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Verätzte Seele

Kurzbeschreibung
OneshotFreundschaft, Schmerz/Trost / P6 / Gen
30.04.2020
30.04.2020
1
4.023
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30.04.2020 4.023
 
Dies ist mein Beitrag zu der Superkräfte Challenge. Ausgesucht habe ich mir die Nummer 73: Säure spucken und dabei kam dieser Oneshot bei raus. Viel Spaß beim Lesen :)

ღღღღღ


Der Hausmüll lag stinkend im Flur herum. Der Beutel war festzugeknotet und bereit zur Abfahrt, wenn die Müllabfuhr an diesem Morgen nicht schon zu Besuch gewesen war und ihn vor der Haustür nicht fand.

„Verdammter Mist, Emilia!“, rief Larissa durch die kleine Wohnung, die sie mit ihrer Freundin besaß. Es waren gemütliche drei Zimmer inklusive einer schäbigen Küche, die sie von der Mieterin zuvor übernehmen konnten. Ihr eigenes kleines Reich war zusammengewürfelt, damit sie es schön einrichten konnten zu einem niedrigen Preis. Denn als junge Frauen, die erst die Ausbildung geschafft haben, war Geld Mangelware.  

„Schon wieder?“, kam die müde Antwort aus dem Badezimmer. Sekunden später kam Emilia in ihrem Pullover und Jogginghose, welche sie als Schlafanzug nutze, um die Ecke und erblickte missbillig den Müllsack.

„Schon wieder kann ich zurückgeben. Lüftest du deine Achsel?“, lachte Larissa, als ihr Blick an der Schulterpartie des Pullovers hängen blieb. Anstatt von Stoff klaffte ein riesiges Loch empor und es kam einem Wunder gleich, dass der Ärmel dranhängen blieb. Trotz der Tatsache, dass der Stoff zerstört war von einer Ätzung, blieb die Haut bleich wie ein Stück Papier. Wenigstens bildeten die dunkelbraunen Haare von Emilia einen schönen Kontrast und ihre grünen Augen stachen hervor.

Im Gegensatz zu Emilia bekam Larissa den einen oder anderen Zweifel an ihrem Aussehen. Sie war das typische Mädchen von Nebenan mit ihren langen blonden Haaren, blauen Augen und Stupsnase. Sie war sich unsicher wegen diesen Merkmalen und nicht aufgrund des großen angeblichen Makels, der sie von dem gewöhnlichen Mädchen unterschied. Ihr rechter Arm war fast völlig mit Narben überseht aufgrund der Verätzung, die sie erlitten hatte vor etwa vier Jahren. Dennoch fand sie einen Lichtblick in dieser Tatsache. Einzig ihr kleiner Finger war von der Säure verschont worden. Für sie war klar, dass das Schicksal ihr zeigte, dass sie noch immer den kleinen Fingerschwur mit ihrer besten Freundin machen sollte.

„Wieso zahlen wir für die Müllabfuhr überhaupt? Wir verpassen sie sowieso jedes zweite Mal.“, lenkte Emilia vom Thema ab und zupfte an ihrem Ärmel herum, welcher sich weiter auflöste beim Schütteln.
„Weil du deine Superkräfte doppelt so oft einsetzen müsstest und es dir zu anstrengend wird.“, entgegnete Larissa mit einem Grinsen. Ihre Rollen beim gemeinsamen Zusammenleben hatten sich über die vielen Jahre deutlich verändert. Zu Beginn wollte Larissa immer die Fähigkeiten von Emilia einsetzen, während sie Konter gewährte.

