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Herz und Seele Frankreichs

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Aramis Athos D'Artagnan Porthos Tréville
31.03.2020
01.06.2020
24
69.713
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12.05.2020 3.280
 
Kapitel 15

Als Constance die Treppe von ihrer Dachkammer hinunter ins Büro ging, sah sie acht Sturmmänner in voller Bewaffnung in Richtung Aula gehen und sie wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte: Ihr lief die Zeit davon.
Sie drehte auf der Stelle um und hastete zurück in das obere Geschoss. Die Morgensonne brach mittlerweile durch die schrägen Dachlukenfenster und tauchten das alte Mauerwerk in ein oranges Licht. Sie hatte jedoch keinen Sinn für die Verheißungen des neues Tages, sondern lief so schnell wie möglich an ihrer Aktenkammer vorbei den Gang hinunter, um dann über eine schmale Nebentreppe in den ersten Stock zu gelangen. Die kleine, unscheinbare Tür, deren rostige Eisenscharniere wie ein altes Wagenrad knarzten, gab den Weg zu einer uralten, hölzernen Wendeltreppe frei. Dies hier war der älteste Teil des Gebäudes, der beinahe vollständig erhalten war, aber über die Jahre hinweg wohl stetig erweitert und umbaut worden war. Sie lief mit einem klammen Gefühl in ihrem Herzen die winzigen Stufen hinab, krampfhaft bemüht, ihre Schritte denkbar leise zu halten. Als sie unten angekommen war, schloss sie eine weitere Holztür auf und stand im hinteren Teil des Kreuzganges.
In dem Moment, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, krachte eine Gewehrsalve über das Kloster und Constance fühlte blankes Entsetzen in sich aufsteigen. Sie presste verzweifelt ihre Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien, vielleicht aber auch um die aufwallende Übelkeit zurückzuhalten, sie wusste es nicht. Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt als ihr klar wurde, dass alles aus war.
Sie lehnte sich schwer an eine Säule, unsicher, ob ihre Füße sie weiter tragen würden. Mein Gott, Aramis. Wie hatte Aramis es nur geschafft, Thernes so zu reizen, dass dieser bereits jetzt zum letzten Mittel gegriffen hatte? In der Regel ließ sich der Kommissar damit Zeit, allerdings war er auch dermaßen unberechenbar, dass sie es hätte wissen oder doch zumindest erahnen müssen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Aramis Charakter es durchaus mit sich brachte, andere ständig zur Weißglut zu treiben. Constance spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, pochend und wild, und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Magen verwandelte sich innerhalb von Sekunden in einen undefinierbaren Eisklumpen, dessen Kälte bis in ihre Knochen griff und sie konnte ein Zittern nicht unterdrücken. Plötzlich verschwamm alles vor ihr und als sie an Aramis dachte, der nun mutterseelenallein an diesem grauenhaften Ort tot in seinem Blut lag, glaubte sie, jeden Moment selber sterben zu müssen.
Constance war ein wenig überrascht, dass sie stattdessen einfach weiteratmete und wohl doch nicht hier und jetzt sterben würde. Diese Erkenntnis ließ sie langsam wieder die Kontrolle über sich selber erlangen und sie schaffte es mit jedem weiteren Atemzug, die blanke Panik Stück für Stück zurück zu drängen. Reiß dich zusammen, befahl Constance ihrem angstvollen Selbst und richtete sich beinahe trotzig auf. Sie würde es nicht zulassen, dass die Furcht ihr Berater wäre und auch wenn alles in ihr danach schrie, auf der Stelle weit weg zu laufen, so war ihr plötzlich völlig klar, dass vielleicht noch nicht alles verloren war und sie allein der entscheidende, der einzige Schlüssel zum Gelingen des Plans war, sollte er sich doch noch durchführen lassen. Noch gab es Hoffnung, noch hatte sie Aramis nicht mit eigenen Augen tot vor sich liegen sehen. Und wenn es denn so sein sollte, dann würde sie seiner Seele ein letztes Geleit geben, ehe sein Körper für immer erkaltete.
