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[Daft Punk] Saudade

von papirossy
Kurzbeschreibung
KurzgeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P18 / MaleSlash
Guy-Manuel de Homem-Christo Play Paul Sébastien Tellier Thomas Bangalter
26.01.2020
02.02.2020
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8.086
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26.01.2020 3.967
 
Saudade

= Die Sehnsucht nach unmöglichen Dingen, gerade weil sie unmöglich sind; Nostalgie für das, was niemals war





1. Fernando Pessoa


Morgens kam der Schock.

Nicht in meinem eigenen Bett aufzuwachen, bin ich ja gewohnt. Nicht zu wissen, in wessen Wohnung ich bin, und in welcher Stadt überhaupt, auch das ist nichts Neues für mich.

Aber das Verrückte an diesem Morgen war, dass ich genau wusste, wo ich war. Es fühlte sich nach Zuhause an, obwohl ich nicht zu Hause war. Es roch vertraut. Nach Wein, Muskat und herb nach Mann.

Tja, und da liegt auch schon das Problem.

Ich weiß ganz genau, was ich sehen werde, wenn ich mich umdrehe. Eine Wolke weiche Locken im Kissen, einen nackten Rücken, haarig und gekrümmt, dürre fast. Die Erkenntnis trifft mich mit der Wucht einer Abrissbirne.

Ich habe mit dem einen Menschen geschlafen, mit dem ich nicht hätte schlafen dürfen.

Umständlich schiebe ich meine Beine aus dem Bett und trete in ein benutztes Kondom. Flashback zu gestern Nacht: Heißer Atem auf meiner Haut, viel Gefummel zwischen meinen Beinen, ein tiefer Blick aus braunen Rehaugen, als er ihn reinschiebt.

Ich krümme mich beinahe vor Scham bei der Erinnerung. Mit angehaltenem Atem erhebe ich mich aus dem Bett (das Gerüst gibt ein erleichtertes Ächzen von sich) und schleiche geräuschlos durchs Zimmer, wühle zwischen Wäschehaufen und streife mir meine Unterhose über, dann mein Hemd, dann meine Hose.

Thomas hat das konzentrierte Gesicht eines Schlafenden. Offener Mund, geschwollene Lippen in einem bärtigen Gesicht, zusammengezogene Augenbrauen.

Es war nie die Frage, ob es passierte, sondern nur wann. Früher war es nur Herzklopfen, wenn ich bei ihm im Bett übernachtete oder er im Reisebus mit dem Kopf an meiner Schulter einschlief. Und irgendwann haben wir uns geküsst. Es war nach seiner Geburtstagsparty. Ich lag völlig erledigt mit dem Kopf auf dem Küchentisch und er hat meine Haare gestreichelt (damals waren sie noch lang). Und als ich die Augen geöffnet habe, habe ich in braune Rehaugen gesehen. Sein Kopf neben meinem auf dem Tisch und da ist es dann passiert. Wir haben uns geküsst. Und für einen Moment… stand die Erde still.

Ich nehme meine italienischen Lederboots, die sich zwischen ausgelatschten New Balance und Stan Smith Sneakern sichtlich fehl am Platz fühlen, und schleiche in Socken zur Tür hinaus. Aufatmen.

Irgendwie habe ich es rausgeschafft, ohne ihn zu wecken. Als ich im Fahrstuhl stehe, fühle ich mich wie 13. Wenn ich mich aus dem Elternhaus eines Mädchens geschlichen habe. Ungeputzte Zähne, ungekämmte Haare, angehaltener Atem, klopfendes Herz – nur dass jetzt noch mehr Bartwuchs hinzugekommen ist. Das Hemd schief zugeknöpft, nur das Nötigste an, den Rest in einem Knäuel in meinen Armen.

Zuhause erstmal duschen.

Alles tut weh. Ich bin verkatert und ich spüre noch immer den schmerzhaft pochenden Muskel dort, wo er in mich eingedrungen ist.

Rauchen am offenen Küchenfenster. Pariser Geräuschkulisse. Hupende Autos, Stimmen, Schritte. Das Leben geht weiter.


