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Kassandra und die Büchse der Pandora

Kurzbeschreibung
OneshotAllgemein / P12 / Gen
Alexios Kassandra Layla Hassan
13.04.2020
13.04.2020
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Es war eine lange Reise, die Kassandra hinter sich brachte. Doch auch wenn der Kult des Kosmos geschlagen war, auch wenn ihre Familie wieder vereint war; sie fühlte sich einfach noch nicht angekommen. Sehr oft verließ Kassandra ihr Familienhaus, um die Adrasteia aufzusuchen. Da wünschte sie sich so viele Jahre lang eine Familie und verließ sie dennoch regelmäßig, um ihren ehemaligen Gefährten einen Besuch abzustatten.

So viele Erlebnisse verband sie mit dem Schiff ihres Freundes Barnabas und der Crew. Zu viele, als dass sie diese einfach hinter sich lassen konnte. Von der viel zu jung verstorbenen Phoibe über die vielen Toten entlang ihres Weges bis hin zum Ausbruch der Pest in Athen sah sie das Unheil, fühlte sie den Schmerz und roch sie den Tod. Neben Ikarus als treuen Begleiter schien nur Leid ihre einzige Konstanz im Leben zu sein, die sie umgab. Und Barnabas, natürlich, fügte sie diesem Gedankenspiel noch hinzu. Wortlos stand sie neben ihrem segelnden Gefährten an der Reling und blickte vom sicheren Hafen aus aufs Meer. Sie musste das Schweigen brechen, um ihre Gedanken zu ordnen.

„Barnabas, denkst du mein Leid begann erst am Berg Taygetos oder glaubst du, schon die Götter hätten es mir in die Wiege gelegt?“

„Die Götter haben es uns allen in die Wiege gelegt“, erwiderte Barnabas. „Denk doch nur an Zeus und dessen Büchse, die er der Pandora zu ihrer Hochzeit schenkte. Sie öffnete das Geschenk und heraus kam all das Leid für die Menschheit.“

Kassandra kannte die Geschichte von früher, doch dachte sie über die Jahre hinweg kaum an diese vergangenen Mythen. Ihr kam ein Gedanke. „Hältst du es für möglich, dass diese Büchse tatsächlich existiert, Barnabas? Ich selbst hätte es vor geraumer Zeit nur für eine Geschichte gehalten, aber nun stehe ich hier mit dem Stab des Hermes und erachte es nicht als unmöglich, dass auch diese Büchse der Pandora existieren kann.“

„So viele Geschichten auf deiner Reise erwiesen sich als wahr“, entgegnete Barnabas ruhig und überlegend und zählte auf. „Der Minotaurus, Zyklopen, sogar die Medusa. Warum sollte nicht auch diese Geschichte wahr sein?“

„Wenn wir die Büchse der Pandora finden sollten, vorausgesetzt sie existiert“, sinnierte Kassandra laut. „Könnten wir alles Leid der Menschen auf Erden beenden.“

„Da bin ich mir nicht sicher“, widersprach Barnabas etwas zögernd. „Zeus packte Krankheit und Tod in diese Büchse. Als Pandora sie öffnete, entwichen diese und gelangten in die Welt. Wer weiß, was wir noch auf die Menschheit loslassen würden, würden wir sie ein weiteres Mal öffnen.“

„Vielleicht“, murmelte Kassandra, innerlich abgelenkt von einem vernichtenden Gedanken. „Es könnte sie auch jemand anderes öffnen. Stelle dir einmal vor, der Kult des Kosmos hätte die Büchse gefunden.“ Sie wollte gar nicht weiter darüber nachdenken.

