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Missed Opportunities

Kurzbeschreibung
GeschichteLiebesgeschichte / P16 / Gen
Ellen Bannenberg Nikolas Heldt
25.03.2020
07.01.2022
4
14.730
12
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25 Reviews
Dieses Kapitel
5 Reviews
 
 
07.01.2022 4.195
 
Hallo ihr Lieben,

nach längerer Pause melde ich mich mal hier zurück mit einer Fortsetzung.
Vielen lieben Dank für die Reviews, die ihr mir bisher da gelassen habt! :)



ELLEN
Am nächsten Morgen komme ich um kurz vor zehn an dem Haus an und bin mehr als erstaunt, schon Heldts Auto in der Auffahrt stehen zu sehen. Eigentlich hatte ich eher damit gerechnet, ihn aus dem Bett telefonieren zu müssen. Ich parke hinter ihm und die Fahrertür öffnet sich.
„Morgen“, rufe ich und versuche, nicht überrascht zu wirken.
„Morgeeen“ Nikolas grinst mich an und öffnet den Kofferraum seines Wagens, holt einen Picknickkorb heraus. Das erstaunt mich noch mehr, als dass er vor der ausgemachten Zeit hier ist.
„Was haben Sie denn da? Noch mehr Verpflegung?“ Ich habe ihn noch nie eine Mahlzeit zubereiten sehen, dieser Picknickkorb verwirrt mich zutiefst.
„Na klaro“, er lehnt sich gegen das Auto. „Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns, wir müssen die Räume streichen, der Vfl spielt und wer weiß, was noch für spannende Aktivitäten bevorstehen“
In dem Moment, als er spannende Aktivitäten sagt weiß ich, was mein Gehirn für Bilder produzieren wird und ich versuche mit aller Kraft, sie zu unterdrücken. Es misslingt kläglich. Genaugenommen misslingt es seit gestern Abend. Seit Nikolas gesagt hat, fast schon nebenbei, er sei nicht mehr mit Julia zusammen. Sonderlich traurig schien er darüber jedoch nicht zu sein, die Trennung scheint sogar von ihm ausgegangen zu sein. Andererseits lässt er sich selten Gefühle allzu sehr anmerken. Nachfragen schien mir aber auch zu viel, ich will ja auch nicht neugierig erscheinen. Dabei bin ich neugierig. Sehr sogar. Also habe ich im Endeffekt Emmi gefragt, ob Nikolas mal erwähnt habe, dass er sich von seiner Freundin getrennt hätte. Daraufhin hat Emmi nur die Augen im Kopf verdreht. „Mama, ernsthaft. Ihr arbeitet fünf Tage die Woche acht Stunden am Tag zusammen. Was kriegst du eigentlich mit?“
„Naja“, habe ich verwirrt geantwortet, „ich will ja nicht indiskret sein“
„Deshalb fragst du lieber mich als Nikolas?“
Nach der Antwort habe ich aufgegeben. Aus Emmi war auch nichts Vernünftiges herauszubekommen, obwohl ich wetten würde, sie weiß etwas.
„Ellen?“, sagt Nikolas plötzlich eindringlich und ich merke, dass ich wohl länger nichts mehr gesagt habe.
„Ja?“
„Wo waren Sie denn?“
„Ehm, wollen wir mal reingehen?“ Ich gebe mein Bestes so zu wirken wie immer.
„Ich glaube, Sie brauchen erstmal einen Kaffee und was Süßes. Das hab ich eben vorgeschlagen und Sie haben mich angestarrt als hätte ich Sie zu einem Schäferstündchen auf der Rückbank Ihres Autos eingeladen“
„Ich bitte Sie. Da ist doch gar kein Platz, da wäre Ihr Auto besser geeignet“
Fuck.
Was.
Habe.
Ich.
Da.
Gesagt?
Erst denken, dann reden. Es könnte so einfach sein.
