Herz und Seele Frankreichs
Kurzbeschreibung
Paris 1944. Unter dem Decknamen „Die Musketiere“ agieren les inséparables als der militärische Arm der Résistance. Eines Tages jedoch läuft eine Mission völlig aus dem Ruder und die Gestapo nimmt Aramis gefangen. Wird es Athos, Porthos und D‘Artagnan gelingen, ihren Bruder aus den Fängen der furchtbarsten Organisation des Deutschen Reichs zu befreien? Für die Musketiere beginnt ein tödlicher Wettlauf gegen die Zeit...
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P16 / Gen
Aramis
Athos
D'Artagnan
Porthos
Tréville
31.03.2020
01.06.2020
24
69.713
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23.04.2020
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„Aramis!“
Sie rief leise und sanft, aber beharrlich seinen Namen. Der frühe Morgen hatte ein wenig Hellgrau durch das Fenster in die kleine Zelle gebracht, durch das dünne Glas war ein erstes, frohgemutes Vogelgezwitscher zu hören, das den nahen Frühling kündete. Aramis reagierte nicht, und sie war sich sicher, dass, auch wenn Thernes und seine Bluthunde ihn tatsächlich in Ruhe gelassen hatte, die wenigen Stunden nicht wirklich zur Erholung ausgereicht haben konnten. Im Gegenteil, vermutete sie, er dürfte leichtes Fieber haben, denn seine Stirn war verschwitzt und unter der, von den Schlägen dieses Drecksacks Kleindienst verfärbten Haut, sah sie seine Wange verdächtig rot leuchten. Seine mittlerweile völlig verdreckten Bandagen um seine Handgelenke hatten sich stellenweise aufgelöst und seine Hände schienen angeschwollen zu sein.
„Aramis!“, versuchte sie erneut, ihn in die Wirklichkeit zurück zu locken. Er reagierte wieder nicht, also hockte sie sich neben ihn auf den Boden. Sie war erleichtert, als er endlich die Augen öffnete. Sie sah, wie schwer es ihm fallen musste, als sich ein winziges Lächeln auf seine Lippen zauberte. Sie konnte in diesem Moment nicht anders als ihm mit der Hand zärtlich und fürsorglich über seine von Blut und Wasser verklebten Locken zu fahren und schließlich sanft auf seine blessierte Wange zu legen. Aramis schloss wieder die Augen und tiefes Mitgefühl erfüllte ihr Herz, als er in einer absolut kindlichen Gebärde seinen Kopf in ihre Geste hineindrückte. Er schluchzte unterdrückt auf, sie hatte das Gefühl, dass die Wärme ihrer Hand und ihrer alleinige Anwesenheit wie ein Dammbruch all seine Angst und Verzweiflung ungehindert hervorbrechen ließ.
Sie beugte sich noch weiter zu ihm vor und es fühlte sich als das einzig Richtige an ihm einen Kuss auf die blutverkrustete Stirn zu geben.
„Oh Aramis! Was haben sie dir nur angetan? Ich bin ja da, schsch…, alles gut, alles wird gut…irgendwie!“, versuchte Constance jetzt Aramis zu beruhigen und sie kam sich vor wie eine Mutter, die ein völlig aufgelöstes Kind beruhigt. Sie streichelte seinen Kopf und legte dann ihren Arm vorsichtig auf seine Schulter, wobei sie die Schauer, die seinen Körper durchliefen, deutlich spüren konnte. Er wirkte so hilflos, dass es sie in ihrem Herzen zutiefst schmerzte!
Sie wusste, dass er sie gestern bei seiner Ankunft in der kleinen Aula augenblicklich erkannte haben musste, ihre Blicke hatten sich sogar für Sekunden gekreuzt, aber zum Glück war Aramis geistesgegenwärtig genug gewesen, um durch sie hindurch zu schauen. Er hatte der Gestapo auch nicht nur den leisesten Hinweis darauf zu geben, dass sie einander bereits kannten. Also hatte auch sie sich ihren Schock der unerwarteten Begegnung nicht anmerken lassen und war wie immer in diesen Situationen geschäftig vorangegangen, um die Aufnahme des jüngsten Gefangenen akribisch zu dokumentieren. Constance hatte jedoch innerlich gebebt, denn sie wusste in diesem Moment, dass die Mission, von der ihr D‘Artagnan gestern erzählt hatte, gescheitert sein musste. Alles in ihr hatte sich zuammengekrampft vor Sorge um ihn, aber noch vielmehr um Aramis, denn sie kannte den Weg, der ihm bei der Gestapo vorbestimmt war hatte sie im letzten Jahr bereitsallzu viele gleiche Schicksale bezeugen und dokumentieren müssen.
Nur sehr wenige Menschen wussten, dass Constance's Großmutter mütterlicherseits eine Deutsche aus dem Elsass gewesen war, die ihrer kleinen Enkelin ein beinahe akzentfreies Deutsch mitgegeben hatte. Constance hatte es geliebt, sich in dieser fremden Sprache mit ihrer Oma zu unterhalten, auch wenn ihre Mutter, die natürlich ebenso gut Deutsch sprechen konnte, dies nicht besonders billigte. Die Zeiten waren schwer und die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland waren auch damals mehr als nur angespannt gewesen. Constanzes Mutter hatte alles daran gesetzt zu verheimlichen, dass ihre Wurzeln im Grunde nicht nur französisch waren und als die Großmutter schließlich verstorben war, verstummte auch das unbeschwerte Plaudern in der anderen Sprache. Constanze hatte aber immer heimlich deutsche Literatur gelesen und es sogar hie und da geschafft, lose Beziehungen mit Freunden deutscher Herkunft zu haben. Auf diese Weise hatte sie die Sprache in sich lebendig gehalten, auch wenn ihr Herz durch und durch für die französische Kultur und das französische Volk schlug.
Nichtsdestotrotz beherrschte sie die Sprache gut genug, um später vom König selbst – Anna zählte mittlerweile zu ihrem engsten Freundeskreis – für diese spezielle Mission rekrutiert zu werden. Über viele verschiedene Ecken und sehr gute Beziehungen war es Ludwig gelungen, sie als Sekretärin im Gestapo Hauptquartier zu positionieren. Die wirklich gut gefälschten Papiere und Empfehlungsschreiben hatten sie damals über jeden Verdacht erhaben gemacht, wobei sie allen Außenstehenden erzählte, sie hätte einen Posten in der Handelsdelegation der Deutschen. Da Constance zu diesem Zeitpunkt schon zutiefst unglücklich über die Ehe mit einem mittelmäßig erfolgreichen Modehändler war, hatte sie keinen Augenblick gezögert, das Risiko einzugehen und sich als Spionin der Résistance, der sie von Anfang an mit Leib und Seele verpflichtet war, in die Höhle des Löwen zu wagen. Ihr Mann war zwar kein ausdrücklicher Kollaborateur, aber ein durchaus gewiefter Kaufmann mit Sinn für Geschäfte, und Constance war klar, dass er ihre neue Position als Chance gesehen hatte, seinem Modehandel in Zeiten des Krieges den nötigen Aufschwung zu verschaffen. Er hatte also, wie immer völlig desinteressiert an ihren Vorhaben, keine Einwände gehabt und es war ein Leichtes gewesen, ihn auch hinsichtlich ihrer oftmals merkwürdigen Arbeitszeiten zu täuschen.
