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Herz und Seele Frankreichs

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Aramis Athos D'Artagnan Porthos Tréville
31.03.2020
01.06.2020
24
69.713
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03.05.2020 1.924
 
Es war kurz nach Mitternacht, als der König Aramis aus der Bar holte. Er und der Rest der „Unzertrennlichen“ hatten ihren ersten echten Erfolg der Musketiere gefeiert hatte. Sie hatten in einer überaus gelungenen Operation 3 Wehrmachtsoffiziere und mehrere Soldaten getötet und ohne eigene Verluste eine Aktentasche mit deutschen Truppenbewegungen sowie Listen mit Personalpapieren ranghoher Nazis erbeuten können. Sie alle waren euphorisch und überdreht gewesen, als sie beschlossen hatten, ihr Gelingen zu feiern und als sie von einer deutschen Patrouille aufgehalten und kontrolliert worden waren, konnten sie diese glaubhaft davon überzeugen, dass sie lediglich auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier gewesen waren. Es war ein wunderbarer, kurzweiliger Abend gewesen, voller Unbeschwertheit, die sie in Zeiten wie diesen so selten genießen konnten und im hellen Kontrast zu der Bürde des Krieges stand, die sie ansonsten zu tragen hatten.
„Ich brauche einen Scharfschützen! Jetzt!“, Aramis erkannte den drängenden Tonfall des Königs, als sie vor der Bar in der dunklen Gasse standen.
„Wie – jetzt?“, Aramis war verwirrt. Er hatte bereits ein wenig mehr als üblich getrunken und nahm Ludwig deswegen nicht besonders ernst.
„Jetzt heißt jetzt! Du hast 5 Minuten, um wieder nüchtern zu werden. Ich erwarte dich vorne an der Kreuzung…und Aramis: Kein Wort, zu niemanden, hörst du! Auch nicht zu Athos oder Porthos oder D’Artagnan, das ist ein Befehl!“, setzte der König in bitterernsten Ton nach, ohne näher auf sein Vorhaben einzugehen.
Aramis war auf der Stelle alarmiert. Wenn Ludwig von ihm verlangte, seine Waffenbrüder im Ungewissen zu lassen, dann musste es sich in der Tat um eine wirklich wichtige Sache handeln. Und so nickte er, auch wenn sich alles in ihm sträubte, seine Brüder anzulügen.
„Mein Gewehr?“, fragte er schließlich, wieder ganz der Soldat, der er war.
„Habe ich bereits geholt! Und nun beeile dich!“, sagte der König im Weggehen über seine Schulter.
Aramis seufzte und schüttelte den Kopf, als er Ludwig ein wenig ratlos hinterher blickte. Also ging er in die Bar zurück und verabschiedete sich von seinen Freunden mit vagen Andeutungen über eine amouröse Nacht. „Meine Herren! Der Höhepunkt dieser wunderbaren Nacht steht noch aus, ich verabschiede mich an dieser Stelle…!“
„Du bist eine Spaßbremse, weißt du das, mein Freund?“ polterte Porthos, zuckte aber lediglich mit seinen Schultern und widmete sich wieder dem äußert angeregten Kartenspiel vor ihm. Aramis hatte Glück, dass Porthos sich doch in einem eher fortgeschrittenen angeheiterten Zustand befand und so recht schnell mit seiner Erklärung zufrieden gab.
D’Artagnan, der gerade dem bedauernswerten Klavierspieler sein Herz voller Selbstmitleid über die unglückliche Liebe zu Constance, einer verheirateten Frau, ausschüttete, sah ihn nur verständnisvoll an und wünschte ihm das Allerbeste!
Lediglich Athos sah ihn durchdringend an und Aramis wusste, dass er ihm die plötzliche Liebesnacht nicht wirklich abkaufte. Aramis war ihm dankbar, dass er nichts weiter dazu sagte, sondern ihm lediglich knapp zunickte. Er wusste, dass Athos nicht weiter auf ihn eindringen würde, kannte er doch die Bürde eines Geheimnisses. Es könnte aber auch mit der zweiten – oder war es die dritte? - Flasche Wein zu tun gehabt haben, so genau wusste Aramis es dann doch wieder nicht.
Wenige Minuten später stieg Aramis in einen von sechs großen Lastwagen, deren Fracht und Ziel er nicht kannte. Sie fuhren in vollständiger Dunkelheit aus Paris, schalteten nur hin und wieder die Scheinwerfer ein und umgingen weiträumig jede Straßensperre oder Kontrollposten der Deutschen, auch wenn sie dafür immer wieder auf Feld- und Güterwege ausweichen mussten. Sie waren beinahe zwei Stunden unterwegs, als die Landschaft allmählich hügeliger wurde und Aramis konnte im schwachen Mondlicht die akkuraten Reihen von Weinstöcken erkennen. Irgendwann hatten sie so etwas wie ein kleines Tal erreicht, als der Wagenzug abrupt zum Stehen kam.