Auch Barnabas grauste der Gedanke sofort. „Dann sollten wir die Büchse finden, so sie denn existiert. Hast du eine Idee, wo wir anfangen?“

„Wenn jemand etwas darüber wissen könnte, dann ist es Herodot“, schlussfolgerte Kassandra und dachte an ihren langjährigen Weggefährten. „Lass ihn uns in Thurii aufsuchen.“

Barnabas lächelte. „Endlich wieder ein Abenteuer!“, rief er. „Ich werde die Mannschaft noch heute instruieren, Vorräte zu beschaffen und die Adrasteia für die große Reise vorzubereiten. Sei zur Mittagsstunde hier, Kassandra. Wir werden dich erwarten.“



*




Layla verließ den Animus und erwachte an Bord der Altaïr II. Sie brauchte einen kurzen Moment um sich zu orientieren. Kiyoshi Takakura blickte sie lächelnd an und hieß sie zurück in der Realität willkommen. Er konnte an den Monitoren verfolgen, welche Erinnerungen Layla im Animus durchlebte und wusste genau, was sie jetzt dachte. „Du bist da einer großen Sache auf der Spur“, sagte Kiyoshi zu Layla. Ich werde schon einmal alle Hintergründe zur Büchse der Pandora recherchieren. Du musst derweil weiter in Kassandras Erinnerungen eintauchen.“

Layla nickte und demonstrierte ihr Einverständnis. Noch war sie jedoch zu benommen und wollte sich erst einmal frisch machen und ausruhen. Morgen würde es nicht nur für Kassandra weitergehen, sondern auch für sie.



*




Am folgenden Tag stach Kassandra nach langer Zeit wieder in See. Während Ikarus sie begleitete, ließ sie ihr Pferd Phobos zu Hause zurück. Die Überfahrt nach Thurii verlief friedlich und ohne Zwischenfälle. Als die Adrasteia im dortigen Hafen anlegte, erwartete Herodot Kassandra und Barnabas zugleich erfreut und überrascht am Dock. „Kassandra, Barnabas“, begrüßte er beide herzlich. „Es ist schön euch zu sehen. Ich war gerade am Hafen unterwegs als ich in der Ferne eure Segel gesehen habe. Ich wollte es kaum glauben, dass ihr den weiten Weg hierher unternehmt.“

„Herodot, es ist auch schön dich zu sehen“, entgegnete Kassandra freundlich. „Wie du dir sicher denken kannst, suchen wir dich einmal mehr auf, um dein Wissen und deinen Rat zu erfragen.“

„Nun, lasst uns das würdig bei mir zu Hause besprechen, wenn es nicht eilt“, erwiderte Herodot und führte seine beiden Besucher vom Dock fort. „Es ist nicht weit.“

Sie gingen vorbei an einzelnen Häusern und Ständen. Dann passierten sie eine Bootswerft für einfache Fischerboote und die Hafenmeisterei. Herodot wohnte auf der Kuppe eines kleinen Hügels, von welchem aus er einen guten Blick über den Großteil der Insel genießen konnte.

„So erzählt mir“, begann er die Unterhaltung. „Was hat euch hergeführt?“

„Nun“, begann Kassandra vorsichtig. „Was weißt du über die Büchse der Pandora?“

Herodot machte große Augen. Auf dieses Thema war er nun wirklich nicht vorbereitet. Zwar wusste er vermutlich alles über den Mythos, doch wollte er sich nicht ausmalen, warum Kassandra ihm diese Frage stellen würde.

Kassandra deutete seinen Gesichtsausdruck richtig und erklärte ihm den Hintergrund ihrer Frage. „Keine Sorge, Herodot. Wir haben keinen konkreten Anlass zu glauben, dass es die Büchse gäbe. Doch sollte es so sein, müssen wir sie finden, bevor andere es tun.“

„Nun denn“, antwortete Herodot aufatmend. „Lasst mich euch erzählen: Zuerst berichtete Hesiod von dieser Büchse. Eigentlich berichtete er nicht wirklich von einer Büchse. Vielmehr scheint es in Wirklichkeit ein Fass gewesen zu sein. Jedenfalls erwähnte Hesiod, dass Hephaistos die schöne Pandora im Auftrag des Göttervaters Zeus erschuf. Daraufhin bekam diese auch im Auftrag des Zeus von Athene die Handarbeit gelehrt und von Aphrodite den Liebreiz. Sie soll ein hübsches Mädchen gewesen sein, doch Zeus befahl dem Götterboten Hermes – dessen Stab du nun trägst, Kassandra – sie mit einem verschlagenen Wesen auszustatten.

