszusprechen. "Ich weiß."
"Wir wissen nicht, was wir mit ihren Sachen machen sollen. Es scheint eine unendliche Ansammlung von Wissen zu sein, und es steht in Frage, ob wir genügend Mentoren haben, die etwas damit anzufangen wissen..."
"Das ist eine gefährliche Richtung, die ihr da einschlagen wollt", warnte Micah sie prompt.
"Ich weiß. Deswegen haben wir ihre Sachen verstaut und weggeräumt. Aber dabei ist das hier zum Vorschein gekommen", sagte sie mit sorgenvollem Blick und überreichte Micah den Umschlag.
Das Papier war vergilbt und das Siegel war an einigen Stellen bereits abgebrochen, und dennoch wirkte er unberührt. Auf der anderen Seite war sein Name darauf in geschwungenen Lettern geschrieben.
"Sie muss ihn verfasst haben, bevor sie sich für die falsche Richtung entschieden hat", vermutete Castaspella.
"Ja", sagte er als ob er ihr zuhörte.
"Wir fanden den Brief auf ihrem Schreibtisch unter einer Menge von Plänen, Karten und Spruchbändern... und, naja... einer Menge Staub. Wir haben zuerst überlegt, ob wir dir den Brief überreichen sollten. Er ist sehr alt und sie war damals eine andere Person. Vielleicht bringt er dir Licht in eure dunkle Vergangenheit, damit du mit diesem Kapitel deines Lebens abschließen kannst."
Er blieb ihr eine Antwort schuldig.
Castaspella seufzte.
"Ich lass dich jetzt allein. Bitte denk dran, Bruderherz: Egal, was drin steht, es ändert nichts daran, wer du bist und welche Entscheidungen du getroffen hast."
Ihre Roben tanzten in der seichten Morgenbrise.
Schon bald war sie nicht mehr zu sehen.
Ein kalter Schauer kroch von seinem Nacken den Rücken langsam hinunter. Er konnte die Statue seiner Frau noch im Blickwinkel sehen. Unsicher blickte er über seine Schulter zu ihr hinauf. Sie war so schön wie er sie in Erinnerung hatte.
Doch sie war aus Stein und sie war übergroß.
Ihre leeren Augen wachten still über den Garten von Bright Moon.
Der Brief wog schwer in seinen Händen. Für einen simplen Brief war er recht dick. Vielleicht hatte sie ihm etwas hinterlassen? Sollte er sich darüber freuen?
Was sollte eine Mentorin einem vierzehnjährigen Bengel zu sagen haben, der nach Aufmerksamkeit lechzte und alles tat, um ihr zu gefallen? Das war es, was ihn angetrieben hatte. Sie war nichts weiter als ein jugendlicher Schwarm, den jeder einmal in seinem Leben hatte.
Also warum konnte er sich nicht dazu hindurch ringen, das Siegel zu brechen?
Der Anblick von Angellas Statue hatte ihn sonst immer beruhigt und Halt gegeben. Doch mit dem Brief in den Händen, verfiel das Gefühl wieder.
Leise Stimmen drangen von den Gängen zwischen den Gebäuden zu ihm herüber.
Er konnte sich nicht überwinden, den Brief im Schatten der Statue seiner Frau zu lesen. Das fühlte sich nicht richtig an.
Also steckte er den Brief ein. Das Papier war alt und konnte sich noch ein paar Stunden länger gedulden.
"Im Süden herrscht eine Dürre, die unser Volk zur Auswanderung zwingt, Königin Glimmer. Wir benötigen dringend Eure Hilfe, damit das Land nicht vollkommen vertrocknet und zur Wüste mutiert." Der Bittsteller stand gebeugt vor dem Aufgang zum Thron und zerknitterte seine Mütze zwischen seinen Händen. Hinter ihm standen mehrere ausgemergelte Männer und Frauen, die den Weg mit ihm gekommen waren. Sie kamen aus einer der Grenzregionen, die von den Hauptstraßen und -routen abgeschnitten waren.
"Wie viele seid ihr?" fragte die Königin mit undeutbarer Mine.
Der Mann erhob sich und sah sie leidvoll an. "120 von uns haben sich auf den Weg hierher gemacht. Geschafft haben es nur diejenigen, die Ihr hier seht. Zuhause vertrocknet die Ernte. Wir benötigen dringend Nahrung und Wasser, um nicht noch mehr Massengräber ausheben zu müssen, Eure Majestät."
Es verging eine Weile. Der Mann senkte wieder den Blick. Zu langes Starren schien ihm unangenehm zu sein. Die Menschen hinter ihm taten es ihm gleich. Ihre Gesichter waren leer und knochig.
"George?" hörten sie die Königin auf einmal sagen.
"Eure Majestät?" Ein Mann mittleren Alters erhob sich von seinem Platz an der Seite der Treppenstufen. Seine Haut hatte die Farbe von Karamell und auf seinem Hemd prangte ein dunkelrotes Herz. Das Haar an seinen Schläfen war von silbernen Streifen durchwoben. Er schob seine Brille zurecht und blickte von seinem Klemmbrett auf.
"Wie viele Betten haben wir noch frei?" fragte die Königin.
"Im Nordflügel sind noch genügend Betten frei."
"Gut, bringt diese Leute in den Nordflügel und sorgt dafür, dass sie sich erholen können. Wir besprechen die Lage über die südlichen Regionen in der nächsten Sitzung mit den Ministern. Bis dahin kann ich euch keine Entscheidung mitteilen." Der letzte Teil war an die um Hilfe Bittenden gerichtet.
Leises Gemurmel erfüllte den Thronsaal.
"Aber Majestät! Unsere Kinder sterben, jetzt in diesem Augenblick!" Der Mann machte einen Schritt auf die Treppe zu und wurde sogleich von den Wachen aufgehalten.
"Die Königin hat euch Obdach gewährt. Du wirst dich dankbar zeigen und gedulden!" zischte einer der Wachen und packte ihn am Nacken.
Verängstigt und wimmernd kam kein Wort über seine zitternden Lippen.
"Bringt die nächsten nach vorn! Was soll diese Verzögerung?" fragte Königin Glimmer verärgert. "Die Warteschlange ist lang. Wir haben keine Zeit für Verzug. Bringt die südlichen Leute endlich in den Nordflügel!"
Die Wachen schoben die Schar Bittsteller aus dem Thronsaal hinaus.
"George?" Königin Glimmer war die Treppe halb hinunter gegangen und stand ihrem Berater so nah, dass sie leiser sprechen konnte. "Wie viele sind es heute noch?"
George sah auf seine Liste. "Mindestens noch zwölf Gruppen, Eure Majestät."
In einem seltenen Anflug von Zerschlagenheit seufzte die Königin und ließ die Schultern hängen.
"Wir nehmen noch die nächsten drei, dann machen wir eine kurze Pause", beschloss sie.
"Wie Ihr wünscht." George verneigte sich und wies schließlich die Wachen an, die nächsten hereinzubringen.
"Glimmer, du solltest die Audienzen auf deine Leute verteilen, denen du vertraust. Dann geht der Prozess schneller voran und die Menschen müssen nicht so lange warten." Micah stand auf einmal bei ihr.
"Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würde ich mich nicht um mein Volk kümmern, Vater."
"Du wirst diesen Eindruck nicht hinterlassen. Aber als Königin musst du lernen, Aufgaben auch zu delegieren. Du kannst nicht überall sein", riet er ihr. Er wusste, dass seine Tochter stur war. Doch diese Situation würde jeder Seite Nerven rauben, wenn sie nicht schneller handelte.
"Wir machen die nächsten drei Gruppen jetzt!" beschloss Glimmer stur. Ihr Blick änderte sich gleich wieder. "Danach können wir beim Essen gern darüber reden."
Micah kannte seine Tochter sehr gut, auch wenn er die meiste Zeit ihres Lebens auf Beast Island verbracht hatte, so konnte er den einen oder anderen Charakterzug seiner Frau in ihr erkennen.
Als ehemaliger König hatte er keine politische Macht, und so war er eigentlich irrelevant für die täglichen Audienzen. Glimmer hielt aber recht wenig von politischen Traditionen und so konnte sie ihn zumindest als Berater und Altregent bei Hofe behalten. Eine Rolle, die er nur zu gern für sie erfüllte.
Der Rest der Audienz verlief gleichmäßig und doch erschreckend. Das Leid der Leute war unverkennbar groß. Der Krieg hatte sie sehr viel gekostet. Das Land wieder aufzubauen würde Jahre brauchen.
Die dürften auch die letzten Gruppen gewesen sein.
Nach der kurzen Pause ließ sich Glimmer tatsächlich darauf ein, ihre Aufgaben zu verteilen.
Die nächsten Audienzen fanden in drei Räumen statt, so dass sie am frühen Nachmittag mit dem Verplanen von Versorgungskarawanen beschäftigt waren.
Die Rationen fielen diesmal geringer aus als noch vor einem halben Jahr als die Ernten vom Vorjahr noch für alle gereicht hatten. Aber dieses Mal würden sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen.
"Vielleicht sollten wir Perfuma oder ein Mitglied ihrer Gemeinschaft darum bitten, uns zu helfen. Sie könnte in die Region reisen und dafür sorgen, dass die Ernte gerettet werden kann", schlug Micah am Abend vor als er mit seiner Tochter, Bow und George gemeinsam am Tisch saßen und eine einfache Mahlzeit aus Brot, Käse und einer würzigen Gemüsebrühe zu sich nahmen.
Ein Platz war wie immer verwaist. Wie jeden Abend, seit Wochen schon.
"Das wäre eine ausgezeichnete Idee!" stimmte George mit ein.
"Ich habe mit Perfuma schon vor ein paar Tagen gesprochen. Sie hat viel zu tun, deswegen ist es unwahrscheinlich, dass sie uns in nächster Zeit helfen kann", erklärte Glimmer und die Stimmung war gleich wieder gesunken. "Bow, du bist doch immer recht einfallsreich, kannst du keine Konstruktion erfinden? Irgendwas? Vielleicht gibt es ja in eurer Bücherei hilfreiche Anleitungen für Erntemaschinen oder Wasserleitungen für solche Fälle. Wir können uns nicht immer auf die Macht unserer Runen verlassen. Der Krieg hat gezeigt, wozu sie eigentlich gedacht waren. Ich möchte so wenig wie möglich auf sie zurückgreifen."