„Werd‘ nicht vorlaut, meine Liebe.“, kicherte Emilia und setzte sich in Bewegung. Larissa dagegen versteckte sich hinter dem Türrahmen und wartete auf das Können ihrer Freundin. Still spähte sie durch den Türspalt hindurch. Normalerweise wollte sie sich nicht verstecken und protestierte, aber sie beide waren müde und Emilia gewann letztendlich immer. Einfach neben Larissa nutzte sie ihre Säurekraft nicht und das war das Ende jeder Diskussion.
Gespannt sah Larissa von ihrem Platz zu wie die Vorbereitung ablief. Emilia stand neben dem Müll, atmete tief durch und schenkte noch einen letzten Blick zur Tür. Dann konzentrierte sie sich und spuckte präzise auf den Müllsack, sodass der Boden keinen Tropfen abbekam. Doch es war keine herkömmliche Spucke. Der Müll begann sich zu zersetzen und es würde keine drei Minuten dauern bis er bei der Menge verschwunden war. Es war Säure, die Emilia von sich gab.
Sie spukte die Säure ein weiteres Mal auf den zersetzenden Müll und wandte sich ab. Die Beiden hatten lange getüpfelt wie viel Säure sie brauchten, um einen herkömmlichen Müllsack verschwinden zu lassen. Doch nun hatten sie es rausgehabt, wie sich in zwei Minuten zeigen würde.

„Du hast es schon zig Mal gesehen und hüpfst immer noch wie ein Kind beim Weihnachtsmann.“, lachte Emilia und öffnete die Tür mit einem schwachen Schubsen, um Larissa zu verscheuchen.

„Wie oft hat man schon die Gelegenheit sowas cooles zu sehen! Ich finde es berechtigt.“, verteidigte Larissa ihren Stand der Dinge mit verschränkten Armen.

Der spaßige Ton war vergangen. Innerhalb eines Augenblickes fühlte sich die Luft kälter an und Emilias Blick verfinsterte sich, als sie den Arm ihrer Freundin begutachtete. Sie schämte sich für ihre Verletzung nicht und hatte ein riesiges Selbstbewusstsein, denn sie lief so oft es ging ohne langarmige Ärmel herum.

„Du meinst wohl sowas selbst zu spüren.“, kam es schroff von Emilia. Sie waren beide beinah zwanzig Jahre alt und dennoch konnte sie den Unfall vor knapp vier Jahren nicht abschütteln. Es würde sie bis ins Grab verfolgen und weiter, während ihre Seele und Körper verätzt wurde.

Es war ein Missgeschick von Teenagern, die ihre Grenzen nicht kannten. Zu der Zeit wurden Emilias Kräfte innerhalb kürzester Zeit verstärkt und unkontrollierbar. Die beiden Mädchen schliefen beim Schauen ihrer Lieblingsserie aneinander angelehnt ein. Schlagartig wurde Emilia von einem herzzerreißenden und schmerzerfüllten Schrei, den sie in ihren Träumen bis heute hörte. Der gesamte Arm ihrer Freundin war mit Säure beschmiert und blitzschnell reagierte Emilia, indem sie die Tür ihres damaligen Zimmers aufriss.
Das Missgeschick zu erklären war die Hölle. Jeder fragte. Im Krankenhaus, die Polizei und ihre Pflegeeltern fragten. Larissa fing an für die Sicherheit ihrer Freundin zu lügen. Sie erzählte jedem, dass die beiden Teenager die Säure von einem gruseligen Mann vor der Schule bekamen und am nächsten Tag der Polizei melden wollten. Jedoch war der Behälter umgekippt.
Die Puzzleteile der Lüge fügten sich nicht bedingungslos zusammen, aber sie hatten die Menschen überzeugt. Außerdem wäre niemals jemand auf die Idee gekommen, dass Emilia verantwortlich war durch ihr Sabbern im Schlaf.
Seitdem Unfall lief Larissa mit den verunstalteten Narben herum und schämte sich nicht. Aus irgendeinem Grund, den Emilia bei weiten nicht nachvollziehen konnte, hatte sie ihr verziehen. Vor dem Unfall war ihre Spucke, wenn sie ihre Kräfte nicht bewusst einsetzen wollte, wie der aktuelle Stand ihres Blutes oder Tränen. Sie brannten bei Berührung, aber hinterließen keine Spuren.
Die Angelegenheit des Unfalles war ein Tabuthema, dass Emilias Laune verständlicherweise in den Erdboden vergrub. Deswegen versuchten sie schnell zu wechseln und sprachen es nicht an. Außer wenn Emilia sich wieder besonders fertigmachen wollte für den Unfall.