Dieses wohl ansehnliche, aber unverschämte Mädchen, machte er dem Bruder des Prometheus zum Geschenk. Zur Hochzeit der beiden gab er Pandora noch besagte Büchse mit und wies sie an, diese geschlossen an die Menschen weiterzugeben. Doch verstohlen wie sie war, öffnete sie das gemachte Geschenk selbst. Es war die Büchse allen Übels, fortan benannt nach der schönen und unheilbringenden Pandora.“

„Hephaistos hat sie erschaffen, sagst du?“ Kassandra dachte nach. „Hm, auf seinen Reisen war ich in seiner versteckten Werkstatt in Malis, unweit der Bucht von Pandora. Ich könnte dorthin zurückkehren, um nach Hinweisen zum Verbleib der Büchse zu suchen.“

„Wenn du das wirklich vor hast, Kassandra, musst du noch etwas berücksichtigen“, ergänzte Herodot. „Hesiod berichtet explizit davon, dass die Büchse geschlossen wurde, bevor die Hoffnung entweichen konnte.“

Herodot machte eine Kunstpause. Kassandra verstand den Hinweis nicht. „Wir wissen, was Hoffnung ist, „fuhr Herodot fort. „Deswegen gehe ich davon aus, dass die Büchse im Laufe der Zeit ein weiteres Mal geöffnet wurde. Wir wüssten sonst nicht, wie sich Hoffnung oder gar Hoffnungslosigkeit anfühlen würden. Ich will damit sagen, dass wir nicht wissen, ob oder was noch in der Büchse versteckt ist. Es könnte als nächstes ein Unheil entweichen, dass unser aller Vorstellungskraft übersteigt.“

„Ich werde die Büchse nicht öffnen“, versprach Kassandra. „Ich werde sie geschlossen halten und unzugänglich im versiegelten Atlantis aufbewahren.“

Herodot nickte. Es erschien ihm ebenfalls als die beste Lösung. „Lass dich von der Versuchung nicht überkommen. Treibende Kraft deiner bisherigen Reise war schließlich immer deine Neugier. Diese Stärke wird hier deine größte Schwäche sein.“

Ein wertvoller Hinweis, dachte Kassandra. „Barnabas, wir werden auf dem Weg nach Malis noch einmal in Sparta anlegen. Ich möchte meinen Bruder Alexios als Begleitung mitnehmen. Er soll auf mich aufpassen.“ Dank des zerstörten Kults des Kosmos und der Bekehrung ihres eigenen Bruders konnte sie auf diese enge Familienbande zurückgreifen. Sie brauchte unbedingt eine Kontrollinstanz, wenn sie auf die Büchse treffen sollte. Bei ihrem Bruder war sie sich sicher, dass er sie im Zweifel nicht nur aufhalten, sondern auch töten könnte.

Kassandra und Barnabas blieben noch über Nacht zu Gast bei Herodot. Die Mannschaft bereitete derweil die Rückfahrt nach Sparta vor. Barnabas musste sie lediglich anweisen, Proviant für einen weiteren Segler zu beschaffen. Dieses Abenteuer wollte sich auch Herodot nicht entgehen lassen.



