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Still

von nikkinvin
Kurzbeschreibung
SongficFreundschaft, Schmerz/Trost / P16 / MaleSlash
Nikki Sixx Vince Neil
11.01.2020
11.01.2020
1
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11.01.2020 6.567
 
Herzlich willkommen zu einem weiteren, kleinen OS meiner Lieblingsband Mötley Crüe. Dieses Mal zu einem Song, der so auf den ersten Blick überhaupt nicht zu ihnen passen mag, aber ich hoffe, ich hab trotzdem was halbwegs vernünftiges zusammengetippt :)

Dieser OS dreht sich um den wundervollen Song Still von Jupiter Jones aus dem gleichnamigen Album Jupiter Jones von 2011.
Des Weiteren finden sich im 5. Absatz auch ein paar wenige Zeilen aus dem Song Without you von Mötley Crüe aus dem Album Dr. Feelgood von 1989.

Auch hier muss ich ein ganz große Danke aussprechen an meinen wundervollen Freund Luca, der mir bei der Kurzbeschreibung geholfen hat <3

WARNUNG: Drugs, Chara-Death

Die Jungs von Mötley Crüe gehören ausschließlich sich selbst, ich leihe sie mir nur für diesen OS aus und verdiene damit kein Geld. Die Idee stammt aber von mir.

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So still
Dass jeder von uns wusste, das hier ist
Für immer
Für immer und ein Leben

Schwer atmend und den Blick noch leicht verschwommen schaute Vince nach oben an die Zimmerdecke. In seinem Kopf hatte sich eine angenehme Schwere ausgebreitet und alles um ihn herum drehte sich ganz leicht. Nach dem Unfall hatte er eigentlich vom Gericht die Auflage bekommen, nüchtern zu bleiben, aber scheiß drauf. Die anderen drei durften Party machen, während er nur mit einem Glas Wasser in der Hand danebenstand und zusah? Ganz bestimmt nicht. Es war ein Unfall gewesen und es hätte genauso gut Mick, Tommy oder Nikki treffen können. Leider war aber er der Idiot, der Razzle auf dem Gewissen hatte und in nüchternem Zustand ständig dessen Gesicht vor sich sah. Nein danke, darauf konnte Vince wirklich verzichten. Im Gefängnis hatte er keine Wahl gehabt und die Schuldgefühle hatten ihn beinahe umgebracht. Es waren die schlimmsten neunzehn Tage seines Lebens gewesen. Aus Respekt vor Razzle hatte er sich zuerst wirklich bemüht, clean zu bleiben, aber seine Bandkollegen – allen voran Nikki – machten es ihm nicht leicht. Kurz nach seiner Entlassung hatte der Idiot ihm Heroin untergejubelt, aber Vince konnte ihm nicht mal wirklich böse sein. Er war ja selbst nicht besser. Vor ein paar Monaten hatte er Mick heimlich Koks in seinen Wodka geschüttet, einfach nur, um zu sehen, was passiert. Schon heute Mittag nach dem Aufstehen hatte er sich eine Line gezogen, noch bevor er die erste Zigarette geraucht oder etwas gegessen hatte und nach ihrem Konzert am Abend waren noch einige Joints und ein paar Pillen dazugekommen. Vince wusste gar nicht, was er heute alles genommen hatte. Ständig hatte ihm irgendjemand eine Tablette angeboten, die angeblich richtig einschlug und bei so etwas ließ er sich natürlich nicht zweimal bitten. Müde schloss er die Augen, was das Schwindelgefühl nur noch weiter verstärkte und er hörte das leise Rascheln der Bettdecke, als sich die Person neben ihm bewegte. Er spürte, dass derjenige den Kopf auf seine Brust und die Hand auf seinen Bauch legte. Den Groupies, die Vince sich regelmäßig mit aufs Zimmer nahm, erlaubte er so etwas nicht. Diese wurden von ihm direkt danach rausgeworfen, wobei er sich kein bisschen um ihre Gefühle scherte und bei den besonders anhänglichen Exemplaren auch gern mal ein wenig grob wurde. Langsam und ungelenk hob er die Hand, um der anderen Person immer wieder mit den Fingern durch die pechschwarzen Haare zu fahren und Vince wusste selbst nicht, wieso er das tat. Er wusste auch nicht, wieso der Andere es zuließ. Vermutlich lag es an den zahlreichen Drogen, die sie sich vor und nach dem Konzert reingepfiffen hatten, aber eigentlich interessierte es ihn nicht sonderlich. Nikki sagte kein Wort und Vince hörte ihn und sich selbst nur leise atmen. Ansonsten war es totenstill im Zimmer und er wusste nicht so recht, wie ausgerechnet das hatte passieren können. Er und Nikki? Verdammte Scheiße, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Eigentlich verging kein Tag, an dem er sich nicht ordentlich mit Nikki fetzte. Oft genug prügelten sie sich sogar oder warfen Dinge nach dem jeweils anderen. Noch heute zierte eine kleine Narbe seinen Hals, direkt unterm rechten Ohr, weil Nikki vor drei Jahren eine halb zerbrochene Whiskeyflasche im Streit nach ihm geworfen hatte. Er war wahnsinnig leicht reizbar und sehr temperamentvoll, doch nun lag er hier neben Vince, ganz ruhig und artig, während er die Augen geschlossen hatte und sich keinen Millimeter rührte. Vince fühlte sich anders, als all die Male zuvor, in denen er neben irgendeinem seiner weiblichen Fans gelegen und gehofft hatte, dass sie von sich aus ging, ohne ihm eine Szene zu machen. Selbst, wenn Nikki die ganze Nacht bei ihm bleiben wollte, den Kopf auf Vince‘ Brust gebettet, würde ihn das nicht sonderlich stören und kurz hielt er die Luft an. Das war abartig. Vielleicht sollte er ab jetzt nicht mehr innerhalb weniger Stunden ein halbes Dutzend Pillen einwerfen, die er nicht einmal kannte. Ja, daran musste es liegen. Er war high und Nikki auch. Im Raum war es immer noch totenstill und egal, wie oft Vince sich einredete, dass es an den Drogen lag, das seltsame Gefühl blieb.