Aramis hatte kaum mit dem Fahrer gesprochen, da dieser sich voll und ganz auf die dunkle Fahrt hatte konzentrieren müssen und so wusste Aramis immer noch nicht, was das Ganze sollte, zumal Ludwig in einem der vorderen Lastwagen mitgefahren war. Als sie nun anhielten, sah Aramis den König aussteigen und auf ihn zukommen. Aramis nahm seine Gewehrtasche und stieg ebenfalls aus.
„Komm her!“, winkte Ludwig Aramis zur Rückseite des vorderen Lastwagens heran und deutete dem Fahrer, die Lichter einzuschalten. Ludwig öffnete die Ladeklappe und Aramis pfiff überrascht durch die Zähne, als er die Fracht nun zum ersten Mal im Schein der Lastwagenlichter sah.
„Du verstehst hoffentlich, wie wichtig es ist, dass niemand davon weiß, je weniger Beteiligte umso besser! Keiner darf davon Kenntnis haben und alles, was du hier siehst wirst du mit in dein Grab nehmen, verstehst du mich? Wenn der Krieg zu Ende ist, dann wird unser Volk all dies hier brauchen!“, machte der König Aramis die Bedeutung der Fracht mehr als deutlich klar. Aramis sah Ludwig ernst in die Augen und nickte schließlich seufzend.
„Ich schwöre! Was soll ich tun?“
„Du musst unter allen Umständen diese Straße und den Konvoi sichern! Geh ein Stück den Abhang hinauf und lass niemanden durch. Wir benötigen nicht mehr als vier Stunden und holen dich auf dem Rückweg ab.“
„Wer ist mein zweiter Mann vor Ort?“, wollte Aramis wissen.
„Es gibt keinen zweiten Mann!“, schüttelte Ludwig den Kopf, „Du bist auf dich allein gestellt!“
Aramis hob überrascht die Augenbraue, und auch wenn er normalerweise seine Aufträge im Zuge der Resistance-Missionen vollständig alleine ausführte, so war es völlig unüblich und widersinnig bei Operationen wie diesen, in denen der Scharfschütze spähen und im Notfall sichern sollte, niemanden in der Nähe des Sicherungspunktes zu haben, der den Befehl zum Schießen erteilen würde. Der Mann vor Ort wertete in der Regel die Informationen des Scharfschützen aus und entschied dann, ob es sich um eine Bedrohung handelte und ob der Scharfschütze eingreifen sollte oder nicht.
„Kein zweiter Mann, kein Funkkontakt!“, bekräftigte der König seinen Plan. „Du bist auf dich allein gestellt, jede weitere Person wäre ein Sicherheitsrisiko mehr gewesen, das ich nicht eingehen wollte! Ich hoffe du verstehst das angesichts…“. Er machte eine ausladende Bewegung über seine Schulter zu der offenen Lastwagentür hin.
Aramis biss für einen Moment die Zähne zusammen, nickte dann aber und nahm, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sein Gewehr und stieg den etwas steilen Hügel hinauf. Als er einen passenden Platz für seine Stellung gefunden hatte, von dem aus er den kleinen Talabschnitt überblicken konnte, waren die Lastwagen mit ihrer wertvollen Fracht bereits weitergefahren. Er wusste nun, was das Ziel der Lastwagen sein würde und grimmiger als üblich ging er in Deckung und platzierte sein Gewehr. Die Nacht war hell, der Mond schien und der Himmel war klar, im Osten bahnte sich bereits das Morgenrot der herannahenden Sonne seinen Weg. Aramis konnte mühelos die Straße und die Umgebung ausmachen. Als Scharfschütze war er gewohnt, lange bewegungslos an einer Stelle zu verharren und es fiel ihm auch in dieser lauen Sommernacht nicht schwer. Er spürte das feste, kräftige Gras der Haide unter seinem Bauch, er roch die Weinberge von der anderen Seite des Hügels und hie und da umwehte ihn auch der Duft von wildem Thymian und Lavendel, der sich wohl von einem der üppigen Lavendelfelder ausgehend von selbst ausgesät hatte. Die Grillen hatten ihr nächtliches Spiel noch nicht beendet und Aramis spürte die Seele seines Landes mit der seinen verschmelzen. Ein Gefühl tiefer Verbundenheit und Loyalität breitete sich wie warmer Wein in ihm aus und er wusste, dass der König richtig entschieden hatte. Aramis lächelte bei dem Gedanken, dass auch er einen kleinen Anteil daran hatte, dass Frankreich, möge der Krieg auch noch so lange dauern und sein Ausgang ebenso ungewiss sein, seine Geschichte bewahren würde und so die Identität der Menschen, die mit dieser Geschichte verwoben waren.
