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Herz und Seele Frankreichs

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Aramis Athos D'Artagnan Porthos Tréville
31.03.2020
01.06.2020
24
69.713
3
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09.05.2020 2.104
 
Kapitel 14

Aramis hatte nicht wirklich mitbekommen, wie er wieder auf dem Sessel bei dem Tisch gelandet war, aber es war ihm auch gleich. Das Atmen fiel ihm schwer und er vermied es tunlichst sich zu bewegen. Er spürte alles und nichts und konnte nicht sagen, wo der eine Schmerz aufhörte und der andere anfing, sie alle pochten mit seinem Herzen im Gleichklang. Er schmeckte das Kupfer seines Blutes in seinem Mund und das schier unerträgliche Brennen auf seinem Rücken legte sich über jeden Gedanken.
Thernes hatte auf einmal zwei Gläser und eine Flasche Whiskey hervorgezaubert, die er nun langsam auf den Tisch vor ihnen stellte.
„Jameson Black Barrel, irisches Hochland. Wir haben zwei Kisten dieses Destillats vor einiger Zeit von Schmugglern konfisziert. Aber so unter uns: Es muss ja nicht alles nach Berlin weitergeschickt werden, nicht wahr?“ sagte er und goss ein Daumenbreit der goldenen Flüssigkeit in jedes der Gläser.  
Aramis beobachtete ihn stumm. Sehe ich wirklich so aus, als würde mich das jetzt interessieren?
„Was mache ich nur mit Ihnen?“, seufzte Thernes, während er sich in seinen Sessel zurück lehnte. Bedächtig nahm er seine Brille von der Nase und holte ein kleines, weißes Taschentuch, bestickt mit 4 schwarzen Hakenkreuzen in jeder Ecke, heraus und begann, die Brille von den Blutspritzern zu reinigen.  
Mein Blut, bemerkte Aramis irritiert. Er erkannte, auch wenn dieser es sich in keinster Weise anmerken ließ, dass Thernes zutiefst frustriert war und dieser Frust Thernes nur noch gefährlicher machte. Der Mann würde ihn nicht damit davon kommen lassen, er würde alles daran setzen, die gewünschte Information aus ihm heraus zu holen. Aramis empfand zum ersten Mal in seinem Leben eine Angst in sich keimen, die aus tieferen Schichten seiner selbst kam. Noch konnte er sie verbergen, aber er wusste nicht, wie lange. Er spürte, dass er langsam, aber sicher an die Grenzen seiner körperlichen und mentalen Belastbarkeit kam, aber mehr noch als die Angst zu sterben war die Angst, all das zu verraten, was er zu schützen geschworen hatte.
Ein Schritt nach dem anderen, dachte er sich, ein Widerstehen nach dem anderen. So hatte er es in seinen Trainingseinheiten gelernt und so hatten sie es immer und immer wieder gemeinsam durchgekaut. Er und seine Brüder hatten oft darüber gesprochen, was wohl passieren würde, wenn einer von ihnen in Gefangenschaft geraten würde. Sie hatten versucht, sich auszumalen, wie lange sie welchen Dingen standhalten könnten und waren letztendlich zu dem Schluss gelangt, dass man in dieser Situation wohl nur von einem Moment zum nächsten denken und fühlen konnte. War dieser erst einmal vorbei, so würde er nicht wieder kommen und der nächste könnte womöglich bereits der letzte sein, den man zu überstehen hatte, sei es im günstigsten Fall durch das Ende des Verhörs, sei es im schlechtesten Fall durch den eigenen Tod. Aber leider war das Feld zwischen diesen beiden Enden schattiert von unendlich vielen weiteren Möglichkeiten. Sie wären wohl stolz auf mich, wie weit ich es geschafft habe, schoss es Aramis mit einem Hauch Bitterkeit durch den Kopf. Ich überprüfe gerade unsere graue Theorie in der Praxis…
„Nun? Was soll ich bloß mit ihnen machen?“ wiederholte sich Thernes.