„Also wie sieht dein Tag aus? Ich fahre zur Arztpraxis. Mein Chef wollte, dass ich für eine Kollegen einspringe. Ich sitze den ganzen Vormittag am Telefon, wenn du mich ablenken möchtest.“, ratterte Larissa ab und schaute hinter ihre Freundin in den Flur. Der Müll war verschwunden und die Fliesen erlitten eine leichte Verfärbung. Ansonsten wurde kein Schaden begangen.

„Ich schaue mir mal das Gebäude an, welches in Entstehung ist. Vielleicht bekommen wir da eine Wohnung und müssen nicht ewig lang fahren.“, kam es seufzend von Emilia, die noch immer hoffnungslos ihren Ärmel retten wollte.

„Solange wir nicht unter der Stampfer-Familie wie hier leben, bin ich zufrieden.“, lachte die Arzthelferin und verabschiedete sich mit einer Umarmung bei Emilia, die sie zögernd erwiderte. Seitdem Unfall mochte sie Berührungen nicht gerne unverzüglich nachdem sie ihre Fähigkeiten genutzt hatte. Es zeigte sich, wie gut die beiden Mädchen sich doch verstanden. Larissa umarmte sie, ohne unschlüssig zu sein, aber merkte schnell wann es unerwünscht war und versuchte es später wieder. Angst hatte sie nie gehabt. Der nötige Respekt vor einer mysteriösen Gabe war unter der Faszination begraben worden.

In der Arztpraxis waren die gewöhnlichen Personen vorbeigekommen, die nicht verstanden, dass der Arzt momentan keine Zeit für sie hatte, wenn sie zwanzig Minuten vor ihrem Termin auftauchten. Dennoch ließ sich Larissa nicht beirren, setzte ein Lächeln auf ihr Gesicht und versuche wiederholt zu erklären, dass die Patientin zu früh gekommen war.
Nachdem sich die Frau erschüttert ins Wartezimmer gesetzt hatte, konnte die Arzthelferin aufatmen. Sie war dicht an ihrem Feierabend dran und freute sich bereits auf die Erzählungen ihrer Freundin über die besichtigte Wohnung.

„Ich lasse dich mal allein, Martine. Ich muss bei meinem Palliativpatienten vorbeischauen und habe danach Feierabend. Viel Spaß morgen bei der Taufe.“, verabschiedete sich Larissa bei ihrer Kollegin. Die beiden verstanden sich prima, denn Martine hatte vor diesem Arbeitsplatz im Krankenhaus gearbeitet und Larissas Arm behandelt. Als sie sich bei Beginn ihrer Ausbildung wiedertrafen war es wie ein Lottogewinn.

„Viel Erfolg bei der Wohnung und grüß Emilia.“, kam es von der molligen, älteren Frau wieder, als sie das klingelte Telefon abnahm und ihr Gesicht verzog über das nur gelacht werden konnte.

Freudig schnappte Larissa ihren Rucksack und bewegte sich zu dem Auto ihrer Arztpraxis. Konzentriert fuhr sie um die Kurve der Ausfahrt ohne den Neuwagen zu beschädigen und drehte die Musik laut bis ihr Kopf zum Takt brummte. Die Strecke zu ihrem Palliativpatienten war der einzige Weg, den sie nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren musste, und konnte theoretisch mit zugebundenen Augen fahren.
Der Weg führte sie auch an dem Gebäude, welches gebaut wurde, vorbei. Um diese Uhrzeit war Emilia höchstwahrscheinlich noch in der Nähe und zu gern würde Larissa neben ihr hupen, um ihr einen Schrecken einzujagen.
Blitzschnell drehte Larissa ihre Musik mit gezielten Bewegungen leiser, als sie die geschockten Blicke der versammelten Menschen sah. Sie hielt rechts an und ließ ihre Fensterscheiben runterfahren. Empörtes Geschrei war wahrnehmbar aus der Richtung des Hauses und Menschen riefen den Notruf. Schnell sprang Larissa aus ihrem Wagen und sprintete in die wohl mögliche richtige Richtung.
Tatsächlich war vor ihren Augen etwas Schreckliches passiert, dass die Aufregung begründete. Das fast fertig gestellte Gebäude, in dem Emilia die Wohnung besichtigen wollte, hatte die Merkmale des Schiefen Turm von Pisa angenommen. Zum Glück war es kein Hochhaus. Jedoch war seitlich die ursprünglich feste Wand abgebrannt oder ähnliches.