Leute aus unserem Umfeld haben ja schon immer prophezeit, dass es irgendwann zwischen uns passieren wird. Nicht weil wir so eng zusammen arbeiten. Sébastien hat es mir mal bei einem Glas Portwein, als wir spätabends in einer Brasserie versackt sind, erklärt. „Es ist die Art, wie ihr euch anschaut, wenn ihr euch verabschiedet. Wie ihr etwas zu nahe beieinander steht und einen Moment lang nichts sagt, sondern euch einfach nur traurig anschaut. Da ist so viel Bedauern und Schmerz und Verlangen.“ Sébastien ist ein sehr körperlicher Mann und schrulliger Alltagsphilosoph, der oft nach Carpaccio riecht und immer dieselbe alte fusseliger Strickjacke trägt.

Ich mag ihn.

Auch wenn die Wahrheiten, die er einem manchmal mit seinem warmen Carpaccio-Atem entgegenhaucht, weh tun.

Ich würde mich nicht als schwul bezeichnen. Aber ich hatte mal eine Weile was mit Vincent. Wir waren viel aus und irgendwann wurde etwas Ernstes daraus.

Irgendwann bei Wein und Käse hat er mir dann gebeichtet, dass er es Thomas erzählt hat.

Ich sage, „Was hast du Thomas erzählt?“

Und er sagt, „Dass ich dich geküsst habe.“

Ich sage, „Wieso sagst du es ihm?“

Und daraufhin hat er erstmal lang an seiner Zigarette gezogen.

„Willst du mich verarschen, Guy“, war seine Antwort, „der Mann ist seit 20 Jahren verliebt in dich! Und wir sind Freunde. Ich kann dich nicht einfach küssen, weißt du – wenn mir die Freundschaft mit Thomas etwas bedeutet.“

Gestresst hat er damit seine Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt wie um einen Punkt zu machen.

„Wie hat er es aufgenommen?“

„Wie schon, es hat ihn getroffen. Aber es ist Thomas. Er hat mir auf die Schulter geklopft und uns alles Gute gewünscht.“

„Woran hast du gemerkt, dass es ihn getroffen hat?“

„Ich weiß nicht, sowas merkt man eben. Die Art wie er mich angesehen hat. Als hätte ich seinen Hund überfahren.“


Und dann – als wäre alles ein schlechter Scherz – treffen wir uns an einem lauen Frühlingsabend im Supermarkt. Vincent stellt sich an die Käsetheke und ich hole den Rest. Thomas und Vincent wohnen im selben Arrondissement. Es ist also kein großer Zufall, als wir uns vor dem Regal mit der Tiefkühlpizza treffen, und ich habe noch nie jemanden so traurig und glücklich gleichzeitig lächeln gesehen.

„Hey!“

Er beugt sich runter und gibt sich lässig, als wir uns links und rechts auf die Wange küssen. Als wären wir zwei Fremde. Oder schlimmer noch: Bekannte. Ich verharre einen Herzschlag lang in seiner Aftershave-Wolke. Er hat Chips und Cola in seinem Tragekorb.

„Die Jungs sind da“, erklärt er. Die Jungs – das sind seine Söhne.

„Du brauchst noch Pizza“, sage ich verlegen.

„Ja, wollte ich gerade holen.“

Er sieht gut aus. Steht ihm richtig der neue Look. Hochgekrempelte Sakkoärmel, lockeres graues T-Shirt, Bart, weiße Tennissneaker, Skinny-Jeans… Ich bin kurz davor, ihm ein Kompliment zu machen, als Vincent ohne Käse zurück kommt.

„Camembert oder Chaumes?“, fragt er mich dann leise, als wäre es ihm peinlich. Ich zucke mit den Schultern.

„Mir egal.“

Thomas steht da wie ein verwundetes Reh und hält sich an seinem eigenen Arm fest.

„Okay, ich geh dann mal den Käse holen.“

„Ja, ich muss jetzt auch. Die Jungs warten!“

„Okay, na dann. Wir sehen uns.“

„Ja, wir sehen uns.“

Wir zucken kurz, als wollten wir uns küssen, halten aber inne und er sieht mich nur mit diesem hilflosen Ich-will-dich-noch-immer-Blick an, bevor wir uns zuwinken und in unterschiedliche Richtungen gehen.

„Shit.“

„Ja.“

Und wir verlassen den Laden ohne Käse. Ich habe den ganzen Abend an nichts anderes mehr gedacht. Aus einem Abend wurden dann Tage und aus Tagen Wochen.