Sie stieß sich von der Säule ab und ging mit fest zusammengebissenen Zähnen vor zur Ecke des Kreuzganges, um sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass kein Wachmann zu sehen war. Sie hoffte, dass alle Sturmmänner, bis auf den Wachposten, der vor der einzigen, gottlob hölzernen Tür, die in den Innenhof führte, stand, wieder im Mannschaftsquartier wären, so wie sie es immer nach einer Hinrichtung zu tun pflegten. Sie hatte den Männern sicherheitshalber kurz zuvor warmes Gebäck und Tee mit Rum hingestellt und sie war sich fast sicher, dass dieser Anreiz genügen würde, um sie in ihrer Unterkunft zu halten. Die Luft schien rein, sie konnte niemanden sehen und so eilte sie wieder zurück zum letzten Bogen des Kreuzhangs. Mit dem Mut der Verzweiflung betätigte Constance den kleinen, tief im Rahmen verborgenen Schalter und das alte, bleiverglaste Fenster schwenkte mit einem leisen Klick nach vorne in den Innenhof. Immer noch spürte sie ihren angstvollen Herzschlag im Ohr, aber sie ignorierte das bedrohliche Pochen, glitt beherzt über den steinernen Sims und betrat den alten Klostergarten. Sie schluckte schwer und zwang sich, hinüber zu Aramis zu blicken. Er lag völlig still, viel zu still auf der Seite und das Dunkel seines Blutes schimmerte im starken Kontrast zur Blässe seiner Haut. Constance vermochte nicht zu sagen, ob er noch atmete und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
Reiß dich endlich zusammen, ermahnte sie sich erneut und begann sich langsam zu Aramis vorzuarbeiten, wobei sie stets prüfende Blicke zur Fensterreihe warf. Ihr war klar, dass sie jederzeit entdeckt werden könnte, da der gesamte Kreuzgang und erste Stock mit Fenstern ausgestattet war, die den ungehinderten Blick in den Innenhof ermöglichten. Wenn es der Zufall wollte und irgendjemand genau jetzt hinausschauen würde, dann wäre alles aus. Constance drückte sich fest in den Efeu, der über die Jahre hinweg die gesamte Fassade und zu ihrem Glück auch etliche Fenster überwuchert hatte, und schob sich Meter für Meter weiter zu Aramis hin, stets darauf achtend, unter den Scheiben des Kreuzgangs abzutauchen.
Als sie ihn endlich erreicht hatte, verließ sie beinahe wieder der Mut, aber die Zeit arbeitete unbarmherzig gegen sie und je länger sie das Unvermeidbare hinauszögerte, umso gefährlicher wurde es. Sie atmete einmal tief ein und wieder aus, drängte alle Ängste und Zweifel in ihr Innerstes zurück und berührte sanft seine Schulter.
Aramis zuckte unter ihrer Berührung heftig zusammen und starrte sie entgeistert an. Erleichterung durchflutete Constance wie eine Sturmwelle, die einen Damm durchbrach, und sie spürte, wie ihr erneut Tränen in die Augen steigen wollten. Sie hatte so gehofft, innerlich zum Schicksal gefleht, dass Thernes auch dieses Mal nicht ernst machen, sondern sich damit begnügen würde, eine Scheinhinrichtung durchzuführen. Der Kommissar liebte dieses grausame Spiel, die Simulation des Todes, nur dazu gedacht, auch den letzten Rest an Hoffnung, Würde und Selbstachtung eines Menschen unwiderruflich zu brechen. Constance hatte ihm jedes Mal seine kranke Erregung und Begeisterung ansehen können, so sehr er auch versucht hatte, sie zu verbergen. Aber hin und wieder, wenn ein Gefangener ihn zu sehr reizte oder er sich nichts mehr von ihm versprach, waren die Kugeln, die aus den Gewehren abgefeuert wurden, echt und tödlich gewesen. Constance dankte allen Himmeln über ihr, dass es diesmal nicht der Fall gewesen war und Aramis immer noch lebte.