Emilia. Ähnlichkeiten zu Brandspuren. Eine dunkle Vorahnung machte sich in Larissas Kopf breit.

Sie durfte als Arzthelferin nicht an Ort und Stelle einfrieren. Ihre gesamte Energie nahm sie zusammen, um sich zu bewegen. Dem Gebäude näherte sie sich und hielt besonders nach einem dunklen Dutt oder Verletzten, denen sie helfen konnte, Ausschau.
Direkt unter den Ruinen sah sie einen menschlichen Körper und Passanten sprachen beruhigend auf diesen ein. Ohne sich selbst in Gefahr zu bringen könnte sie nichts tun, außer ebenfalls zu trösten. Also schaute sich Larissa weiter panisch um, bis sie ihr Ziel entdeckte.
In Tränen hockte Emilia auf dem Boden. Ihre farbige Kleidung war unter einer Staubschicht bedeckt und nur ihre Wangen hatten eine gesundaussehende Hautfarbe erlangt. Geschockt sprintete Larissa zu ihrer Freundin und packte sie an den Schultern.

„Emilia!“, schrie sie alarmierend, während sie sich schmerzend auf ihre Knie fallen ließ. Mit geschultem Auge entdeckte sie keine äußerlichen Verletzungen und konnte beruhigter ausatmen.

„Wie kann das möglich sein…“, flüsterte Emilia geschockt, ohne den leeren Blick von ihren verdreckten Schuhen zu nehmen. Das gesamte Gebäude war am Zusammenstürzen. Durch ein Wunder war Emilia kein Haar gekrümmt worden. Nach der sekündlichen Entspannung verkrampften sich die Muskeln in Larissas Körper erneut. Sie wusste, dass sie nach hilfsbedürftigen Menschen Ausschau halten musste, aber gleichzeitig saß der Mensch mit der am meisten benötigten Hilfe vor ihr. Jedoch würde kein Mensch auf die Vermutung kommen, weil sie okay aussah.

„Du warst das? Aber es ist ganz viel Stahl und Metall und voraus man Außenwände noch baut.“, stotterte Larissa und packte die Schultern ihrer Freundin fester, um Halt für Emilia zu bieten. Innerlich war ihr klar, dass sie den Halt brauchte und wissen musste, dass ihre beste Freundin nicht zwischen ihren Fingern verschwand. Ein warmes Gefühl breitete sich unter ihren Händen zusammen.

„Es brennt. Alles in mir brennt.“, meinte Emilia und sah zum ersten Mal zu ihrer Freundin hoch. Ihre grünen Augen entflammten und der leere Blick gehörte der Vergangenheit an.

„Verdammt Larissa, guck dich um. Es ist kein Spaß. Es hat aufgehört Spaß zu sein, als ich deinen Arm verätzt habe im Schlaf! Und jetzt! Jetzt verätze ich die Welt und meine Seele!“

„Hilfe! Sie atmet nicht!“, kam ein Hilferuf seitlich von ihnen. Mit einem bedachten Blick, der sagte, dass sie später weiterreden würden, drehte sich Larissa weg. Ihr Herz klopfte bis in den Hals und mit zitternden Fingern fing sie mit einer Herzdruckmassage an, nachdem sie den Puls des Unfallopfers nicht spürte.