Ich traue mich kaum, Nikolas in die Augen zu sehen, aber tue es dann doch. Er sieht mich unumwunden an, völlig erstaunt, aber seine Pupillen sind dunkel, seine Augen weit und ich bemerke, wie er schneller atmet. Seine Hände halten den Picknickkorb krampfhaft fest, sodass seine Knöchel weiß hervortreten und er steht wie fixiert auf der Stelle. Ich kenne Nikolas zu gut, um seine Körpersprache in diesem Fall zu missverstehen. Mir scheint, er ist dieser Idee ganz und gar nicht abgeneigt!
Adieu, Frau Tietz und auf Nimmerwiedersehen! Das ist mein Mann.
Jetzt muss ich nur noch einen Weg finden, ihm das begreiflich zu machen.

„Wollen wir vielleicht mal reingehen?“, schlägt jetzt auch Nikolas vor, als wir uns gegenseitig verlegen angrinsend auf der Auffahrt stehen.
„Auf jeden Fall. Ich bin ja auch ganz gespannt, was Sie da in Ihrem Korb haben“
Dieses Mal ist die Doppeldeutigkeit bewusst. Ich drehe mich um und gehe vor Nikolas zum Haus, etwas extra Schwung in den Hüften,  genau wissend, dass er mir auf den Hintern schaut.
Unser kleiner Flirt wird jedoch schnell von einem hemdsärmeligen Westfalen beendet, der einen Teppich auf der Schulter tragend die Auffahrt von der Straße aus hochläuft.
„Is datt hier bei Bannenberg?“, fragt er ohne Umschweife.
„Ja?“, antworte ich zögerlich, unterbewusst erwarte ich wahrscheinlich eine Leiche im Teppich.
„Ich hab hier Ihre Teppiche, wo sollnwa denn hin damit?“
Verwirrt sehe ich ihn an, die Teppiche sollten eigentlich erst kurz vor dem Einzug kommen.
„Ich kann datt auch ersma hier aufe Auffahrt tun“, schlägt er vor.
„Ins Haus wäre schon besser, ist ja kein fliegender Teppich, der in der Auffahrt geparkt werden muss oder?“
Meine Verwirrung steigt, als Heldt plötzlich unmittelbar hinter mir steht und mit dem Lieferanten spricht. Stand er nicht eben noch drei Meter hinter mir? Seine rechte Hand liegt auf meiner Hüfte und sein Zeigefinger berührt oberhalb des Bundes meiner Jeans meine nackte Haut. Verdammt. Er kennt mich wirklich zu gut. Mein Körper reagiert mit einer Gänsehaut auf seine Berührung und ich weiß, dass er das genau sehen kann.
„Wie Se sagen, Meester“
Die Stimme des Lieferanten beendet unseren kurzen Moment und ich trete noch einen halben Schritt vor, um die Tür zu öffnen.
„Ich dachte, die Teppiche kommen erst übernächste Woche?“, sage ich an den Lieferanten gewandt.
„Lieferzeit war doch kürzer, wie gedacht. Und Ihr Frollein Tochter sachte, Se wären hier, um die Lieferung anzunehmen, als wir angerufen ham“
„Legen Sie die Teppiche bitte einfach hier in den Flur“, bitte ich und gehe dann Nikolas hinterher in die Küche. Er hat den Picknickkorb geöffnet und holt eine Thermoskanne heraus, dazu eine große Tüte vom Bäcker.
„Da ist ja wirklich Essen drin“, sage ich, jetzt völlig erstaunt.
„Was dachten Sie denn?
„Ich weiß nicht, Ihr Radio fürs Vfl Spiel?“
Nikolas lacht und klopft auf seinen Hintern. In der Hosentasche steckt sein Smartphone. „Sowas streamt man doch heutzutage aus dem Web, Sie sind da wohl noch nicht so auf dem aktuellen Stand?“
„Nee, so hip bin ich nicht, ich erfahre sowas immer über Rauchzeichen“
„Das ist auch so etwa der Stand der Kommunikation gewesen zu der Zeit, als Schalke das letzte Mal deutscher Meister war“
Ich schnappe mir einen Kaffee und ein Croissant und setze mich auf die Couch damit, Nikolas folgt mir mit einem Berliner in der Hand.
