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Herz und Seele Frankreichs

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Aramis Athos D'Artagnan Porthos Tréville
31.03.2020
01.06.2020
24
69.713
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30.04.2020 3.363
 
Constance musste sich mehr als zusammenreißen, um ihre tägliche Routine aufrecht zu erhalten, nachdem sie Aramis in der kleinen, kalten Zelle zurückgelassen hatte.
Immer öfter hatte sie in letzter Zeit die Gefangenen nach den Verhören gesäubert und ihnen unter dem Vorwand, dass das Reich nicht durch mangelnde Sauberkeit oder fehlende Integrität herabgewürdigt werden dürfe, zu essen und trinken gebracht. Niemals hatte sie mit den armen Menschen Französisch gesprochen, ihre Tarnung durfte unter keinen Umständen auffliegen, weil ein verzweifelter und hoffnungsloser Gefangener sie als treue Landsmännin anflehen würde, ihr zu helfen. Es war besser, wenn sie ihre Hilfe annahmen, um sie hernach als deutsche Hure zu beschimpfen. Es zerriss ihr aber jedes Mal das Herz und nur der Gedanke, dass ihre Arbeit hier von allergrößter Wichtigkeit für Frankreich war, ja sogar wichtiger als das Leben dieser Menschen, die von der Gestapo aufgegriffen worden und deren Leben verwirkt waren, hielt sie aufrecht.
Constance musste ihre immer wieder aufsteigenden Tränen hinunterschlucken, denn das Bild von Aramis, wie er zerschlagen und am Ende seiner Kräfte vor ihr gesessen hatte, hatte sich tief in ihr Herz eingebrannt. Am liebsten hätte sie ihm sofort und ohne Umschweife geholfen, doch sie wusste, dass sie einen kühlen Kopf bewahren musste! Dennoch war es das Schwerste, das sie jemals tun musste, Aramis in diesem Zustand zurück zu lassen und dabei zu wissen, dass die Hölle noch vor ihm lag.
Also hatte sie die Rolle gespielt, die sie von Anfang an gespielt hatte:
Constance hatte gelächelt, mit den Sturmmännern geschäkert und knusprige Croissants verteilt, die sie jeden Tag in aller Hergottsfrüh von einer kleinen Bäckerei, die es noch irgendwie schaffte, den Betrieb aufrecht zu erhalten, in das Hauptquartier mitgebracht hatte. Sie hatte mit ihrer täglichen Routine begonnen, ihre Post sortiert, eilige Depeschen an die richtigen Empfänger verteilt und den obligatorischen Kaffee gekocht. Den Verhörraum hatte sie bereits gestern wieder hergerichtet – Guter Gott, Aramis hatte so viel Blut verloren! - , und die blutgetränkten Tücher zum Waschen in die hauseigene Wäscherei in einen Nebentrakt gebracht.
Constance hatte kurz nach ihrem Eintritt Thernes schnell von der Notwendigkeit eines Raums überzeugt, den sie für die Archivierung der vielen Akten, die ständig neu hinzukamen, sowie für die Lagerung verschiedener Dinge, nutzen konnte. Er hatte ihr, auf ihren Vorschlag hin, diese Dachkammer zugewiesen, in der sie nicht nur Akten und Büromaterial aufzubewahren konnte, sondern – so hatte sie es Thernes erklärt – auch in aller Ruhe Decken, Tücher oder Thernes' Hemden lüften, schnell reinigen und aufbügeln konnte, umso mehr wenn hoher Militärbesuch ins Haus stand. Vor allem dieses Argument hatte dem Hauptkommissar eingeleuchtet und er ließ sie hier in ihrem kleinen Reich schalten und walten, ohne jemals selbst einen Fuß hierher gesetzt zu haben.
Das kleine Zimmer im Dachgeschoß des Klosters hatte drei kleine Gaupenfenster, von denen sie die zwei hinteren regelmäßig zum Lüften nutzte, um eben Tischdecken zum Trocknen oder staubige Wandfahnen für ein paar Stunden hinaus zu hängen. Das vorderste Fenster verwendete sie niemals, war es doch für das vereinbarte Notsignal reserviert, das sie dem König oder Treville schicken konnte, wenn sie dringend Hilfe benötigen würde. Sie wusste ohne Zweifel, dass Ludwig das Fenster, nun, da Aramis aufgeflogen war, beobachten lassen würde und dennoch hatte sie, als sie gestern Abend das große, rote Tischtuch mit den kleinen, markanten Hakenkreuzen hinaus gehängt hatte, ein Stoßgebet gen Himmel geschickt.