"Ich könnte Lance gleich nach dem Essen bitten, ein paar Quellen dazu heraus zu suchen. Deine Brüder dürften sich auch freuen, wenn sie was zu tun haben, was unserem Volk dient", stimmte George mit ein.
"Gibt es Neuigkeiten von Adora?" frage Bow hoffnungsvoll.
"Nicht seit letzter Woche", antwortete Glimmer. "Ich mache mir langsam Sorgen."
"Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst um sie", beruhigte Bow sie. "Wenn sie etwas aufgehalten haben wird, dann eher die Leute, die sie immer noch feiern wollen. Es wird bestimmt..."
"MAHLZEIT!" Die Tür wurde aufgestoßen und eine gut gelaunte Adora kam mit großen Schritten in den kleinen Saal hinein gepoltert. "Ihr glaubt nicht, wie sehr ich euch vermisst habe!" Noch ehe irgendwer reagieren konnte, hatte sie jeden bis zur Luftnot geknuddelt. "Tut das gut, wieder hier zu sein!" Prompt hatte sie sich auf ihren Platz gesetzt, nahm sich eine große Portion Suppe und stopfte sich das Brot zwischen die Zähne. "Hach, fuufes Brooof! Farum fmeckft daf hier fo guuufff?"
Ein Diener reichte ihr eine Tasse Tee. Adora nahm dankend an und leerte die Tasse in einem Zug.
"Ahhh! Das tat gut!" rief sie begeistert aus und fing prompt an zu husten und sich auf die Brust zu schlagen. "Geh endlich runter, du stures Brot! Noch einen Tee!" Sie hielt die Tasse hin und der Diener schenkte nach. "Danke!" prostete sie dem Diener fröhlich zu und goss auch die zweite Tasse weg als wenn die Flüssigkeit nicht kochend heiß wäre.
"Ehm, Adora? Geht's dir gut?" fragte Bow vorsichtig.
"Mir geht's präääächtig!" rief sie überfröhlich und machte sich über das zweite Stück Brot her und tunkte es in die Brühe hinein. "Ich bin die ganze Nacht durchgeritten, damit ich es bis heute noch schaffen würde! Die Bewohner von Darkforest sind zwar ganz nett, aber anstrengend."
"Darkforest? Warum warst du in Darkforest? Das liegt nicht einmal auf deiner Route!" fragte Glimmer fast entsetzt. Doch sie erhielt keine Antwort mehr.
Adoras Kopf fiel auf die Tischplatte und leichtes Schnarchen erfüllte den Raum.
Micah lachte leise.
"Es ist ja schön, dass du das komisch findest, aber das ist eine Katastrophe!" fauchte Glimmer.
"Aus ihr werden wir heute keinen Mucks mehr bekommen. Ich bringe sie besser in ihr Zimmer", antwortete Micah bloß und überging die Tatsache einfach, dass Glimmer dies gar nicht gefiel.
Für ein Mädchen ihres Alters war Adora viel zu leicht, dachte er sich als die Diener ihm die Tür öffneten.
Ein Diener folgte ihnen, um weitere Türen für sie zu öffnen. Der Palast war selbst zu den Abendstunden ein geschäftiger Ort. Fernab der Gäste, Flüchtlinge und Bittsteller, hatte die königliche Familie und die engsten Freunde einen Teil des Palastes für sich allein.
Je näher Micah dem Teil des Palastes kam, desto leerer wurden die Gänge und er wurde nicht mehr mit verwirrten Blicken bedacht, weil er Adora in den Armen trug. Das Getuschel aus den Seitengängen ignorierte er gekonnt.
In Adoras Zimmer endlich angekommen, gab der dem Diener zu verstehen, dass seine Dienste nicht mehr erforderlich waren.
Als Micah sie auf das Bett legte, kam es ihm kurz in dem Sinn, dass das eigentlich eine schlechte Idee gewesen wäre, denn jetzt würden die Diener tuscheln, weil er als alter Mann allein im Zimmer einer jungen Frau war, die auch noch bewusstlos zu sein schien. Über die Gerüchte würde Glimmer bestimmt nicht erfreut sein.
Er entschloss, die Angelegenheit dennoch zu beenden. Also zog er ihr die dreckigen Stiefel aus und auch die rote Weste. Das sollte wohl reichen.
"Huh...? Wo hnn ich...?" fragte Adora auf einmal schlaftrunken.
"In deinem Zimmer. Du bist völlig erschöpft, schlaf dich erst einmal aus. Deinen Bericht kannst auch auch morgen noch abliefern", versicherte er ihr.
"Ich hasse dieses Zimmer... viel zu groß und viel zu wenig Leute..." Die letzten Vokale waren nur noch gemurmelt bevor sie wieder einschlief.
Die Sonne war lange wieder untergegangen als er seine Privaträume betrat. Sie lagen nicht weit von Glimmers Gemächern entfernt. Sie hatte darauf bestanden, dass er zumindest in ihrer Nähe blieb, wenn er schon keine politische Macht annehmen wollte.
Der Tag hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen und seine müden Knochen freuten sich auf sein Bett.
Wenn sie keine Revolte ihrer eigenen Leute riskieren wollten, musste möglichst bald ein Beschluss gefasst werden, der Einsparungen regelte, damit jeder auch etwas zum Leben und Überleben bekam.
Die Robe landete achtlos auf der Stuhllehne. Da fiel sein Blick auf den Brief, den Castaspella ihm am Morgen überreicht hatte.
Den hatte er völlig vergessen!
Er war sich am Morgen unschlüssig gewesen, ob er ihn überhaupt lesen sollte. Was konnte darin schon stehen, das die letzten zweiundzwanzig Jahre umkehren konnte?
Sie hatte ihnen im Krieg gegen Horde Prime geholfen, das stand außer Frage. Sie hatte geholfen Glimmer zu retten. Sie hätte so viele Chancen gehabt, zu fliehen, oder erneut die Seiten zu wechseln und sich mit Horde Prime zu verbünden.
Aber das hatte sie nicht getan.
Als der Krieg vorbei war, war sie es, die Glimmer vorschlug, eine Verhandlung gegen sie zu führen. Offiziell galt sie ja noch als Gefangene und Glimmer würde damit ihrem Volk Souveränität und Gerechtigkeit signalisieren.
Micah war der Anhörung fern geblieben. Er hatte lange Zeit seine Gefühle unterdrücken können, bis er sie gänzlich vergessen hatte. Das unerwartete Wiedersehen hatte die alten Wunden wieder aufgebrochen.
Und er konnte sich nicht überwinden, ihr nach der Verhandlung wenigstens Lebewohl zu sagen.
Also was würde dieser Brief daran ändern?
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken heraus.
"Herein!" rief er und betrachtete immer noch nachdenklich den Brief in seinen Händen.
"Du bist gar nicht mehr wieder zurückgekommen." Es war keine Frage.
Micah schaute auf.
Glimmer sah weder erbost noch enttäuscht aus, eher besorgt.
"Du hast den ganzen Tag schon etwas abwesend gewirkt", stellte sie fest.
"Ich weiß nicht, was du meinst. War ich nicht aufmerksam? Habe ich etwas falsches gesagt?" fragte Micah verwundert. Er deutete auf den kleinen runden Tisch mit zwei Sesseln mitten im Raum.
Sie setzten sich.
Glimmer glitt nervös auf der großen Sitzfläche von links nach rechts.
"Nein, du warst wunderbar. Ich würde mich freuen, wenn du eine richtige Stellung in meinem Hofstab annehmen würdest, Vater. Bright Moon braucht dich."
Unangenehmes Schweigen folgte.
"Was hast du da?" fragte sie schließlich als er nicht antwortete und stattdessen mit dem Brief in seinen Händen spielte.
"Castaspella hat mich heute morgen aufgesucht. Die Gilde hat auf Mystacor regen Zuwachs von Schülern und platzt regelrecht aus allen Nähten."
"Das ist doch gut." Glimmer freute sich und wirkte doch recht nervös. "Oder nicht?" Es war ein kläglicher aufheiternder Versuch.
Micah seufzte. "Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass sich mehr Völker trauen, ihre talentierten Kinder zur Magierakademie zu schicken. Dazu hatten sie vor dem Krieg entweder nicht die Möglichkeit oder die trauten sich nicht."
"Also hast du einen Vertrag erhalten?" hakte Glimmer nach und deutete wieder auf den Umschlag.
"Nein." Micah zögerte. "Das heißt, ja, sie haben mir eine Stelle angeboten. Es gibt nur noch wenige erfahrene Magier, die den Krieg überlebt haben. Die wenigen Verbliebenen sind mit der Anzahl der Schüler anscheinend total überfordert."
"Wenn das kein Vertrag ist, was ist das dann?" Glimmer ließ einfach nicht locker.
"Du kennst doch die Akademie. Es gibt einige Räume, die sie verschlossen hielten... für eine sehr lange Zeit. Aber der Platzmangel hat sie nun dazu gezwungen, diese Kammern und Säle zu räumen. Damit mehr Platz geschaffen werden kann für die neuen Schüler. Castaspella kam her, um mir zu sagen, sie hätten Light Spinners Kammer und Studienzimmer geräumt."
"Light...?"
"Shadow Weaver", erklärte er tonlos. "Die Zimmer waren über 20 Jahre lang versiegelt. Selbst der Gang dorthin war zugesperrt worden. Sie wussten nicht, ob sie die Bücher und Unterlagen behalten wollten. Also haben sie die Sachen zuerst in Kisten verstaut. Dabei haben sie den Brief hier gefunden. Er lag auf ihrem Schreibtisch. Sie muss ihn geschrieben haben, kurz bevor... Naja, es ist nur eine Vermutung."
Glimmer bemerkte das unversehrte, leicht zerbröckelnde Siegel. "Du hast ihn noch nicht gelesen?"
"Sie war eine andere Person damals." Das war keine Erklärung.
"Wie war sie?" fragte Glimmer und Micah sah seine Tochter überrascht an. "Ich meine, wie war Light Spinner? Es gab schon auf Mystacor niemanden, der gern über sie sprach. Aber sie muss vor ihrem Verrat doch irgend einen Eindruck hinterlassen haben. Sonst hätte man für sie keine Statue errichtet."