Irgendwann lief es nicht mehr gut und Vincent fragt mich – mitten an der Tafel, die Leute links und rechts unterhielten sich angeregt (Thomas war gerade gegangen) – „Liebst du ihn?“

„Was soll diese Frage?“

„Ich sehe doch, wie du ihm immer nachsiehst, wenn er geht. Du solltest dich mal sehen, wie du aussiehst.“

„Wie sehe ich denn aus?“

„Keine Ahnung, irgendwie traurig. Irgendwie abwesend. Als würdest du mit ihm da rausgehen.“

Ich aschte aus Verlegenheit in den Aschenbecher, um cool zu tun.

„So sehe ich immer aus.“

„Ja. Das ist ja das Problem!“

Er war nicht aufgebracht, das muss ich dazu sagen. Er war vollkommen ruhig. Es hatte etwas sehr Erwachsenes, wie er das Gespräch geführt hat.

Es ging noch ein paar Wochen weiter. Dann war Schluss.

„Weißt du, die Portugiesen haben dafür dieses Wort“, sagte Sébastien damals in der Brasserie, „Saudade. Kennst du das Wort? Du bist doch Portugiese.“


Ich weiß, was das Wort bedeutet. Es ist das Gefühl, das ich habe, wenn ich jede Nacht auf dem Balkon stehe und rauche.

Ich trage es mit mir herum zusammen mit meinem Schlüssel, meinem Portemonnaie und einer Packung Gauloises. Es gehört zu mir.

Zurück zur Tagesordnung.

Auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht von Paul, der sich entschuldigt für seinen Tonfall und findet, wir sollten uns nochmal in Ruhe unterhalten.

Ich sehe auf die Uhr. Geschäftsessen mit ein paar Leuten um 13 Uhr.

Thomas wird da sein.

Er hat eben schon angerufen. Ich bin nicht rangegangen.

Und das ist genau der Grund, warum wir nicht ficken sollten. Es scheiterte nie daran, dass wir uns nicht lieben. Wenn du Arbeit und Sex miteinander verbindest, wird eines von beidem irgendwann den Bach runtergehen – und das andere damit zwangsläufig auch.

Wir würden uns hassen. Ich könnte seine Stimme nicht mehr hören und seine immerfreundliche Art und sein jungenhaftes Meerschweinchenlachen – alles, was ich an ihm liebe – würde mich irgendwann dermaßen ankotzen, dass ich davon fantasieren würde, ihm ein Messer zwischen die Rippen zu stecken.

Naja, und dann war ich gestern Abend noch bei ihm – die Ausnahme von der Regel. Ich hatte einen schwachen Moment und saß traurig in seiner Küche. Wenn etwas Schlimmes passiert, wenn etwas wirklich, wirklich Schlimmes passiert, dann willst du plötzlich nur noch zu diesem einen Menschen.

Er lebt seit einiger Zeit allein. Nach der Trennung ist er zurück in das leerstehende Appartement seines Vaters. Es ist eines dieser typischen Pariser Wohlstand-Appartements: Hohe Decken, Stuck, Fischgrätenparkett, Kamine, Balkone mit Blick auf den Eiffelturm… Als ich kam, standen noch Kisten herum und er wirkte überfordert: Jogginghose, zerraufte Locken, bemüht sein Leben auf die Reihe zu kriegen. Und mittendrin ich mit meinem Schicksalsschlag. Maman hat Demenz, es gab Krach mit Paul. Ich erzähle ihm kaum mehr und dann fange ich an zu heulen.

„Gott, tut mir leid, ich weiß, du hast genug eigene Sachen um die Ohren“, sage ich, wische mir Tränen weg und gieße mir noch mehr Wein in ein portugiesisches Weinglas (sie waren mal ein Geschenk von mir zur Einweihungsfeier seiner ersten Wohnung, seitdem kriege ich Wein nur noch in diesen Rillenbechern serviert).

„Nein, nein, das ist gut. Erzähl es mir, was ist passiert?“

Er zieht den Stuhl weg und setzt sich zu mir. Dieser Blick. Es ist zwar eine Brille dazwischen, aber ich kann mein Herz klopfen hören, wenn er mich so ansieht. Bedingungslos, aufmerksam, als wäre ich das einzige, was wichtig wäre. Ein Gefühl, das sich nur mit noch mehr Wein ertragen lässt. Ich trinke ihn jetzt wie Traubensaft.