Constanze war überrascht von sich gewesen, wie professionell es ihr gelungen war, im Hauptquartier die naive Sekretärin zu spielen. Aber sie konnte nicht verleugnen, dass sie immer wieder kurz davor gestanden war, alles hinzuschmeißen und abzutauchen. Die Schicksale der Menschen, die in die Fänge der Gestapo geraten waren, berührten sie jeden Tag aufs Neue bis in die tiefsten Regionen ihrer Seele, musste sie doch sämtliche Dokumente und im allermeisten Fall die dazugehörigen Totenscheine ausfüllen und archivieren. Darüber hinaus hatte sie gezielt ihren Charme eingesetzt, um das Vertrauen der Sturmmänner und sogar Thernes zu gewinnen. Ein Kuchen im rechten Moment hier, ein angenähter Knopf da, Wünsche von den Gesichtern abgelesen, noch ehe die Männer sich ihrer bewusst waren – Constance hatte sich geschickt zu einem unentbehrlichen Eckpfeiler des Betriebs des Gestapo-Hauptquartier gemacht und jeder in dem Gebäude verließ sich auf ihr Organisationsgeschick und ihre starken Nerven zur rechten Zeit.
Die Nazis hatten sich im Laufe der Zeit nicht einmal mehr die Mühe gegeben, ihr Treiben vor Constance zu verheimlichen oder schönzureden, da sie stets so tat, als würde sie diskret und professionell darüber hinweg sehen. In Wahrheit litt sie massiv und nur der Gedanke an das größere Ganze, dass es eine freie Welt gab, für die es sich lohnte all diese seelische Mühsal und Qual auf sich zu nehmen, hielten sie auf ihrem Posten und die Informationen, die sie im Laufe der Zeit zusammengetragen und vorsichtig weitergeleitet hatte, hatten sich für die Résistance immer wieder als unbezahlbar herausgestellt.
Der erste echte Einschnitt in ihre gefährliche Mission war gekommen, als sie D‘Artagnan, mittlerweile Mitglied der Musketiere, kennen und lieben gelernt hatte. Das überschäumende Temperament dieses jungen Mannes gepaart mit Scharfsinn und weitblickender Intelligenz, wenn man bedachte, dass er als Sohn eines Bauern aus der tiefsten Provinz nach Paris gekommen war, hatten sie schneller als ihr lieb war gefesselt und sie hatte sich wohl vom ersten Moment an in ihn verliebt. Durch D‘Artagnan hatte sie auch Athos, Porthos und Aramis besser kennen gelernt. Die Unzertrennlichen, ein stehender Begriff in den Kreisen der Résistance, wussten zwar über ihre Mitgliedschaft in der Combat im Umkreis des Königs und Anna Bescheid, aber sie hatten keinen blassen Schimmer über ihre wahre Tätigkeit!
Zu Constance Leidwesen war die Affäre mit D‘Artagnan immer wieder von ihrer schwierigen Ehe überschatten gewesen und es war ihr bis zum heutigen Tag nicht wirklich gelungen, eine Entscheidung zu treffen. Sie fühlte sich dem Versprechen, dass sie Bonacieux vor Gott und der Welt gegeben hatte verpflichtet, aber sie hatte bis zu dem Zeitpunkt, in dem D’Artagnan wie ein Orkan in ihr Leben hineingestürmt war, nicht gewusst, was es bedeutete jemanden mit jeder Faser seines Seins zu lieben. Und nun fühlte sie sich auch dieser Liebe verpflichtet, mehr noch, sie wusste mit Gewissheit, dass es eigentlich D’Artagnan hätte sein sollen, dem sie das Versprechen der Ehe bis dass der Tod sie scheidet hätte geben sollen. Aber der Krieg und die Erkenntnis, dass das Leben sich leider nicht allzu oft an seine Verheißungen hält, hatten sie ebenso ernüchtert, wie die beinahe krankhafte Eifersucht Bonacieuxs und seinem Willen, sie um keinen Preis der Welt gehen zu lassen. Er hatte die Art der Beziehung zwischen D’Artagnan und Constance sehr schnell durchschaut und ihr unmissverständlich klar gemacht, dass ihr Platz an seiner Seite war.
Naturgemäß wussten nur eine Handvoll Menschen von dem Plan, sie als Agentin in das Gestapo-Hauptquartier zu schicken, der König selbst, Anna und Treville. Sie musste ihnen später, als klar war, dass sie sich in das jüngste Mitglied der Musketiere verliebt hatte, hoch und heilig versprechen D’Artagnan nicht einzuweihen und es fiel ihr schwer, ihn immer wieder über ihre wahre Tätigkeit anlügen zu müssen. Ihre Beziehung war jedoch nicht von konstanter Natur, sondern ständig geprägt von Phasen der Trennung, wenn sie krampfhaft versuchte, ihrem Versprechen Bonacieux gegenüber gerecht zu werden, um dann doch wieder ihrem Herzen und der Liebe zu D‘Artagnan zu folgen. Die Frage nach ihrem Arbeitsplatz rückte da klarerweise eher in den Hintergrund und D’Artagnan gab sich mit ihrer „offiziellen“ Erklärung, dass sie aufgrund der Kontakte ihres Ehemannes Sekretärin in der deutschen Handelsdelegation war, zufrieden.