„Was ist denn der Schlachtplan für heute?“, erkundigt er sich als er den ersten Bissen seines Berliners gegessen hat.
Wir sitzen einander zugewandt auf dem Sofa, maximal zwanzig Zentimeter Abstand zwischen unseren Knien und ich sinniere darüber, dass meine Gedanken seit gestern Abend fast ausschließlich um Nikolas kreisen. Vorher hatte ich mich damit abgefunden, dass er offensichtlich mit Frau Tietz glücklich ist und ich wäre ja ohnehin bald nach Passau gegangen. Nachdem ich mich dagegen entschieden hatte, dorthin zu gehen habe ich mich damit abgelenkt, mich in die Wohnungssuche zu stürzen und auch viel Zeit mit Emmi verbracht und mir eingeredet, es sei ohnehin sinnlos. Nikolas sei besser dran mit einer Frau wie Julia Tietz, einige Jahre jünger als ich, ohne den Ballast eines kriminellen, toten Exmanns und einer Teenie-Tochter.
Aber verdammt. Ich will ihn. In meinem Bett, in meinem Leben, in diesem Haus. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ohne ihn zu arbeiten und zu leben. So sehr, wie er mich manchmal mit seiner Flapsigkeit, seinen unkonventionellen Methoden und seiner absolut ungesunden Ernährung in den Wahnsinn treibt. Denn genauso sehr treibt er mich mit seinem Körper, seinem Lächeln, seinem Geruch, seinem Humor und seiner Fürsorge in den Wahnsinn, auf eine positive Art.
Nikolas nimmt einen weiteren Bissen von seinem Berliner und die Marmeladenfüllung quillt an der Seite heraus, bleibt kurz unterhalb seiner Unterlippe in seinem Fünftagebart hängen.
„Du hast da was“, murmle ich geistesabwesend, ich hänge immer noch halb in meinem sexy Tagtraum über Nikolas fest.
„Wo? Was?“
Ich lehne mich vor und berühre mit der Kuppe meines Zeigefingers Nikolas‘ Bart an der Stelle, wo die Marmelade hingetropft ist. „Hier“, wispere ich. Wir sitzen mittlerweile Knie an Knie und ich kann Nikolas‘ Atem auf meiner Hand spüren. Mehr als notwendig streiche ich durch sein Gesicht, um die Marmelade zu entfernen und halte den Zeigefinger hoch, wie um mein Ergebnis zu präsentieren. Ich werfe alle Vorsicht über  Bord als ich ihm in die braunen Augen sehe und sich meine Lippen langsam um meine Fingerkuppe schließen. Mein Herz schlägt wie wild, ich bilde mir ein, Nikolas müsse es hören.
„Pflaume“, sage ich genießerisch und schließe die Augen für einen Moment. Nikolas stellt seinen Kaffee auf den Boden, ich höre, wie das Porzellan auf das Parkett trifft, und nimmt mir meinen Kaffee auch aus der Hand.
Ich traue mich nicht, meine Augen zu öffnen aus Angst, einfach alles zu träumen und in meinem Bett alleine aufzuwachen. Nikolas kommt mir näher, ich kann spüren, wie sich das Gewicht auf der Couch zu mir verlagert, sein Atem ist jetzt nicht mehr auf meiner Hand, sondern streift mein Gesicht.
„Sieh mich an“ Es ist halb Befehl, halb Bitte, ich komme dem fast schon unwillig nach, bin umfangen von seinem Geruch und seiner Wärme.
Anscheinend sieht er in meinen Augen alles, was er als Bestätigung braucht, denn keine Sekunde später sind seine Lippen auf meinen. Bevor ich jedoch überhaupt die Zeit habe mehr zu tun, als diese Tatsache festzustellen, höre ich ein Räuspern und Nikolas und ich schrecken auseinander.
DIESER GOTTVERDAMMTE TEPPICHLIEFERANT. Er steht grinsend drei Meter vor uns und hält ein Klemmbrett in der Hand.