Aber das ist das Problem mit Alkohol und Situationen wie dieser. Du wirst so verdammt schwach. Und du denkst nur noch daran, wie sehr du ihn küssen willst.

„Warum habt ihr euch gestritten?“, fragt er mit einer Stimme wie ein frischaufgeschütteltes Kissen, in das man nach einem langen Arbeitstag seinen Kopf sinken lässt.

„Ach ich…“, manchmal ist jedes Wort eine Qual, „ich habe mich nach Einrichtungen für Maman umgesehen, aber für Paul kommt das eben überhaupt nicht in Frage. Gott, sorry, ich bin einfach so erschöpf. Es geht jetzt schon seit Wochen so. Paul kümmert sich um sie und dann lässt er einfach die Tür offen. Wir haben sie stundenlang gesucht und sie gefunden, wie sie“, hier fange ich wieder an zu heulen, weniger aus Traurigkeit, als vielmehr aus Erschöpfung, den Rest des Satzes würge ich noch irgendwie heraus, „alte Pizzareste aus dem Müll aß.“

Mein Kopf liegt jetzt an seinem warmen Pulli und ich höre seinen Herzschlag, seinen Atem und seine Stimme in seiner Brust. Seine Hände graben sich durch meine Haare und einen Moment spüre ich vollkommene Stille in meinem Herzen. Ich weiß, dass wir uns küssen werden, wenn ich ihn ansehe, also lasse ich mir damit Zeit. So muss es sich anfühlen, wenn die Sehnsucht verstummt in den Momenten, in denen sie Erfüllung findet.

Ich sehe ihn an.

Seltsam, dass ausgerechnet Thomas der Mensch ist, der meine Sehnsucht zum Verstummen bringt.

Meine Finger verfangen sich in kringeligen Locken, als wir uns küssen. Lechzend nach Nähe stehe ich auf und sinke richtig in ihn hinein. Seine langen Arme umschlingen meinen Körper. Es gibt einen kurzen atemlosen Blick und dann ist klar: Wir werden im Bett landen.

Seine großen Hände gleiten unter mein Hemd und berühren meine nackte Haut. Ich schlottere noch immer bei dem Gedanken daran. Wie nervös und gierig ich war, als ich den Knoten seiner Jogginghose nicht aufbekam. Und dann lag ich unter ihm, seine Finger in mir und im Halbdunkel des Schlafzimmers sah er plötzlich wieder so jung aus. „Los, steck ihn rein“, keuche ich irgendwann wie im Fieber. Völlig ungeduldig und wieder verrückt vor Sehnsucht. Er streift sich ein Kondom über und beugt sich über mich.

Er ist ein aufmerksamer Liebhaber. Zärtlich, davor und danach (so dass du fast daran zerbrichst), fordernd und hart, wenn er in dir ist, aber nicht ohne dir das Gefühl zu geben, dass du in diesem Augenblick das Schönste bist, das ihm je passiert ist. Sein tiefer, emotionaler Blick, nur unterbrochen von gierigen Küssen. Am Ende halte ich seinen schnaufenden, schlotternden Körper im Arm und streichele durch weiche Locken.

Wir reden nicht mehr. Streicheln und küssen nur noch unsere Wunden und irgendwann schlafe ich mit einem Gefühl der Stille in meinem Herzen ein wie man es sonst nur hat, wenn man das Rauschen des Meeres hört.

Wie hat Großmutter immer gesagt? „Se você encontrar alguém com quem seu coração está silencioso…“ Sie hat den Satz nie zu Ende gesprochen, aber ich habe es in ihren Augen gesehen. Dass sie einer Liebe nachtrauert, die sie nicht in ihrem Ehemann gefunden hat. Und dann hat sie ins Leere geschaut und immer weitere Sätze und Satzfetzen ausgeseufzt.

„Quando você ouve o som do mar, ele é a pessoa certa.”

Ich fand es immer ein bisschen kitschig. Aber ich war 13 und hatte gerade angefangen E-Gitarre zu spielen. Doch je älter ich werde, desto portugiesischer werde ich.

Meine Haut, meine Haare, mein Bartwuchs, die Art, wie ich fühle und denke und liebe.

Ich lese nicht viel, aber vor einiger Zeit habe ich den Pessoa, den mir Thomas zum 16. Geburtstag geschenkt hat, aus Sentimentalität wieder rausgeholt und da aufgeschlagen, wo ich vor 15 Jahren aufgehört habe zu lesen. Seite 36.