Aramis sah den Kommissar müde an, es fiel ihm immer schwerer, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, solange dieses Höllenfeuer seinen Rücken auffraß.  Erwartete Thernes tatsächlich eine Antwort? „Whiskey zum Frühstück?“, fragte er also mit einem leichten sarkastischen Unterton und merkte erst jetzt, wie mühsam das Artikulieren mit zerbissenen Lippen war.
„Genau, das tun wir“, begeisterte sich Thernes unerwartet überdreht und hielt Aramis eines der  Gläser hin.  
Aramis zögerte einen Moment, er war sich nicht sicher, wohin das Ganze Gehabe führen würde, doch er hob trotzdem seine geschwollene Hand, um danach zu greifen. Er zitterte jedoch so stark, dass er nicht wirklich zugreifen konnte. Ihm wäre beinahe das Glas aus der Hand gefallen, wäre Thernes ihm nicht zu Hilfe gekommen und hätte es im letzten Moment elegant aufgefangen.
„Hoppla!“, rief Thernes ironisch aus, so als hätte Aramis ein Zirkuskunststück gewagt, das ein wenig missglückt ist. „Wie kann ich nur nach allem, das wir gemeinsam durchgemacht haben immer noch so unaufmerksam sein? Bitte entschuldigen Sie“, sagte er gespielt leichtfertig und beugte sich vor.
Aramis musste stark an sich halten, um nicht zurück zu zucken und das süffisante Grinsen Thernes‘ zeigte ihm, dass dieser seinen Impuls bemerkt hatte. Aramis konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass, je mehr er sich dem Monster vor ihm widersetzte, dieses um so stärker angefeuert wurde. Er ist völlig krank, schoss es Aramis durch den Kopf.
Es überraschte Aramis dann aber doch, als ihm Thernes den Whiskey nachlässig anbot, indem er das Glas in die Nähe seines Mundes führte. Aramis überlegte einen Moment, ob Thernes ihn täuschen würde, doch ein Blick in die Augen des Mannes sagte ihm, dass er zumindest im Moment wohl nichts von ihm zu befürchten hatte.
Aramis nickte knapp und ließ es zu, dass der Kommissar ihm das Glas mit einer unerwarteten, beinahe zärtlich anmutenden Sanftheit an den Mund führte, damit er trinken konnte. Der Whiskey war scharf und brannte wie die Hölle, Aramis zuckte zusammen und zischte unterdrückt auf, als der Alkohol über seine Wunden im Mund lief. Aber das warme Gefühl, das sich augenblicklich in ihm ausbreitete, war den Schmerz wert. Gott, tut das gut. Aramis konnte sich an keinen anderen Moment in seinem Leben erinnern, in dem er einen Drink nötiger gehabt hätte als jetzt in diesem Augenblick.
Thernes war mit seinem Sessel an Aramis Seite gerückt und schweigend saßen sie nebeneinander, während der Kommissar nun seinerseits Schluck für Schluck den Whiskey trank. Aramis erlaubte sich einen Moment des Aufatmens. Der Alkohol zeigte Wirkung, und da er lange nichts mehr gegessen und nur spärlich getrunken hatte, spürte er, wie sich eine wohltuende Wärme in ihm ausbreitete. Aramis nutzte diese kostbare Gelegenheit zur inneren Sammlung auf das Kommende, er gab sich keinerlei Illusionen hin, kannte er doch den Teufel, der in Thernes wohnte nur zu gut und wusste, dass ihm lediglich ein Augenblick des Durchatmens vergönnt war, warum auch immer. Vielleicht war Thernes seines beharrliches Schweigens und Leugnens überdrüssig geworden, wahrscheinlicher war jedoch, dass dieser wohl erkannte hatte, dass Aramis beinahe am Ende seiner Kräfte war.