„Meester, wenn Se mit allem zufrieden sind, brauch ich hier ein Autogramm“
Er reicht Nikolas das bekackte Klemmbrett, Nikolas unterzeichnet und der Mann verabschiedet sich wortreich. Ich weiß, dass Paragraph 211 StGB Mord unter Strafe stellt, aber ich bin mir fast sicher, dass Nikolas und ich es auch als tragischen Unfall aussehen lassen könnten. Unglücklich ausgerutscht oder so. Vielleicht müssten wir Frau Dr. Holle ein wenig bestechen, aber das hier sind eindeutig mildernde Umstände. Es spricht endlich nichts dagegen, meinem Verlangen und meinen Gefühlen für Nikolas nachzugeben, kein Stefan, keine Julia, kein Fall, keine öffentliche Situation im Präsidium. Und dann kommt einfach dieser gottverdammte Teppichlieferant. Hat der eigentlich einen blassen DUNST, wie lange ich darauf gewartet habe? Oh ich könnte ihn erwürgen! Und Nikolas geht es nicht viel besser.
Aber die Situation ist eindeutig vorbei und Nikolas und ich kehren in unseren üblichen Trott zurück. War was? Neiiin.




NIKOLAS
Ich muss mich zusammenreißen um diesen Teppichlieferanten nicht hochkant auf die Straße zu werfen! Aber das würde auch nichts mehr nützen, denn der Moment ist dahin und Ellen und ich beginnen aufs Neue unseren Eiertanz. Warum ist es eigentlich so kompliziert? Ich glaube, es gibt wenige Menschen, die es sich selbst so schwer machen, wie wir. Es ist sonnenklar, Ellen will mich, ich will Ellen. Aber seit Jahren schaffen wir es nicht, uns einfach mal wie erwachsene Menschen zu verhalten, miteinander zu reden oder einfach mal einen eindeutigen Schritt aufeinander zu zu machen. Ich weiß, würde es mir schlecht gehen, Ellen wäre da, emotional und körperlich, sofern ich es zulasse. Genauso, wie ich für Ellen da war in der Nacht, als Stefan starb. Im Nachhinein war es eine verdammt schlechte Idee, unter diesen Umständen das erste Mal mit Ellen zu schlafen. Es hat alles nur noch komplizierter gemacht zwischen uns, als es ohnehin durch meine Mallorca- Eskapade schon war. Aber in dem Moment hat es sich so richtig angefühlt, Ellen in meinen Armen zu halten, mit ihr eins zu werden und die Welt zu vergessen. Und ich würde das verdammt gerne auch öfter tun und vor allem ohne irgendeinen dramatischen oder dienstlichen Anlass.
Ich stehe von der Couch auf und reiche Ellen, die noch sitzt, beide Hände. Sie ergreift sie und ich ziehe sie schwungvoll hoch, was sie mit einem überraschten „huii“ kommentiert. Wir stehen Fußspitze an Fußspitze und können im letzten Moment einen Zusammenprall verhindern.
„Da wäre es ja fast schon wieder zum Vollkontakt gekommen zwischen uns“, witzele ich, ohne Ellens Hände loszulassen.
In ihren eisblauen Augen liegt Überraschung, Belustigung und mindestens genauso viel Verlangen, wie in meinen. Sie streicht sanft mit ihren Daumen über meine Handrücken und sieht mich unumwunden an, bleibt dabei unmittelbar vor mir stehen. „Du weißt doch, Nikolas, erst die Arbeit, dann das Vergnügen“
„Das ist aber bestimmt nicht, was du im Seminar zur Mitarbeitermotivation gelernt hast“, necke ich sie und versuche mir gleichzeitig nicht anmerken zu lassen, dass ich nervös werde. Es ist eine Sache, Ellen heraus aus einem Impuls heraus zu küssen. Es ist eine andere zu wissen, dass irgendwann irgendwas passieren wird, das vermutlich nicht für Emilys Augen geeignet wäre, aber seelenruhig abzuwarten. Mit Ellen. In einem Raum. Ungestört.
