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Herz und Seele Frankreichs

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Aramis Athos D'Artagnan Porthos Tréville
31.03.2020
01.06.2020
24
69.713
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17.05.2020 4.629
 
Kapitel 17

„Hör auf!“, knurrte Athos unvermittelt neben ihm ohne auch nur einen Moment lang seinen Blick von den Gaupenfenstern des Hauptquartiers der Gestapo zu lösen. D‘Artagnan sah irritiert zu seinem Mentor.
Sie beobachteten bereits seit zwei Stunden das altehrwürdige Klostergebäude aus ihrem Wagen heraus, die Sonne war mittlerweile aufgegangen und tauchte die Gebäude um sie herum in ein freundliches, helles Licht, das so gar nicht den düsteren Gedankenwolken entsprach, die d‘Artagnan im Augenblick wie ein innerer Orkan fest im Griff hatten. Athos sah nicht gut aus, er hatte dunkle Ringe um die Augen und die Art und Weise, wie er mit seiner linken Hand über seine Augenbraue rieb, verriet d‘Artagnan, dass hinter der stoischen Fassade vermutlich ähnliche Gefühlsstürme tobten wie in ihm selbst. Nach außen hin wirkte sein Bruder wie eine Sphinx, unnahbar und distanziert, aber er kannte ihn gut genug um zu wissen, dass auch Athos sich zutiefst um Aramis und Constance sorgte. Jede Minute, die sie hier im Wagen gesessen hatten, hatte sich quälend langsam dahin gezogen und d‘Artagnan spürte, wie er anfing, das letzte bisschen Geduld zu verlieren. Seinen Bruder und die Liebe seines Lebens so nah und doch so unerreichbar zu wissen und dennoch nichts tun zu können, führte ihn an seine mentalen Grenzen. Unbarmherzig nagte das Gefühl der Ungewissheit an seinen Eingeweiden, da er sich nicht einmal vorzustellen wagte, was die beiden im Moment wohl durchmachten.
„Was meinst du?“
„Hör auf, mit deinem Fuß zu wippen, der ganze Wagen wackelt schon!“
D‘Artagnan hielt missmutig in seiner Bewegung inne, ihm war in der Tat nicht aufgefallen, dass sich die innere Unruhe ihren Weg in seinen Fuß gebahnt hatte. Es dauerte einfach alles viel zu lange und wenn er gekonnt hätte, dann wäre er bereits vor einer halben Stunde aus dem Auto gesprungen und höchstpersönlich in das Hauptquartier der Gestapo gestürmt. Aber natürlich wusste er, dass dies bloßes Wunschdenken war, aber einfach nur hier zu sitzen und zu warten, bis eventuell das Zeichen von Constance kam, erschien ihm im Moment schwieriger als jedes harte Gefecht. Immer wieder erschien das Gesicht von Constance vor seinem inneren Auge, jede Strähne ihres Haares, jede Sommersprosse, sogar das kleine Grübchen in ihrem Kinn, das er so sehr liebte. Er war wirklich wütend und gekränkt darüber gewesen, dass sie ihm ihre Mission verschwiegen hatte, aber nun, da er das Ausmaß ihres Einsatzes und den dafür notwendigen Mut erkannte hatte, war der Ärger der großen Sorge um ihr Wohlergehen gewichen. Guter Gott, sie war ganz allein da drinnen, musste mit den Feuern des Bösen spielen und riskierte alles, um seinen Bruder heraus zu holen, wohingegen er lediglich hier saß und wartete. Immer nur sitzen und warten! Er hasste es.
Welch Ironie, dass d‘Artagnan im Moment mit niemanden lieber über die Zerrissenheit seiner Gefühle zu Constance reden wollte, als mit Aramis. Er war sich sicher, dass Aramis ihm zugehört und begriffen hätte, wie sehr ihn seine verletzte Eitelkeit einerseits und die verzehrende Liebe und Sorge um Constance andererseits quälten. Aramis hätte ihn angelächelt und ihm mit einem Strahlen in den Augen gezeigt, wie unendlich kostbar das Geschenk der engen Verbundenheit mit einem geliebten Menschen wäre und er hätte ihm wohl klar gemacht, dass er nur dann wahrhaftig zu sich selber finden würde, wenn er bereit wäre, sich zuerst in seiner Liebe zu Constance zu verlieren. Der Mensch wird am Du zum Ich! D‘Artagnan hatte die Lebensfreude und die erstaunliche Fähigkeit von Aramis, die Liebe über alles zu stellen, immer bewundert. Umso mehr erschien ihm das ganze Drama, in dem sie alle im Moment steckten, wie ein grausamer Scherz des Schicksals, denn keiner von diesen beiden war hier und es waren ausgerechnet sie, deren Leben auf dem Spiel standen. Er durfte gar nicht daran denken, was alles schief gehen konnte, der Plan war selbst für ihn mehr als unausgegoren und riskant, aber wie Athos ihm bereits wiederholt erklärt hatte: Sie hatten einfach nicht mehr und es würde reichen müssen!