Sein Blick wanderte zum Kamin, in dem kein Feuer brannte. Er lächelte als er sich erinnerte. "Sie war schön", war das erste, was ihm einfiel. "Und gutmütig. Sehr geduldig mit uns Schülern. Sie unterrichtete nur die oberen Klassen und die talentiertesten Schüler in einer extra Klasse. Es war etwas besonderes, wenn man in ihren Unterricht aufgenommen wurde. Bei den anderen Lehrern waren die Lektionen trocken und fade. Ich habe mich schnell in den anderen Fächern gelangweilt. Aber Light Spinner wusste, wie man auch ein langweiliges Thema wie eine abenteuerliche Geschichte aufleben ließ. Ich habe mich auf ihre Klasse immer gefreut. Sie war wie der Lichtblick am Ende eines anstrengenden Tages." Er lächelte in sich hinein.
Glimmer wagte es nicht, ihn zu unterbrechen.
"Ich hatte zuerst Angst vor ihr, muss ich gestehen. Ihr Name war weit über die Grenzen von Mystacor bekannt und weckte Respekt und Schauer zugleich bei jedem. In der ersten Lektion bei ihr habe ich mich bis auf die Knochen blamiert." Micah lachte bei der peinlichen Erinnerung und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht. "Es ging nur um einen einfachen Lichtzauber als Vorstufe einer gewöhnlichen Illusion der Stufe 2."
"Was ist eine Illusion der Stufe 2?" fragte Glimmer doch noch nach.
"Das ist eine Illusion, die sich bewegen kann. Einfache Bewegungsabläufe wie z.B. Arme und Hände bewegen oder gehen. Ich wusste, dass ich es kann - ich hatte dafür wochenlang geübt - aber ich wollte zu viel auf einmal. Ich wollte beweisen, dass mein Platz in der Klasse berechtigt war... und ich habe kläglich versagt." Micah löste seinen Haarknoten. Seine teils silber durchwirkten Strähnen fielen ihm über die Schulter. "Die anderen lachten mich aus und ich schämte mich in Grund und Boden. Ich dachte, das wär's gewesen, und Light Spinner würde mich aus der Klasse werfen. Doch sie ermutigte mich, den Spruch erneut zu kreieren und gab mir Anweisungen wie ich mich korrigieren konnte. Sie ermahnte die anderen zum Zusammenhalt anstatt sich gegen Einzelne zu stellen. Wir müssten als Gruppe zusammenhalten, denn viele Sprüche würden mehrere Magier benötigen und dafür müssten wir eine Einheit bilden. Sie war eine wunderbare Lehrerin."
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das Shadow Weaver gewesen sein soll", sagte Glimmer nachdenklich. "Obwohl...", sie hielt kurz den Atem an, "sie hat mir vieles über meine Magie beigebracht in der kurzen Zeit vor dem Krieg. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihr damit vertrauen kann, auch wenn andere mich davon abbringen wollten. Vater, du solltest den Brief lesen. Sie hat dir viel bedeutet, auch wenn sie sich verändert hat. Vielleicht kannst du dann mit dem Abschnitt aus deinem Leben abschließen? Ich bleibe gerne hier, wenn du das möchtest."
"Wenn ich dich nicht hätte..." seufzte Micah und strich ihr mit der Hand über die Wange.
"Ach, Vater, wenn du mich nicht hättest, dann hättest du definitiv ein paar graue Haare weniger."
Beide lachten.
Er nahm schließlich seinen Mut zusammen und brach das Siegel.
Der Umschlag war aus mehreren Bögen Papier gefaltet, die mit einer feingliedrigen Handschrift beschrieben waren. Als er die Bögen auseinander faltete, fiel etwas heraus. Es war weiße Seide mit zwei goldenen Ösen und Verzierungen links und rechts.
"Was ist das?" fragte Glimmer.
"Das... Sie hat damals keine Maske getragen, sondern einen Schleier über Mund und Nase", erklärte Micah, selbst verwirrt darüber.
"Sie hat ihr Gesicht verschleiert? Warum?" fragte Glimmer weiter.
"Ich weiß es nicht. Ich habe es nie in Frage gestellt", antwortete er seiner Tochter.
Die Tinte war an einigen Stellen leicht verblasst, aber ansonsten war die Schrift gut zu lesen.
"Mein lieber Micah,
wenn du diesen Brief erhältst, bedeutet das, dass mein Vorhaben missglückt ist und ich entweder tot bin oder zu etwas Unaussprechlichem geworden bin.
In beiden Fällen möchte ich, dass du weißt, dass es nie meine Absicht war, dich in diese Angelegenheit reinzuziehen.
Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte...
Aber es stehen so viele Leben, ja, der ganze Planet, auf dem Spiel, dass ich es nicht riskieren konnte, eine Option ungenutzt zu lassen.
Dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen.
Du hast die Bilder der Eindringlinge gesehen. Wenn wir sie nicht aufhalten, werden wir entweder alle sterben oder einem Regime unterworfen, das keinen Widerstand oder Individualität duldet. Wir würden allenfalls als Sklaven dienen.
Ich habe dir nicht alles gezeigt, denn der Spiegel der Wahrheit zeigt nur Ausschnitte von Ereignissen, die gerade im gleichen Augenblick passieren oder wenige Stunden alt sind.
Ich werde dagegen seit Jahren mit Visionen und Albträumen gepeinigt. Tag und Nacht! Es soll dich nicht betrüben. Ich bin daran gewöhnt.
Dieser Eindringling muss um jeden Preis gestoppt werden, denn da, wo er herkommt, sind noch mehr. Mehr Raumschiffe und mehr Soldaten gegen die unsere Leute machtlos sein werden.
Wenn der Zauberspruch also misslingt, muss jemand anderes diese Aufgabe übernehmen.
Die Allianz der Prinzessinnen wird nicht halten! Und jede wird sich um ihr Land kümmern wollen, um die eigenen Leute zu schützen. Das darf nicht geschehen. Das letzte Puzzleteil in diesem Kampf fehlt noch und ich bin mir nicht sicher, was das sein könnte. Meine Recherchen haben bisher kein exaktes Ergebnis erbracht."
Da setzte er den Brief kurz ab und atmete tief durch. Sie hatte alles gewusst, von Anfang an! Und niemand hatte ihr Glauben geschenkt...
"Was steht drin?" wollte Glimmer wissen, nachdem sie es nicht mehr aushalten konnte.
"Sie hat alles gewusst..." entgegnete er ihr fassungslos.
"Was meinst du damit?"
"Der Brief ist alt... Sie hat ihn geschrieben, bevor die Allianz auseinanderbrach. Und sie schreibt hier, dass das Bündnis nicht halten wird und dass sich jede Prinzessin in ihr Königreich zurückziehen würde. Sie wusste, dass Hordak nur die Spitze des Eisbergs sein würde... und niemand hat ihre Warnungen angehört...!"
"Ich wusste gar nicht, dass Shadow Weaver hellsehen konnte..." fiel Glimmer auf.
"Hellsichtigkeit ist keine anerkannte Fähigkeit in der Akademie. Wer sich mit Visionen oder dergleichen abgibt, wird nicht ernst genommen vom Hohen Rat und allenfalls als Jahrmarktsattraktion verschmäht. Sie muss es verschwiegen haben... Vielleicht hätte ich auch besser zuhören müssen. In ihren letzten Tagen habe ich so viel Zeit mit ihr verbracht. Ich habe nicht.."
"Vielleicht wollte sie einfach nicht, dass du es erfährst, zumindest nicht während sie Light Spinner war", unterbrach Glimmer ihn. "Du hast doch gerade gesagt, dass das keine seriöse Praxis war. Vielleicht wollte sie einfach nicht, dass du dir ein schlechtes Bild von ihr machst?"
"Ja... vielleicht..." murmelte er langsam und gedankenverloren.
"Lies weiter. Ich bleibe so lange hier!" ermunterte sie ihn.
"Anbei habe ich meine letzten Ergebnisse gelegt. Sie stehen auf den Rückseiten des Briefes. Da ich davon ausgehen muss, dass die Notizen in die falschen Hände geraten könnten, habe ich sie mit einem Spruch unsichtbar gemacht. Um ihn zu lösen, benötigt es eine Kombination aus einem Versiegelungszauber und dem Spruch, den du als erstes in meiner Klasse demonstrieren solltest.
Das heißt wenn du dich daran noch erinnerst.
Ich hoffe, sie werden dir oder jemandem, der dir zuhört, nützlich sein.
Ich kann es verstehen, wenn dir diese Aufgabe zu mächtig erscheint - oder zu angsteinflößend. Selbst mich hat das Wissen um das Ende von Etheria in Todesangst versetzt.
Dem Brief habe ich außerdem meinen Novizinnenschleier beigelegt, mit einer Bitte an dich: Sende diesen Schleier bitte meiner Familie zu - auf welchem Weg ist unwichtig. Wenn sie ihn erhalten, werden sie über mein Ableben Bescheid wissen. Das ist die einzige Bitte, die ich an dich richten werde.
Die Koordinaten zum Dorf meiner Familie sind 69°38'56.0"N 18°57'24.3"E
Es liegt in einer felsigen Landschaft hoch im Norden, wo es 8 Monate im Jahr schneit. Überlege es dir also gut, wann du den Schleier versendest.
Es war mir eine Ehre, dich zu unterrichten, Micah.
Lebewohl,
L.S."
Micah legte den Brief beiseite und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
"Was steht drin?" fragte Glimmer. Sie war aufgestanden und hatte von der Anrichte ein Glas mit zwei Fingerbreit Branntwein mitgebracht.
Der Geruch brannte scharf in seiner Nase. Er war kein Trinker. Auf Events und Audienzen bevorzugte er Wasser. Aber in dem Moment war Branntwein genau das Richtige.
Er kippte den Inhalt die Kehle hinunter und setzte das Glas mit einem dumpfen Knall wieder ab.
"Sie hat sich auf ihren Tod vorbereitet. Obwohl sie wusste, dass es schief gehen konnte, wollte sie trotzdem nicht von ihrem Vorhaben ablassen."