Nach geschlagenen zehn Minuten konnte ein Rettungssanitäter ihr die Arbeit abnehmen, als ihre Arme sich bereits wie Wackelpudding anfühlten. Der Muskelkater morgen war vorprogrammiert. Müde ging Larissa den tätigen Menschen aus dem Weg, um Platz für die Feuerwehrmänner und Helfer zu machen. Schnell zuckte sie ihr Handy aus der Tasche und fragte ihre Freundin wo sie sei.
Ungeduldig zuckte sie herum und konnte die irritierten Blicke der Menschen auf ihr spüren. Wie gern Larissa bloß alle anbrüllen würde, dass sie hier verschwinden sollten. Aber bei einem solchen Spektakel würden ihre Worte im Vergleich verblassen.
Der Klingelton zu einem peppigen Sommerhit durchzog die gestresste Atmosphäre. Sofort drückte Larissa den nötigen Knopf und hielt ihr Handy mit beiden Händen an ihr Ort.

„Hey. Geh lieber nach Hause, anstatt auf mich zu warten.“, hörte Larissa die dumpfe Stimme ihrer Freundin durch ein Knistern, dass ihr Kopfschmerzen bereitete.

„Lass mich nicht im Stich.“, entgegnete Larissa Hals über Kopf, bevor sie die Worte stoppen konnte.

„Ich lasse dich nicht im Stich. Aber ich kann nicht bei dir sein, wenn ich alles schlimmer mache.“

„Das was du sagst widerspricht sich total.“

„Ich habe paar Mal geniest und Menschen sind in Lebensgefahr, weil ich eine Wand weggeätzt habe. Wir dachten, dass wir die Lage im Griff haben und lagen falsch.“, betonte Emilia ihre Worte ausdrücklich. Sie hasste es mit ihrer Kraft verflucht worden sein ohne jegliches Wissen. Wenn sie bloß einen Wegweiser wie ihre Eltern gehabt hätte. Stattdessen testeten die beiden Freundinnen ihre Kräfte aus und wiederholt war es mit erheblichen Folgen schief gegangen.

„Deine Kraft ist stärker geworden, na und? Wir krie-“

„Larissa! Na und? Menschen sind gestorben und du tust es ab, als ob es nichts wäre?“

„Wir wissen doch gar nicht, ob jemanden gestorben ist! Bitte lass mich nicht allein. Du bist die einzige Person, die ich habe.“, bettelte Larissa leise in ihr Telefon hinein, als sie auf dem Fußweg nach Hause war. Ihrem Chef müsste sie über die aktuelle Situation informieren und er würde ihren Besuch übernehmen.

„Du hast große Angst allein zu sein und klammerst dich an ein Monster wie mich. Nur deswegen hast du mir damals verziehen und nun versuchst du es wieder. Bitte geh nach Hause. Ich komme später nach.“

„Aber versprich es mir!“, meinte Larissa, während ein nerviger Piepton ihr signalisierte, dass Emilia bereits aufgelegt hatte. Mit einem verbitterten Schwung trat sie gegen den Busch auf dem Weg und konnte ihre aufgestaute Wut entladen.

„Lässt mich allein, nach dem ganzen Mist, den wir durchlebt haben.“, murmelte sie enttäuscht vor sich hin.