Jetzt sitze ich jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, in der Küche und lese ein paar Zeilen.

Es ist auf so wunderbare Weise deprimierend.

Ich lese es langsam – nicht weil ich ein fauler Leser bin (das auch, aber das ist nicht der Grund) –, sondern weil es so gut ist, dass es sich nur in kleinen Häppchen ertragen lässt. Oft lasse ich das Buch in meinen Schoß sinken und starre minutenlang in die Gegend, bis ich weiter lesen kann.

*

13 Uhr.

Wir treffen uns im 18. Arrondissement mit Paul (Hahn) und einem Mann von Columbia (Records). Kontaktpflege. Ein erster Pitch. Thomas erzählt ihnen vor Euphorie stotternd von unseren Ideen. „Ich-ich weiß nicht, wir-wir würden gerne mit Giorgio Moroder arbeiten. Und-und vielleicht Paul Williams!“

Er sieht mich von der Seite an und ich nicke auf meinem Maishähnchen herumkauend.

„Wer ist Paul Williams?“, fragt der Mann von Columbia und bei mir und Thomas herrscht einen Moment lang einvernehmliche Schockstarre. Wie oft wir früher auf seinem Bett gehockt und Phantom of the Paradise auf seinem Minifernseher geschaut haben. Gute Zeiten. Nur er und ich, das Rauschen der Heizung und Paul Williams.

„Kennen Sie Phantom of the Paradise?“, fragt Thomas.

„Nie gehört“, sagt der Columbia-Mensch und wühlt überfordert in seinen Moules Frites.

„Ist ein bisschen wie ein Film von Andy Warhol.“

„Aha.“

„Trash, Flesh und – wie hieß der dritte?“

„Heat“, sage ich und passenderweise treffen sich unsere Blicke in diesem Moment. Mir wird sofort heiß und ich sehe weg. Es ist so albern, wie wir hier sitzen und auf Business machen. Ich habe den Mann gestern Nacht in mir gehabt, verflucht. Ich weiß, wie sein Gesicht aussieht, wenn er kommt.

„Kriegen wir Nile Rodgers?“, fragt Paul – frei nach dem Motto:  Wer dir seinen kleinen Finger nicht reicht, den frag nach seiner ganzen Hand.

„Er ist auf MySpace, wir könnten ihn anschreiben“, werfe ich schulterzuckend ein.

„MySpace? Das ist doch so informell“, gibt der Columbia-Mann zu bedenken.

„Ja, aber das ist ja auch das Gute daran“, sagt Thomas.

„Klingt spannend! Was habt ihr vor?“

„Wir wollen Musik machen“, sage ich und sorge damit für viel Irritation. Thomas muss den Karren wie üblich aus dem Dreck ziehen. Er stottert irgendetwas zusammen über den Disco Sound der 70s, Chic und so weiter, bis er irgendwann nur noch wahllos alle Moroder-Hits aufzählt. Ich sitze in seiner herben Aftershave-Wolke und mir wird schwindelig von seinem Geschwafel.

(Das ungewohnte Gefühl, als sich unsere Penisspitzen berühren. Sein heißer Atem an meinem Ohr. Weiche Lippen, trunkene Blicke.)

Diese Flashbacks brechen in mir aus wie ein Fieber. Und das umgeben von polierten Weingläsern, weißen Tischtüchern und Anzugträgern. Ich möchte am liebsten eine rauchen, aber ich muss das hier noch bis zur Mousse au Chocolat aussitzen.

„Klingt toll, aber ist es auch das, was eure Fans von euch erwarten?“

„Das ist uns egal. Wir wollen keine Erwartungen erfüllen. Ganz im Gegenteil“, sagt Thomas. Etwas arrogant, aber auf diese leicht naive Art, die jeder an ihm liebt.

Der Columbia-Mann wird plötzlich immer blasser. Wahrscheinlich sind es die Miesmuscheln. Paul ruft ihm ein Taxi auf seiner App und bringt ihn vor die Tür. Wir sitzen also eine Weile allein am Tisch und warten geduldig auf die Mousse au Chocolat.

„Und geht es dir besser?“, fragt Thomas so vorsichtig, dass ich ihm am liebsten eine reinhauen würde.

„Hm.“

Flashbacks, jetzt wie Krämpfe. Seine weinerlicher Stimme an meinem Ohr, als er sich zuckend in mir ergießt. Ein aus meiner Kehle gepresstes entsetzliches Keuchen.