Als Thernes sein Glas geleert hatte, beugte er sich schließlich vor. Aramis wäre gerne zurück gewichen, als der Kommissar seine Hand hob und ihm sachte eine verklebte Haarsträhne aus dem Gesicht schob, aber ebenso wenig, wie er diese Geste verhindern konnte, konnte er verhindern, dass Thernes sich seinem Ohr näherte.
„Du und ich, wir wissen beide wo diese Reise enden wird“, flüsterte Thernes in einem bedächtigen Tonfall.  
Aramis senkte seinen Kopf, schloss die Augen und fühlte, wie tiefe Trauer ihn ergriff. Oh ja, er wusste es, er hatte es in dem Moment gewusst, in dem er seine Position preisgegeben hatte, um seine Brüder zu retten. Er hatte es in dem Moment gewusst, in dem er erkannt hatte, was Thernes wirklich von ihm wollte. Und er hatte es in dem Moment gewusst, als ihm klar geworden war, was auf dem Spiel stand. Aramis atmete entschlossen aus, sah Thernes direkt in die Augen und nickte.
„Dann zum letzten Mal: Sag mir, wo der König den Schatz versteckt hat“, hakte Thernes leise nach.  
Doch Aramis schwieg. Er wusste, dass nun nichts mehr den Lauf der Geschichte würde aufhalten können, dies war seine allerletzte Möglichkeit des Widerstandes.
Wie aus dem Nichts fuhr der Kommissar plötzlich vor ihm zurück, ganz so als hätte Aramis ihm ins Gesicht gespuckt. Thernes Augen blitzten vor Zorn als er im gleichen Atemzug das Whiskeyglas, das er in immer noch in seiner Hand gehalten hatte, auf Aramis Kopf zerschmetterte. Aramis keuchte auf und wurde durch die Wucht des Schlages vom Sessel gerissen. Schwer wie ein Stein krachte er auf den Boden, seine Reflexe, betäubt durch Schmerzen und Alkohol, waren zu langsam gewesen, um sich rechtzeitig abfangen zu können. Mit zitternden Fingern versuchte er ohne darüber nachzudenken, die Scherben aus seinem Haar und der Kopfhaut zu ziehen, aber es gelang ihm nicht. Er spürte, wie warmes Blut über seine Schläfe lief.
Thernes war augenblicklich über ihm, griff in Aramis' Haare und riss mit eisernem Griff den Kopf in seinen Nacken. Da er einfach keine Kraft mehr hatte, ließ er es geschehen und ergab er sich der schieren Gewalt.
„Wo hat Ludwig die Kunstschätze versteckt?“, grollte Thernes mit leiser und erkennbar mühsam beherrschter Stimme.
Aramis presste die Augen zusammen, vor Qualen, vor Verzweiflung, vor Wut und schüttelte den Kopf.
„Dachte ich es mir doch“, seufzte Thernes und stieß Aramis beim Aufrichten mit voller Wucht nach vorne, eher er einen Schritt zurück trat.
Aramis war es abermals nicht gelungen, sich schnell genug mit seinen Armen abzufangen und krachte mit dem Gesicht auf den Steinboden. Weiterer Schmerz explodierte in seinem Kopf und er blieb benommen liegen. „Nun denn. Ihr beide…“, hörte Aramis den Kommissar sagen. „Holt das Exekutionskommando.“
Das ist es also, das Ende meiner Reise.
Es war nun doch schneller gekommen, als Aramis es erwartet hatte und ein Teil von ihm war tatsächlich froh, dass es bald vorbei sein würde. Dennoch gelang es selbst den massiven körperlichen Schmerzen nicht, den stechenden inneren Schmerz zu übertünchen, der sich augenblicklich über seine Seele legte. Er wollte nicht sterben, nicht hier, nicht so. Er wollte leben, er wollte lieben, leben, lieben, leben, lieben. Die Kraft dieser unbändigen Emotionen pulsierte im Rhythmus seines Herzens und seiner Schmerzen und als die Sturmmänner ihn vom Boden hoch zerrten und mehr hinaustrugen als führten, spürte Aramis die Intensität des Lebens so stark wie niemals zuvor.