„Aramis, komm – steh auf.“
Aramis reagierte nicht, sondern starrte sie aus schockgeweiteten Augen an. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen sondern direkt durch sie hindurch zu sehen.
„Aramis – los, wir müssen hier weg“, versuchte Constance es erneut und da er immer noch nicht reagierte, begann sie, ihn mit aller Kraft hoch zu ziehen. Er schien wie gelähmt und es gelang ihr nur mit größter Mühe, seinen schweren Körper dazu zu bewegen, sich aufzurichten und hin zu knien. Sie konnte an seiner deutlich hervortretenden Halsschlagader sehen, dass sein Herz rasen musste und er dennoch nur sehr unregelmäßig Luft holte. Aramis war schweißgebadet und zitterte gleichzeitig so heftig, als ob er einen starken Schüttelfrost hatte.
Constance wurde schlagartig klar, dass sie so etwas schon einmal gesehen hatte. Kurz bevor die Deutschen Paris 1940 vollständig besetzen hatten können, hatte es immer wieder schwere Gefechte zwischen den französischen Regierungstruppen und vorrückenden Wehrmachtseinheiten gegeben. Im Zuge eines Straßenkampfes hatte Constance mit einer Reihe von Frauen und Kindern versucht, sich in Sicherheit zu bringen, als ganz in ihrer Nähe eine Granate detoniert war. Die Wucht des Geschosses hatte eine Frau getötet. Ihre Freundin war sofort zu ihr gekrochen, sie hatte nicht glauben wollen, was ihre Augen gerade gesehen hatten. Constance war klar gewesen, dass sie auf der Stelle von hier verschwinden sollten, doch die junge Frau war angesichts ihrer toten Freundin in eine Art Schockstarre verfallen, ähnlich einem Hasen, der sich angesichts der todbringenden Schlage nicht mehr von der Stelle rühren konnte. Es war Constance nicht möglich gewesen, die Frau dazu zu bewegen, mit ihr mit zu kommen, so sehr sie es auch versucht hatte. Ein Querschläger, der die Brust der Unbekannten unvermittelt in Fetzen gerissen hatte, hatte Constance schließlich die Entscheidung abgenommen und sie hatte sich wenigstens selbst in Deckung bringen können. Immer wieder hatte sie über jene traurigen Minuten nachgedacht und darüber spekuliert, ab sie nicht doch etwas hätte tun können. Lemay hatte ihr später erklärt, dass die arme Frau ein Trauma erlitten hatte, das viele Menschen erleben, wenn sie mit Grenzsituationen ihres Lebens konfrontiert waren. Die starke emotionale Betroffenheit, der Schock und die Hilflosigkeit, dass das erlebte Ereignis außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögens und vor allem außerhalb der eigenen Kontrolle lag, führten in der Regel zu einer tiefgehenden Labilität. Menschen reagieren in einer solchen Lage der überwältigenden Ohnmacht oft mit einer Art Handlungslähmung, die verhinderte, dass sie sich den neuen Gegebenheit anpassen und entsprechend agieren konnten. Desorientierung und Überforderung gepaart mit dieser schweren psychischen Erschütterung taten dabei ihr Übriges und es war Constance so vorgekommen, als hätte schlussendlich die eigene Angst die Frau getötet.
Als Constance jetzt in die Augen von Armis blickte, erkannte sie an seinem verstörten und zerrütteten Blick, dass sein Verstand im Moment wohl auch nicht fassen und verarbeiten konnte, dass er nicht tot, sondern immer noch am Leben war. Sein Körper und seine Seele waren wie eingefroren, irgendwo gefangen in seiner ganz persönlichen Hölle. Constance schüttelte ihn mit beiden Händen an den Schultern und versuchte ununterbrochen, einen echten Blickkontakt mit ihm herzustellen, um ihn aus seinem Albtraum zu reißen. Sie mussten hier weg und zwar sofort und sie war unter keinen Umständen bereit, ihn hier und jetzt an seine eigene Angst zu verlieren.