„Stimmt. Ich sollte dir vor Augen führen, dass dein Handeln sinnvoll und dein Beitrag wichtig ist für die Lösung des Problems und deine Zwischenerfolge loben“
„Ich hab Frühstück mitgebracht und den Empfang deiner Teppiche quittiert, ich finde, das ist ein Zwischenerfolg, den du loben solltest!“
„Die Argumentation ist tatsächlich recht überzeugend. Nicht gerichtsfest, dafür fehlen dir die Beweise, aber ein gutes Zwischenresultat“, murmelt Ellen.
Auf warme Worte wollte ich eigentlich nicht hinaus, denke ich. Dann küsst mich Ellen. Ganz kurz, vielleicht eine Sekunde, länger berühren sich unsere Lippen nicht und es ist vorbei, bevor ich überhaupt verstehe, was passiert. Aber verdammt. Das ist das zweite Mal innerhalb von nicht mal zwanzig Minuten. So nah kommen wir uns vielleicht sonst einmal im Jahr.
Ellen grinst mich selbstzufrieden an und löst eine Hand, dreht sich um in Richtung des  brombeerfarbenen Eimers und geht einen Schritt, sodass unsere Arme ausgestreckt sind, wir uns aber immer noch an den Händen halten. Ich ziehe sie vorsichtig, aber bestimmt zurück zu mir und gehe einen Schritt vor, sodass wir wieder unmittelbar voreinander stehen. Ich weiß genau, dass sie mir die Wahl gelassen hat, entweder ich lasse ihre zweite Hand los und beende somit die Situation, oder ich ziehe sie zurück. Und verdammt, ich werde den Teufel tun und eine Gelegenheit auslassen, Ellen zu küssen.
„Ich fühle mich noch nicht wirklich motiviert“, sage ich leise und sehe sie forschend an. Habe ich ihre Signale richtig verstanden?
„Mensch. Was machen wir denn da?“, fragt sie und ihr Blick wandert zweifelsfrei auf meine Lippen, huscht wieder zurück, wieder auf meine Lippen.
Sanft lege ich ihr zwei Finger unter das Kinn, hebe ihren Kopf leicht an und lasse dann meine Hand an ihren Hinterkopf wandern. Ihre Augenlider flattern zu als sie mir ihre Arme um den Hals legt, sich vertrauensvoll an mich schmiegt. Vorsichtig berühren meine Lippen ihre, ich bin nicht darauf vorbereitet, meine Traumfrau in den Armen zu halten und zu küssen. Ohne Drama, ohne Druck, einfach mit ihr hier zu stehen, ihren Duft zu riechen, ihre weichen Lippen auf meinen zu spüren, wie sie meinen Kuss erwidern. Wir versinken ineinander und mich durchströmt ein wahnsinniges Glücksgefühl und eine Ungläubigkeit. Ich kann spüren, wie Ellen lächelt, während sie mich küsst.
„Besser?“, fragt sie mich, ihre Lippen streifen meine, während sie die Worte ausspricht.
„Hm“, brummle ich unwillig, sie loszulassen. Ellen scheint ähnliche Gedanken zu haben, denn sie hält mich fest an sich gedrückt, ihre Hand liegt im Bereich meiner Lendenwirbelsäule, gerade noch hoch genug, um unserem vorsichtigen Kuss Rechnung zu tragen. Ihre andere Hand wandert den Rest meiner Wirbelsäule sanft entlang, ich spüre ihre Fingerspitzen durch mein sommerliches T-Shirt.
„Eher wie ein Pflaster auf einer Schusswunde“, murmle ich im Nachgang und bringe Ellen dazu, herzhaft zu lachen.
„Du vergleichst uns mit einer Schießerei?“
So genau hatte ich tatsächlich über die Bedeutung meiner Aussage nicht nachgedacht. „Eher mit einem See“, versuche ich mich rauszureden.
„In dem wir wegen unserer Schusswunden untergehen werden? Über den wir mit netten, kleinen Ruderbooten fahren und uns gegenseitig Gedichte vorlesen? Den Herr Grün für uns teilt, sodass wir trockenen Fußes das andere Ufer erreichen?“
Jetzt hat sie Spaß daran, mich zu necken. Sie hat sich immer noch keinen Zentimeter von mir gelöst und lässt langsam ihre Hand tiefer wandern, unter den Bund meiner Jeans und sieht mir dabei direkt in die Augen. Sie beißt auf ihre Unterlippe und ihr Atem wird ungleichmäßiger.