Selbst der absurdeste Serienmarathon linderte Larissas Frust nicht. Trübsinnig wartete sie in ihrem gemütlichsten Schlafanzug auf dem Sofa und naschte das bereits abgelaufene Popcorn, dass sie in der hinteren Ecke einer Schublade gefunden hatte.
Sie zerbrach sich den Kopf über die neusten Ereignisse. Spontan bekam sie morgen einen freien Tag von ihrem Chef, der immer gutmütig war und sich für seine Angestellten sorgte. Noch nie war Larissa für diese Arbeit dankbarer, denn sie konnte sich auf ihre Freundin konzentrieren.
Diese Superkraft Säure zu produzieren besaß Emilia seit sie sich erinnern kann. Jedoch prägte sie sich von einem kaum wahrnehmbaren Brennen zu der Kraft, die sie heute erlebt hatten, aus. Larissa wusste, dass Emilia sich Vorwürfe machte seit sie denken konnte. Immerhin gab sie sich selbst die Schuld, weil sie nicht wusste woher die Kräfte kamen oder ob ihre Eltern eine Rolle gespielt haben. Am ehesten glaubte sie, dass ihre Eltern sie weggegeben hatten, weil sie das Monster in einem unschuldigen Baby gesehen hatten.
Wenn es um dieses Thema ging, dann kam Larissa mit Logik nicht an Emilia heran. Immerhin waren beide Mädchen in Pflegefamilien und nicht im Adoptionssystem gelandet. Da war die Wahrscheinlichkeit, dass die jeweiligen Eltern sich nicht kümmern konnten, höher. Larissa glaubte daran, dass die Eltern ihrer Freundin nicht über die Gabe Bescheid wussten.
In dem Moment des Nachdenkens knirschte die Wohnungstür und Emilia betrat den Flur. Ironischerweise, oder vielleicht auch mit Bedacht, stellte sie sich auf die Stelle des Müllsackes, der durch ihre Säure verschwunden war.

„Das war vorhin nicht so gemeint. Ich bin überglücklich, dass du bei mir bist.“, kam eine flehende Entschuldigung mit nervösem Unterton.

„Ein Mann ist am Unfallort gestorben und eine Frau liegt im Koma. Das Gebäude war ein Fall für den Baufutsch und wäre einfach in sich gesackt in wenigen Monaten.“, berichtete Larissa die Fakten, die sie in den Nachrichten gesehen hatte.

„Es tut mir wirklich leid.“, beteuerte Emilia und schritt in das Wohnzimmer hinein. Ihr Dutt sah wie ein Vogelnest aus und ihre Kleidung war verdreckt. Anscheinend war sie im Wald gewesen. Dies würde mit der schlechten Verbindung beim Telefonieren übereinstimmen.

„Vielleicht habe ich dir wirklich nur aus Verzweiflung und der Angst vor der Einsamkeit verziehen.“, fing Larissa ihre vorsichtig zurechtgerückten Worte an, „Aber ganz sicher habe ich dir verziehen, weil du die erste und einzige Person bist, die mir so nah stand. Es gab keine Sekunde, in der ich dachte, dass du mir gefährlich werden könntest. Das gleiche Spiel heute. Ich habe keine Angst vor dir. Ich habe nur Angst, ohne dich zu sein. Nenn es meinetwegen Verzweiflung, aber ohne dich würde ein Teil von meinem Herzen fehlen. Egal wie kitschig sich das anhört. Wir schaukeln unser Leben.“

„Larissa! Du weißt doch gar nicht wie mein Leben ist! Ich bin ein Monster!“, brüllte Emilia blitzartig durch die einengende Wohnung, als ihre Gefühle Überhand nahmen. Ihr Blut kochte, als sich die Wut in ihr während Larissas kleiner Rede weiter anstaute. Es war, als würde sie innerlich verätzen wie beim Einsturz des Gebäudes, welches ihre aufgebaute Idylle mitriss. Seitdem Auftauchen ihrer Kräfte hatte sie ständige Panik Menschen, besonders Larissa, zu verletzen, aber ihr eigenes Wohlergehen? Dafür hatte sie keine Gedanken verschwendet.

„Nonsens. Jetzt komm mal runter, damit wir zusammen die Situation entschärfen können.“, meinte Larissa von ihrer Position, während sie sorgsam aufstand, als ob ein Reh vor ihr stand. Ihre beruhigenden Worte schienen pure Ironie zu sein, als sie mehrere Meter in Sicherheit stand.