„Verdammt, Aramis, beweg endlich deinen Arsch!“, fauchte sie ihn in ihrer letzten Verzweiflung an und schüttelte ihn erneut. Aramis blinzelte auf einmal und schaute sie tatsächlich unvermittelt an. Sein Blick war mit einem Schlag überraschend klar und fokussiert, gerade so, als würde er sie zum ersten Mal tatsächlich sehen und Constance war überrascht, als sich Aramis' Mundwinkel nach oben zogen und ein kleines Lächeln über sein Gesicht huschte. „Constance, achte auf deine Sprache“, flüsterte er mit rauer Stimme. Constance konnte nicht anders, auch sie musste nun trotz der völlig unpassenden Situation leise auflachen und boxte Aramis unwillkürlich ein wenig in den Oberarm. Aramis zuckte sofort zusammen und sein Lächeln erstarb in einer Grimasse des Schmerzes.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich reflexartig und blickte dabei angespannt über die Fensterreihen des Kreuzganges. Wieder stieg die Angst in ihr auf, denn ihnen lief die Zeit davon. „Bitte, bitte komm jetzt“, drängte sie Aramis und als sie den kleinsten Ansatz einer Bewegung bei ihm ausmachte, half sie sofort nach und stützte ihn, so gut es ging. Aramis quälte sich mit einem leisen Stöhnen in die Höhe, sein ganzes Gewicht lastete schwer auf ihr und sie spürte das stete Zittern, das immer wieder seinen Körper durchlief. Sie bemerkte nicht, wie die Jacke und der Rock ihres Kostüms blutig wurden, es wäre ihr auch gleichgültig gewesen, denn im Moment ging es nur darum, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
Constance versuchte ein letztes Mal abzuschätzen, ob jemand auf den Gängen war, aber da sie niemanden sah, war dies hier wohl der Augenblick, in dem es um alles oder nichts ging. Sie umfasste Aramis fest mit ihrem Arm und zog ihn die wenigen Meter über den Innenhof zurück zum geöffneten Fenster. Aramis folgte, so gut er konnte und ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder auch nur ansatzweise zu zögern, kletterte er über den steinernen Sims zurück in den Kreuzgang. Constance warf eine letzten prüfenden Blick über die Hinrichtungsstätte und da sie immer noch niemanden hinter den Fensterreihen bemerkte, stieg auch sie zurück in das Gebäude. Mit einem erneuten Klick fiel das Fenster wieder in seinen Rahmen und Constance atmete voller Erleichterung auf. Sie konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich den schwierigsten Teil des Plans geschafft hatten, denn jetzt konnten sie sich in den verwinkelten Windungen und Gängen des alten Klosters verbergen und wären vorerst für einen kurzen Moment in Sicherheit. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass die ganze Aktion Stunden gedauert haben musste, so war sie doch sicher, dass nur wenige Minuten vergangen waren, seit sie das Archiv verlassen hatte.
Constance wusste, dass Thernes seinen Gefangenen, den letzten Akt seines grausamen Spiels eröffnend, in Kürze wieder aufsuchen würde und das Zeitfenster, das ihr blieb, um Aramis hinaus zu schaffen, wurde immer enger. Entschlossen dirigierte sie Aramis zurück zur Tür, die zur alten Wendeltreppe führte, wandte sich aber nicht hinauf zu, sondern bückte sich unter ihre Windung. Am Ende der Wand befand sich eine eine uralte, mit schweren Eisenbeschlägen verzierte Holzvertäfelung aus einem anderen Jahrhundert. Constance holte ihren dicken Schlüsselbund heraus und fand den winzigen Schlüssel, der in ein noch winzigeres, beinahe unsichtbares Schloss passte, sofort, denn sie hatte ihn mit einer schmalen Lederschnur markiert.