"Was hat es mit dem Schleier auf sich? Ist das eine Art makaberes Abschiedsgeschenk?!" fragte Glimmer skeptisch. Sie hatte sich ihm gegenüber wieder hingesetzt.
"Sie wollte, dass ihre Familie den Schleier bekommt. Ich weiß auch nicht... Es muss irgendeine Art Ritual sein, damit die Angehörigen erfahren, dass sie gestorben ist."
Auf einmal stand er auf, drehte die Bögen Papier auf die unbeschriebene Seite herum und zeichnete einen Zauberspruch darüber. Das Papier begann kurz zu leuchten, aber weiter geschah nichts.
Glimmer war mit dem Sessel vom Tisch gewichen vor Schreck.
"Es muss ein Lichtzauber gewesen sein... eine bewegende Illusion..." murmelte er vor sich hin.
"Vater...?!"
"Die Raute war oben, die Welle diagonal darunter... Ja, genau so war es." Er wob einen weiteren Bannspruch in die Luft. Langsamer und nachdenklicher. Ob sie den Fehler mit einbezogen hatte, den er damals begangen hatte? Nein, das konnte nicht sein. Light Spinner würde keine falschen Bannsprüche für Versiegelungen verwenden.
Der Spruch lud sich auf als der Kreis vollendet war, sich auf dem Papier einbrannte und wieder verschwand.
Schwarze Schrift und Zeichnungen erschienen auf dem vorher blanken Papier.
"Was ist das?" fragte Glimmer entsetzt.
"Ihre Aufzeichnungen über Hordak als niemand von ihm annahm, dass er eine große Bedrohung darstellte", erklärte er ohne aufzusehen.
Die Notizen waren beinahe kryptisch und unvollständig. Aber sie hatte es geschafft, Orte zu markieren, die bereits von der Horde annektiert waren zu der damaligen Zeit. Was ihn verblüffte, waren die Prognosen, die sie festgelegt hatte. Hordak würde mehr Territorien erobern und mehr Völker versklaven. "Hier sogar mit Datum versehen..." murmelte er erstaunt.
"Ich hätte ihr besser zuhören sollen", sagte er fassungslos und ließ sich wieder in den Sessel sinken.
"Du warst vierzehn Jahre alt", lenkte Glimmer ein.
"Das war keine Frage des Alters, Glimmer."
"Wenn der Hohe Rat schon nicht ihr Gehör geschenkt hat, warum hätten sie dann auf einen 14jährigen Drittklässler hören sollen?"
"Wenn ich den Brief eher bekommen hätte, dann..."
"Aber das hast du nicht!" unterbrach sie ihn forsch. "Es ist nun mal so passiert und die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern. Wir wussten beide, dass der Brief dich aufwühlen würde. Bitte, lass dich jetzt nicht von Zweifeln beeinflussen, Vater. Wir brauchen dich - jetzt, in der Gegenwart! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie uns alle immer noch beeinflusst, obwohl sie schon lange gegangen ist! Ja, sie hat uns geholfen gegen Horde Prime, und ja, sie hat sich entschuldigt und versucht, ihre Fehler wieder gut zu machen. Aber es ist frustrierend, wie viele Menschen sie beeinflusst und manipuliert hat!"
Glimmer war aufgestanden. Aufgebracht lief sie auf und ab und gestikulierte heftig umher. Vor dem großen Fenster blieb sie schließlich stehen. Mit glasigem Blick schaute sie in die Nacht hinein.
"Diese Notizen - oder was es auch immer sein mag - hätten nützlich sein können", sagte sie etwas leiser. "Die erste Allianz wäre nie zerbrochen und wir hätten die Horde gleich im ersten Krieg besiegt. Du wärst nie auf Beast Island gelandet und Mutter würde immer noch leben! Aber so einfach ist das nicht!" Sie rieb sich die Oberarme als wäre ihr auf einmal kalt.
"Es tut mir leid." Micah stand hinter seiner Tochter und sein Blick folgte dem ihren. "Wir beide wünschen uns, dass sie jetzt hier wäre."
Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. "Ist schon gut. Ich habe mich damit arrangiert. Es ist nur..." Der Gedanke wollte nicht so recht über Ihre Lippen. "Es ist unfassbar, dass niemand mehr über sie spricht... so als hätte sie niemals existiert. Das macht es noch härter für mich."
Micah nahm sie in den Arm. "Sie wollen dich damit nicht unter Druck setzen, Glimmer. Wenn sie ständig über deine Mutter sprechen würden, könnte dein Volk das so auffassen, dass dein Hofstab nicht mit deiner Art zu regieren einverstanden ist. Sie wollen deine Stellung damit nicht kompromittieren", erklärte er ihr.
"Vielleicht solltest du einen Tag zum Tag der Königinnen von Bright Moon ernennen", schlug er ihr aufmunternd vor. "Eine Art Festtag, an dem alle Königinnen von Bright Moon gefeiert werden sollen. Somit bietest du deinen Leuten eine Möglichkeit, über alle Königinnen zu sprechen und sie zu ehren, ohne deine Position anzuzweifeln. Und du hättest Gelegenheit, offen über deine Mutter zu sprechen, ohne zaghaft oder zögernd in der Öffentlichkeit zu wirken. Deine Mutter hätte das sicherlich für eine tolle Idee gehalten."
Glimmer drehte sich zu ihm um. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. "Danke, dass du für mich da bist, Vater", sagte sie, ohne auf seine Idee einzugehen. "Vielleicht sollten wir den Tag ruhen lassen. Wir haben heute viel erreicht, auch wenn ich das Gefühl habe, dass wir mit den Versammlungen und Audienzen nur im Schneckentempo vorankommen. Aber es war ein erfolgreicher und ereignisreicher Tag, und wir sind alle müde." Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke drehte sie sich halb zu ihm um. Er hatte sich nicht vom Fenster wegbewegt. "Sehen wir uns morgen früh beim Frühstück?" fragte sie hoffnungsvoll.
"Ich werde mich bemühen, pünktlich zu sein." Micah lachte. Heute morgen war er alles andere als pünktlich gewesen und musste sich mehrmals entschuldigen.
Einer ihrer Wachen schloss die Tür hinter ihr.
Betreten schaute er zu den Papieren, die immer noch auf seinem Tisch verteilt lagen. Die Notizen waren wieder verblasst, genau wie der Spruch, der sie sichtbar gemacht hatte.
Warum hatte ihm das Schicksal diesen Brief ausgerechnet jetzt gebracht?
Das Papier fühlte sich rau unter seinen Fingerspitzen an.
Schließlich sammelte er die Bögen ein und faltete sie. Der Tag war wirklich turbulent und hatte seine Spuren in Micahs Knochen hinterlassen.
Der Brief verschwand in einer Schublade unter seinem Schreibtisch.
Er gehörte in die Vergangenheit.
Genau wie die Horde und die Probleme, die damit einhergingen.
Sie hatten den Planeten befreit und konnten nun endlich in Frieden aufblühen.
Also warum konnte er sich darüber nicht mehr freuen?
TBC... je nachdem, was Staffel 5 bringt *flenn*
Der Charakter erhält eh nur Hate Posts vom Fandom. Deswegen werde ich mit der Story wohl kaum jemanden begeistern.
Aber mein Fanfiction-Herz denkt sich dabei nur: Who cares! :D
Viel Spaß beim Lesen!
(kleines Edit: Ich verstehe übrigens nicht, warum die Wortanzahl hier so drastisch von der tatsächlichen Anzahl abweicht. Es sind "nur" 5934 ohne AN und keine 9000 Wörter O.o)
Kapitel 1 - Der Brief
Er sollte glücklich sein.
Der Krieg war beendet. Etheria erholte sich langsam von den Bosheiten, die die Horde dem Planeten angetan hatten.
Die politischen Verhandlungen mit den anderen Königreichen verliefen bisher sehr gut.
Ein lang ersehnter Frieden stand dem Land in Aussicht.
Seine Tochter erwies sich als starke und gerechte Königin über Bright Moon. Er könnte nicht stolzer auf sie sein. Sie war alles, was er sich je für sie erhofft hatte.
Es würde lange dauern, bis sie sich ganz von der Bedrohung der Horde erholt haben würden. Vermutlich würde es sogar mehrere Generationen dauern bis Felder wieder blühen und Kinder unbeschwert durch die Wälder laufen könnten.
Es war ein Anfang.
Niemand behauptete, dass Anfänge leicht wären.
Er würde seiner Tochter so gut es ging als Berater beistehen, das stand außer Frage.
Die ersten Sonnenstrahlen blinzelten über den Horizont hinweg.
Micah mochte die Mußestunden am Morgen, wenn die meisten noch schliefen.
Der Garten war verlassen. Nur die Vögel zwitscherten bereits aufgeregt. Micah nutzte die Zeit für einen Spaziergang durch die verlassenen Wege des Schlossgartens. Es half ihm, sich auf den Tag vorzubereiten und neue Kraft zu schöpfen für das, was kommen mochte.
Und er endete immer vor der Statue seiner bildhübschen Frau.
War sie tot?
Oder nur verschollen?
Gewissheit gab es nicht.
Seine Zeit auf Beast Island hatte ihm Dankbarkeit gelehrt. Er hatte im Leben nicht mehr damit gerechnet, Bright Moon in lebendiger Gestalt noch einmal betreten zu dürfen, geschweige denn seine Tochter wiederzusehen.
Er hatte in den letzten zwölf Jahren die Hoffnung längst aufgegeben gehabt. Dass er seine Frau nicht mehr wiedersehen würde, damit hätte er sich längst abgefunden haben. Doch der Schmerz keimte frisch auf, als er mit Hilfe von Adora und Bow Beast Island entkommen konnte. Die Erkenntnis traf ihn tief, nie wieder mit seiner Frau zusammen sein zu können.
Er sollte glücklich sein.
Doch morgens fand er nicht die Kraft dazu.
"Altregent!" störte eine weibliche Stimme die morgendliche Ruhe. "Micah! Ich wusste doch, dass ich dich hier finden würde."
Es war Castaspella. Sie war völlig außer Atem als sie schließlich vor ihm stand.
"Castaspella, ich habe dir doch gesagt, dass mein Name vollkommen ausreicht. Du bist meine Schwester!"