Constance war schlecht vor Sorge und Ungewissheit, dennoch zwang sie sich zur Ruhe und überlegte, welche Arbeiten sie noch verrichten musste. Sie wusste, dass sie bedächtig vorgehen musste und keine Aufmerksamkeit mehr erregen durfte. Dass sie Aramis in der alten Mönchszelle besucht hatte, war ausgesprochen riskant gewesen. Kleindienst hatte ihre dreiste Lüge, dass Dr. Rausch sie beauftragt hätte, geglaubt, aber sie durfte ihr Glück nicht noch weiter strapazieren.
Eine knappe dreiviertel Stunde später, als Constance die Treppe von ihrer Dachkammer hinunter ins Büro ging, sah sie acht Sturmmänner in voller Bewaffnung und sie wusste, dass ihr langsam aber sich die Zeit ausging!

Etwas früher, in den dunkleren Morgenstunden, trafen sich die Musketiere erneut im Büro von Treville. Die Stimmung war konzentriert und gespannt, jeder einzelne von ihnen bereitete sich auf die bevorstehende Mission vor wie auf eine Schlacht. Und das war es wohl auch, eine Schlacht um das Leben von Aramis.
Athos hatte versucht, ein wenig Schlaf zu finden, aber es war ihm nicht wirklich gelungen. In der Betriebsküche des Sanatoriums hatte er schließlich noch eine halbe Weinflasche gefunden und als er diese ausgetrunken hatte, hatte er ruhelos vor sich hin gedöst. Schlaf wird sowieso überschätzt, dachte er sich und stütze sich schwer auf die Lehne seines Sessels. Die Enthüllungen Trevilles am späten Abend hatten sie alle in tiefe Aufruhr versetzt und jeder von ihnen war anders damit umgegangen.
Porthos hatte nicht viel von seinen Gefühlen durchblicken lassen, aber Athos glaubte zu wissen, dass er einfach nur froh war, dass es eine echte Chance gab, Aramis aus dem Gestapo-Hauptquartier heraus zu bekommen. Als Kind der Straße war Porthos von klein auf Intrigen und Machtspiele der rivalisierenden Banden gewöhnt gewesen und es schien ihn nicht groß zu stören, dass Treville ihn nicht eingeweiht hatte. Für Porthos zählte allein das Resultat, nämlich die Befreiung Aramis'.
D‘Artagnan hatte das Geständnis von Treville, dass Constance bereits seit geraumer Zeit als Agentin im Gestapo-Hauptquartier tätig war, nicht besonders gut aufgenommen und  Athos verstand die Gefühlsflut, die jetzt wohl über den jungen Mann rollte nur allzu gut. Es war immer bitter, von einem Menschen, den man bedingungslos liebte, hintergangen zu werden. Im Unterschied zu seiner Ex-Frau war Constance aber ein Mensch, der das Wohl anderer immer über ihr eigenes Wohl stellte, der von ganzem Herzen gut handelte, egal welche Konsequenzen es für sie selbst hatte. Athos wusste, dass auch D‘Artagnan irgendwann erkennen würde, dass es bei der Sache niemals um das Vertrauensverhältnis und die Liebe zwischen Constance und ihm gegangen war. Er war sich sicher, hätte sie es gekonnt, so wäre d'Artagnan der erste gewesen, der davon erfahren hätte. Athos konnte sich nur zu gut vorstellen, wie schwer es Constance gefallen sein musste, dieses Geheimnis während all der Wochen und Monate, die sie schon mit d'Artagnan zusammen war, zu bewahren. Schwere Zeiten wie diese erforderten große Opfer von jedem von ihnen und er war sich sicher, dass D‘Artagnan dies früher oder später verstehen und ihr würde verzeihen können. Er selbst hatte es bereits getan, noch während Treville die Sache erklärte hatte.