Während sie den Schlüssel drehte, dankte sie im Stillen Benoit, dem früheren Hausmeister, der ihr seinerzeit, als sie bei der Gestapo begonnen hatte, die Räumlichkeiten des Klosters gezeigt hatte. Der alte Mann mit dem verwitterten Gesicht eines Seemanns hatte sie zuerst mürrisch und widerwillig herumgeführt und Constance hatte mehr als deutlich gespürt, dass er jeden und alles in Zusammenhang mit den Deutschen zutiefst verabscheute, denn er reagierte auf all ihre Versuche, ein Gespräch anzufangen, mit eisiger Ablehnung. Es musste seine Seele sehr belastet haben, als die Gestapo das Kloster übernommen und entweiht hatte, doch auch er hatte der Besatzungsmacht nichts entgegenzusetzen gehabt. Nun zusehen zu müssen, wie eine junge französische Frau mit den Eindringlingen kollaborierte, mehr noch, der Schlimmsten aller Einheiten des Deutschen Reichs zuarbeitete, war wohl weit über das Maß, das er ertragen konnte, hinaus gegangen. Constance hatte im Beisein Thernes, der Benoit gezwungen hatte, die neue Sekretärin in den Betrieb einzuarbeiten, ihre Rolle gespielt, aber als sie mit ihm allein gewesen war, hatte sie nicht anders gekonnt, als ihm zumindest einen Hinweis zuzuspielen, wer oder was sie wirklich war.
Während sie zugesehen hatte, wie Benoit voller Abscheu eine Hakenkreuzfahne an einer Wand im Kreuzgang befestigte, hatte sie wie beiläufig dabei geholfen und leise ein Gespräch angefangen. „Wir alle müssen tun, was notwendig ist, mein Herr. Ein Volk kann nur dann überleben, wenn es bereit ist, zur rechten Zeit die rechten Dinge zu tun. Und wenn es bedeutet, Haus und Hof den Deutschen zu übergeben, dann müssen wir das, was wir haben, teilen, damit niemand verhungert, nicht wahr? À chacun son boche - Jedem sein eigenes Kraut (Deutscher).“
Benoit hatte Constance bei ihren letzten Worten mit einer derartigen Intensität angestarrt, dass Constance ihm kaum in die alten, lebensschweren Augen hatte sehen können. Sekundenlang hatte zwischen ihnen absolute Stille geherrscht und Constance hatte ernsthaft befürchtet, dass sie mit ihren Andeutungen zu weit gegangen war, als plötzlich ein Grinsen über Benoits Gesicht gehuscht und er ihr mit einem unüberhörbaren Ton der Zuversicht geantwortet hatte: „Ja, Madame, niemand sollte in diesen schweren Zeiten darben.“ Der alte Mann hatte die rote Hakenkreuzfahne geschwenkt und dabei die prägnante Parole der Resistance, die jedes Mitglied kannte und wie eine Insignie vor sich her trug, wiederholt: „À chacun son boche.“ Im Anschluss hatte Benoit ihr das Geheimnis des Kloster offenbart und sie zu dieser kleinen Tür geführt, die Aramis nun das Leben retten würde. Niemals hatte sie auch nur ein Wort darüber zu irgendjemanden im Hauptquartier verloren und den winzigen Schlüssel, den Benoit ihr ausgehändigt hatte, wie einen Schatz, gut verborgen in ihrem Hauptschlüsselbund, gehütet.
Die Holzvertäfelung öffnete sich und gab einen kleinen Durchgang frei. Uralte Ziegelwände bildeten einen schmalen, dunklen Gang, der weiß wohin führte und Spinnweben und Staub zeugten davon, dass hier wohl seit Jahren niemand mehr gegangen war. Aramis pfiff anerkennend durch die Zähne und Constance war heilfroh, dass er wieder mehr der Alte zu sein schien. Er zitterte zwar immer noch, aber er wirkte konzentriert und zielgerichtet.