„Versuche nicht daran zu denken, was schief laufen könnte! Versuche im Hier und Jetzt zu bleiben und lass nicht zu, dass deine Vorstellungen die Situation bestimmen. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst und ungeduldig bist. Ich kann dir nur raten, nutze deine Ungeduld als Kraft, sie kann dafür sorgen, dass du aufmerksam und fokussiert bleibst.“
Athos Stimme klang sowohl beruhigend als auch empathisch und nicht zum ersten Mal fragte sich d‘Artagnan, ob Athos seine Gedanken lesen konnte. Es war ihm ein Rätsel, wie der Mann neben ihm am Fahrersitz immer wieder seine Stimmungen genau auf den Punkt bringen und im gleichen Atemzug auffangen konnte.
„Wenn es so einfach wäre, dann bräuchte ich deinen Rat nicht!“, antwortete d‘Artagnan schnippischer als er intendiert hatte.
Athos schien sich an seinem Ton nicht zu stören oder er war seine Impulsivität gewöhnt und es macht ihm nichts aus, denn er brummte lediglich und blickte weiterhin zum kleinen Dachfenster.
„Glaubst du, Porthos hat alles im Griff?“, frage d‘Artagnan nun versöhnlicher nach. Er wollte neben Athos nicht unprofessionell erscheinen und es ärgerte ihn, dass ihm in Situationen wie diese die Abgebrühtheit der Erfahrung fehlte. Aber die innere Unruhe wich einfach nicht, im Gegenteil, je länger sich die Warterei hinzog, umso unerträglicher wurde es für ihn.
Athos brummte erneut, nickte aber dabei wohl als Zeichen der Zustimmung.
D‘Artagnan konnte nicht anders, sein Fuß begann wieder zu wippen, denn nichts schien gerade seine aufgewühlten Gedanken und Gefühle beruhigen zu können.
Athos seufzte und sah ihn durchdringend an, das linke Auge etwas zusammengekniffen und die rechte Augenbraue etwas hochgezogen.
D‘Artagnan hörte förmlich den Tadel, nicht noch ungeduldiger zu werden, die Missbilligung, ob diese Frage tatsächlich sein Ernst wäre, den leichten Vorwurf, dass er langsam zu nerven begann, das Verständnis, dass auch er seine Sorgen teilte und die Aufmunterung, dass sie das alles schaffen würden, weil sie es schaffen mussten! Nur Athos konnte so schauen und mit einem Blick alles sagen, wozu andere ganze Romane brauchen würden. D‘Artagnan war dennoch erleichtert, als Athos sich entgegen seines Blickes nun doch dazu entschloss, tatsächlich zu antworten.
„Die Antwort lautet wie die beiden letzten Male: Ja, Porthos hat alles im Griff, entspanne dich! Madame Roux ist seit dem Tod ihres Mannes dankbar für jede Hilfe in der Bäckerei, auch wenn sie nur als Tarnung gedacht ist. Sie weiß, dass die Resistance angewiesen ist auf Leute wie sie, um Missionen zu verschleiern und unauffällig arbeiten zu können. Ich kenne sie schon lange, sie ist absolut loyal und du kennst Porthos: Er wird die Zeit, während er die Gasse beobachtet, aus der Aramis kommen soll, dazu nutzen, um Madame Roux in der Tat auch ein wenig zu unterstützen!“
„Und sich dabei den Bauch mit Croissants vollstopfen…“, bemerkte d‘Artagnan ein wenig biestig, es war ihm ein Rätsel, wie Porthos in Situationen wie diesen essen konnte. Wenn er selbst nur daran dachte, jetzt etwas zu sich nehmen zu müssen, drehte es ihm den Magen um.