Ich suhle mich in der herben Hitze, die sein Körper neben mir ausdünstet wie so ein verdammter Junkie auf Entzug und schiele auf seine Hand – süchtig nach dem Gefühl seine Haut zu spüren. Und dann kommt endlich Erlösung in Form von zartschmelzender Mousse au Chocolat. Ich greife zum Löffel und schaufele sie wie ein Idiot in mich rein.

*

Als ich abends in der Brasserie sitze und Sébastien gerade auf der Toilette ist, denke ich über den Kellner aus dem Pessoa nach – „der mir soeben die Freundlichkeit erwies, gute Besserung zu wünschen, weil ich meinen Wein nur zur Hälfte getrunken habe.“ Das könnte mir nicht passieren. Ich trinke meinen Wein nie nur zur Hälfte.

„Ich habe mit Thomas geschlafen“, sage ich, als Sébastien zurück ist und er gibt dem Kellner ein Zeichen für noch mehr Wein.

Wir schweigen, bis der Wein kommt. Er schenkt sich und mir noch etwas ein.

„Cheers.“

„Cheers!“

„Mensch, wurde ja auch mal höchste Zeit.“

„Was?“

„Na was wohl. Dass dich mal wieder jemand flach legt, mein Freund!“

Ich keuche ein Lachen.

„Und dass es Thomas war, wundert dich nicht?“

„Nicht wirklich.“

Sébastian zuckt mit seinen schrankartigen Schultern, die in seinem kantigen Sakko noch viel kastiger wirken.

„Und was möchtest du mir jetzt darüber erzählen?“

„Ich weiß nicht. Ich bin durcheinander. Ich wäre gern mit ihm zusammen. Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach und—“

„Und jetzt?“

„Jetzt will ich es noch mehr.“ Ich nehme das Weinglas und trinke. „Ich will es mehr als alles andere.“

„Gut, meinen Glückwunsch! Was hält dich auf?“

„Naja, wir haben uns heute Mittag gesehen und es war seltsam. Ich weiß nicht, ob Zusammensein ein Konzept für uns ist.“

Sébastien zieht an seiner Zigarette und nickt nachdenklich mit seinem haarigen Kopf.

„Da ist noch die Sache mit der Arbeit.“

„Ach, Arbeit Schmarbeit.“

„Hm.“

„Wie war der Sex?“

„Viel zu gut.“

„Ja, wundert mich nicht.“

Ich schaue zu, wie er seine Zigarette ausdrückt.

„Wieso nicht?“

„Weil ihr euch liebt, ganz einfach.“

„Naja“, sage ich müde und auch sehr traurig, „einfach würde ich es nicht nennen.“

Zurück zu Hause rufe ich Paul an. Meinen Bruder. Nicht Paul Hahn. Ich will schon fast auflegen, da höre ich seine verschlafene Stimme am Telefon.

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“

„Ah, merde.“ Blick zur Herduhr – 0:52. „Tut mir leid, Paul, ich ruf morgen wieder an.“

„Oui. Merci.“

Ich denke kurz nach und dann tue ich genau das, was ich nicht tun sollte.



– Betrunken bei ihm anrufen. –




Herzklopfen.

„Hey, hab ich dich geweckt?“

„Nein, ich bin noch wach.“

„Warum bist du noch wach?“

„Warum rufst du mich an, wenn du denkst, dass ich schlafe, haha.“

Schon allein für dieses kleine Lachen hat sich der Anruf gelohnt. Ich gehe an den Küchenschrank und schenke mir einhändig ein Glas Wein ein.

„Wäre es sehr kitschig zu sagen, dass ich einfach nur deine Stimme hören wollte?“

„Haha. Schon ein bisschen, aber--“, kurzes Zögern, „es gefällt mir.“ Seine Stimme hat plötzlich etwas sehr Intimes. Nichts Erotisches, aber sie hat ihre Kälte von heute Mittag verloren. Er flüstert in den Hörer, hängt vielleicht ein paar Erinnerungen nach. Und plötzlich ist es, als wäre er mit mir in dieser Küche, würde seine Arme von hinten um mich legen und mir von seinem Tag erzählen.

Was er da wohl erzählen würde? Ich habe mit meinem besten Freund geschlafen und als ich aufgewacht bin, war er einfach verschwunden. Beim Mittag später hat er mich nicht einmal angesehen.