Die Gestapo wiederum hatte keine Kosten und Mühen gescheut, Constance und ihr Leben gründlich zu durchleuchten. Sie hatten sie in den ersten Monaten ununterbrochen beschattet, um herauszufinden, ob sie die Person war, die sie zu sein behauptete. Der Hauptkommissar war in jeder Beziehung äußerst misstrauisch und er wäre ein Narr gewesen, sich lediglich auf Empfehlungsschreiben zu verlassen. Die Gestapo-Agenten waren äußerst vorsichtig vorgegangen, dennoch war in dieser Hinsicht die Résistance schlauer gewesen. Der König und Treville hatten mit solch einer Maßnahme gerechnet und entsprechend vorgesorgt. Wenn Constance sich mit Anna oder Ludwig traf, verließ sie das Haus, in dem sich die Bonacieuxs eingemietet hatten, durch einen Kellergang im 2. Untergeschoss, der sich über 3 weitere Häuser erstreckte. Treville persönlich hatte die Verbindung zwischen den Häusern geschlagen, als klar war, dass alle 3 Häuser tiefe Keller hatte. Nach dem Durchbruch hatte er eine schmale Holztür eingebaut, die er zur Sicherheit von jeder Seite mit Regalen getarnt hatte. Auf diese Weise war es Constance möglich, das Haus spätabends zu verlassen und auch wieder zurückzukehren, ohne dass es die Beschattungseinheit der Gestapo mitbekommen hätte. Treville wusste das genau, denn er hatte mit Constance das Szenario immer wieder durchprobiert, während er die Agenten im Visier gehabt hatte. In 5 Monaten hatten sie kein einziges Mal ihren Posten verlassen, außer Constance war in der Früh aufgetaucht und geradewegs zum Hauptquartier gegangen. Und jeden Tag hatten sie Thernes berichtet, dass nichts Ungewöhnliches oder Verdächtiges an Fräulein Konstanze zu bemerken sei.
Constance ahnte, dass Aramis von ihrem unerwarteten Auftauchen völlig überrascht sein musste, wusste er doch nichts von ihren Geheimnissen. Sie drückte ihn einfach weiter sanft an sich und als er sich wieder ein wenig gefasst hatte, half sie ihm dabei, sich aufzusetzen. Jede Bewegung schien ihn zu schmerzen, denn er stöhnte leise und schaffte es kaum, sich auf seinen Händen abzustützen. Als er endlich halbwegs gerade vor ihr saß, nahm Constance seine beiden Hände und legte sie vorsichtig in ihren Schoß. Sie löste die blutigen Bandagen so gut es ging, immer wieder musste sie stärker als ihr lieb war anreißen, um den Stoff von den Blutkrusten zu lösen. Aramis verzog lediglich das Gesicht, schaffte es aber ansonsten still zu halten. Seine Wangen waren an den wenigen Stellen, die nicht von dunklem Purpur überzogen waren, tatsächlich gerötet und Constance sah den fiebrigen Glanz in seinen Augen. Anschließend wusch sie seine Wunden mit Wasser aus einem mitgebrachten Lavour aus, stillte hie und da eine frische Blutung und faschte die geschwollenen Hände schließlich wieder ein. Sie redeten während der Prozedur kein Wort, aber Constance bemerkte, dass Aramis sie ununterbrochen mit einer Mischung aus völliger Verwunderung und tiefster Dankbarkeit angeschaute.
Die Beziehung zu Aramis war für Constance von Beginn an geprägt von freundschaftlicher Heiterkeit, Aramis' berühmten Charme allerdings war sie nie so verfallen wie zahlreiche andere Frauen, die sie kommen und gehen sah. In seinem Bekanntenkreis galt Aramis als Frauenheld, und Constance konnte das durchaus verstehen, sein attraktives Äußeres und charmantes Verhalten sprachen für sich. Umso überraschter war sie gewesen, als ihr Anna vor vier Monaten erzählt hatte, dass sie mit ihm eine Affäre begonnen hatte. Constance war zuerst besorgt gewesen, ob es Anna in ihrer Verliebtheit wirklich gelingen würde, ihr Geheimnis bezüglich ihrer Spionagetätigkeit für die Gestapo zu bewahren, aber Constance hatte schnell bemerkt, dass auch Anna Liebe und Geschäft voneinander zu trennen wusste. Im Grunde hatte sie der Beziehung am Anfang auch nicht viel Zeit gegeben, aber wenn Anna ihr mit Strahlen in den Augen von Aramis Zärtlichkeit und Liebe berichtete und sie die heimlichen, leidenschaftlichen Blicke bemerkte, die sich beide zuwarfen, dann musste wohl doch mehr in Aramis stecken, als sie seinem unsteten Wesen zugetraut hatte. Und wer war sie schon, eine Affäre zu verurteilen, wenn sie doch das gleiche für D‘Artagnan empfand!
Constance fixierte vorsichtig das Ende der neuen Leinenbinden und griff in den Stapel mit den ungebrauchten Bandagen. Sie hatte Aramis einen Apfel mitgebracht, da sie wusste, dass in der ersten Phase der Verhöre die Gefangenen in der Regel ausgehungert wurden. Doch seine Finger waren wohl zu geschwollen, denn als er nach dem Apfel greifen wollte, gelang es ihm nicht, ihn zu halten. Einem spontanen Impuls folgend biss sie einfach kleine Stücke ab und hielt sie ihm direkt vor den Mund.
„Es tut mir leid, ich kann dir nicht mehr geben, falls du…später…falls du vielleicht…sie würden es merken…“, Constance schaffte es nicht, den Satz zu vollenden, denn ihrer Erfahrung nach würde heute noch viel Schlimmeres auf ihn warten! Aramis sah ihr mit einem verstehenden Blick in die Augen und nickte, während er langsam kaute. „Aramis, du musst stark sein, sie werden…“, brach es dennoch aus ihr heraus.
„Schsch…“, unterbrach Aramis sie leise und legte ihr unbeholfen seine Finger auf den Mund. „Nicht! Ich will es nicht wissen, bitte!“, flüsterte er und Constance zerriss es beinahe das Herz. Dieser Mann vor ihr wirkte in diesem Moment so unendlich zerbrechlich, wie ein Kind, durchscheinend und fragil. Sie beugte sich vor, bis ihre Stirn die seine berührte und umfasste sanft seinen Nacken.
„Oh Aramis! Es tut mir so leid! Ich musste Ludwig, Anna und Treville versprechen, euch nichts von all dem hier zu erzählen! Sie haben mich bei Thernes eingeschleust und wir konnten einfach nicht riskieren, mehr Menschen als notwendig einzuweihen – bitte verzeih mir, dass ich dich anlügen musste!“ Und vor allem D‘Artagnan, dachte sie voller Gewissensbisse. „Aber wir werden dich herausholen, das verspreche ich dir, wir werden…“
Constance erschrak, als Aramis sich auf einmal ihrer leichten Umarmung entzog und zurückfuhr. Er schien tatsächlich verärgert und reagierte heftiger, als sein Zustand es erwarten ließe „Auf keinen Fall! Ihr werdet gar nichts tun! Es reicht, dass ich dumm genug war, mich von ihnen gefangen nehmen zu lassen, wir müssen diesen Arschlöchern nicht noch mehr Résistance-Mitglieder auf dem Silbertablett servieren!“
„Du glaubst, es ist deine Schuld, dass du hier bist?“
Aramis antwortete nicht auf ihre Frage, sondern sah sie nur bedeutungsvoll mit leicht erhobenen Augenbrauen an.