*




„Die Büchse der Pandora könnte definitiv ein weiteres Relikt der Isu sein“, sagte Layla noch etwas benommen zu Kiyoshi nach ihrer Rückkehr aus dem Animus. „Von allem, was wir bisher gelernt und gesehen haben, erfüllt sie in jederlei Hinsicht dieselbe mythische Funktion wie der Apfel von Eden.“

Auch Kiyoshi kam in seinen Recherchen zu diesem Schluss. Beiden Geschichten lag ein Mythos der Versuchung zugrunde, einzig getrieben durch die menschliche Neugier. Kiyoshi erkannte sogar noch mehr. „Beiden liegt auch die Frau als Feindbild zugrunde“, erwähnte er leise. „In beiden Fällen des Unglücks war eine Frau verantwortlich.“

Layla war einen kurzen Moment lang erzürnt, doch an diesen jahrtausendealten Mythen konnte auch sie nichts ändern. Sie fühlte lediglich Frust angesichts der unveränderlichen Tatsache, dass über die Zeiten und Epochen hinweg Frauen immer wieder eine derartige Missbilligung entgegenschlug. Sie dachte jedoch auch daran, dass sowohl die Mythen vom Apfel als auch von der Büchse der Pandora die Auseinandersetzungen der Isu in ihrem Umgang mit den Menschen sehr gut beschrieben. Ein jeweils höheres Wesen führte die Menschheit in Versuchung. Pandora und Eva waren nichts anderes als die Werkzeuge einiger Isu im Rahmen eines großen Experiments.

„Spule die Erinnerungen zur Ankunft in Hephaistos‘ Werkstatt vor“, wies sie Kiyohsi an. „Ich möchte keine Zeit verlieren, um die Wurzel allen Übels zu finden.“



*




Zusammen mit Alexios und Herodot betrat Kassandra die versteckte Werkstatt, während Barnabas an Bord der Adrasteia verblieb. Alexios gestand ihr, dass er diese Werkstatt tatsächlich im Laufe seiner Zeit beim Kult nie entdeckt hatte. Ein wenig war sie darüber glücklich, denn sie wollte sich nicht vorstellen, wie die Kämpfe mit Alexios ausgesehen hätten, wenn er seine Waffen in dieser Schmiede hätte gravieren können.

Jeder von ihnen zündete sich eine Fackel an um sich im spärlichen Licht der Höhle zurechtzufinden. Außer Gesteinsformationen und der vermeintlichen Werkstatt des Hephaistos war jedoch nichts zu erkennen. Herodot war ganz außer sich, als er die Werkbank des Gottes des Feuers und der Schmiedekunst in Augenschein nahm. Er konnte sich gar nicht ausmalen, was hier vor so langer Zeit einmal von Hephaistos persönlich erschaffen wurde. Herodot wusste aus den alten Schriften, dass die Rüstung des Ares, der Bogen der Artemis und selbst der Dreizack des Poseidons hierher stammten.

Während Herodot die Schmiede bewunderte, entdeckte Alexios auf einem Stein am Boden eine antike Steintafel. Er rief Kassandra zu sich. „Die ist mir beim letzten Mal nicht aufgefallen“, entgegnete sie ihm.

„Kannst du lesen, was darauf geschrieben steht?

Kassandra hielt die Fackel dicht an die Tafel und las vor.

„Denn es stehn zwei Fässer gestellt an der Schwelle Kronions,


Voll das eine von Gaben des Wehs, des andre des Heiles.“


Herodot unterbrach sie. „Wem nun vermischt austeilet der donnerfrohe Kronion, solchen trifft abwechselnd ein böses Los und ein gutes.“

Kassandra blickte Herodot überrascht an. „Genau das steht da geschrieben, Herodot“, sagte sie ungläubig. „Woher wusstest du das?“

„Das sind die Worte Homers“, wusste Herodot zu berichten. „Aus der Ilias. Ganz am Ende des Kampfes um Troja erwähnt er diese Passage. Ich habe mich immer gefragt, was er mit seinen Worten sagen wollte.“

Weder Alexios noch Kassandra konnten seinen Gedanken gänzlich folgen. Keiner von beiden hatte bis hierhin jemals die Werke Homers gelesen, noch hatten sie die Absicht dazu. „Was könnte es denn bedeuten?“, fragte Kassandra. „Warum sollten diese Worte in Hephaistos Schmiede in einer Steintafel hinterlegt sein?“

Herodot dachte nach. Dies war der Ort, an dem Pandora erschaffen wurde. Hesiod erwähnte die Büchse der Pandora, welche zweimal geöffnet wurde. Homer erwähnte zwei Fässer, eines gefüllt mit Leid, eines gefüllt mit Gesundheit. Ihm kam ein Gedanke.