"Das kommt gar nicht in Frage! Du bist der Altregent von Bright Moon und du hast dir den Respekt verdient. Außerdem muss deine kleine Schwester es doch hin und wieder ausnutzen, dich zu necken!"
Micah gab sich geschlagen. "In Ordnung, ich weiß, wann ich auf verlorenem Posten stehe. Also, was führt dich so früh nach Bright Moon?"
Castaspella rang mit ihren Händen. Es war gar nicht ihre Art, nervös zu werden. "Ich glaube, dazu sollten wir uns lieber setzen."
Die Statue war umringt von zierlichen Blumenbeeten und mehreren Steinbänken, die im Kreis um die Statue herum aufgestellt waren.
Die Bank war kalt. Der Sommer hatte das Land noch nicht ereilt. Castaspella schob sich also auf die Kante der Bank, damit das Sitzen ein wenig angenehmer war.
Micah zeichnete ein magisches Symbol auf die Bank. "Das sollte den Stein ein wenig erwärmen."
"Danke, großer Bruder! Wie immer sehr aufmerksam." Dann verfinsterte sich ihre Mine und sie zog einen Umschlag aus ihrer Robe. "Wir haben regen Zuwachs auf Mystacor. Das ist eine sehr schöne Sache! Wir haben so viele neue Schüler! So viele talentierte Kinder aus allen Königreichen des Planeten! Das müsstest du mit eigenen Augen sehen! So viele Schüler hatten wir in der ganzen Geschichte von Mystacor noch nicht!"
Castaspellas Augen begannen zu glänzen und für einen Augenblick waren alle traurigen Gedanken wie fortgeblasen.
"Du musst uns unbedingt besuchen kommen, sehr bald, Bruderherz! Wir könnten dich gut als Lehrer für die Fortgeschrittenen gebrauchen."
Micah seufzte. "Castaspella..."
"Ich weiß, dass wir schon öfter darüber gesprochen haben. Aber wenn du es dir einmal ansehen würdest... Vielleicht stimmt es dich ja um. Es sind einige sehr talentierte Schüler darunter, die so wissbegierig sind, dass wir nicht allen gerecht werden können. Überlege es dir bitte, Micah."
Micah lächelte, mehr zu sich selbst. Sein Blick wanderte über den Kiesboden. Wie gerne würde er ihr doch zustimmen, aber die Erinnerungen an diesen Ort ließen es einfach nicht zu.
"Weißt du was, Micah? Überlege es dir einfach. Wir würden es sehr begrüßen, aber du musst dich nicht bedrängt fühlen."
"Was ist du da in der Hand?" Er deutete mit der Hand auf den Umschlag, den sie sich mit beiden Armen mittlerweile an die Brust gepresst hatte.
"Oh." Für einen Augenblick schien sie diesen tatsächlich vergessen zu haben. "Du weißt ja... wir haben viele Schüler jetzt. Mehr als wir aufnehmen könnten. Deswegen ist der Platz eng geworden auf Mystacor. Wir haben zwar zunächst die Säle behelfsmäßig umgebaut, aber auf Dauer hat das nicht geholfen. Also haben wir einige Räume ausgeräumt und umgebaut. Auch ihre persönlichen Studienzimmer und ihre Kammer... Du weißt schon..."
"Ja", hielt er sie davon ab, den Namen auszusprechen. "Ich weiß."
"Wir wissen nicht, was wir mit ihren Sachen machen sollen. Es scheint eine unendliche Ansammlung von Wissen zu sein, und es steht in Frage, ob wir genügend Mentoren haben, die etwas damit anzufangen wissen..."
"Das ist eine gefährliche Richtung, die ihr da einschlagen wollt", warnte Micah sie prompt.
"Ich weiß. Deswegen haben wir ihre Sachen verstaut und weggeräumt. Aber dabei ist das hier zum Vorschein gekommen", sagte sie mit sorgenvollem Blick und überreichte Micah den Umschlag.
Das Papier war vergilbt und das Siegel war an einigen Stellen bereits abgebrochen, und dennoch wirkte er unberührt. Auf der anderen Seite war sein Name darauf in geschwungenen Lettern geschrieben.
"Sie muss ihn verfasst haben, bevor sie sich für die falsche Richtung entschieden hat", vermutete Castaspella.
"Ja", sagte er als ob er ihr zuhörte.
"Wir fanden den Brief auf ihrem Schreibtisch unter einer Menge von Plänen, Karten und Spruchbändern... und, naja... einer Menge Staub. Wir haben zuerst überlegt, ob wir dir den Brief überreichen sollten. Er ist sehr alt und sie war damals eine andere Person. Vielleicht bringt er dir Licht in eure dunkle Vergangenheit, damit du mit diesem Kapitel deines Lebens abschließen kannst."
Er blieb ihr eine Antwort schuldig.
Castaspella seufzte.
"Ich lass dich jetzt allein. Bitte denk dran, Bruderherz: Egal, was drin steht, es ändert nichts daran, wer du bist und welche Entscheidungen du getroffen hast."
Ihre Roben tanzten in der seichten Morgenbrise.
Schon bald war sie nicht mehr zu sehen.
Ein kalter Schauer kroch von seinem Nacken den Rücken langsam hinunter. Er konnte die Statue seiner Frau noch im Blickwinkel sehen. Unsicher blickte er über seine Schulter zu ihr hinauf. Sie war so schön wie er sie in Erinnerung hatte.
Doch sie war aus Stein und sie war übergroß.
Ihre leeren Augen wachten still über den Garten von Bright Moon.
Der Brief wog schwer in seinen Händen. Für einen simplen Brief war er recht dick. Vielleicht hatte sie ihm etwas hinterlassen? Sollte er sich darüber freuen?
Was sollte eine Mentorin einem vierzehnjährigen Bengel zu sagen haben, der nach Aufmerksamkeit lechzte und alles tat, um ihr zu gefallen? Das war es, was ihn angetrieben hatte. Sie war nichts weiter als ein jugendlicher Schwarm, den jeder einmal in seinem Leben hatte.
Also warum konnte er sich nicht dazu hindurch ringen, das Siegel zu brechen?
Der Anblick von Angellas Statue hatte ihn sonst immer beruhigt und Halt gegeben. Doch mit dem Brief in den Händen, verfiel das Gefühl wieder.
Leise Stimmen drangen von den Gängen zwischen den Gebäuden zu ihm herüber.
Er konnte sich nicht überwinden, den Brief im Schatten der Statue seiner Frau zu lesen. Das fühlte sich nicht richtig an.
Also steckte er den Brief ein. Das Papier war alt und konnte sich noch ein paar Stunden länger gedulden.
***
"Im Süden herrscht eine Dürre, die unser Volk zur Auswanderung zwingt, Königin Glimmer. Wir benötigen dringend Eure Hilfe, damit das Land nicht vollkommen vertrocknet und zur Wüste mutiert." Der Bittsteller stand gebeugt vor dem Aufgang zum Thron und zerknitterte seine Mütze zwischen seinen Händen. Hinter ihm standen mehrere ausgemergelte Männer und Frauen, die den Weg mit ihm gekommen waren. Sie kamen aus einer der Grenzregionen, die von den Hauptstraßen und -routen abgeschnitten waren.
"Wie viele seid ihr?" fragte die Königin mit undeutbarer Mine.
Der Mann erhob sich und sah sie leidvoll an. "120 von uns haben sich auf den Weg hierher gemacht. Geschafft haben es nur diejenigen, die Ihr hier seht. Zuhause vertrocknet die Ernte. Wir benötigen dringend Nahrung und Wasser, um nicht noch mehr Massengräber ausheben zu müssen, Eure Majestät."
Es verging eine Weile. Der Mann senkte wieder den Blick. Zu langes Starren schien ihm unangenehm zu sein. Die Menschen hinter ihm taten es ihm gleich. Ihre Gesichter waren leer und knochig.
"George?" hörten sie die Königin auf einmal sagen.
"Eure Majestät?" Ein Mann mittleren Alters erhob sich von seinem Platz an der Seite der Treppenstufen. Seine Haut hatte die Farbe von Karamell und auf seinem Hemd prangte ein dunkelrotes Herz. Das Haar an seinen Schläfen war von silbernen Streifen durchwoben. Er schob seine Brille zurecht und blickte von seinem Klemmbrett auf.
"Wie viele Betten haben wir noch frei?" fragte die Königin.
"Im Nordflügel sind noch genügend Betten frei."
"Gut, bringt diese Leute in den Nordflügel und sorgt dafür, dass sie sich erholen können. Wir besprechen die Lage über die südlichen Regionen in der nächsten Sitzung mit den Ministern. Bis dahin kann ich euch keine Entscheidung mitteilen." Der letzte Teil war an die um Hilfe Bittenden gerichtet.
Leises Gemurmel erfüllte den Thronsaal.
"Aber Majestät! Unsere Kinder sterben, jetzt in diesem Augenblick!" Der Mann machte einen Schritt auf die Treppe zu und wurde sogleich von den Wachen aufgehalten.
"Die Königin hat euch Obdach gewährt. Du wirst dich dankbar zeigen und gedulden!" zischte einer der Wachen und packte ihn am Nacken.
Verängstigt und wimmernd kam kein Wort über seine zitternden Lippen.
"Bringt die nächsten nach vorn! Was soll diese Verzögerung?" fragte Königin Glimmer verärgert. "Die Warteschlange ist lang. Wir haben keine Zeit für Verzug. Bringt die südlichen Leute endlich in den Nordflügel!"
Die Wachen schoben die Schar Bittsteller aus dem Thronsaal hinaus.
"George?" Königin Glimmer war die Treppe halb hinunter gegangen und stand ihrem Berater so nah, dass sie leiser sprechen konnte. "Wie viele sind es heute noch?"
George sah auf seine Liste. "Mindestens noch zwölf Gruppen, Eure Majestät."
In einem seltenen Anflug von Zerschlagenheit seufzte die Königin und ließ die Schultern hängen.
"Wir nehmen noch die nächsten drei, dann machen wir eine kurze Pause", beschloss sie.
"Wie Ihr wünscht." George verneigte sich und wies schließlich die Wachen an, die nächsten hereinzubringen.