„Aramis, bist du verrückt? Was auch immer da draußen passiert ist, Athos, Porthos und D‘Artagnan werden nichts unversucht lassen, um dich zu befreien, sie werden dich niemals im Stich lassen, das weißt du doch!“
Aramis seufzte und auf einmal schien sein Ärger verflogen. „Aber das sollen sie nicht! Das dürfen sie nicht...Constance, da draußen ist alles schief gelaufen, es gab nur die eine Möglichkeit, sie zu retten. Ich habe meine Stellung aufgegeben und ich bin ihnen direkt in die Hände gelaufen, aber das einzige, das mich bis jetzt durchhalten hat lassen, war der Gedanke, dass ich sie dadurch retten konnte, verstehst du? Wenn sie jetzt kommen und versuchen, mich hier heraus zu holen, dann wäre all das...“ Aramis machte eine vage Bewegung mit seinen Händen „...all das wäre umsonst gewesen. Denn das können sie nicht! Niemand kann der Gestapo entkommen, es gibt keine Möglichkeit, mich von hier zu befreien, außer mit einem Selbstmordkommando. Sie dürfen nicht ihr Leben aufs Spiel setzen, um meines zu retten!“
Constance war schockiert! Er müsste doch wissen, dass sein Freunde alles für ihn tun würden und sie verstand nicht, dass Aramis zwar bereit war, sich selbst für sie zu opfern, aber ihnen scheinbar nicht das Gleiche zugestand. Sie wollte ihm schon ihre Meinung dazu sagen, als sie plötzlich den traurigen und beinahe schon verzweifelten Gesichtsausdruck von Aramis sah.
„Ich weiß nicht, ob ich das alles schaffen werde!“, flüsterte Aramis beinahe zu sich selbst. Er biss sich auf die Unterlippen und Constance legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihm ein wenig Halt zu geben.
„Ganz ehrlich, Constance….ich habe Angst! Ich werde versuchen, die Konsequenzen für mein Handeln zu ertragen, aber dazu muss ich wissen, dass sie in Sicherheit und am Leben sind – einen anderen Trost habe ich hier nicht!“ Aramis stimme klang hohl und kraftlos, als er weitersprach: „Und ich habe Angst, dass ich versage, dass Thernes mich früher oder später brechen wird, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis ich ihm alle Informationen gebe, die er haben will. Ich kann nur versuchen, nein, ich werde versuchen, es so lange wie möglich hinaus zu schieben, damit ihr alle Zeit habt, euch in Sicherheit zu bringen und die Garnison zu verlegen...Aber bitte, lass nicht zu, dass sie etwas Dummes tun!“
Constance war tief getroffen von seinen Worten. Irgendwie verstand sie ihn ja, aus seiner Sicht machten seine Gedanken wahrscheinlich sogar Sinn und sie konnte mit jeder Faser nachvollziehen, dass Aramis im Moment wohl eine der schrecklichsten Erfahrungen seines Lebens machte! Und sie verstand seine Sorge, sie hatte all zu viele Menschen unter der Folter von Thernes brechen und sich selbst aufgeben sehen, aber sie war von ganzem Herzen davon überzeugt, dass Aramis stärker war, als er sich im Moment selber sah. Sie glaubte an ihn und sie glaubte an die Kraft der Brüderlichkeit der Unzertrennlichen, sie würden einander nie im Stich lassen, so hoffnungslos die Sache im Moment auch aussah. Und vielleicht war das der Moment, auf den sie die letzten Jahre hingearbeitet hatte, der sie all das Leid, das sie an diesem Ort miterleben musste, ertragen hatte lassen: Sie war die Trumpfkarte der Musketiere!
„Versprich es mir!“, beschwor Aramis sie noch einmal leise.
Constance seufzte und sah Aramis mit einer Mischung aus Trauer und Zuversicht an, bis sie schließlich stumm nickte. „Ich verspreche dir, wir werden nichts Dummes tun!“ Und sie hatte nicht einmal das Gefühl, dass sie ihn anlog. Wir werden nichts Dummes tun, wir werden das Richtige tun!
Aramis schloss die Augen und atmete aus. Constance hatte gar nicht bemerkt, dass er gespannt die Luft angehalten hatte.
„Bitte sag ihnen…sag Anna, dass ich sie…“
Doch diesmal war sie es, die ihm die Finger auf den Mund legte und ihn am Weiterreden hinderte. „Du wirst es ihnen selbst sagen, Aramis!“, sagte sie mit so viel Zuversicht in ihrer Stimme, die sie aufbringen konnte. . Aramis lächelte als Antwort ein kleines bisschen, aber Constance konnte an seinen Augen sehen, dass er ihr nicht wirklich glaubte.
„Hab‘ Vertrauen!“, flüsterte sie ihm ein letztes Mal zu, ehe sie den Kopf abrupt Richtung Tür drehte und augenblicklich aufstand, während sie die Lavour mit den blutigen Bandagen hochhob. Genau in dem Moment, in dem sie sich umdrehte, wurde die Tür geöffnet und Kleindienst baute sich bedrohlich vor ihr auf.
„Was geht hier vor?“, fragte er misstrauisch und seine kleinen Schweinsaugen funkelten argwöhnisch.
Constance straffte ihren Rücken, schloss kurz die Augen und verwandelte sich, während sie tief durchatmete, wieder in die gewissenhafte Gestapo-Mitarbeiterin.
„Herr Kleindienst! Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen!“, flötete sich beinahe überschwänglich und trat an Kleindienst heran,. „Ich habe auf Anweisungen von Dr. Rausch die Verbände an den Händen gewechselt und ein wenig auf einen respektableren Zustand geachtet.“, sagte sie in einem beinahe lehrhaften Ton. „Wir wollen doch nicht, dass dieser Herr Kommissar Thernes unangemessen unter die Augen tritt, nicht wahr?“
Kleindienst schwieg einen Moment und sein Blick schwankte von der Lavour mit ihrem blutigen Inhalt hin zu Aramis und wieder zurück.
„Natürlich nicht, Fräulein Konstanze, sie haben völlig Recht!“, pflichtete er ihr besänftigt bei. „Auch wenn ich glaube, dass es bei diesem Scheißkerl vergebene Liebesmüh ist!“, bellte er heraus und sah Aramis von oben herab verächtlich an.
„Aber Herr Kleindienst! Achten Sie auf ihre Sprache!“, empörte sich Constance und strich ihm dabei neckisch über die Wange, wie eine Gouvernante es bei einem ungehörigen Kind tun würde. Gott, wie hasste sie diesen Mann!