„Was ist, wenn es zwei Büchsen der Pandora gibt? Was ist, wenn Hephaistos nicht nur die Pandora selbst, sondern auch die Büchsen erschuf? Alle hätten hier ihren Ursprung. Es würde Sinn ergeben.“

Sowohl Alexios als auch Kassandra stimmten der Überlegung zu. „Bis eben wussten wir nicht, wo die eine Büchse sein soll“, fasste Kassandra zusammen. „Jetzt müssen wir zwei suchen, ohne zu wissen, ob diese überhaupt noch existieren.“

Nachdenklich und etwas frustriert stimmte Herodot nickend zu. Kassandra und er verliefen sich im wilden Gedankenaustausch zum möglichen Verbleib von Pandoras Büchsen. Alexios versuchte einfach zu denken. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer.

Er bückte sich und versuchte mit ganzer Kraft den Stein mit der antiken Tafel vor ihm zu verschieben. Es gelang ihm. Erst schockiert vom Lärm in der Höhle, dann überrascht von der Bewegung des Steines, schauten Kassandra und Herodot Alexios an. Unter dem Stein offenbarte sich ein Fass. Alle drei blickten es erstaunt an. Alexios griff danach um es herauszuheben. Kassandra ging ihm zu Hand.

„Seid vorsichtig“, warnte Herodot. „Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn der Deckel herunterfällt.“

Kaum sprach er die Warnung aus, kam Alexios ins Straucheln. Kassandra konnte das Fass jedoch stabilisieren und sicher abstellen. Herodot ging um das Fass herum und betrachtete es aus jeder möglichen Perspektive. „Es ist nicht beschriftet“, stellte er das Offensichtliche fest.

„Wir wissen also nicht, ob es sich bei diesem Fass um die Büchse der Pandora handelt oder nur um irgendein Fass“, fuhr Alexios fort.

„Falls ich Herodot vorhin richtig verstanden habe, könnte es auch der gute oder der schlechte Teil der Büchsen der Pandora sein“, ergänzte Kassandra.

„Wir müssten es öffnen um ganz sicher zu gehen“, schlussfolgerte Herodot.

„Nein!“, schrien Alexios und Kassandra ihn an. „Kommt gar nicht in Frage. Bevor wir irgendetwas öffnen, sollten wir erst einmal das zweite Fass finden, so es denn existiert. Hast du eine Idee, Herodot?“

Herodot griff nach dem Deckel des Fasses. Kassandra schlug ihm die Hand weg. „Bist du wahnsinnig?“, schrie sie ihn an.

Benommen schaute Herodot sie an. „Entschuldige“, sagte er. „Ich bin etwas benommen. Ich schätze, meine Neugier zieht mich zu sehr an. Vermutlich hat das Fass eine besondere Wirkung auf mich.“

Alexios und Kassandra konnten ihn gut verstehen. Auch sie beide spürten eine innere Veränderung mit dem Fund dieses Fasses. Es brachte Kassandra zugleich auf eine Idee.

„Wenn Neugier anziehend wirkt, sollten wir auch das zweite Fass gut finden können. Lasst uns dieses Fass zur Adrasteia bringen und im Anschluss in der Bucht von Pandora suchen. Der Name kann kein Zufall sein.“

Zu dritt brachten sie das Fass zurück zum Schiff. Die gegenseitige Kontrolle machte es leichter, der Neugier zu widerstehen. Alleine hätten sie es nicht geschafft. Herodot verblieb auf der Adrasteia bei Barnabas und wachte zusammen mit der Mannschaft über das Fass und besonders darüber, dass es niemand öffnete. Alexios und Kassandra nahmen ein Fischerboot und suchten die Bucht ab.