Ich hocke mich mit meinem Glas Wein auf den Küchenstuhl und zünde mir eine Zigarette an. „Ich lese gerade wieder den Pessoa.“

„Welchen Pessoa?“

„Deinen Pessoa. Den du mir geschenkt hast.“

„Ahja. Das Buch der Unruhe. Ich erinnere mich. Das ist ewig her!“

Mit tonloser Stimme lese ich ihm ein paar Lieblingsstellen vor.

„…Die Gefühle, die am meisten weh tun, die Gefühle, die am meisten stechen, sind die absurden: Die Sehnsucht nach unmöglichen Dingen, gerade weil sie unmöglich sind; Nostalgie für das, was niemals war; der Wunsch nach dem, was hätte sein können; bedauere, nicht jemand anderes zu sein; Unzufriedenheit mit der Existenz der Welt. Alle diese Halbtöne des Seelenbewusstseins erzeugen eine raue Landschaft in uns, eine Sonne, die ewig auf dem untergeht, was wir sind.“*

Ich ziehe an meiner Zigarette und es ist so still, dass ich das Knistern von brennendem Zigarettenpapier hören kann.

„Ganz schön düster“, sagt Thomas in die Stille.

„Ja.“

„Und was sind das für unmögliche Dinge, nach denen du dich sehnst?“

„Ich weiß nicht“, ich nehme einen tiefen Atemzug und sage mit vor Wehmut zitternder Stimme: „Du?“

Thomas lacht. „Ich? Du sehnst dich nach mir?“

„Ja.“

„Oh Gott, Guy…“

Ich stecke mir gleich noch eine Zigarette an. Rauchen mit zitternden Fingern. Er sagt eine ganze Weile lang nichts, aber ich kann ihn denken und stottern hören.

„Warum bist du heute Morgen gegangen?“

„Vielleicht weil ich Angst hatte“, nuschele ich und halte mir den Kopf als hätte ich Kopfschmerzen.

„Angst? Wovor?“

„Ich wusste nicht, wie du reagieren würdest.“

„Puh.“ Ich liebe seine Stimme. Das komplette Gegenteil von mir. Jungenhaft, gut gelaunt, optimistisch. Aber nicht auf diese nervige, aufgesetzte Art, sondern auf eine leicht naive, einfach lebensfrohe Art, die mir das Gefühl gibt, dass das Leben mit ihm leichter und sehr, sehr schön sein könnte.

„Ich denke, ich hätte meinen Arm um dich gelegt“, sagt er jetzt mit dieser Stimme, „und dich noch fünf Minuten lang gehalten. Aus fünf Minuten wäre vielleicht eine halbe Stunde geworden. Und dann wäre ich aufgestanden und hätte dir ein Rührei gemacht. Vielleicht hätte ich Croissants geholt und den Tisch für dich gedeckt.“

Verdammt, das will ich. Ich fantasiere jeden Morgen davon, wenn ich alleine mit meinem Pessoa an meinem Tisch sitze.

„Und dann hätten wir uns über Arbeit unterhalten“, sage ich launisch, fast vorwurfsvoll, und mache meine eigene Fantasie damit kaputt. Ich werfe es wie ein brennendes Streichholz in meinen Tagtraum und sehe ihn in Rauch verpuffen.

„Vielleicht“, räumt Thomas hilflos ein.

„Vielleicht verbindet uns ja gar nichts außer die Arbeit.“

„Das liegt daran, dass wir das, was uns verbindet, zu unserer Arbeit gemacht haben.“

„Oui.“

„Das muss nicht heißen, dass es nicht funktionieren kann.“

„Je ne sais pas. Ich will lieber nicht rausfinden, wenn es nicht funktioniert. Da lebe ich lieber mit der Illusion.“

„Du quälst dich lieber weiter mit deiner Sehnsucht als hier bei mir im Bett zu liegen?“

Allein die Vorstellung jetzt bei ihm zu sein tut so schön weh.

„Wenn ich meine Sehnsucht nicht habe, habe ich nichts mehr.“

Er seufzt und atmet schwer in den Hörer.

„Ich bereue es gerade wirklich sehr, dir diesen Pessoa geschenkt zu haben.“







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* Zitat: Fernando Pessoa, "Das Buch der Unruhe" (Seitenzahl unbekannt)
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