„Selbstverständlich, Fräulein Konstanze, bitte entschuldigen Sie!“, ruderte Kleindienst zurück und verbeugte sich leicht vor ihr. Er streckte seinen angewinkelten Arm nach vorne, um Constance dazu zu bewegen, sich bei ihm einzuhängen, doch stattdessen drückte sie dem verdutzten Truppenführer die Lavour in die Hand und ging raschen Schrittes an ihm vorbei durch die Tür. Sie drehte sich nicht mehr um, sondern erwartete, dass Kleindienst ihr bei Fuß folgen würde.
Sie rief leise und sanft, aber beharrlich seinen Namen. Der frühe Morgen hatte ein wenig Hellgrau durch das Fenster in die kleine Zelle gebracht, durch das dünne Glas war ein erstes, frohgemutes Vogelgezwitscher zu hören, das den nahen Frühling kündete. Aramis reagierte nicht, und sie war sich sicher, dass, auch wenn Thernes und seine Bluthunde ihn tatsächlich in Ruhe gelassen hatte, die wenigen Stunden nicht wirklich zur Erholung ausgereicht haben konnten. Im Gegenteil, vermutete sie, er dürfte leichtes Fieber haben, denn seine Stirn war verschwitzt und unter der, von den Schlägen dieses Drecksacks Kleindienst verfärbten Haut, sah sie seine Wange verdächtig rot leuchten. Seine mittlerweile völlig verdreckten Bandagen um seine Handgelenke hatten sich stellenweise aufgelöst und seine Hände schienen angeschwollen zu sein.
„Aramis!“, versuchte sie erneut, ihn in die Wirklichkeit zurück zu locken. Er reagierte wieder nicht, also hockte sie sich neben ihn auf den Boden. Sie war erleichtert, als er endlich die Augen öffnete. Sie sah, wie schwer es ihm fallen musste, als sich ein winziges Lächeln auf seine Lippen zauberte. Sie konnte in diesem Moment nicht anders als ihm mit der Hand zärtlich und fürsorglich über seine von Blut und Wasser verklebten Locken zu fahren und schließlich sanft auf seine blessierte Wange zu legen. Aramis schloss wieder die Augen und tiefes Mitgefühl erfüllte ihr Herz, als er in einer absolut kindlichen Gebärde seinen Kopf in ihre Geste hineindrückte. Er schluchzte unterdrückt auf, sie hatte das Gefühl, dass die Wärme ihrer Hand und ihrer alleinige Anwesenheit wie ein Dammbruch all seine Angst und Verzweiflung ungehindert hervorbrechen ließ.
Sie beugte sich noch weiter zu ihm vor und es fühlte sich als das einzig Richtige an ihm einen Kuss auf die blutverkrustete Stirn zu geben.
„Oh Aramis! Was haben sie dir nur angetan? Ich bin ja da, schsch…, alles gut, alles wird gut…irgendwie!“, versuchte Constance jetzt Aramis zu beruhigen und sie kam sich vor wie eine Mutter, die ein völlig aufgelöstes Kind beruhigt. Sie streichelte seinen Kopf und legte dann ihren Arm vorsichtig auf seine Schulter, wobei sie die Schauer, die seinen Körper durchliefen, deutlich spüren konnte. Er wirkte so hilflos, dass es sie in ihrem Herzen zutiefst schmerzte!
Sie wusste, dass er sie gestern bei seiner Ankunft in der kleinen Aula augenblicklich erkannte haben musste, ihre Blicke hatten sich sogar für Sekunden gekreuzt, aber zum Glück war Aramis geistesgegenwärtig genug gewesen, um durch sie hindurch zu schauen. Er hatte der Gestapo auch nicht nur den leisesten Hinweis darauf zu geben, dass sie einander bereits kannten. Also hatte auch sie sich ihren Schock der unerwarteten Begegnung nicht anmerken lassen und war wie immer in diesen Situationen geschäftig vorangegangen, um die Aufnahme des jüngsten Gefangenen akribisch zu dokumentieren. Constance hatte jedoch innerlich gebebt, denn sie wusste in diesem Moment, dass die Mission, von der ihr D‘Artagnan gestern erzählt hatte, gescheitert sein musste. Alles in ihr hatte sich zuammengekrampft vor Sorge um ihn, aber noch vielmehr um Aramis, denn sie kannte den Weg, der ihm bei der Gestapo vorbestimmt war hatte sie im letzten Jahr bereitsallzu viele gleiche Schicksale bezeugen und dokumentieren müssen.
Nur sehr wenige Menschen wussten, dass Constance's Großmutter mütterlicherseits eine Deutsche aus dem Elsass gewesen war, die ihrer kleinen Enkelin ein beinahe akzentfreies Deutsch mitgegeben hatte. Constance hatte es geliebt, sich in dieser fremden Sprache mit ihrer Oma zu unterhalten, auch wenn ihre Mutter, die natürlich ebenso gut Deutsch sprechen konnte, dies nicht besonders billigte. Die Zeiten waren schwer und die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland waren auch damals mehr als nur angespannt gewesen. Constanzes Mutter hatte alles daran gesetzt zu verheimlichen, dass ihre Wurzeln im Grunde nicht nur französisch waren und als die Großmutter schließlich verstorben war, verstummte auch das unbeschwerte Plaudern in der anderen Sprache. Constanze hatte aber immer heimlich deutsche Literatur gelesen und es sogar hie und da geschafft, lose Beziehungen mit Freunden deutscher Herkunft zu haben. Auf diese Weise hatte sie die Sprache in sich lebendig gehalten, auch wenn ihr Herz durch und durch für die französische Kultur und das französische Volk schlug.
Nichtsdestotrotz beherrschte sie die Sprache gut genug, um später vom König selbst – Anna zählte mittlerweile zu ihrem engsten Freundeskreis – für diese spezielle Mission rekrutiert zu werden. Über viele verschiedene Ecken und sehr gute Beziehungen war es Ludwig gelungen, sie als Sekretärin im Gestapo Hauptquartier zu positionieren. Die wirklich gut gefälschten Papiere und Empfehlungsschreiben hatten sie damals über jeden Verdacht erhaben gemacht, wobei sie allen Außenstehenden erzählte, sie hätte einen Posten in der Handelsdelegation der Deutschen. Da Constance zu diesem Zeitpunkt schon zutiefst unglücklich über die Ehe mit einem mittelmäßig erfolgreichen Modehändler war, hatte sie keinen Augenblick gezögert, das Risiko einzugehen und sich als Spionin der Résistance, der sie von Anfang an mit Leib und Seele verpflichtet war, in die Höhle des Löwen zu wagen. Ihr Mann war zwar kein ausdrücklicher Kollaborateur, aber ein durchaus gewiefter Kaufmann mit Sinn für Geschäfte, und Constance war klar, dass er ihre neue Position als Chance gesehen hatte, seinem Modehandel in Zeiten des Krieges den nötigen Aufschwung zu verschaffen. Er hatte also, wie immer völlig desinteressiert an ihren Vorhaben, keine Einwände gehabt und es war ein Leichtes gewesen, ihn auch hinsichtlich ihrer oftmals merkwürdigen Arbeitszeiten zu täuschen.