Athos Blick heftete sich abermals auf das kleine Gaupenfenster, aus dem das rote Tuch hing, das sanft vom kühlen Morgenwind des herannahenden Frühlings hin und her bewegt wurde.
Da er nicht mehr weiter sprach, begann auch d‘Artagnan wieder seinen Gedanken nachzuhängen, als plötzlich das Krachen einer Gewehrsalve vom Hauptquartier her zu ihnen drang. D‘Artagnan spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich und ihm wurde schlagartig schwindlig. Das kann nicht sein! Er starrte Athos an und ihre Blicke trafen sich. In Athos Gesichtsausdruck schien sich seine eigene Panik widerzuspiegeln, und es machte ihm erst recht Angst, dass Athos nicht einmal den Versuch unternahm, seine Sorge und Furcht zu verbergen.
„Merde, c'est pas possible!“1
„Mein Gott, Athos, glaubst du...glaubst du sie haben Aramis…“ D‘Artagnan konnte das Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken und er spürte, wie sein Herz bis zum Hals pochte und augenblicklich kalter Schweiß ausbrach.
„Ich glaube gar nichts! Das kann alles oder nichts bedeuten, wir bleiben auf unserem Posten, bis Constance diese verfluchte Tuch einholt!“ Athos hatte seine Gefühle schnell wieder unter Kontrolle, seine Stimme klang überraschend fest und klar und seine Miene verriet nun nichts von dem, was in seinem Innern vor sich ging.
D‘Artagnan merkte, dass Athos ihn mit seiner betont befehlsmäßigen Art nur zu beruhigen versuchte, aber das konnte er sich getrost sparen. Nichts, was Athos sagen würde, würde die Situation beruhigen, nichts würde seine Angst noch länger beschwichtigen können. Es ging hier um das Leben von Aramis – und Constance! „Ist das dein Ernst? Du willst einfach hier bleiben und nichts weiter tun außer zu warten? Sie könnten Aramis gerade hingerichtet haben, verstehst du? Wir müssen…“
„Wir müssen hier bleiben und Ruhe bewahren. Aramis ist nicht geholfen, wenn wir jetzt die Nerven verlieren. D‘Artagnan, ich bitte dich, vertraue mit jetzt, wenn ich dir sage: Noch ist nichts verloren!“ Athos Stimme war überaus nachdrücklich und sein eisklarer Blick unterstrich jedes seiner Worte.
D‘Artagnan hatte das Gefühl, als wolle Athos ihn mit aller Kraft, die sein Geist aufbringen konnte, zurückhalten und er erkannte mit einem Mal auch den flehenden Unterton, der in Athos Stimme mitgeschwungen war. „Et puis merde, Athos! Es dauert einfach zu lange, Aramis könnte bereits tot sein und Constance ist da ganz alleine drinnen bei diesen Bestien. Ich werde keine Sekunde länger hier bleiben, ich werde...Verdammt!“ D'Artagnan riss die Wagentür auf, sprang hinaus und lief in Richtung Klostertor. Mochte Athos sagen, was er wollte, alles in ihm schrie danach, Constance raus zu holen und zu retten, was zu retten war. Zur Angst um Constance und Aramis gesellte sich nun auch die bislang erfolgreich unterdrückte, brennende Wut darüber, dass sie vielleicht zu lange gewartet hatten, dass sie möglicherweise zu spät gekommen waren, dass dies alles hier von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war
***
„D‘Artagnan! Verdammt noch mal, warte!“ Dieser verdammte Idiot, das kann doch jetzt nicht wahr sein, verfluchte Athos die Impulsivität d‘Artagnans. Er wusste, dass er augenblicklich handeln musste, um den Jungen davon abzuhalten, die größte Dummheit seines Lebens zu machen. Fassungslos über dieses Ausmaß an jugendlicher Ignoranz fragte er sich, ob d‘Artagnan jemals etwas von ihm lernen würde und sprang ebenfalls aus dem Auto, um d‘Artagnan hinterher zu rennen. Er holte d‘Artagnan ein, jedoch nur deswegen, weil dieser wenige Meter vor dem weißen Gittertor der Gestapo langsamer wurde. Athos erkannte an seiner Körperhaltung, dass der junge Mann zögerte und nutze die Gunst des Augenblicks um ihn harsch zu stoppen. Athos spürte, wie d‘Artagnan versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, doch Athos dachte nicht daran, locker zu lassen.