„Ich war schon einmal hier und fand einen Schatz in der Mitte der Bucht“, sagte Kassandra. „Lass uns dort noch einmal hinabtauchen. Ich könnte etwas übersehen haben.“

Als sie den Zielort erreichten, sprangen Alexios und Kassandra ins Wasser. Kassandra fand die von ihr zuvor geöffnete Truhe relativ schnell. Beide mussten jedoch wieder auftauchen, um Luft zu holen.

„Hier in dieser Gegend muss es sein“, meinte Kassandra zu Alexios. „Die Neugier wird uns führen. Lass es uns noch einmal versuchen.“

Am Grund der Bucht entdeckte Alexios im Seetang ein Fass. Kassandra sah ihn und näherte sich ihrem Bruder mit Schwimmbewegungen. Das Fass stand schräg und der Deckel war nur lose befestigt. Schon die leichte Kollision eines Hais hätte es öffnen können.

Beide nahmen das Fass behutsam in die Hände und hoben es vorsichtig bis zur Wasseroberfläche an. Barnabas beobachtete die Bergung von der in Sichtweite liegenden Adrasteia und befahl seiner Mannschaft Kurs auf das Fischerboot zu nehmen.

Die Geschwister hievten das Fass aus dem Wasser. Wohlwissend, dass jede Erschütterung des Bootes das Fass zum Umkippen und damit eventuell zum Öffnen bringen könnte, erklommen sie es behutsam. Erschöpft setzten sie sich neben das Fass.

„Auch dieses ist unbeschriftet“, meinte Kassandra zu Alexios. „Wir müssten es öffnen, um herauszufinden, ob es wirklich die Büchse der Pandora ist.“

„Nein“, entgegnete Alexios. Während Kassandra auf ihrer Odyssee stets von Neugier geleitet wurde, war Alexios dafür weniger anfällig. „Es ist zu gefährlich.“

„Es ist die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob wir Recht haben“, argumentierte sie noch höflich, aber im Ton bestimmt.

„Es ist gleichzeitig die einzige Möglichkeit, den Untergang der Menschheit zu beschwören“, erwiderte Alexios trocken.

„Du willst dich nur dem Fortschritt widersetzen, Alexios“, widersprach Kassandra. Die Neugier brannte förmlich in ihr. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr formulieren. „Du hast dich wohl nie wirklich vom Kult des Kosmos gelöst.“

„Kassandra, das bist nicht du, die spricht“, meinte Alexios ruhig. „Es ist die Nähe zum Fass, die deine Gedanken benebelt.“

Kassandra stand abrupt auf und griff mit der Hoffnung zum Deckel, ihren Bruder mit Geschwindigkeit zu überraschen und zu übertrumpfen. Er rechnete jedoch mit dem Manöver, stand ebenfalls auf und hielt ihre Hand am Gelenk fest. Vor Schmerz verzog sie das Gesicht. Mit der freien Hand griff sie nach ihrem Speer, zog ihn und drohte ihrem Bruder. „Nur du stehst zwischen mir und der Wahrheit.“

„Nein“, erwiderte Alexios bestimmt. „Nur ich stehe zwischen dir und dem Ende.“ Daraufhin zog Alexios sein Schwert.

Kassandra löste sich vom festen Griff ihres Bruders und griff Alexios an. Den ersten Schlag parierte er mühelos. Auch den zweiten und dritten Hieb konnte er abwehren. Die Bewegungen brachten das kleine Boot jedoch so sehr ins Wanken, dass er für einen Moment taumelte und zunächst festen Stand finden musste. Im Augenwinkel sah er, wie das Fass gerade so den übertragenen Schwingungen des Fischerbootes trotzte. Noch blieb der Deckel drauf.