Constanze war überrascht von sich gewesen, wie professionell es ihr gelungen war, im Hauptquartier die naive Sekretärin zu spielen. Aber sie konnte nicht verleugnen, dass sie immer wieder kurz davor gestanden war, alles hinzuschmeißen und abzutauchen. Die Schicksale der Menschen, die in die Fänge der Gestapo geraten waren, berührten sie jeden Tag aufs Neue bis in die tiefsten Regionen ihrer Seele, musste sie doch sämtliche Dokumente und im allermeisten Fall die dazugehörigen Totenscheine ausfüllen und archivieren. Darüber hinaus hatte sie gezielt ihren Charme eingesetzt, um das Vertrauen der Sturmmänner und sogar Thernes zu gewinnen. Ein Kuchen im rechten Moment hier, ein angenähter Knopf da, Wünsche von den Gesichtern abgelesen, noch ehe die Männer sich ihrer bewusst waren – Constance hatte sich geschickt zu einem unentbehrlichen Eckpfeiler des Betriebs des Gestapo-Hauptquartier gemacht und jeder in dem Gebäude verließ sich auf ihr Organisationsgeschick und ihre starken Nerven zur rechten Zeit.
Die Nazis hatten sich im Laufe der Zeit nicht einmal mehr die Mühe gegeben, ihr Treiben vor Constance zu verheimlichen oder schönzureden, da sie stets so tat, als würde sie diskret und professionell darüber hinweg sehen. In Wahrheit litt sie massiv und nur der Gedanke an das größere Ganze, dass es eine freie Welt gab, für die es sich lohnte all diese seelische Mühsal und Qual auf sich zu nehmen, hielten sie auf ihrem Posten und die Informationen, die sie im Laufe der Zeit zusammengetragen und vorsichtig weitergeleitet hatte, hatten sich für die Résistance immer wieder als unbezahlbar herausgestellt.
Der erste echte Einschnitt in ihre gefährliche Mission war gekommen, als sie D‘Artagnan, mittlerweile Mitglied der Musketiere, kennen und lieben gelernt hatte. Das überschäumende Temperament dieses jungen Mannes gepaart mit Scharfsinn und weitblickender Intelligenz, wenn man bedachte, dass er als Sohn eines Bauern aus der tiefsten Provinz nach Paris gekommen war, hatten sie schneller als ihr lieb war gefesselt und sie hatte sich wohl vom ersten Moment an in ihn verliebt. Durch D‘Artagnan hatte sie auch Athos, Porthos und Aramis besser kennen gelernt. Die Unzertrennlichen, ein stehender Begriff in den Kreisen der Résistance, wussten zwar über ihre Mitgliedschaft in der Combat im Umkreis des Königs und Anna Bescheid, aber sie hatten keinen blassen Schimmer über ihre wahre Tätigkeit!
Zu Constance Leidwesen war die Affäre mit D‘Artagnan immer wieder von ihrer schwierigen Ehe überschatten gewesen und es war ihr bis zum heutigen Tag nicht wirklich gelungen, eine Entscheidung zu treffen. Sie fühlte sich dem Versprechen, dass sie Bonacieux vor Gott und der Welt gegeben hatte verpflichtet, aber sie hatte bis zu dem Zeitpunkt, in dem D’Artagnan wie ein Orkan in ihr Leben hineingestürmt war, nicht gewusst, was es bedeutete jemanden mit jeder Faser seines Seins zu lieben. Und nun fühlte sie sich auch dieser Liebe verpflichtet, mehr noch, sie wusste mit Gewissheit, dass es eigentlich D’Artagnan hätte sein sollen, dem sie das Versprechen der Ehe bis dass der Tod sie scheidet hätte geben sollen. Aber der Krieg und die Erkenntnis, dass das Leben sich leider nicht allzu oft an seine Verheißungen hält, hatten sie ebenso ernüchtert, wie die beinahe krankhafte Eifersucht Bonacieuxs und seinem Willen, sie um keinen Preis der Welt gehen zu lassen. Er hatte die Art der Beziehung zwischen D’Artagnan und Constance sehr schnell durchschaut und ihr unmissverständlich klar gemacht, dass ihr Platz an seiner Seite war.
Naturgemäß wussten nur eine Handvoll Menschen von dem Plan, sie als Agentin in das Gestapo-Hauptquartier zu schicken, der König selbst, Anna und Treville. Sie musste ihnen später, als klar war, dass sie sich in das jüngste Mitglied der Musketiere verliebt hatte, hoch und heilig versprechen D’Artagnan nicht einzuweihen und es fiel ihr schwer, ihn immer wieder über ihre wahre Tätigkeit anlügen zu müssen. Ihre Beziehung war jedoch nicht von konstanter Natur, sondern ständig geprägt von Phasen der Trennung, wenn sie krampfhaft versuchte, ihrem Versprechen Bonacieux gegenüber gerecht zu werden, um dann doch wieder ihrem Herzen und der Liebe zu D‘Artagnan zu folgen. Die Frage nach ihrem Arbeitsplatz rückte da klarerweise eher in den Hintergrund und D’Artagnan gab sich mit ihrer „offiziellen“ Erklärung, dass sie aufgrund der Kontakte ihres Ehemannes Sekretärin in der deutschen Handelsdelegation war, zufrieden.
Die Gestapo wiederum hatte keine Kosten und Mühen gescheut, Constance und ihr Leben gründlich zu durchleuchten. Sie hatten sie in den ersten Monaten ununterbrochen beschattet, um herauszufinden, ob sie die Person war, die sie zu sein behauptete. Der Hauptkommissar war in jeder Beziehung äußerst misstrauisch und er wäre ein Narr gewesen, sich lediglich auf Empfehlungsschreiben zu verlassen. Die Gestapo-Agenten waren äußerst vorsichtig vorgegangen, dennoch war in dieser Hinsicht die Résistance schlauer gewesen. Der König und Treville hatten mit solch einer Maßnahme gerechnet und entsprechend vorgesorgt. Wenn Constance sich mit Anna oder Ludwig traf, verließ sie das Haus, in dem sich die Bonacieuxs eingemietet hatten, durch einen Kellergang im 2. Untergeschoss, der sich über 3 weitere Häuser erstreckte. Treville persönlich hatte die Verbindung zwischen den Häusern geschlagen, als klar war, dass alle 3 Häuser tiefe Keller hatte. Nach dem Durchbruch hatte er eine schmale Holztür eingebaut, die er zur Sicherheit von jeder Seite mit Regalen getarnt hatte. Auf diese Weise war es Constance möglich, das Haus spätabends zu verlassen und auch wieder zurückzukehren, ohne dass es die Beschattungseinheit der Gestapo mitbekommen hätte. Treville wusste das genau, denn er hatte mit Constance das Szenario immer wieder durchprobiert, während er die Agenten im Visier gehabt hatte. In 5 Monaten hatten sie kein einziges Mal ihren Posten verlassen, außer Constance war in der Früh aufgetaucht und geradewegs zum Hauptquartier gegangen. Und jeden Tag hatten sie Thernes berichtet, dass nichts Ungewöhnliches oder Verdächtiges an Fräulein Konstanze zu bemerken sei.