„D‘Artagnan, ich bitte dich. Mach jetzt keine Dummheit, was auch immer du dir jetzt ausmalst, wir wissen nicht mit Gewissheit, was da gerade passiert ist und das Leben von Aramis hängt davon ab, dass wir jetzt ruhig bleiben und uns an den Plan halten.“
„Als ob wir einen wirklichen Plan hätten.“, fauchte d‘Artagnan zurück und stieß Athos Hand von seiner Schulter. „All diese ‚Wenn‘ und ‚Dann‘, es gibt nichts Handfestes an der ganzen Sache, außer, dass Constance ihr Leben riskiert und wir nicht wissen, ob es funktionieren wird. Aramis könnte…“ D‘Artagnans Stimme versagte.
Athos erkannte an dem gequälten Ausdruck in seinen Augen, wie verunsichert und entmutigt sein junger Bruder im Grunde war.
„Beruhige dich. Ich weiß, dass du dich sorgst und dass du Angst hast. Glaube mir, die habe ich auch, aber weder Aramis noch Constance ist im Augenblick damit geholfen. Du bist ein Soldat, sei jetzt auch ein Kämpfer und lass dich nicht von deinen Emotionen davon tragen. Lass vor allem nicht zu, dass du das größere Ganze aus den Augen verlierst. Aramis zählt auf dich, Constance zählt auf dich – und ich zähle auf dich. Wir alle brauchen dich, deine Kraft und Stärke, jetzt. Und wenn es bedeutet, still zu halten, dann werden wir verdammt noch mal still halten, verstehst du das?“ Athos sah, wie d'Artagnans Körper auf einmal jegliche Spannung verlor. Sanft legte er seine Hand in den Nacken des junge Mannes und zog dessen Kopf vorsichtig an seinen heran bis sie Stirn an Stirn inmitten der Straße standen. Athos spürte das stummes Schluchzen, das D‘Artagnans Körper durchlief.
„Ich kann sie nicht alle beide verlieren.“, flüsterte D‘Artagnan.
„Wir werden keinen von ihnen verlieren, mon ami, keinen, hörst du?“, antwortete Athos mit aller Zuversicht, die er aufbringen konnte, denn er wollte selber verzweifelt daran glauben.
Plötzlich hatte Athos das dumpfe Gefühl, dass sie beobachtet wurden und löste sich aus der vertraulichen Geste. Sein Blick schweifte über das alte Kloster und als er bei der Fensterreihe im oberen Stockwerk, wenige Meter über ihnen, hängen blieb, gefror ihm beinahe das Blut in den Adern. Athos zweifelte keine Sekunde daran, wen er vor sich hatte, er würde ihn unter Tausenden wieder erkennen: Dort oben stand Hauptkommissar Thernes und sah mit fragendem Gesicht zu ihnen herab. Trinkt dieses Schwein tatsächlich Kaffee, während Aramis tot im Hof liegt?, schoss es Athos durch den Kopf, dennoch reagierte er sofort und straffte sich. Er zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck, stieß d‘Artagnan den Ellbogen in die Rippe und salutierte, wobei er Thernes unentwegt in die Augen sah. D‘Artagnan reagierte gottlob ebenso schnell und schloss sich dem Gruß an. Bange Sekunden passierte nichts, dann grüßte Thernes sie mit einem verärgerten Mienenspiel vom Fenster herunter zurück, während seine Hand zum Riegel griff, um das Fenster zu öffnen. Athos stockte der Atem. Wenn Thernes jetzt das Fenster aufmachen und sie ansprechen würde, dann wäre alles aus. In diesem Moment schrillte ein durchdringendes Alarmsignal, das bis auf die Straße zu hören war, durch das Hauptquartier und Thernes war augenblicklich vom Fenster verschwunden.
Athos hatte kaum Zeit erleichtert auszuatmen, denn nun war es d‘Artagnan, der ihm seinen Ellbogen in die Rippen rammte und mit einer knappen Geste seinen Blick zum Dachgeschoss des Gebäudes lenkte. Tatsächlich: Das markante rote Tuch wurde blitzschnell eingezogen.