"Glimmer, du solltest die Audienzen auf deine Leute verteilen, denen du vertraust. Dann geht der Prozess schneller voran und die Menschen müssen nicht so lange warten." Micah stand auf einmal bei ihr.
"Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würde ich mich nicht um mein Volk kümmern, Vater."
"Du wirst diesen Eindruck nicht hinterlassen. Aber als Königin musst du lernen, Aufgaben auch zu delegieren. Du kannst nicht überall sein", riet er ihr. Er wusste, dass seine Tochter stur war. Doch diese Situation würde jeder Seite Nerven rauben, wenn sie nicht schneller handelte.
"Wir machen die nächsten drei Gruppen jetzt!" beschloss Glimmer stur. Ihr Blick änderte sich gleich wieder. "Danach können wir beim Essen gern darüber reden."
Micah kannte seine Tochter sehr gut, auch wenn er die meiste Zeit ihres Lebens auf Beast Island verbracht hatte, so konnte er den einen oder anderen Charakterzug seiner Frau in ihr erkennen.
Als ehemaliger König hatte er keine politische Macht, und so war er eigentlich irrelevant für die täglichen Audienzen. Glimmer hielt aber recht wenig von politischen Traditionen und so konnte sie ihn zumindest als Berater und Altregent bei Hofe behalten. Eine Rolle, die er nur zu gern für sie erfüllte.
Der Rest der Audienz verlief gleichmäßig und doch erschreckend. Das Leid der Leute war unverkennbar groß. Der Krieg hatte sie sehr viel gekostet. Das Land wieder aufzubauen würde Jahre brauchen.
Die dürften auch die letzten Gruppen gewesen sein.
Nach der kurzen Pause ließ sich Glimmer tatsächlich darauf ein, ihre Aufgaben zu verteilen.
Die nächsten Audienzen fanden in drei Räumen statt, so dass sie am frühen Nachmittag mit dem Verplanen von Versorgungskarawanen beschäftigt waren.
Die Rationen fielen diesmal geringer aus als noch vor einem halben Jahr als die Ernten vom Vorjahr noch für alle gereicht hatten. Aber dieses Mal würden sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen.
"Vielleicht sollten wir Perfuma oder ein Mitglied ihrer Gemeinschaft darum bitten, uns zu helfen. Sie könnte in die Region reisen und dafür sorgen, dass die Ernte gerettet werden kann", schlug Micah am Abend vor als er mit seiner Tochter, Bow und George gemeinsam am Tisch saßen und eine einfache Mahlzeit aus Brot, Käse und einer würzigen Gemüsebrühe zu sich nahmen.
Ein Platz war wie immer verwaist. Wie jeden Abend, seit Wochen schon.
"Das wäre eine ausgezeichnete Idee!" stimmte George mit ein.
"Ich habe mit Perfuma schon vor ein paar Tagen gesprochen. Sie hat viel zu tun, deswegen ist es unwahrscheinlich, dass sie uns in nächster Zeit helfen kann", erklärte Glimmer und die Stimmung war gleich wieder gesunken. "Bow, du bist doch immer recht einfallsreich, kannst du keine Konstruktion erfinden? Irgendwas? Vielleicht gibt es ja in eurer Bücherei hilfreiche Anleitungen für Erntemaschinen oder Wasserleitungen für solche Fälle. Wir können uns nicht immer auf die Macht unserer Runen verlassen. Der Krieg hat gezeigt, wozu sie eigentlich gedacht waren. Ich möchte so wenig wie möglich auf sie zurückgreifen."
"Ich könnte Lance gleich nach dem Essen bitten, ein paar Quellen dazu heraus zu suchen. Deine Brüder dürften sich auch freuen, wenn sie was zu tun haben, was unserem Volk dient", stimmte George mit ein.
"Gibt es Neuigkeiten von Adora?" frage Bow hoffnungsvoll.
"Nicht seit letzter Woche", antwortete Glimmer. "Ich mache mir langsam Sorgen."
"Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst um sie", beruhigte Bow sie. "Wenn sie etwas aufgehalten haben wird, dann eher die Leute, die sie immer noch feiern wollen. Es wird bestimmt..."
"MAHLZEIT!" Die Tür wurde aufgestoßen und eine gut gelaunte Adora kam mit großen Schritten in den kleinen Saal hinein gepoltert. "Ihr glaubt nicht, wie sehr ich euch vermisst habe!" Noch ehe irgendwer reagieren konnte, hatte sie jeden bis zur Luftnot geknuddelt. "Tut das gut, wieder hier zu sein!" Prompt hatte sie sich auf ihren Platz gesetzt, nahm sich eine große Portion Suppe und stopfte sich das Brot zwischen die Zähne. "Hach, fuufes Brooof! Farum fmeckft daf hier fo guuufff?"
Ein Diener reichte ihr eine Tasse Tee. Adora nahm dankend an und leerte die Tasse in einem Zug.
"Ahhh! Das tat gut!" rief sie begeistert aus und fing prompt an zu husten und sich auf die Brust zu schlagen. "Geh endlich runter, du stures Brot! Noch einen Tee!" Sie hielt die Tasse hin und der Diener schenkte nach. "Danke!" prostete sie dem Diener fröhlich zu und goss auch die zweite Tasse weg als wenn die Flüssigkeit nicht kochend heiß wäre.
"Ehm, Adora? Geht's dir gut?" fragte Bow vorsichtig.
"Mir geht's präääächtig!" rief sie überfröhlich und machte sich über das zweite Stück Brot her und tunkte es in die Brühe hinein. "Ich bin die ganze Nacht durchgeritten, damit ich es bis heute noch schaffen würde! Die Bewohner von Darkforest sind zwar ganz nett, aber anstrengend."
"Darkforest? Warum warst du in Darkforest? Das liegt nicht einmal auf deiner Route!" fragte Glimmer fast entsetzt. Doch sie erhielt keine Antwort mehr.
Adoras Kopf fiel auf die Tischplatte und leichtes Schnarchen erfüllte den Raum.
Micah lachte leise.
"Es ist ja schön, dass du das komisch findest, aber das ist eine Katastrophe!" fauchte Glimmer.
"Aus ihr werden wir heute keinen Mucks mehr bekommen. Ich bringe sie besser in ihr Zimmer", antwortete Micah bloß und überging die Tatsache einfach, dass Glimmer dies gar nicht gefiel.
Für ein Mädchen ihres Alters war Adora viel zu leicht, dachte er sich als die Diener ihm die Tür öffneten.
Ein Diener folgte ihnen, um weitere Türen für sie zu öffnen. Der Palast war selbst zu den Abendstunden ein geschäftiger Ort. Fernab der Gäste, Flüchtlinge und Bittsteller, hatte die königliche Familie und die engsten Freunde einen Teil des Palastes für sich allein.
Je näher Micah dem Teil des Palastes kam, desto leerer wurden die Gänge und er wurde nicht mehr mit verwirrten Blicken bedacht, weil er Adora in den Armen trug. Das Getuschel aus den Seitengängen ignorierte er gekonnt.
In Adoras Zimmer endlich angekommen, gab der dem Diener zu verstehen, dass seine Dienste nicht mehr erforderlich waren.
Als Micah sie auf das Bett legte, kam es ihm kurz in dem Sinn, dass das eigentlich eine schlechte Idee gewesen wäre, denn jetzt würden die Diener tuscheln, weil er als alter Mann allein im Zimmer einer jungen Frau war, die auch noch bewusstlos zu sein schien. Über die Gerüchte würde Glimmer bestimmt nicht erfreut sein.
Er entschloss, die Angelegenheit dennoch zu beenden. Also zog er ihr die dreckigen Stiefel aus und auch die rote Weste. Das sollte wohl reichen.
"Huh...? Wo hnn ich...?" fragte Adora auf einmal schlaftrunken.
"In deinem Zimmer. Du bist völlig erschöpft, schlaf dich erst einmal aus. Deinen Bericht kannst auch auch morgen noch abliefern", versicherte er ihr.
"Ich hasse dieses Zimmer... viel zu groß und viel zu wenig Leute..." Die letzten Vokale waren nur noch gemurmelt bevor sie wieder einschlief.
***
Die Sonne war lange wieder untergegangen als er seine Privaträume betrat. Sie lagen nicht weit von Glimmers Gemächern entfernt. Sie hatte darauf bestanden, dass er zumindest in ihrer Nähe blieb, wenn er schon keine politische Macht annehmen wollte.
Der Tag hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen und seine müden Knochen freuten sich auf sein Bett.
Wenn sie keine Revolte ihrer eigenen Leute riskieren wollten, musste möglichst bald ein Beschluss gefasst werden, der Einsparungen regelte, damit jeder auch etwas zum Leben und Überleben bekam.
Die Robe landete achtlos auf der Stuhllehne. Da fiel sein Blick auf den Brief, den Castaspella ihm am Morgen überreicht hatte.
Den hatte er völlig vergessen!
Er war sich am Morgen unschlüssig gewesen, ob er ihn überhaupt lesen sollte. Was konnte darin schon stehen, das die letzten zweiundzwanzig Jahre umkehren konnte?
Sie hatte ihnen im Krieg gegen Horde Prime geholfen, das stand außer Frage. Sie hatte geholfen Glimmer zu retten. Sie hätte so viele Chancen gehabt, zu fliehen, oder erneut die Seiten zu wechseln und sich mit Horde Prime zu verbünden.
Aber das hatte sie nicht getan.
Als der Krieg vorbei war, war sie es, die Glimmer vorschlug, eine Verhandlung gegen sie zu führen. Offiziell galt sie ja noch als Gefangene und Glimmer würde damit ihrem Volk Souveränität und Gerechtigkeit signalisieren.
Micah war der Anhörung fern geblieben. Er hatte lange Zeit seine Gefühle unterdrücken können, bis er sie gänzlich vergessen hatte. Das unerwartete Wiedersehen hatte die alten Wunden wieder aufgebrochen.
Und er konnte sich nicht überwinden, ihr nach der Verhandlung wenigstens Lebewohl zu sagen.
Also was würde dieser Brief daran ändern?
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken heraus.
"Herein!" rief er und betrachtete immer noch nachdenklich den Brief in seinen Händen.
"Du bist gar nicht mehr wieder zurückgekommen." Es war keine Frage.
Micah schaute auf.
Glimmer sah weder erbost noch enttäuscht aus, eher besorgt.