Moment. Unter den Bund meiner Jeans? Ich spüre ihre Hand überdeutlich auf meinem Hintern und bekomme große Augen. Ellen merkt, dass etwas nicht stimmt und sieht mich forschend an.
„Sollten wir... sollten wir es nicht langsam angehen lassen?“, frage ich schließlich. Ich will wirklich nicht schon wieder mit Ellen auf einem Teppich Sex haben, ohne über irgendwas gesprochen und nachgedacht zu haben und danach zehn Schritte zurück in unserer Beziehung zu machen. Wobei, das Positive ist eindeutig, dass wir genug Teppiche zur Auswahl hätten.
Ellen sieht mich an und ihr Blick spricht Bände. Sie löst sich von mir und stellt sich ans andere Ende der Couch.
In mir tobt ein Kampf. Es ist nicht Gut gegen Böse, eher Vernunft gegen Impuls. Ich will Ellen, verdammt nochmal. Und zwar so richtig. Ich will sie ansehen, wenn sie zum Orgasmus kommt, ich will sie vor aller Augen küssen, ich will ihr sagen, dass sie in ihrem Hosenanzug fantastisch aussieht. Aber ich will auch abends mit ihr und Emmi auf der Couch sitzen und irgendwas Blödes im Fernsehen anschauen, mit ihr an der Ruhr entlangspazieren und über Alles und Nichts sprechen.
„Ich versteh schon“, sagt sie und sieht unglücklich aus.
„Wie kannst du denn behaupten du verstehst und hast mich nicht mal gefragt, warum ich das gesagt habe?“
Das kam jetzt wütender als gewollt heraus. Ich mache einen Schritt auf sie zu und Ellen geht einen Schritt zurück. Wow. Wenn das mal nicht ein Symbolbild unser Beziehung ist.
„Ich hab dich überrumpelt, du bist so kurz nach der Trennung von Frau Tietz noch nicht bereit, für etwas Neues, es ist kompliziert zwischen uns, es steht viel auf dem Spiel, du bist dir nicht ganz sicher“, rattert Ellen herunter.
„Ellen!“, rufe ich und fuchtele dabei mit den Armen in der Luft herum. Diese Frau ist die Personifizierung von Kompliziert. „Kannst du BITTE mal damit aufhören ständig anzunehmen du wüsstest, was ich denke und möchte?“
„Wenn du dich mal dahingehend äußern würdest, müsste ich vielleicht weniger annehmen!“
„Wann soll ich mich denn äußern? Vor Grün und Korthi in der Dienstbesprechung? Ach Ellen, ich wollte noch kurz über meine Gefühle für dich im Anschluss reden, hast du noch fünf Minuten? Du hast dich in den letzten Monaten komplett rar gemacht, wir haben uns kaum mal zu zweit gesehen!“
„Ja, weil du zu sehr damit beschäftigt warst, bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor meinen Augen mit Julia Tietz rumzumachen oder in den letzten Wochen exklusiv für Emily zur Verfügung standest!“, gibt Ellen stocksauer zurück.
„Ja verdammt, weil du beschlossen hast, einfach nach Passau zu gehen! Tschau Kakao Bochum, danke für Nichts, Nikolas“
Dieser Moment erinnert mich verdammt an unser Wortgefecht vor Ellens Büro, nachdem sie ihre Entscheidung für Passau verkündet hatte. Sie sieht mich verletzt an und wendet sich von mir ab, geht in Richtung der Küche, reagiert nicht auf meinen Vorwurf.
„Moment!“, rufe ich lautstark, gehe ihr zwei Schritte nach und ziehe sie wieder zurück zu mir. Sie wird jetzt nicht einfach gehen, genau in dem Moment, als wir endlich mal angefangen haben, zu reden.