„Constance hat es geschafft“, stieß d‘Artagnan erleichtert neben ihm aus und Athos sah aus den Augenwinkeln, wie die Schultern seines Freundes ein klein wenig nach unten sackten. Athos merkte, wie sich ein Lächeln auf seine Lippen legte und auf einmal spürte er, wie ihn neue Hoffnung durchflutete und dieser winzige Funke ausreichte, all seine Kräfte zu mobilisieren. Dies war der Moment, auf den sie gewartet hatten, Aramis lebte und war auf dem Weg zu ihnen.
„Los jetzt! Wir haben nur mehr wenig Zeit, Aramis sollte in wenigen Minuten draußen sein.“
Athos musste d‘Artagnan nicht mehr auffordern, ihm zu folgen, denn der junge Mann war bereits behände an ihm vorbei Richtung Auto gestartet. Er selbst spürte, wie sein gesamtes Denken und Handeln in den vertrauten Kampfmodus überging und Athos ließ zu, dass dieser ihn mitzog und dirigierte. Sie waren in kürzester Zeit wieder im Wagen und als Athos den Startschlüssel betätigte und der schwere, starke Motor zu dröhnen begann, hatte er zum ersten Mal das echte Gefühl, dass sie es schaffen würden.
Athos musste einen Umweg fahren, denn die Seitengasse hinter der Kirche war nicht direkt zu erreichen. Er zwang sich zu einer langsameren Geschwindigkeit als ihm lieb war, doch er wollte unter keinen Umständen Aufmerksamkeit erregen, als er am Grünen Markt, der mittlerweile deutlich belebter war, vorbei fuhr. Athos hielt sich an den Straßenverlauf und nach mehreren Kurven und Kreuzungen befand er sich auf der Straße, in der der Haupteingang der Kirche und die Bäckerei war.
„Athos, Stopp! Da vorne ist Porthos!“, lenkte d‘Artagnan mit erregter Stimme seine Aufmerksamkeit auf ihren Freund, der mit einem großen Korb voller frischem Brot vor dem Geschäftslokal der Bäckerei stand und ihnen heftig mit einer erhobenen Hand signalisierte anzuhalten. Athos bremste sich ein und stellte den Wagen mit laufendem Motor vor die Kirche. Irgendwo hinter ihnen waren bereits Sirenen zu hören, die Gestapo schwärmte also schon aus. Verdammt, das könnte knapp werden. Athos suchte den Blickkontakt zu Porthos, der von seiner Position vis a vis der kleinen Seitengasse, aus der Aramis kommen sollte, den besten Überblick hatte, doch Porthos war in seiner Bewegung völlig eingefroren und beobachtete konzentriert den Kreuzungsbereich vor ihm. Erleichterung durchflutete Athos, als Porthos plötzlich von innen heraus zu strahlen begann und sich ein breites Grinsen über sein Gesicht legte. Aramis kam also wirklich, er hatte es tatsächlich geschafft.
„Worauf wartest du?“ fagte d‘Artagnan, der Porthos Miene ebenso gesehen und entsprechend gedeutet hatte.
Athos schüttelte kurz den Kopf, ohne auch nur einmal seinen Blick von Porthos abzuwenden. „Einen Moment noch. Porthos hat den besseren Überblick, er wird uns das Zeichen geben, wenn wir kommen sollen.“
Und da kam es. Porthos deutet ihnen, während er selbst zu rennen begann, loszufahren. Athos war einen kurzen Moment irritiert, als er bemerkte, wie sich das Gesicht seines Bruders sorgenvoll zusammenzogen und das Lächeln daraus verschwand. Was auch immer er sah, Athos konnte nicht weiter darüber nachdenken, vielmehr drückte er das Gaspedal durch und ließ den Wagen die wenigen Meter zur Kreuzung vorschießen. Er stoppte mittig in der Seitengasse, um etwaige neugierige Blicke der paar Menschen, die hier bereits unterwegs waren, zu blockieren und sprang zeitgleich mit d‘Artagnan aus dem Wagen. Die deutsche Wehrmachtsuniform, die er trug, war zu klein und spannte und schränkte ihn in seiner Bewegung ein, aber das hinderte ihn nicht daran in wenigen Schritten den Wagen zu umrunden, um Aramis in Empfang zu nehmen.