"Du hast den ganzen Tag schon etwas abwesend gewirkt", stellte sie fest.
"Ich weiß nicht, was du meinst. War ich nicht aufmerksam? Habe ich etwas falsches gesagt?" fragte Micah verwundert. Er deutete auf den kleinen runden Tisch mit zwei Sesseln mitten im Raum.
Sie setzten sich.
Glimmer glitt nervös auf der großen Sitzfläche von links nach rechts.
"Nein, du warst wunderbar. Ich würde mich freuen, wenn du eine richtige Stellung in meinem Hofstab annehmen würdest, Vater. Bright Moon braucht dich."
Unangenehmes Schweigen folgte.
"Was hast du da?" fragte sie schließlich als er nicht antwortete und stattdessen mit dem Brief in seinen Händen spielte.
"Castaspella hat mich heute morgen aufgesucht. Die Gilde hat auf Mystacor regen Zuwachs von Schülern und platzt regelrecht aus allen Nähten."
"Das ist doch gut." Glimmer freute sich und wirkte doch recht nervös. "Oder nicht?" Es war ein kläglicher aufheiternder Versuch.
Micah seufzte. "Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass sich mehr Völker trauen, ihre talentierten Kinder zur Magierakademie zu schicken. Dazu hatten sie vor dem Krieg entweder nicht die Möglichkeit oder die trauten sich nicht."
"Also hast du einen Vertrag erhalten?" hakte Glimmer nach und deutete wieder auf den Umschlag.
"Nein." Micah zögerte. "Das heißt, ja, sie haben mir eine Stelle angeboten. Es gibt nur noch wenige erfahrene Magier, die den Krieg überlebt haben. Die wenigen Verbliebenen sind mit der Anzahl der Schüler anscheinend total überfordert."
"Wenn das kein Vertrag ist, was ist das dann?" Glimmer ließ einfach nicht locker.
"Du kennst doch die Akademie. Es gibt einige Räume, die sie verschlossen hielten... für eine sehr lange Zeit. Aber der Platzmangel hat sie nun dazu gezwungen, diese Kammern und Säle zu räumen. Damit mehr Platz geschaffen werden kann für die neuen Schüler. Castaspella kam her, um mir zu sagen, sie hätten Light Spinners Kammer und Studienzimmer geräumt."
"Light...?"
"Shadow Weaver", erklärte er tonlos. "Die Zimmer waren über 20 Jahre lang versiegelt. Selbst der Gang dorthin war zugesperrt worden. Sie wussten nicht, ob sie die Bücher und Unterlagen behalten wollten. Also haben sie die Sachen zuerst in Kisten verstaut. Dabei haben sie den Brief hier gefunden. Er lag auf ihrem Schreibtisch. Sie muss ihn geschrieben haben, kurz bevor... Naja, es ist nur eine Vermutung."
Glimmer bemerkte das unversehrte, leicht zerbröckelnde Siegel. "Du hast ihn noch nicht gelesen?"
"Sie war eine andere Person damals." Das war keine Erklärung.
"Wie war sie?" fragte Glimmer und Micah sah seine Tochter überrascht an. "Ich meine, wie war Light Spinner? Es gab schon auf Mystacor niemanden, der gern über sie sprach. Aber sie muss vor ihrem Verrat doch irgend einen Eindruck hinterlassen haben. Sonst hätte man für sie keine Statue errichtet."
Sein Blick wanderte zum Kamin, in dem kein Feuer brannte. Er lächelte als er sich erinnerte. "Sie war schön", war das erste, was ihm einfiel. "Und gutmütig. Sehr geduldig mit uns Schülern. Sie unterrichtete nur die oberen Klassen und die talentiertesten Schüler in einer extra Klasse. Es war etwas besonderes, wenn man in ihren Unterricht aufgenommen wurde. Bei den anderen Lehrern waren die Lektionen trocken und fade. Ich habe mich schnell in den anderen Fächern gelangweilt. Aber Light Spinner wusste, wie man auch ein langweiliges Thema wie eine abenteuerliche Geschichte aufleben ließ. Ich habe mich auf ihre Klasse immer gefreut. Sie war wie der Lichtblick am Ende eines anstrengenden Tages." Er lächelte in sich hinein.
Glimmer wagte es nicht, ihn zu unterbrechen.
"Ich hatte zuerst Angst vor ihr, muss ich gestehen. Ihr Name war weit über die Grenzen von Mystacor bekannt und weckte Respekt und Schauer zugleich bei jedem. In der ersten Lektion bei ihr habe ich mich bis auf die Knochen blamiert." Micah lachte bei der peinlichen Erinnerung und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht. "Es ging nur um einen einfachen Lichtzauber als Vorstufe einer gewöhnlichen Illusion der Stufe 2."
"Was ist eine Illusion der Stufe 2?" fragte Glimmer doch noch nach.
"Das ist eine Illusion, die sich bewegen kann. Einfache Bewegungsabläufe wie z.B. Arme und Hände bewegen oder gehen. Ich wusste, dass ich es kann - ich hatte dafür wochenlang geübt - aber ich wollte zu viel auf einmal. Ich wollte beweisen, dass mein Platz in der Klasse berechtigt war... und ich habe kläglich versagt." Micah löste seinen Haarknoten. Seine teils silber durchwirkten Strähnen fielen ihm über die Schulter. "Die anderen lachten mich aus und ich schämte mich in Grund und Boden. Ich dachte, das wär's gewesen, und Light Spinner würde mich aus der Klasse werfen. Doch sie ermutigte mich, den Spruch erneut zu kreieren und gab mir Anweisungen wie ich mich korrigieren konnte. Sie ermahnte die anderen zum Zusammenhalt anstatt sich gegen Einzelne zu stellen. Wir müssten als Gruppe zusammenhalten, denn viele Sprüche würden mehrere Magier benötigen und dafür müssten wir eine Einheit bilden. Sie war eine wunderbare Lehrerin."
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das Shadow Weaver gewesen sein soll", sagte Glimmer nachdenklich. "Obwohl...", sie hielt kurz den Atem an, "sie hat mir vieles über meine Magie beigebracht in der kurzen Zeit vor dem Krieg. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihr damit vertrauen kann, auch wenn andere mich davon abbringen wollten. Vater, du solltest den Brief lesen. Sie hat dir viel bedeutet, auch wenn sie sich verändert hat. Vielleicht kannst du dann mit dem Abschnitt aus deinem Leben abschließen? Ich bleibe gerne hier, wenn du das möchtest."
"Wenn ich dich nicht hätte..." seufzte Micah und strich ihr mit der Hand über die Wange.
"Ach, Vater, wenn du mich nicht hättest, dann hättest du definitiv ein paar graue Haare weniger."
Beide lachten.
Er nahm schließlich seinen Mut zusammen und brach das Siegel.
Der Umschlag war aus mehreren Bögen Papier gefaltet, die mit einer feingliedrigen Handschrift beschrieben waren. Als er die Bögen auseinander faltete, fiel etwas heraus. Es war weiße Seide mit zwei goldenen Ösen und Verzierungen links und rechts.
"Was ist das?" fragte Glimmer.
"Das... Sie hat damals keine Maske getragen, sondern einen Schleier über Mund und Nase", erklärte Micah, selbst verwirrt darüber.
"Sie hat ihr Gesicht verschleiert? Warum?" fragte Glimmer weiter.
"Ich weiß es nicht. Ich habe es nie in Frage gestellt", antwortete er seiner Tochter.
Die Tinte war an einigen Stellen leicht verblasst, aber ansonsten war die Schrift gut zu lesen.
"Mein lieber Micah,
wenn du diesen Brief erhältst, bedeutet das, dass mein Vorhaben missglückt ist und ich entweder tot bin oder zu etwas Unaussprechlichem geworden bin.
In beiden Fällen möchte ich, dass du weißt, dass es nie meine Absicht war, dich in diese Angelegenheit reinzuziehen.
Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte...
Aber es stehen so viele Leben, ja, der ganze Planet, auf dem Spiel, dass ich es nicht riskieren konnte, eine Option ungenutzt zu lassen.
Dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen.
Du hast die Bilder der Eindringlinge gesehen. Wenn wir sie nicht aufhalten, werden wir entweder alle sterben oder einem Regime unterworfen, das keinen Widerstand oder Individualität duldet. Wir würden allenfalls als Sklaven dienen.
Ich habe dir nicht alles gezeigt, denn der Spiegel der Wahrheit zeigt nur Ausschnitte von Ereignissen, die gerade im gleichen Augenblick passieren oder wenige Stunden alt sind.
Ich werde dagegen seit Jahren mit Visionen und Albträumen gepeinigt. Tag und Nacht! Es soll dich nicht betrüben. Ich bin daran gewöhnt.
Dieser Eindringling muss um jeden Preis gestoppt werden, denn da, wo er herkommt, sind noch mehr. Mehr Raumschiffe und mehr Soldaten gegen die unsere Leute machtlos sein werden.
Wenn der Zauberspruch also misslingt, muss jemand anderes diese Aufgabe übernehmen.
Die Allianz der Prinzessinnen wird nicht halten! Und jede wird sich um ihr Land kümmern wollen, um die eigenen Leute zu schützen. Das darf nicht geschehen. Das letzte Puzzleteil in diesem Kampf fehlt noch und ich bin mir nicht sicher, was das sein könnte. Meine Recherchen haben bisher kein exaktes Ergebnis erbracht."
Da setzte er den Brief kurz ab und atmete tief durch. Sie hatte alles gewusst, von Anfang an! Und niemand hatte ihr Glauben geschenkt...
"Was steht drin?" wollte Glimmer wissen, nachdem sie es nicht mehr aushalten konnte.
"Sie hat alles gewusst..." entgegnete er ihr fassungslos.
"Was meinst du damit?"
"Der Brief ist alt... Sie hat ihn geschrieben, bevor die Allianz auseinanderbrach. Und sie schreibt hier, dass das Bündnis nicht halten wird und dass sich jede Prinzessin in ihr Königreich zurückziehen würde. Sie wusste, dass Hordak nur die Spitze des Eisbergs sein würde... und niemand hat ihre Warnungen angehört...!"
"Ich wusste gar nicht, dass Shadow Weaver hellsehen konnte..." fiel Glimmer auf.