„Wir können gar nichts!“, schrie Emilia verzweifelt und ihr Magen verkrampfte sich bei jedem Wort, „Schau doch mal deinen Arm an. Die Narben bleiben für immer.“ Dies waren die letzten gestammelten Worte bis sich schmerzvolle Seufzer ausbreiteten. Larissas kniff ihre Augen fest zusammen und versuchte ihre eigenen Tränen zu bändigen. Sie wusste, dass jetzt nicht der passende Moment für ihre Emotionen war. Denn Eine von ihnen musste einen kühlen Kopf bewahren.
Nur durch große Beherrschung blieb Larissa an Ort und Stelle stehen, anstatt ihre beste Freundin in ihre Arme zu schließen. Sie wusste, dass eine Umarmung im Augenblick die stechende Panik verschlimmern würde. Nicht nur, dass sie vielleicht mehr von der Säure abbekommen würde, sondern auch, dass sie eine vollwertige Panikattacke auslösen würde. Vermutlich hatte sich Emilia von einem Anfall im Wald erholt, als sie beschloss zurückzukehren.

„Es war ein Unfall und klar, die Narben sehen abscheulich aus, aber dafür lenken sie von meinem Gesicht ab.“, versuchte Larissa die Laune ihrer Freundin zu heben. Sie sah zwischen den schwerfälligen Seufzern ein kleines Lächeln, bis es eilig wieder verschwand.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum du mir verziehen hast.“, kam es unterlegen von Emilia, die mittlerweile auf dem Boden hockte und ihre Beine an den Körper gezogen hatte. Nun bestand ihr Weinen mehr aus anstrengendem Luftholen.

„Weil du mir auch verzogen hast.“, antwortete Larissa wahrheitsgemäß und kam einige Schritte näher. Dennoch war der Abstand zwischen ihnen vorhanden. Es sollte nicht zu einer Überforderung kommen für Emilia und sie sollte keine unnützen Gedanken an die Sicherheit ihrer Freundin verlieren. Umarmen konnten sie sich, wenn Emilia ihre Gefühle unter Kontrolle bekommen hatte.

„Ich hab zwar deinen Arm nicht verätzt, aber dafür habe ich genauso viel Mist gebaut. Dein Hamster hat wegen mir das Zeitliche gesegnet und du hast mir verziehen.“, erzählte sie und fühlte ihr schlechtes Gewissen aufkochen. Seitdem der Hamster namens Jimmy gestorben ist, rührte Larissa keinen Tropfen Alkohol mehr an, um eine solche Tollpatschigkeit, und zugegebenermaßen Dummheit, zu vermeiden.

„Ich verstehe bis heute nicht wie man so betrunken und blöd sein kann.“, lachte Emilia nun leise und Larissa war froh, dass wenigstens ihr Versagen eine gute Seite hatte. Anscheinend hielt dies wenige zögerliche Sekunden länger an als ihr vorheriger Versuch.

„Du konntest aufhören. Ich kann diesem Mist nicht entfliehen.“

„Du kannst ihm entfliehen. Du bist fast zwanzig und das ist erst der zweite schwere Unfall, den du hattest. Du kannst deine Superkraft beherrschen.“, beteuerte Larissa. Sie saß nun Schulter an Schulter neben ihrer besten Freundin und starrte auf den Dutt. Lieber hätte sie es ihr ins Gesicht gesagt, aber dieses hatte Emilia in ihren Händen vergraben.

„Es ist keine Superkraft. Ich bin ein Monster. Eine komische Version des Hulks.“, murmelte Emilia vor sich hin und Larissa musste sich anstrengen ein Wort zu verstehen. Anscheinend war die Weinattacke hinter ihnen und sie mussten sich um die Verzweiflung kümmern. Langsam nahm sie die Hand ihrer Freundin in ihre eigene und drückte sie. Hoffentlich merkte Emilia, dass sie niemals ohne ihre beste Freundin sein würde.

„Zum Geburtstag bekommst du eine Tasse mit ‚komische Version des Hulks‘ aufgedruckt. Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“

„Dann bekommst du eben eine mit ‚Hamster-Killer‘.“

Einen Moment schauten sich die beiden Freundinnen an und dann war es geschehen. Sie fingen an unkontrollierbar an zu lachen und hörten erst auf, als sie durch Bauchkrämpfe am Boden lagen und tief Luft holen mussten.