D‘Artagnan stoppte abrupt und keuchte auf einmal entsetzt neben ihm auf. Erst jetzt konnte Athos einen ersten echten Blick auf Aramis werfen, dessen Gestalt sich in der leuchtend Morgensonne unverkennbar vor dem dunklen Kirchengebäude abzeichnete. Aramis schien sich kaum mehr auf seinen Beinen halten zu können und taumelte mehr als dass er ging. Athos spürte tiefes Entsetzten und bittere Wut in sich aufsteigen, als er dessen zerschundenes Gesicht sah. Er musterte die getrocknete Blutrinnsale, die im Ausschnitt eines übergroßen, schwarzen Pullovers verschwanden, die blau-schwarzen Prellungen, die sich auf beiden Gesichtshälften von seiner allzu blassen Haut abhoben, überzogen mit verkrusteten Rissen und einer blassbraunen Dreckschicht. Dans l'enfer2, was haben sie ihm bloß angetan. Athos fror ebenso wie Porthos, der mittlerweile aufgeschlossen hatte, für eine Sekunde völlig geschockt in seiner Bewegung ein und konnte, unfähig auch nur einen Arm zu heben, nur untätig zusehen, wie sich Aramis plötzlich völlig von Sinnen auf ihn stürzte.
Aramis schien sie im grellen Gegenlicht nicht zu erkennen, für ihn waren sie lediglich deutsche Soldaten in voller Montur, die ihn wieder verhaften würden und Athos wurde schlagartig bewusst, was Aramis vorhatte. Der Narr forderte offensichtlich seinen Tod heraus, indem er sich todesmutig auf die vermeintlichen Feinde stürzte. Dennoch hätte Athos Aramis den heftigen Schlag, der jetzt sein Gesicht traf, in diesem Zustand nicht zugetraut. Athos taumelte zurück und spürte wie augenblicklich Blut aus seiner Nase schoss. Den Schmerz ignorierte er, für ihn zählte im Moment einzig und allein, Aramis aus seinem Albtraum zu befreien.
„Aramis! Hör auf! Wir sind es!“
Porthos laute Stimme verhallte ungehört an den Hauswänden der kleinen Gasse, denn Aramis schlug unablässig weiter auf Athos ein. Athos gelang es kaum die erstaunlich kräftigen, aber unfokussierten Schläge seines Freundes zu parieren.
„Aramis!“
Der Scharfschütze reagierte immer noch nicht, er war orientierungslos, gefangen in seinem Horror und schien seine allerletzten Ressourcen dazu zu verwenden, so viel Schaden wie möglich anzurichten, ehe er sich selbst seiner völligen Vernichtung auslieferte.
Athos wollte Aramis nicht noch mehr verletzen und begnügte sich damit, sich lediglich vor den heftigen Attacke zu schützen. Er war heilfroh, als Porthos sich hinter Aramis in Stellung brachte und blitzartig seine kräftigen Arme um ihn legte. Aramis stöhnte laut auf, hatte aber der massiven Kraft von Porthos nichts mehr entgegen zu setzen. Seine Bewegungen wurden immer schwächer und beide sanken schließlich zu Boden. Porthos ließ ihn nicht los und Athos stürzte nach vorn um sich ebenso wie d‘Artagnan augenblicklich neben die beiden auf die Gasse zu knien. Der Wagen schirmte sie von der größeren Straße ab und auch wenn das Sirenengeheul um sie herum bedrohlich zunahm, so wusste Athos, dass sie Aramis in diesem Zustand nicht von hier wegschaffen konnten. Es schmerzte ihn unendlich, die Verzweiflung und Hilflosigkeit in den Augen seines Freundes zu sehen und er war tief betroffen wie zerrüttet und überfordert Aramis im Moment wirkte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, der das getrocknete Blut wieder feucht werden ließ und sein Atem kam unregelmäßig und stockend.
„Aramis!“, versuchte Athos es erneut und legte seine Hand sanft auf seine Schulter. „Wir sind es, komm, alles gut, alles ist gut.“ Er versuchte seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, um Aramis die Sicherheit zu vermitteln, die dieser so dringend benötigte. Aramis blinzelte tatsächlich, wie wenn er aus einem bösen Traum erwachen würde und Porthos löste seinen Griff. Da Aramis keinerlei Anstalten machte, weiter zu toben, zog Athos den Scharfschützen behutsam zu sich her und barg dessen Kopf in seinen Armen. Vorsichtig zog er die Wollmütze herunter und fuhr Aramis ein paar Mal zärtlich über seine schmutzigen, blutverklebten Haare.