Constance ahnte, dass Aramis von ihrem unerwarteten Auftauchen völlig überrascht sein musste, wusste er doch nichts von ihren Geheimnissen. Sie drückte ihn einfach weiter sanft an sich und als er sich wieder ein wenig gefasst hatte, half sie ihm dabei, sich aufzusetzen. Jede Bewegung schien ihn zu schmerzen, denn er stöhnte leise und schaffte es kaum, sich auf seinen Händen abzustützen. Als er endlich halbwegs gerade vor ihr saß, nahm Constance seine beiden Hände und legte sie vorsichtig in ihren Schoß. Sie löste die blutigen Bandagen so gut es ging, immer wieder musste sie stärker als ihr lieb war anreißen, um den Stoff von den Blutkrusten zu lösen. Aramis verzog lediglich das Gesicht, schaffte es aber ansonsten still zu halten. Seine Wangen waren an den wenigen Stellen, die nicht von dunklem Purpur überzogen waren, tatsächlich gerötet und Constance sah den fiebrigen Glanz in seinen Augen. Anschließend wusch sie seine Wunden mit Wasser aus einem mitgebrachten Lavour aus, stillte hie und da eine frische Blutung und faschte die geschwollenen Hände schließlich wieder ein. Sie redeten während der Prozedur kein Wort, aber Constance bemerkte, dass Aramis sie ununterbrochen mit einer Mischung aus völliger Verwunderung und tiefster Dankbarkeit angeschaute.
Die Beziehung zu Aramis war für Constance von Beginn an geprägt von freundschaftlicher Heiterkeit, Aramis' berühmten Charme allerdings war sie nie so verfallen wie zahlreiche andere Frauen, die sie kommen und gehen sah. In seinem Bekanntenkreis galt Aramis als Frauenheld, und Constance konnte das durchaus verstehen, sein attraktives Äußeres und charmantes Verhalten sprachen für sich. Umso überraschter war sie gewesen, als ihr Anna vor vier Monaten erzählt hatte, dass sie mit ihm eine Affäre begonnen hatte. Constance war zuerst besorgt gewesen, ob es Anna in ihrer Verliebtheit wirklich gelingen würde, ihr Geheimnis bezüglich ihrer Spionagetätigkeit für die Gestapo zu bewahren, aber Constance hatte schnell bemerkt, dass auch Anna Liebe und Geschäft voneinander zu trennen wusste. Im Grunde hatte sie der Beziehung am Anfang auch nicht viel Zeit gegeben, aber wenn Anna ihr mit Strahlen in den Augen von Aramis Zärtlichkeit und Liebe berichtete und sie die heimlichen, leidenschaftlichen Blicke bemerkte, die sich beide zuwarfen, dann musste wohl doch mehr in Aramis stecken, als sie seinem unsteten Wesen zugetraut hatte. Und wer war sie schon, eine Affäre zu verurteilen, wenn sie doch das gleiche für D‘Artagnan empfand!
Constance fixierte vorsichtig das Ende der neuen Leinenbinden und griff in den Stapel mit den ungebrauchten Bandagen. Sie hatte Aramis einen Apfel mitgebracht, da sie wusste, dass in der ersten Phase der Verhöre die Gefangenen in der Regel ausgehungert wurden. Doch seine Finger waren wohl zu geschwollen, denn als er nach dem Apfel greifen wollte, gelang es ihm nicht, ihn zu halten. Einem spontanen Impuls folgend biss sie einfach kleine Stücke ab und hielt sie ihm direkt vor den Mund.
„Es tut mir leid, ich kann dir nicht mehr geben, falls du…später…falls du vielleicht…sie würden es merken…“, Constance schaffte es nicht, den Satz zu vollenden, denn ihrer Erfahrung nach würde heute noch viel Schlimmeres auf ihn warten! Aramis sah ihr mit einem verstehenden Blick in die Augen und nickte, während er langsam kaute. „Aramis, du musst stark sein, sie werden…“, brach es dennoch aus ihr heraus.
„Schsch…“, unterbrach Aramis sie leise und legte ihr unbeholfen seine Finger auf den Mund. „Nicht! Ich will es nicht wissen, bitte!“, flüsterte er und Constance zerriss es beinahe das Herz. Dieser Mann vor ihr wirkte in diesem Moment so unendlich zerbrechlich, wie ein Kind, durchscheinend und fragil. Sie beugte sich vor, bis ihre Stirn die seine berührte und umfasste sanft seinen Nacken.
„Oh Aramis! Es tut mir so leid! Ich musste Ludwig, Anna und Treville versprechen, euch nichts von all dem hier zu erzählen! Sie haben mich bei Thernes eingeschleust und wir konnten einfach nicht riskieren, mehr Menschen als notwendig einzuweihen – bitte verzeih mir, dass ich dich anlügen musste!“ Und vor allem D‘Artagnan, dachte sie voller Gewissensbisse. „Aber wir werden dich herausholen, das verspreche ich dir, wir werden…“
Constance erschrak, als Aramis sich auf einmal ihrer leichten Umarmung entzog und zurückfuhr. Er schien tatsächlich verärgert und reagierte heftiger, als sein Zustand es erwarten ließe „Auf keinen Fall! Ihr werdet gar nichts tun! Es reicht, dass ich dumm genug war, mich von ihnen gefangen nehmen zu lassen, wir müssen diesen Arschlöchern nicht noch mehr Résistance-Mitglieder auf dem Silbertablett servieren!“
„Du glaubst, es ist deine Schuld, dass du hier bist?“
Aramis antwortete nicht auf ihre Frage, sondern sah sie nur bedeutungsvoll mit leicht erhobenen Augenbrauen an.