Bereits drei ereignislose Stunden später holte Ludwig ihn wie versprochen wieder ab. Als Aramis zu Ludwig in den Lastwagen stieg, lächelten sie einander an, denn sie wussten beide, dass das Herz und die Seele Frankreichs vor den Schergen des Dritten Reichs in Sicherheit war. Als sie schließlich Paris am späten Vormittag erreichten, nickten sie sich beim Auseinandergehen zu und sprachen nie wieder ein Wort über diese Nacht.
In der Tat hatte Aramis auch nur sehr selten an jenen Abend gedacht, spielte er doch im harten Kriegsalltag keine wirkliche Rolle. Manchmal jedoch, wenn die Wehrmacht durch Paris donnerte oder das Blatt sich zu wenden schien, wenn die Deutschen übermächtig wurden und die Resistance herbe Verluste hinnehmen musste, tröstete sich Aramis mit dem Gedanken, dass in einem verwinkelten Höhlensystem ein Geheimnis verborgen worden war, dessen der deutsche Moloch niemals würde habhaft werden können!
Umso fassungsloser machte es nun Aramis, dass die Ereignisse jener Nacht ihn eingeholt hatten und umso mehr erschütterte es ihn, dass Thernes überhaupt von der ganzen Aktion wissen konnte. Ihm dämmerte, dass er hier nicht aus blankem Zufall war, dass seine Gefangennahme von der Gestapo von langer Hand geplant und gewissenhaft durchgeführt worden war. Es war niemals um Athos und sein Wissen als Kommandant gegangen, niemals um den Stützpunkt der Garnison oder seine eigenen Scharfschützenstellungen. Und am allerwenigsten war es um den Aufenthaltsort von Ludwig gegangen. Aramis erkannte mit einem Schlag das größere Ganze der Geschehnisse und seine Beteiligung daran und die Erinnerung an seinen Vater durchflutete ihn voller Wehmut.
„Kenne deine Geschichte!“, hatte Henri D‘Herblay seinem Sohn immer wieder gepredigt, wenn er mit ihm durch Paris gegangen war, sie gemeinsam den Louvre besucht hatten oder einfach mit dem kleinen, alten Auto, das er bereits in den späten 20ern erstanden hatte, über Land gefahren waren.
„Nur wenn du deine Geschichte kennst, dann weißt du, wo du herkommst! Du bist verwoben mit der Geschichte deiner Ahnen und Urahnen, du stehst in einer Reihe mit ihnen und ob du es willst oder nicht, sie haben dir ihren Stempel aufgedrückt und prägen dein Leben und deine Identität im Hier und Jetzt. Du bist ebenso ein Sohn deiner Nation, ein Kind deiner Kultur wie du mein Sohn bist, Junge!“ hatte Aramis Vater ihm immer wieder eingetrichtert und auch wenn Aramis nicht die allerbesten Erinnerungen an seinen Vater hatte, so waren die Erinnerungen an die gemeinsamen Museumsbesuche echte Höhepunkte in der ansonsten eher problembehafteten Vater-Sohn-Beziehung gewesen. Aramis hatte es geliebt, sich die wunderbaren Bilder, Statuen und Kunstschätze im Louvre anzusehen, all die kostbaren Kunstwerke, gerettet und gesammelt durch den Lauf der Jahrhunderte, liebevoll gepflegt und für jeden sichtbar aufgestellt, quasi die Speerspitze nicht nur der französischen Kultur und Identität, sondern der gesamten Menschheit.
Als er in jener Sommernacht vor den offenen Türen des Lastwagens gestanden und genau diese Schätze des Louvres wiedererkannt hatte, die der König wild durcheinander gestapelt in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Museum gerettet hatte, hatte er gewusst, dass diese Fracht um jeden Preis beschützt werden musste. Die Erkenntnis, dass Thernes nun seine Klauen nach der Seele Frankreichs ausstreckte, traf Aramis wie der Schlag des Ochenziemers, hart und unerbittlich, doch diesmal zerriss der Schmerz seine Seele. Er presste frustriert die Augen und Zähne zusammen und grollte wie ein Wolf, der in der Falle saß. Und er wusste in diesem Augenblick mit absoluter Gewissheit, dass er Thernes nicht nachgeben durfte, denn die Konsequenzen wären völlig untragbar. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sein Versprechen einzulösen und das Geheimnis des Schatzes Frankreichs um jeden Preis zu beschützen! Dies hier war größer als das Leben seiner Brüder oder die Pläne der Resistance, größer als seine Liebe zu Anna oder sein Wunsch, mit ihr eine Familie zu gründen. Es ging nicht mehr nur um die Zukunft seines eigenen Lebens oder das seiner ungeborenen Kinder, sondern vielmehr um die Zukunft aller Kinder in Frankreich, um die Identität und die Lebensader einer Nation, die das Vergangene mit dem Zukünftigen verband. Und Aramis wusste in diesem Augenblick, dass er hier sterben würde!
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