„Wir sind hier. Wir haben dich, mon ami.“ Auch d‘Artagnan und Porthos streckten nun ihre Hände aus und berührten Aramis zaghaft an seinen Schultern. Sie wagten nicht, ihm über seinen Rücken zu streichen, da der Pullover daran klebte und sie den Grund dafür nur erahnten konnten.
Aramis, der sich gefangen zu haben schien, versuchte, sich aus Athos' Umarmung zu lösen, was ihm allerdings aufgrund seiner Verfassung kaum gelang.
Athos half ihm, sich in eine aufrechte Position zu setzen und Aramis nickte ihm dankend zu. Als sich ihre Blicke trafen erschrak Athos über den tiefen Schmerz und die Qual über das erlittene Leid, die sich in den Augen seines Freundes spiegelten. Was haben sie Dir nur angetan, dachte er abermals entsetzt und legte sanft seine Hand an Aramis' Wange. „Es ist vorbei,“ flüsterte er rauh, konnte dabei aber kaum vermeiden, dass das Entsetzen, das ihn beim Anblick Aramis ergriffen hatte, in seiner Stimme mitschwang. Sacht wischte er mit dem Daumen ein wenig Blut weg, das aus einer durch Aramis' heftigen Angriff wieder aufgeplatzten Wunde unterhalb seines Auges hervorgequollen war.
Aramis schloss kurz die Augen und schien lediglich aus der sanften Berührung seines Freundes Kraft zu ziehen. Als er seine Augen wieder öffnete und Athos ansah, überzog ein feuchter Schimmer seinen Blick, aber zu dem Ausdruck der Qual und des Schmerzes war ein wenig von dem zurückgekehrt, was das Wesen Aramis' ausmachte. Mit einem unmerklichen Nicken gab er Athos zu verstehen, dass er ihn verstanden hatte, dass er all das, was Athos in diese wenigen Worte gepackt hatte, begriffen hatte.
Athos schluckte und verzog seine Mundwinkel kaum merklich, aber es reichte doch, um ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Nie würde er mehr als einen tiefen Blick und wenig Worte benötigen um Aramis all das, was im auf der Seele brannte, mitzuteilen, und es erstaunte ihn doch immer wieder, wie gut Aramis ihn verstand, auch wenn er praktisch nichts sagte.
„Wir haben dich - wir werden dich immer haben.“, bekräftigte Athos nun mit fester Stimme und voll grimmiger Zuversicht, wissend, dass auch Porthos und d‘Artagnan das Versprechen ungefragt mittragen würden. „Ich weiß…“, flüsterte Aramis mit rauer Stimme. „Danke, dass ihr hier seid.“ Aramis blickte nun auch zu Porthos und d‘Aragnan und Athos merkte, wie innerhalb eines Atemzugs und Augenblicks das Band der Brüderlichkeit zwischen ihnen weiter vertieft wurde.
Erneutes Sirenengeheul beendete abrupt den Moment der brüderlichen Vertrautheit und erinnerte Athos daran, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten.
„Los jetzt. Wir müssen hier weg – wir sind viel zu auffällig und sie werden jeden Moment hier sein.“ Porthos dunkle Stimme hatte einen drängenden Unterton, auch ihm war klar, dass es jetzt schnell gehen musste. Er streckte seine Hand zu Aramis und zog ihn so vorsichtig wie möglich hoch. Dennoch stöhnte und fluchte dieser heftig, er litt ganz offensichtlich unter starken Schmerzen.
Athos stand ebenfalls auf und wischte sich mit dem Handrücken das Blut in seinem Gesicht notdürftig weg, dann half er Porthos dabei, Aramis in Richtung des Wagen zu bugsieren.