„Was denn, Nikolas?! Du hast deinen Punkt mehr als klar gemacht. Ich hab’s verkackt und jetzt willst du lieber deinen Seelenfrieden schützen, als mir irgendwie zu nahe zu kommen“
Sie macht erneut Anstalten, sich von mir abzuwenden und ich ziehe sie ein zweites Mal zu mir zurück, dieses Mal mit mehr Nachdruck. Ich sehe in ihre Augen, Stolz liegt darin, Verletzbarkeit und Verlagen. Mir entweicht ein frustrierter Laut, als Impuls gegen Vernunft gewinnt und ich Ellen küsse. Genug der Diskussionen, vielleicht hätten wir das auch schon vor einigen Monaten auf dem Flur tun sollen.
Ellen schnappt kurz nach Luft, sichtlich überrascht, und erwidert meinen Kuss. Wir klammern uns aneinander, ich spüre Ellens Fingernägel auf meiner Kopfhaut und ihre Hand auf meinem Hintern. Unser Kuss ist nicht mehr beherrscht, überrascht oder zurückhaltend. Ich bin wütend auf Ellen und mich, dass wir es seit Jahren nicht hinbekommen. Ich bin wütend auf mich, dass ich es schon wieder nicht schaffe, meine Lust zurück zu halten und irgendwie zu versuchen, das mit Ellen auf ein festes Fundament zu stellen.
Und verdammt, gleichzeitig würde ich nirgendwo anders auf der Welt sein wollen. Hier in Ellens Armen zu stehen und zu spüren, wie sich langsam unsere Wut auflöst, ihren Geruch einzuatmen, ihren Herzschlag zu spüren ist alles, was ich gerade will.
Ich schiebe sie ein paar Schritte zurück, bis ihr Rücken gegen die noch ungestrichene Wand prallt und sie mir nicht mehr so einfach entweichen kann. Unser Kuss wird tiefer und verlangender, es reicht mir nicht mehr, meine Hände in ihren Haaren zu vergraben, sie wandern unter Ellens T-Shirt, auf ihren weichen Bauch, der sich rasch hebt und senkt, während Ellen ein- und ausatmet. Meine Fingerspitzen streichen über ihren BH, ich spüre nur dünnen Spitzenstoff unter meiner Hand, schiebe ihn vorsichtig beiseite und umfasse zärtlich ihre Brust. Ellen drängt sich mir entgegen und zieht gleichzeitig ungeduldig an dem Saum meines T-Shirts, was sich zu ihrer Frustration als unpraktisch erweist. Ihr entweicht ein kleiner, verärgerter Laut und ich entferne mich einige Zentimeter von ihr, um es ihr leichter zu machen. Sie zieht mein T-Shirt über meinen Kopf und ich werfe es achtlos hinter mich. Ich gehe leicht in die Knie, doch Ellen sabotiert meinen Plan, sie langsam auszuziehen mit einem energischen „nicht jetzt“ und entledigt sich selbst ihres T-Shirts. Unumwunden sieht sie mich an, ihre Haare zerzaust, ihr Mund leicht geöffnet und ich ziehe sie wieder an mich heran, spüre sie Haut an Haut.
„Nikolas“, stöhnt sie leise und legt ihren Kopf in den Nacken, als ich ihren Hals federleicht küsse.
„Hm?“, frage ich, während ich die Träger ihres BHs von ihren Schultern schiebe.
„Das ist so verdammt gut!“
„Sollten wir öfter machen.“ Mein Gehirn kann wirklich keine intelligentere Antwort als das produzieren, mein Blut sammelt sich gerade eher in anderen Körperteilen.
„Meinst du?“ Ellen sieht mir prüfend in die Augen. Anscheinend ist sie eher multitaskingfähig als ich.
„Hm“, erwidere ich erneut und zunehmend inkohärent und unspezifisch.
Ellen lacht und küsst mich erneut, schiebt mich in Richtung des Sofas. Anscheinend ist sie jetzt hier auch Herrin des Verfahrens, sie gibt mir einen Stoß und ich lasse mich auf das Sofa fallen, ziehe sie dabei mit mir. Sie sitzt auf mir und ihr Haar kitzelt in meiner Nase als ich ihr Schlüsselbein federleicht küsse.