„Aramis, bist du verrückt? Was auch immer da draußen passiert ist, Athos, Porthos und D‘Artagnan werden nichts unversucht lassen, um dich zu befreien, sie werden dich niemals im Stich lassen, das weißt du doch!“
Aramis seufzte und auf einmal schien sein Ärger verflogen. „Aber das sollen sie nicht! Das dürfen sie nicht...Constance, da draußen ist alles schief gelaufen, es gab nur die eine Möglichkeit, sie zu retten. Ich habe meine Stellung aufgegeben und ich bin ihnen direkt in die Hände gelaufen, aber das einzige, das mich bis jetzt durchhalten hat lassen, war der Gedanke, dass ich sie dadurch retten konnte, verstehst du? Wenn sie jetzt kommen und versuchen, mich hier heraus zu holen, dann wäre all das...“ Aramis machte eine vage Bewegung mit seinen Händen „...all das wäre umsonst gewesen. Denn das können sie nicht! Niemand kann der Gestapo entkommen, es gibt keine Möglichkeit, mich von hier zu befreien, außer mit einem Selbstmordkommando. Sie dürfen nicht ihr Leben aufs Spiel setzen, um meines zu retten!“
Constance war schockiert! Er müsste doch wissen, dass sein Freunde alles für ihn tun würden und sie verstand nicht, dass Aramis zwar bereit war, sich selbst für sie zu opfern, aber ihnen scheinbar nicht das Gleiche zugestand. Sie wollte ihm schon ihre Meinung dazu sagen, als sie plötzlich den traurigen und beinahe schon verzweifelten Gesichtsausdruck von Aramis sah.
„Ich weiß nicht, ob ich das alles schaffen werde!“, flüsterte Aramis beinahe zu sich selbst. Er biss sich auf die Unterlippen und Constance legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihm ein wenig Halt zu geben.
„Ganz ehrlich, Constance….ich habe Angst! Ich werde versuchen, die Konsequenzen für mein Handeln zu ertragen, aber dazu muss ich wissen, dass sie in Sicherheit und am Leben sind – einen anderen Trost habe ich hier nicht!“ Aramis stimme klang hohl und kraftlos, als er weitersprach: „Und ich habe Angst, dass ich versage, dass Thernes mich früher oder später brechen wird, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis ich ihm alle Informationen gebe, die er haben will. Ich kann nur versuchen, nein, ich werde versuchen, es so lange wie möglich hinaus zu schieben, damit ihr alle Zeit habt, euch in Sicherheit zu bringen und die Garnison zu verlegen...Aber bitte, lass nicht zu, dass sie etwas Dummes tun!“
Constance war tief getroffen von seinen Worten. Irgendwie verstand sie ihn ja, aus seiner Sicht machten seine Gedanken wahrscheinlich sogar Sinn und sie konnte mit jeder Faser nachvollziehen, dass Aramis im Moment wohl eine der schrecklichsten Erfahrungen seines Lebens machte! Und sie verstand seine Sorge, sie hatte all zu viele Menschen unter der Folter von Thernes brechen und sich selbst aufgeben sehen, aber sie war von ganzem Herzen davon überzeugt, dass Aramis stärker war, als er sich im Moment selber sah. Sie glaubte an ihn und sie glaubte an die Kraft der Brüderlichkeit der Unzertrennlichen, sie würden einander nie im Stich lassen, so hoffnungslos die Sache im Moment auch aussah. Und vielleicht war das der Moment, auf den sie die letzten Jahre hingearbeitet hatte, der sie all das Leid, das sie an diesem Ort miterleben musste, ertragen hatte lassen: Sie war die Trumpfkarte der Musketiere!
„Versprich es mir!“, beschwor Aramis sie noch einmal leise.
Constance seufzte und sah Aramis mit einer Mischung aus Trauer und Zuversicht an, bis sie schließlich stumm nickte. „Ich verspreche dir, wir werden nichts Dummes tun!“ Und sie hatte nicht einmal das Gefühl, dass sie ihn anlog. Wir werden nichts Dummes tun, wir werden das Richtige tun!
Aramis schloss die Augen und atmete aus. Constance hatte gar nicht bemerkt, dass er gespannt die Luft angehalten hatte.
„Bitte sag ihnen…sag Anna, dass ich sie…“
Doch diesmal war sie es, die ihm die Finger auf den Mund legte und ihn am Weiterreden hinderte. „Du wirst es ihnen selbst sagen, Aramis!“, sagte sie mit so viel Zuversicht in ihrer Stimme, die sie aufbringen konnte. . Aramis lächelte als Antwort ein kleines bisschen, aber Constance konnte an seinen Augen sehen, dass er ihr nicht wirklich glaubte.
„Hab‘ Vertrauen!“, flüsterte sie ihm ein letztes Mal zu, ehe sie den Kopf abrupt Richtung Tür drehte und augenblicklich aufstand, während sie die Lavour mit den blutigen Bandagen hochhob. Genau in dem Moment, in dem sie sich umdrehte, wurde die Tür geöffnet und Kleindienst baute sich bedrohlich vor ihr auf.
„Was geht hier vor?“, fragte er misstrauisch und seine kleinen Schweinsaugen funkelten argwöhnisch.
Constance straffte ihren Rücken, schloss kurz die Augen und verwandelte sich, während sie tief durchatmete, wieder in die gewissenhafte Gestapo-Mitarbeiterin.
„Herr Kleindienst! Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen!“, flötete sich beinahe überschwänglich und trat an Kleindienst heran,. „Ich habe auf Anweisungen von Dr. Rausch die Verbände an den Händen gewechselt und ein wenig auf einen respektableren Zustand geachtet.“, sagte sie in einem beinahe lehrhaften Ton. „Wir wollen doch nicht, dass dieser Herr Kommissar Thernes unangemessen unter die Augen tritt, nicht wahr?“
Kleindienst schwieg einen Moment und sein Blick schwankte von der Lavour mit ihrem blutigen Inhalt hin zu Aramis und wieder zurück.
„Natürlich nicht, Fräulein Konstanze, sie haben völlig Recht!“, pflichtete er ihr besänftigt bei. „Auch wenn ich glaube, dass es bei diesem Scheißkerl vergebene Liebesmüh ist!“, bellte er heraus und sah Aramis von oben herab verächtlich an.
„Aber Herr Kleindienst! Achten Sie auf ihre Sprache!“, empörte sich Constance und strich ihm dabei neckisch über die Wange, wie eine Gouvernante es bei einem ungehörigen Kind tun würde. Gott, wie hasste sie diesen Mann!
„Selbstverständlich, Fräulein Konstanze, bitte entschuldigen Sie!“, ruderte Kleindienst zurück und verbeugte sich leicht vor ihr. Er streckte seinen angewinkelten Arm nach vorne, um Constance dazu zu bewegen, sich bei ihm einzuhängen, doch stattdessen drückte sie dem verdutzten Truppenführer die Lavour in die Hand und ging raschen Schrittes an ihm vorbei durch die Tür. Sie drehte sich nicht mehr um, sondern erwartete, dass Kleindienst ihr bei Fuß folgen würde.