Schwieriger war es da, Treville zu verzeihen! Athos musterte seinen Hauptmann von der Seite, er sah die tiefen Furchen der Sorge, die sich in den letzten Stunden vertieft hatten und die Traurigkeit, die sich über Trevilles Gesicht zog. Athos verspürte einen Stich, wenn er daran dachte, dass der König und der Hauptmann nicht wenigstens ihn eingeweiht hatten, aber der Stratege in ihm verstand diese Entscheidung leider nur allzu gut. Je weniger Beteiligte, umso weniger Risiko. Trotzdem, wir sind die Musketiere, er hätte uns mehr vertrauen können! Athos schüttelte seinen Kopf, er würde später Zeit haben, sich mit Fragen der persönlichen Befindlichkeiten auseinander zu setzen, jetzt mussten sie sich auf die Umsetzung des Rettungsplans konzentrieren.
„Porthos, was genau hast du nicht verstanden?“, murrte er ungeduldig, weil sein Bruder zum wiederholten Mal nachfragte, wie das Zeitfenster im Rettungsplan denn genau zu berechnen sei. Athos war ebenso wie Porthos klar, dass der Plan äußerst unsicher und riskant war, aber sie hatten einfach nichts Besseres!

D'Artagnan stand am Fenster und hörte nur mit halben Ohr dem Gespräch zwischen Athos und Porthos zu. Er sah sein Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe, aber eigentlich sah er durch sich hindurch. Vor seinem Auge tauchte das Bild Constance's auf. Wieso nur hatte es so weh getan, als Tréville ihnen von Constance, ihrer Rolle in dieser ganzen Sachen und der Heimlichtuerei berichtet hatte? Sollte er nicht stolz darauf sein, mit so einer tapferen Frau zusammen zu sein? Er war es, das wusste er, denn ihr Mut, ihre Entschlossenheit und ihre absolute Loyalität für eine Sache waren mit die Gründe gewesen, wieso er sich Hals über Kopf in Constance verliebt hatte. Wieso tat es aber dennoch so schrecklich weh? Der brummige Bariton von Porthos riss ihn aus seiner Gedankenwelt und ihm wurde schlagartig wieder klar, dass jetzt nicht die Zeit war, über all die Dinge, die Constance ihm verheimlicht hatte, nachzudenken. Es ging nur darum, Aramis zu befreien. Aber wie um alles in der Welt sollte Constance aus der Sache herauskommen? Was, wenn die Nazis dahinter kamen, dass es Constance gewesen war, die Aramis zur Flucht verholfen hatte? Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab und ließ ihn kurz frösteln. Trotzig wischte sich d'Artagnan mit dem Handrücken über seine Augen, die verräterisch feucht geworden waren, ehe er sich zu seinen Brüder umdrehte.

„Weißt du, mon ami,“ sagte Porthos schneidend, „ich habe es durchaus verstanden, wie es gelaufen ist, so begriffsstutzig bin ich nun auch wieder nicht. Constance hängt eine Tischdecke aus dem Fenster, Ludwig's Mittelsmann, der seit gestern das Hauptquartier bewacht, sieht es und gibt Ludwig ein Zeichen, der wiederum schwenkt ein rotes Lämpchen im höchsten Zimmer des Westflügels im Hauptgebäude als Signal für Treville. Wir wissen, dass Constance bereit ist und auch, dass sie den Notfallplan, der für genau solche Situationen ausgearbeitet wurde, kennt.“ Porthos warf d'Artagnan einen kurzen Blick zu. „Sie muss jetzt nur noch den Zeitpunkt abwarten, bis sie Aramis raus schleusen kann.“
Athos nickte. Er wusste, dass Porthos noch nicht fertig war und das Finale erst noch kommen würde.
„Also, Messieurs.“ Porthos machte eine kurze Pause um erst Athos, dann Tréville einen grimmigen Blick zuzuwerfen. „Woher bitteschön sollen wir denn nun genau wissen, wann Constance Aramis aus dem Hauptquartier schaffen kann und wo wir auf ihn treffen werden? Sie wird ihn wohl kaum in eine rote Decke hüllen und am höchsten Fahnenmast des Hauptquartiers hissen!“ zischte Porthos und funkelte Athos böse an.