Herodot und Barnabas beobachteten machtlos den Kampf aus der Ferne. Barnabas brüllte die Mannschaft an, so schnell wie möglich das Boot zu erreichen. Kassandra kämpfte unermüdlich. Alexios blieb passiv, und wollte seine Schwester nicht verletzen. Sie nahm alle Kraft zusammen, trat ihm auf den linken Oberschenkel und beförderte ihn durch den Schwung ins Wasser. Die Öffnung des Fasses war zum Greifen nahe.

Barnabas und Herodot waren immer noch zu weit als das sie hätten einschreiten können. Voller Entsetzen trieb Alexios im Wasser und beobachtete hilflos, wie Kassandra zum Deckel des Fasses griff. Da sah er, wie Ikarus aus der Höhe im Sturzflug herabschoss und Kassandra im letzten Moment angriff. Ikarus, was zum Hades? dachte sie sie nur. Ihr treuer Begleiter, jenes Wesen, dem sie den Namen der Adlerfrau zu verdanken hatte, wendete sich gegen sie. Wie kann er es wagen?

Ikarus konnte nichts gegen Kassandra ausrichten, doch er schenkte der Adrasteia die notwendige Zeit, dass Fischerboot noch rechtzeitig zu erreichen.Halte ein“, rief Barnabas mit voller Inbrunst. Als wäre im Nebel der Neugier die Stimme der Vernunft ertönt, wendete sich Kassandra vom Fass ab und drehte sich um. Langsam begann sie zu begreifen, welch unsäglichen Fehler sie beinahe gemacht hätte. Wenn ich so reagiere, muss das die Büchse der Pandora sein, dachte sie nur.

Die Adrasteia nahm erst das Fass, dann Kassandra und zum Schluss den in der Bucht treibenden Alexios auf. „Lasst uns nach Atlantis segeln“, sagte Kassandra erschöpft. „Und diese Fässer ein für alle Mal versiegeln.“



*


Erneut verließ Layla den Animus. So viele Erinnerungen durchlebte sie von und mit Kassandra, doch diese empfand sie als überaus verstörend. Noch nie hatte sie Kassandra so unkontrolliert erlebt. Es machte ihr Angst. Kiyoshi verfolgte die Erinnerungen am Monitor. Auch er konnte kaum glauben, was sich dort abspielte.

„Wir müssen noch einmal Kurs auf Atlantis setzen“, sagte Layla zu ihm. „Irgendwo dort müssen diese Fässer versteckt sein. Wir müssen sichergehen, dass sie wirklich versiegelt sind.“

Kiyoshi ließ die Altaïr II neuen Kurs einnehmen und spulte die Erinnerungen im Animus für Layla bis zur Ankunft der Adrasteia in Atlantis vor. Es dauerte nicht lange, bis Layla den genauen Standort der beiden Fässer kannte. Sie verließ den Animus und bereitete sich auf den Landgang vor.

„Bei meinem letzten Besuch in Atlantis hatte ich an einer Stelle so ein merkwürdiges Gefühl“, sagte sie zu Kiyoshi. „Jetzt weiß ich auch warum.“

Kiyoshi nickte nur. „Ich werde mitkommen“, entgegnete er nur. „Einer alleine sollte sich diesen Artefakten nicht aussetzen.“

Zusammen betraten sie die heiligen Hallen der versunkenen Stadt. Layla deutete auf einen Steinhaufen und signalisierte Kiyoshi, dass sie das Geröll beseitigen mussten. Mit vereinten Kräften konnten sie die zwei Fässer freilegen.

„Es gibt sie wirklich“, sagte Layla gleichzeitig erleichtert und besorgt. „Leider werden wir nie herausfinden, ob es sich wirklich um die Büchsen der Pandora handelt.“

„Wir könnten sie öffnen“, erwiderte Kiyoshi wie in Trance. Seine Neugier schien ihn zu übermannen. „Nur dann haben wir Gewissheit.“

Auch Layla war von der Aura der Fässer wie benommen. Sie dachte über die Worte nach, rang innerlich mit sich selbst. Gemeinsam standen sie vor den Fässern und blickten diese voll Neugier an. Welche Entscheidung würdest du treffen?
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