"Hellsichtigkeit ist keine anerkannte Fähigkeit in der Akademie. Wer sich mit Visionen oder dergleichen abgibt, wird nicht ernst genommen vom Hohen Rat und allenfalls als Jahrmarktsattraktion verschmäht. Sie muss es verschwiegen haben... Vielleicht hätte ich auch besser zuhören müssen. In ihren letzten Tagen habe ich so viel Zeit mit ihr verbracht. Ich habe nicht.."
"Vielleicht wollte sie einfach nicht, dass du es erfährst, zumindest nicht während sie Light Spinner war", unterbrach Glimmer ihn. "Du hast doch gerade gesagt, dass das keine seriöse Praxis war. Vielleicht wollte sie einfach nicht, dass du dir ein schlechtes Bild von ihr machst?"
"Ja... vielleicht..." murmelte er langsam und gedankenverloren.
"Lies weiter. Ich bleibe so lange hier!" ermunterte sie ihn.
"Anbei habe ich meine letzten Ergebnisse gelegt. Sie stehen auf den Rückseiten des Briefes. Da ich davon ausgehen muss, dass die Notizen in die falschen Hände geraten könnten, habe ich sie mit einem Spruch unsichtbar gemacht. Um ihn zu lösen, benötigt es eine Kombination aus einem Versiegelungszauber und dem Spruch, den du als erstes in meiner Klasse demonstrieren solltest.
Das heißt wenn du dich daran noch erinnerst.
Ich hoffe, sie werden dir oder jemandem, der dir zuhört, nützlich sein.
Ich kann es verstehen, wenn dir diese Aufgabe zu mächtig erscheint - oder zu angsteinflößend. Selbst mich hat das Wissen um das Ende von Etheria in Todesangst versetzt.
Dem Brief habe ich außerdem meinen Novizinnenschleier beigelegt, mit einer Bitte an dich: Sende diesen Schleier bitte meiner Familie zu - auf welchem Weg ist unwichtig. Wenn sie ihn erhalten, werden sie über mein Ableben Bescheid wissen. Das ist die einzige Bitte, die ich an dich richten werde.
Die Koordinaten zum Dorf meiner Familie sind 69°38'56.0"N 18°57'24.3"E
Es liegt in einer felsigen Landschaft hoch im Norden, wo es 8 Monate im Jahr schneit. Überlege es dir also gut, wann du den Schleier versendest.
Es war mir eine Ehre, dich zu unterrichten, Micah.
Lebewohl,
L.S."
Micah legte den Brief beiseite und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
"Was steht drin?" fragte Glimmer. Sie war aufgestanden und hatte von der Anrichte ein Glas mit zwei Fingerbreit Branntwein mitgebracht.
Der Geruch brannte scharf in seiner Nase. Er war kein Trinker. Auf Events und Audienzen bevorzugte er Wasser. Aber in dem Moment war Branntwein genau das Richtige.
Er kippte den Inhalt die Kehle hinunter und setzte das Glas mit einem dumpfen Knall wieder ab.
"Sie hat sich auf ihren Tod vorbereitet. Obwohl sie wusste, dass es schief gehen konnte, wollte sie trotzdem nicht von ihrem Vorhaben ablassen."
"Was hat es mit dem Schleier auf sich? Ist das eine Art makaberes Abschiedsgeschenk?!" fragte Glimmer skeptisch. Sie hatte sich ihm gegenüber wieder hingesetzt.
"Sie wollte, dass ihre Familie den Schleier bekommt. Ich weiß auch nicht... Es muss irgendeine Art Ritual sein, damit die Angehörigen erfahren, dass sie gestorben ist."
Auf einmal stand er auf, drehte die Bögen Papier auf die unbeschriebene Seite herum und zeichnete einen Zauberspruch darüber. Das Papier begann kurz zu leuchten, aber weiter geschah nichts.
Glimmer war mit dem Sessel vom Tisch gewichen vor Schreck.
"Es muss ein Lichtzauber gewesen sein... eine bewegende Illusion..." murmelte er vor sich hin.
"Vater...?!"
"Die Raute war oben, die Welle diagonal darunter... Ja, genau so war es." Er wob einen weiteren Bannspruch in die Luft. Langsamer und nachdenklicher. Ob sie den Fehler mit einbezogen hatte, den er damals begangen hatte? Nein, das konnte nicht sein. Light Spinner würde keine falschen Bannsprüche für Versiegelungen verwenden.
Der Spruch lud sich auf als der Kreis vollendet war, sich auf dem Papier einbrannte und wieder verschwand.
Schwarze Schrift und Zeichnungen erschienen auf dem vorher blanken Papier.
"Was ist das?" fragte Glimmer entsetzt.
"Ihre Aufzeichnungen über Hordak als niemand von ihm annahm, dass er eine große Bedrohung darstellte", erklärte er ohne aufzusehen.
Die Notizen waren beinahe kryptisch und unvollständig. Aber sie hatte es geschafft, Orte zu markieren, die bereits von der Horde annektiert waren zu der damaligen Zeit. Was ihn verblüffte, waren die Prognosen, die sie festgelegt hatte. Hordak würde mehr Territorien erobern und mehr Völker versklaven. "Hier sogar mit Datum versehen..." murmelte er erstaunt.
"Ich hätte ihr besser zuhören sollen", sagte er fassungslos und ließ sich wieder in den Sessel sinken.
"Du warst vierzehn Jahre alt", lenkte Glimmer ein.
"Das war keine Frage des Alters, Glimmer."
"Wenn der Hohe Rat schon nicht ihr Gehör geschenkt hat, warum hätten sie dann auf einen 14jährigen Drittklässler hören sollen?"
"Wenn ich den Brief eher bekommen hätte, dann..."
"Aber das hast du nicht!" unterbrach sie ihn forsch. "Es ist nun mal so passiert und die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern. Wir wussten beide, dass der Brief dich aufwühlen würde. Bitte, lass dich jetzt nicht von Zweifeln beeinflussen, Vater. Wir brauchen dich - jetzt, in der Gegenwart! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie uns alle immer noch beeinflusst, obwohl sie schon lange gegangen ist! Ja, sie hat uns geholfen gegen Horde Prime, und ja, sie hat sich entschuldigt und versucht, ihre Fehler wieder gut zu machen. Aber es ist frustrierend, wie viele Menschen sie beeinflusst und manipuliert hat!"
Glimmer war aufgestanden. Aufgebracht lief sie auf und ab und gestikulierte heftig umher. Vor dem großen Fenster blieb sie schließlich stehen. Mit glasigem Blick schaute sie in die Nacht hinein.
"Diese Notizen - oder was es auch immer sein mag - hätten nützlich sein können", sagte sie etwas leiser. "Die erste Allianz wäre nie zerbrochen und wir hätten die Horde gleich im ersten Krieg besiegt. Du wärst nie auf Beast Island gelandet und Mutter würde immer noch leben! Aber so einfach ist das nicht!" Sie rieb sich die Oberarme als wäre ihr auf einmal kalt.
"Es tut mir leid." Micah stand hinter seiner Tochter und sein Blick folgte dem ihren. "Wir beide wünschen uns, dass sie jetzt hier wäre."
Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. "Ist schon gut. Ich habe mich damit arrangiert. Es ist nur..." Der Gedanke wollte nicht so recht über Ihre Lippen. "Es ist unfassbar, dass niemand mehr über sie spricht... so als hätte sie niemals existiert. Das macht es noch härter für mich."
Micah nahm sie in den Arm. "Sie wollen dich damit nicht unter Druck setzen, Glimmer. Wenn sie ständig über deine Mutter sprechen würden, könnte dein Volk das so auffassen, dass dein Hofstab nicht mit deiner Art zu regieren einverstanden ist. Sie wollen deine Stellung damit nicht kompromittieren", erklärte er ihr.
"Vielleicht solltest du einen Tag zum Tag der Königinnen von Bright Moon ernennen", schlug er ihr aufmunternd vor. "Eine Art Festtag, an dem alle Königinnen von Bright Moon gefeiert werden sollen. Somit bietest du deinen Leuten eine Möglichkeit, über alle Königinnen zu sprechen und sie zu ehren, ohne deine Position anzuzweifeln. Und du hättest Gelegenheit, offen über deine Mutter zu sprechen, ohne zaghaft oder zögernd in der Öffentlichkeit zu wirken. Deine Mutter hätte das sicherlich für eine tolle Idee gehalten."
Glimmer drehte sich zu ihm um. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. "Danke, dass du für mich da bist, Vater", sagte sie, ohne auf seine Idee einzugehen. "Vielleicht sollten wir den Tag ruhen lassen. Wir haben heute viel erreicht, auch wenn ich das Gefühl habe, dass wir mit den Versammlungen und Audienzen nur im Schneckentempo vorankommen. Aber es war ein erfolgreicher und ereignisreicher Tag, und wir sind alle müde." Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke drehte sie sich halb zu ihm um. Er hatte sich nicht vom Fenster wegbewegt. "Sehen wir uns morgen früh beim Frühstück?" fragte sie hoffnungsvoll.
"Ich werde mich bemühen, pünktlich zu sein." Micah lachte. Heute morgen war er alles andere als pünktlich gewesen und musste sich mehrmals entschuldigen.
Einer ihrer Wachen schloss die Tür hinter ihr.
Betreten schaute er zu den Papieren, die immer noch auf seinem Tisch verteilt lagen. Die Notizen waren wieder verblasst, genau wie der Spruch, der sie sichtbar gemacht hatte.
Warum hatte ihm das Schicksal diesen Brief ausgerechnet jetzt gebracht?
Das Papier fühlte sich rau unter seinen Fingerspitzen an.
Schließlich sammelte er die Bögen ein und faltete sie. Der Tag war wirklich turbulent und hatte seine Spuren in Micahs Knochen hinterlassen.
Der Brief verschwand in einer Schublade unter seinem Schreibtisch.
Er gehörte in die Vergangenheit.
Genau wie die Horde und die Probleme, die damit einhergingen.
Sie hatten den Planeten befreit und konnten nun endlich in Frieden aufblühen.
Also warum konnte er sich darüber nicht mehr freuen?
TBC... je nachdem, was Staffel 5 bringt *flenn*