„Und jetzt?“, erkundigt sie sich spielerisch. Ihre Hände streichen über meine Schultern und sie hebt meinen Kopf an, sieht mir erwartungsvoll in die Augen. Mir ist klar, dass sie mir erneut die Wahl lässt. Das hier vertiefen oder irgendwie mit einem flapsigen Spruch beenden.

Tatsächlich habe ich jedoch keine Wahl. Ich höre plötzlich energische Schritte von einer Person in Pumps und ein lautstarkes Räuspern. Mit einer dumpfen Vorahnung, wer da in das Haus gekommen ist, luge ich um Ellen herum und sehe mich mit Hannah Holle konfrontiert, die sich das Grinsen nicht verkneifen kann. Sie steht einige Meter entfernt und hat die Hände in die Hüften gestemmt, als würde sie ein besonders faszinierendes Forschungsobjekt betrachten. Was Ellen und ich wahrscheinlich sogar sind.
„Hannah. Sie wissen, ich verehre Sie, ich bete Sie an. Aber ich hab hier wirklich schon alle Hände voll zu tun“, versuche ich einen Witz zu machen, während mich Ellen völlig schockiert ansieht
„Das ist mir ja vollends entgangen“, erwidert sie trocken. „Aber wir haben einen Fall und Frau Bannenberg hat vonseiten der Staatsanwaltschaft Rufbereitschaft. Und die Haustür war nur angelehnt.“
Ellen sieht mich vollends frustriert an und manövriert sich von der Couch, in Richtung ihres T-Shirts. An der Rufbereitschaft ist nichts zu leugnen und ich mache ebenfalls Anstalten, von dem Sofa aufzustehen.
„Heldt, Sie bleiben schön da sitzen oder streichen hier die Wohnung“, kommandiert Hannah und ich sehe sie perplex an. Seit wann ist bei einem Tatort nur die Staatsanwaltschaft und die KTU notwendig?
„Herr Grün hat die Rufbereitschaft für die Kripo, nicht Sie. Und wir haben uns aufgeteilt, er ist bereits am Tatort und ich habe mich bereit erklärt, die Frau Staatsanwältin zu suchen, nachdem sie telefonisch nicht erreichbar war und ihre Tochter so freundlich war, uns die Adresse ihres neuen Hauses mitzuteilen“
„Aber...“, setze ich an und werde sogleich von Hannah unterbrochen. „Wenn Sie unbedingt wollen, kommen Sie mit. Aber die Erklärung, warum Frau Bannenberg erst nicht zu erreichen war und dann mit Ihnen im Doppelpack aufkreuzt, die geben Sie dann bitte auch Herrn Grün. Bevorzugt, wenn ich in Hörweite bin.
„Aber..“, versuche ich es ein zweites Mal, völlig ahnungslos, wogegen ich eigentlich widersprechen will.
„Bedanken Sie sich bei Ihrer Tochter“, sagt Hannah in Ellens Richtung gewandt. Die sieht sie so verwirrt an, wie ich mich fühle, macht aber schlauerweise keine Versuche, das in Worte zu fassen.
„Emily war sehr davon überzeugt, dass es kriminalistisch viel sinnvoller sei, ich führe hier zu Ihrem neuen Haus, Frau Bannenberg, und Herr Grün unmittelbar zum Tatort. Jetzt sehe ich auch, warum“
Sie grinst immer noch, während ich mich nicht vom Fleck bewegt habe und Ellen aus ihrer Handtasche eine Haarbürste und ein Zopfgummi hervorgeholt hat.
„Du bleibst hier. Keinen Schritt aus dem Haus. Du darfst streichen, aber mehr auch nicht. Wir haben hier noch was aufzuholen und abzuschließen“
Sie kommt auf mich zu und küsst mich mitten auf den Mund. Angesichts der Tatsache, dass Hannah Holle uns eben halbnackt beim rumknutschen erwischt hat, ist das wirklich geradezu unschuldig.
„Oui, mon général“, erwidere ich und sehe ihr sehnsuchtsvoll nach, als sie mit Hannah das Haus verlässt.
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