Er bekam kaum mit, wie sie ihn durch die Gänge zerrten. Immer wieder wankte er und er musste sich mit seinen blutigen Händen an einer Säule im alten gotischen Kreuzgang festhalten, um nicht zu Boden zu gehen. Alles in ihm schrie nach Auflehnung gegen das Unvermeidliche, aber er konnte sich nicht mehr dagegen wehren. Der Kämpfer in ihm verhinderte zwar, dass er vor den Augen der Nazis zusammenbrach, aber seine Seele schien dennoch vor Angst erstarrt und sein Denken konnte nicht begreifen, dass er bald nicht mehr sein würde.
Allzu schnell stand Aramis vor einer steinernen Wand im Innenhof des Kreuzganges, der einst wohl einen lieblichen Klostergarten beherbergt haben musste, nun jedoch grotesk als Hinrichtungsstätte missbraucht wurde. In die Rahmen des Ganges waren irgendwann Bleigläser eingesetzt worden, die Gestapo hatte jedoch zwei dieser Bögen von außen zugemauert, um Kugeln daran zu hindern, in den Innenraum des Klosters einzudringen. Ein Teil seines Verstandes nahm das getrocknete Blut an den alten Steinen und Ziegeln und den stechenden Kupfergeruch wahr, doch im Grunde interessierte es ihn nicht mehr. Er war kurz eingeknickt, als die Sturmmänner ihn losließen, hatte sich aber schnell so weit gefasst, dass er aufrecht stehen konnte.
Aramis rief in einem letzten Akt der mentalen Stärke seine beiden Musketierpferde, Würde und Identität, zurück, denn er würde nicht ohne sie sterben wollen. Das Wissen, dass er sein Leben aus Liebe zu seinen Brüdern und seiner ganzen Nation opfern würde, gab ihm nun die Kraft, die lodernde Angst zu überwinden und er spürte, wie er mit jedem Atemzug ruhiger und gefasster wurde. Er empfand die Ausweglosigkeit der letzten Sekunden in jeder Faser seines Daseins und er begann automatisch zu beten. Seine Lippen bewegten sich tonlos zu den seit seiner Kindheit verinnerlichten Worten und mit ihnen strömten Bilder der Liebe und Hingabe seines ausgefüllten Lebens herbei. Ja, er hatte gelebt, er hatte sich entschieden und nun bereute er nichts.
Längst hatte das Exekutionskommando, bestehend aus acht Sturmmännern, Aufstellung genommen und die Soldaten präsentierten sich ihm in deutscher Präzision in Reih und Glied. Die Aufgabe, die vor ihnen lag, war für sie wohl alltäglich und auch wenn deren Ausführung den einen oder anderen womöglich irgendwann einmal Überwindung gekostet haben mochte, so war diese Zurückhaltung längst einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen. Sein unmittelbar bevorstehender Tod war für sie wahrscheinlich gerade so lästig wie das Zerquetschen eines Insekts.
„Achtung!“, hallte Thernes Kommando durch den kleinen Innenhof.
Aramis senkte den Kopf und schloss die Augen, nahm den tiefen Schmerz der Vergänglichkeit an, flüsterte ausatmend und im selben Moment das Pferd seines Lebenswillens loslassend, ein letztes Gebet. „Señor, mi alma está lista.“1
„Legt an!“
Aramis öffnete die Augen, richtete seinen Blick aber nicht nach vorne in die Mündungen der Gewehre, die seinen bevorstehenden Tod ankündigten, sondern stattdessen zum klaren Winterhimmel hinauf, der bereits die Helligkeit und Hoffnung des Frühlings in sich trug. Sein Blick blieb an der Spitze des Kirchturmes hängen, der sich stark und fest über dem Kreuzgang erhob. Das alte, goldene Kreuz leuchtete im Sonnenlicht und versprach ihm ewigen Frieden. Er lächelte.
„Feuer!“
Eine Gewehrsalve krachte über das alte Kloster.
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