Athos, der in Porthos lesen konnte wie in einem offenen Buch und hinter dem bissigem Geknurre nichts weiter als die blanke Angst um Aramis sah, schüttelte leicht den Kopf. „Nein, wohl kaum. Ich glaube nicht, dass die Fahnenstange Aramis' Gewicht tragen könnte.“ Er trat einen Schritt auf Porthos zu und fuhr in ruhigem Ton fort. „Das Wo kennen wir, eine Seitengasse auf der Hinterseite der Kirche, das Wann kennen wir nicht! Constance hat zwar im Laufe der Zeit die Verhörpläne einigermaßen durchschaut, ihrer Meinung nach werden Gefangene in der Regel nicht vor 6 Uhr in der Früh weiter befragt. Irgendwas mit deutschem Regelwerk und so. Aber sie weiß nicht, wann sie die Gelegenheit haben wird, Aramis raus zu schaffen, wir müssen also einfach geduldig bleiben und in der Nähe des Haupttors der Gestapo warten, bis Constance die Tischdecke wieder einholt, dann wissen wir, dass Aramis auf dem Weg ist.“, versuchte nun Athos Porthos nochmal den Ablauf zu erklären. „Wir geben ihr bis 15 Uhr Zeit und halten solange einfach die Stellung!“
„Und wenn 15 Uhr vorbei ist? Was dann?“
Athos schaute Porthos an und scheute sich, seinem Bruder darauf eine Antwort zu geben. Er spürte, wie sich die Furcht wie ein Schraubstock um sein Herz legte und sich immer enger zusammen zog.
„Wenn er bis 15 Uhr nicht da ist, dann wird er nicht mehr kommen!“, antwortete Treville behutsam anstelle von Athos. Einen Moment lang herrschte tiefe Stille, zu schwer wog das Gesagte auf den Seelen der Männer, für die Aramis mehr war ein ein Kämpfer der Resistance und Waffenbruder. Keiner von ihnen mochte sich vorstellen, dass dieser Fall eintreten könnte.
„Aramis kommt immer!“, antwortete Porthos leise, aber bestimmt in die Runde und blickte dabei unentwegt in Athos‘ Augen.
Athos spürte die tiefe Liebe und Unerschütterlichkeit, die dessen Blick ausstrahlte, und trat nahe an ihn heran. Er legte sanft seine beiden Hände auf Porthos Schulter. „Ich weiß, mein Freund, das wird er.“ Athos hoffte, dass er sich zuversichtlicher anhörte als er sich gerade fühlte.
D‘Artagnan war ebenso an sie herangetreten, auch ihm konnte Athos die Erschütterung, die Trevilles Worte bei ihnen allen ausgelöst hatte, deutlich ansehen. Der junge Mann legte seine Hände auf die Schultern seiner Freunde und sie bildeten einen kleinen, engen Kreis. Sie hielten einander für einen kurzen Augenblick und die Lücke zwischen ihnen war in diesem Moment umso schmerzlicher.
„Wie war das bei Dumas? ‚Einer für alle und alle für einen‘, nicht wahr?“, versuchte Athos ihnen und sich selbst Hoffnung zu geben und seine Mundwinkeln verzogen sich ein wenig nach oben. Seine Brüder begannen nun auch zu lächeln. Sie nickten einander zu und lösten sich innerlich ein wenig gestärkt aus der brüderlichen Umarmung.
Athos sah, dass Treville ihnen mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck zugesehen hatte. Treville schien mit ihnen diesen feierlichen Eid geschworen zu haben und Athos wusste, dass auch ihr Hauptmann von ganzem Herzen an ihre Mission, Aramis zu befreien, glaubte. Er nickte nun auch Treville zu und noch während er ihm in die Augen schaute, zeigte ihm ein weiterer Blick nach draußen, dass es langsam hell wurde. Athos spürte leichte Hektik in sich aufsteigen;  die Stunde der Wahrheit rückte näher und er wusste, dass es jetzt um alles oder nichts ging. „Meine Herren! Ich denke, wir sollten starten! Porthos, hole den Wagen und warte am zweiten Haupttor auf uns. D‘Artagnan, du holst den Rest, wir treffen uns dann auf der Straße!“
Ohne weitere Fragen setzen sich Porthos und D‘Artagnan in Bewegung  und verließen das Zimmer. Im Weggehen drehte sich Porthos noch einmal kurz zu Athos um.