„Ich vertraue dir, Emilia. Du bist seit unserer ersten gemeinsamen Pflegefamilie meine beste Freundin. Niemand sonst würde das Auto meines Freundes verätzen, als er mir fremd gegangen ist.“, stellte Larissa fest und strich ihre Haare aus dem Gesicht und blickte zu Emilia hinüber.

„Niemand sonst würde bei mir bleiben, sobald sie erfahren, dass ich Säure produziere und spucken kann. Meine Eltern haben mich deswegen weggeben. Aber du bist trotzdem da und ich bin dir unendlich dankbar.“, entgegnete Emilia. Ihre geröteten Augen zeigten noch immer eine traurige Verletzlichkeit, aber strahlten eine Stärke und Hoffnung aus, die nur Emilia besaß.
Ihr Leben war ein Chaos, mit dem sie sich arrangiert haben. Seit zehn Jahren klebten sie aneinander. Gerade als Emilias Kraft stärker wurde, bekam Larissa keine Angst vor ihr. Gemeinsam hielten sie die Gabe vor ihren Pflegeeltern geheim. Ihre einzige Sorge war es getrennt zu werden, denn die leicht verätzten Kissen durch Sabber konnten sie ersetzen. Genauso wie ganzen Oberteile, die durch Husten und Niesen verätzt worden waren. Die einzige beste Freundin konnte nicht ersetzt werden.

„Deine Kräfte waren kaum ausgeprägt als wir uns mit knapp zehn Jahren kennenlernten. Daran lag es nicht.“, versicherte Larissa und verschwendete keinen weiteren Gedanken an ihre möglichen Eltern, die sie nicht haben wollten oder konnten. Darüber hatte sie heute länger nachgedacht als in den letzten zwei Jahren. Nun war Schluss.

„Die Frau, die im Koma liegt. Ich würde sie gerne besuchen.“, stellte Emilia fest, als sie in ein Taschentuch schnaubte, während dieses in ihrer Hand verätzte. Wie immer blieb ihre Haut unverletzt.

„Soll ich Kekse für ihre Familienangehörigen backen? Wir sagen einfach, dass wir am Unfallort waren und ihr gute Besserung wünschen.“, fragte Larissa nach und überlegte, welche Kekse am besten geeignet wären, die nicht nach Schuld riechen würden.

„Naja wir können schlecht sagen, dass ich das Gebäude zu Boden gebracht habe.“, sagte Emilia und unterdrückte ein Aufschlucken. Die einsame Träne fiel aus ihrem Auge und folgte unzählige Tränen, die zuvor flossen.

„Es ist nicht deine Schuld, dass das Gebäude bei der Beschädigung eines Trägers zusammenstürzen würde. Die Bauleiter sind offiziell schuldig. Trotzdem solltest du anfangen in deinen Ellenbogen zu niesen.“, meinte Larissa und legte ihren Kopf an der Schulter ihrer besten Freundin ab. Sie saßen noch einige Minuten ruhig auf dem Boden, bis Larissa sie hochzog und in ihre winzige Küche marschierte. Dort wollte sie unbedingt anfangen Kekse zu backen und wichtiger war es, rohen Keksteig zu essen, damit sie sich beide besser fühlten konnten.

„Was wenn ich früh sterben werde? Wenn mein Körper der Säure nicht mehr standhält?“, durchbrach Emilia zögerlich die Stille.

„Denk nicht drüber nach.“, sagte Larissa bedacht. Ihnen beiden war klar, dass sie absolut keine Ahnung hatten, ob es eine Option war. Dem konnten sie mit ihren Mitteln nicht nachgehen und sie mussten der Zeit ihren Lauf lassen.

„Nasch einfach den Keksteig weiter und hoff, dass du dank deiner Superkräfte keine Bauchschmerzen bekommst.“
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