„Aramis, du musst dir die Schuhe und den Pullover anziehen. Der Gang führt dich unter der Kirche hindurch in eine Sackgasse, du wirst unvermittelt aus einer Ziegelwand ans Tageslicht kommen, schreck‘ dich also nicht. Die Gasse ist nicht belebt, aber wenn Thernes mitbekommt, dass du geflohen bist, dann werden sie versuchen, alles abzuriegeln. Du fällst etwas weniger auf, wenn du...“, Constance machte eine Pause und warf einen Blick auf Aramis „...nun, wenn du nicht ganz so offensichtlich...“ Sie brauchte ihren Satz nicht zu beenden, Aramis hatte sie offensichtlich verstanden und griff mit einem müden Lächeln nach den Schuhen, die Constance bereits in den frühen Morgenstunden hier versteckt hatte. Er stöhnte leise, als er sich nach unten beugte, um in die schweren Wehrmachtsstiefel hinein zu kommen.
„Entschuldige, komm, ich helfe dir.“
„Alles gut, es geht schon“, wehrte Aramis sie ab und Constance sah ihm zu, wie er mittels purer Willenskraft die Schuhe anzog und zuschnürte. Ihr Blick fiel dabei auf seinen zerschlagenen Rücken und sie konnte sich nicht einmal im Ansatz vorstellen, welche Schmerzen er im Moment haben musste.
Aramis griff nun nach dem dunklen Pullover, zögerte aber aus verständlichen Gründen ein wenig, ihn überzuziehen. Stattdessen schloss er die Augen und atmete ein paar Mal kräftig ein und aus. Als er seine dunklen Augen wieder öffnete, war die Erschöpfung und Qual darin verschwunden und Constance konnte jetzt den Ausdruck einer ihr völlig unbekannten Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber erkennen. Anstelle von Verzweiflung und Hilflosigkeit war Widerstandskraft und Überlebenswille getreten und mit einem Schlag begriff Constance, warum die anderen Aramis immer als einen herausragenden Soldaten bezeichnet hatten. Sie hatte sich nie vorstellen können, wie dieser auf der einen Seite humorvolle, sensible und einfühlsame Mann auf der anderen Seite ein kompromissloser Scharfschütze sein konnte, der ohne zu zögern seinen Feind tötete. Constance spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief und sie war froh, dass sich diese Seite niemals gegen sie richten würde.
Aramis streifte nun mit einem dunklen Grollen den Pullover über und bevor er die kleine, rechteckige  Taschenlampe und die schwarze Wollmütze, die Constance ihm hinhielt, nahm, überraschte er Constance mit einem sanften Kuss auf ihre Stirn.
„Danke“, flüsterte er mit belegter Stimme. Sie hatte das Gefühl, dass er mehr sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte fand.
„Es gibt nichts zu danken, Aramis. Aber nun geh bitte, schnell, wir haben beide keine Zeit zu verlieren.“
„Du kommst nicht mit?“
„Nein, das geht nicht, wenn Thernes merken sollte, dass ich hinter deiner Flucht stecke...nein, ich muss zurück und die Scharade aufrecht halten, solange es geht. Aber nun geh, geh.“ Im Reden schob sie Aramis in den kleine Gang hinein. Der Scharfschütze gehorchte und setzte sich in Bewegung. Constance sah ihm einige Sekunden nach, bis Aramis sich noch einmal zu ihr umdrehte und ihr ein letztes Mal lächelnd zunickte, bevor er in einer Biegung des dunklen Gangs verschwand.
Constance seufzte erleichtert und machte sich auf der Stelle auf den Rückweg in ihre Dachkammer. Sie versperrte gewissenhaft die Geheimtür und lief, so schnell sie konnte die Wendeltreppe hinauf. Sie war noch nicht im Dachgeschoss angekommen, als sie plötzlich den markanten Alarmton schrillen hörte und sie wusste, dass Thernes bemerkt hatte, dass Aramis nicht mehr da war. Sie hatte nun keine Zeit mehr zu verlieren, denn Sturmmänner würden jeden Augenblick das gesamte Gebäude überfluten. Sie schaffte es mit Müh‘ und Not in das Archiv, doch erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Kostüm voller Blutspuren war. Sie vermutete, dass auch ihr Gesicht nicht besser aussah, doch sie hatte keine Zeit mehr, denn von draußen hörte sie bereits schwere Schritte, die sich allzu schnell ihrem Zimmer näherten.
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