„Vergiss deine Pistole nicht!“, erinnerte er ihn.
Athos nickte. „Danke, ich vergesse sie nicht. Sie ist noch in Aramis Zimmer, ich habe sie ihm vorgestern zum Nachjustieren gegeben, der Abzug hatte sich ein wenig verklemmt.“
Porthos lächelte ihn wissend an, niemand konnte Waffen besser behandeln als ihr Scharfschütze.
Athos wartete, bis die Tür hinter seinen Brüdern ins Schloss gefallen war und wandte sich an Treville.
„Sorge dafür, dass sich Dr. Lemay  bereit hält! Ich habe keine Ahnung, in welchem Zustand Aramis sein wird, aber ich gehe vom Schlimmsten aus“, sagte Athos mit leiser Stimme. Verdammt, hoffentlich sind wir nicht zu spät!
Treville nickte. „Werde ich machen! Und Athos – es wird klappen!“
Athos gab als Antwort lediglich ein Brummen von sich und ging rasch aus dem Zimmer, um so schnell wie möglich seine Pistole zu holen. Er trabte im Laufschritt den schmalen Gang hinunter bis zu Aramis Zimmer und öffnete mit Schwung die Tür. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
„Anna!“, sagte er überrascht. Die Königin, wie er sie heimlich immer nannte, war bei seinem Eintreten von Aramis‘ Bett hochgeschreckt und setzte sich verlegen auf. Sie musste wohl geweint haben, denn ihre Augen hatten einen verdächtig roten Rand.
Athos wusste, dass Anna seit jener Nacht im Konvent hin und wieder heimlich bei Aramis übernachtet hatte, aber es war klar, dass sie stets dem Risiko einer Entdeckung ausgesetzt gewesen waren. Sie war meistens mitten in der Nacht über die Hintertreppe des Pavillons in Aramis Zimmer gekommen und bereits vor dem Morgengrauen wieder verschwunden. Er hatte sich von Aramis widerwillig breit schlagen lassen, die rückseitige Tür in diesen Nächten nicht zu versperren, aber Athos war es äußerst unangenehm gewesen, immer wieder in diese Affäre hineingezogen zu werden. Gott, was war er wütend gewesen, als er mitbekommen hatte, was im Konvent passiert war! Athos bekam auch jetzt wieder Magenschmerzen, wenn er an all die Probleme dachte, die diese Affäre nach sich ziehen könnte. Ludwig war zweifelsohne ein schwieriger Mann, kapriziös, narzisstisch und nur allzu sehr von sich selbst überzeugt. Athos war klar, dass Anna jahrelang unter diesen Seiten ihres Ehemanns gelitten hatte, besonders da Ludwig keinen Hehl daraus gemacht und sich in diversen Bordells vergnügt oder stets außerehelichen Beziehungen hingegeben hatte. Auf der anderen Seite war Ludwig einer der einflussreichsten Männer Frankreichs und es war klar, dass er nach dem Krieg in die Führungselite des Landes aufsteigen würde. Ludwig war ehrgeizig und zielstrebig, mit einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit, die allen Männern der Macht gemein war, und es war absolut klar, dass niemand ihm irgendetwas würde wegnehmen können – und schon gar nicht seine Frau. Athos wusste nicht, wie weit Ludwig gehen würde, wenn er von der Affäre erfahren würde, aber es wäre sicher nicht besonders angenehm.
Auf der anderen Seite kam Athos nicht umhin eingestehen zu müssen, dass Aramis die Beziehung zu Anna gut getan hatte. Die Liebe zu dieser Frau hatte seinen Freund verändert, seine tiefe Ruhe- und Rastlosigkeit war ebenso wie seine unstete Art etwas gedämpft, er schien durch die Bindung zu ihr mehr in sich selbst zu ruhen und sich mit seinen inneren Dämonen zu versöhnen.
„Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass du hier bist, bitte entschuldige! Ich wollte nur noch meine Pistole holen, sie muss hier irgendwo sein...“
„Nein, nein, das macht nichts, wirklich! Ich...Ludwig hat erzählt, dass eure Mission schief gegangen ist...und dass Aramis...“, sie brach mitten im Satz ab und Athos sah, wie ihre Augen wieder verdächtig glitzerten.
Er seufze und schüttelte unwillig den Kopf. Trotzdem setzte er sich neben sie auf das Bett. Anna war eine wunderschöne Frau, selbst in ihrem aufgelösten Zustand. Ihr fragiler Körperbau täuschte jeden, der sie nicht gut kannte, über ihre innere Stärke und Athos wusste genau, warum Aramis sich in sie verliebt hatte.
Was soll ich ihr nur sagen?, dachte Athos ein wenig hilflos, er war bei Gott der letzte Mensch auf dieser Welt, der einem leidenden Liebenden würde helfen können. Aber er verstand die große Sorge und Angst, die Anna wohl ebenso empfand wie er und im Unterschied zu ihm hatte sie niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte – außer ihn.
„Anna, wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Aramis da heraus zu bekommen. Wir haben eine guten Plan und ob du es glauben kannst oder nicht, Constance ist als Agentin vor Ort und das könnte tatsächlich die Rettung für Aramis sein.“
„Ja, ich weiß.“
„Was, du auch?“, entfuhr es Athos. Unglaublich! Für einen kurzen Moment flutete erneut der Ärger über diese Geheimniskrämerei durch Athos, aber es war ihm sehr wohl klar, dass Anna als Gattin des Königs natürlich über Constance Rolle Bescheid gewusst hatte. Er erinnerte sich dumpf, dass Anna und Constance sich bereits seit ihrer frühen Kindheit kannten, lange bevor einer von ihnen Constance überhaupt erst kennengelernt hatte, und dass beide Frauen seit jeher eine tiefe Freundschaft verband. Er vermutete, dass Constance überhaupt nur durch Anna in die Resistance-Bewegung hineingerutscht war und es war daher  offensichtlich, dass sie nicht nur keine Geheimnisse untereinander hatten, sondern dass Anna natürlich auch darüber Bescheid wusste, wenn Constance für die Resistance in eine gefährliche Doppelrolle schlüpfte. Zumindest das hätte ihm in dieser ganzen Angelegenheit eigentlich klar sein müssen. „Sei's drum, vergiss es,“ ergänzte er schnell.
„Du musst ihn mir wieder bringen! Ich werde wahnsinnig, wenn ich daran denke, was die Gestapo ihm antun könnte, ich ertrage es kaum...“. Wieder brach Anna mitten im Satz ab und Athos konnte mehr als deutlich ihre Verzweiflung sehen.
„Anna! Es geht uns allen so, glaub mir, aber es hilft Aramis nicht, wenn wir den Kopf verlieren. Er verlässt sich da draußen auf uns und wir werden alles tun, um ihn zurück zu bringen!“, bemühte sich Athos um einen ruhigen und sicheren Tonfall. „Versuche, Ruhe zu bewahren...“, Athos wand sich innerlich wie eine Schlange bei seinem nächsten Satz, „Aramis wird dich brauchen, wenn er wieder da ist!“
Anna nickte ernsthaft und Athos war beinahe ein wenig stolz auf sie, als er bemerkte, wie sie tief durchatmete und sich innerlich straffte. Er stand vom Bett auf und hielt ihr die Hand hin, um sie hoch zu ziehen. Anna lächelte tapfer und Athos legte die Hand auf ihre Schulter, wie er es zuvor bei Porthos getan hatte. Schweigend blickten sie einander an und als Athos das Gefühl hatte, dass Anna sich beruhigt hatte, fing er an, sich nach der Pistole umzusehen. Er fand sie auf auf der kleinen Kommode, eingewickelt in ein Stofftaschentuch. Er nahm die Pistole heraus und verstaute sie in seinem Holster.
„Ich muss jetzt gehen!“ Athos hatte das Gefühl, als ob Anna ihm noch etwas sagen wollte, aber als sie weiter schwieg, nickte er ihr ein letztes Mal  zu und wandte sich zur Tür, um seinen Brüdern zu folgen.
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