D‘Artagnan war mittlerweile bis zur kleinen Kreuzung geeilt und beobachtete nervös die Straße. Athos öffnete gerade die Tür des Wehrmachtsfahrzeuges als d‘Artagnan ihm plötzlich deutete, in Deckung zu gehen. Ohne zu zögern duckte sich Athos hinter den Wagen und zog Aramis unsanft mit sich, was dem Scharfschützen erneut ein unterdrücktes Stöhnen entlockte. Porthos hockte sich neben sie und sein fragender Blick sagte Athos, dass er ebenso wenig Ahnung hatte wie er, was draußen auf der Straße vor sich ging. Unvermittelt heulte eine Sirene direkt bei ihnen auf und ein Auto mit einem charakteristisch dröhnendem Motorgeräusch fuhr langsam an ihnen vorbei. Athos wusste, was das zu bedeuten hatte: Die Gestapo war hier. Er wagte nicht aufzusehen, sondern duckte sich noch ein wenig tiefer. Aramis, der leise stöhnend neben ihm zusammengesunken war, zog er noch näher zu sich heran, wohl darauf bedachte, nicht den Rücken, der dem Scharfschützen augenscheinlich die größten Schmerzen bereitete, zu berühren. Er spürte das leichte Zittern, das permanent durch Aramis' Körper lief und wusste, dass die Zeit drängte um Aramis die nötige medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Es kam Athos vor wie eine Ewigkeit, in der nichts zu passieren schien, er hörte kein Wort, weder von d‘Artagnan noch von den Gestapo-Leuten. Athos Herz blieb vor Erleichterung beinahe stehen, als er schließlich hörte, wie der obligatorische Mercedes wieder Fahrt auf nahm und die Straße hinunter verschwand.
„Scheiße, das war knapp.“ konnten sie kurz darauf vernehmen, ehe d‘Artagnans Gesicht hinter der Wagenkuppe erschien. Der Junge rollte mit den Augen.
„Was war los?“ Porthos Stimme klang genauso verunsichert wie Athos sich eben gefühlt hatte, auch seine Nerven waren bis aufs Äußerste gespannt.
„Das war ein Suchtrupp der Gestapo, sie wollten stehen bleiben, aber ich habe ihnen das gute alte Sturmgewehr samt Hitlergruß präsentiert und ihnen signalisiert, dass die Gasse gesichert ist. Zum Glück ist die Sackgasse so klein, dass sie mir geglaubt haben, dass niemand hier ist. Wenn sie mich angeredet hätten, dann wären wir aufgeschmissen gewesen“, erklärte ihnen d‘Artagnan mit atemloser Stimme und weit aufgerissenen Augen. Anhand der geweiteten, schreckstarren Pupillen und der roten Flecken, die sich auf d'Artagnans Gesicht ausbreiteten konnte Athos ahnen, welch Mengen an Adrenalin gerade durch dessen Körper schossen.
„Ich würde sagen, wir verschwinden schleunigst von hier“, grollte Porthos und zog vorsichtig den inzwischen gänzlich blass gewordenen Aramis in die Höhe. Behutsam legte er ihm eine Arm um die Taille um seinen verletzten Freund zu stützen.
„Da hast du absolut Recht, mein Freund,“ stimmte ihm Aramis nickend zu, konnte aber trotz des kleinen Lächelns auf seinem Gesicht die Schmerzen, die durch die kauernde Stellung noch verstärkt worden waren, nicht verbergen.
Athos öffnete die Tür zum hinteren Teil des Kastenwagens und ließ Porthos zuerst einsteigen. Gemeinsam halfen sie Aramis sich auf eine der beiden Bänke, die parallel zur Fahrrichtung montiert waren, niederzusetzen. Athos entging nicht, dass Aramis sich nicht an der Seitenwand anlehnte, sondern sich so gut es ging mit seinen blutigen, eingebundenen Händen abstützte und schräg platzierte, aber sie würden sich später damit beschäftigen, wenn sie wirklich in Sicherheit waren.
Auch Porthos hatte bemerkt, wie Aramis tunlichst vermied, dass sein Rücken irgendetwas berührte. Augenblicklich rutschte er nah an seinen Freund heran, so dass sich Aramis seitlich an seinem Oberkörper abstützen konnte.
Athos warf einen letzten Blick auf ihren Scharfschützen und war trotz allem zufrieden, was er sah. Es kam ihm vor wie ein Wunder, dass dieses ganze Husarenstück, wie Treville ihren aberwitzigen Plan genannt hatte, tatsächlich gelungen war. Sie hatten Aramis aus dieser Hölle gerettet und das allein zählte. Er nickte Aramis aufmunternd zu, bevor er die Tür des Kastenteils schloss und sich selbst nach vorne hinter das Steuer setzte.
D‘Artagnan saß bereits auf dem Beifahrersitz und grinste über das ganze Gesicht. „Wollen wir?“
Athos blickte zu ihm hinüber und nickte kurz, ehe er ihm antwortete „Ja, bringen wir ihn nach Hause.“
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