Und es war so still
Dass jeder von uns ahnte, hierfür gibt’s
Kein Wort
Das jemals das Gefühl beschreiben kann

Diese Stille tat ihm schon fast in den Ohren weh und die Tatsache, dass er Vince‘ Herzschlag spüren konnte und es ihn beruhigte, machte die Situation nicht besser. Es war unmöglich für Nikki, das hier zu beschreiben. Beim Schreiben der Songs für Mötley Crüe hatte er keine Probleme damit, die richtigen Worte zu finden. Eher im Gegenteil und auch ansonsten war Nikki alles andere als auf den Mund gefallen, aber das hier? Gut zwei Stunden des Abends fehlten ihm, sie waren komplett aus seinem Gehirn gelöscht. Vielleicht hatte er jemanden mit dem Auto überfahren, die halbe Belegschaft des Hotels vollgekotzt, irgendwen verprügelt oder einfach nur geschlafen. Nikki wusste es nicht mehr, aber eigentlich war es ihm auch egal. Was ihn hingegen brennend interessierte, war, wieso er jetzt ausgerechnet mit Vince im Bett lag. Sie beide waren riesige Sturköpfe, die nichts lieber taten, als sich gegenseitig zu provozieren. Fast pausenlos stritten sie miteinander, doch jetzt lag er hier in Vince‘ Armen und keiner sagte ein Wort, alles war ruhig und entspannt. Auch Nikki schob diesen widerlichen Fehltritt auf die Drogen. Jedes Mal, wenn er Vince ansah, hatte dieser entweder ein Bier, eine Schnapsflasche, Koks oder irgendwelche Pillen in der Hand und obwohl er selbst keinen Deut besser war, rieb Nikki ihm wahnsinnig gern unter die Nase, dass er eigentlich nüchtern bleiben sollte. In Wahrheit scherte er sich einen Dreck um das Gerichtsurteil oder darum, dass Vince für lange Zeit im Knast sitzen würde, wenn er gegen seine Auflagen verstieß. Das alles war Nikki total egal. Er wollte Vince einfach nur seine Fehler vorhalten, weil er selbst sich dann besser fühlte. Was genau der Blonde heute alles eingeworfen hatte, wusste er nicht und es interessierte ihn auch nicht wirklich. Er selbst hatte vor einiger Zeit Heroin für sich entdeckt und obwohl Nikki schon eine Überdosis hinter sich hatte, konnte er nicht damit aufhören. Er fühlte sich frei und glücklich und entspannt, wenn er sich einen Schuss setzte, aber manchmal tat er dann auch dumme Dinge. So, wie das hier zum Beispiel. Nikki fand keine Worte für das, was er gerade fühlte. Zufriedenheit, Abscheu, Scham, Wut, Verzweiflung, Befriedigung, eine Mischung aus all dem. Nichts davon traf zu und doch traf irgendwie alles zu. Machte das Sinn? Nicht wirklich, aber Nikki war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Sein benebeltes Gehirn sagte ihm noch, dass er aufstehen und gehen sollte, doch seine Glieder fühlten sich bleischwer an, sodass er es gar nicht erst versuchte. Morgen wäre sowieso wieder alles beim Alten und er würde sich mit Vince prügeln und fetzen, so wie immer. Wenn Nikki geahnt hätte, wie falsch er damit lag, wäre er wahrscheinlich doch aufgestanden und gegangen.

So still
Dass alle Uhren schwiegen
Ja, die Zeit kam zum Erliegen
So still und so verloren gingst du fort
So still und so verloren gingst du fort

Vince hörte ein verzweifeltes Schluchzen und es dauerte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass es von ihm selbst kam. Nikki hatte seine zweite Überdosis nicht überlebt und er musste das ausgerechnet aus dem Radio erfahren. Er hätte ihn aufhalten und ihm sein scheiß Heroin wegnehmen müssen, aber wie so oft hatte Vince einfach gar nichts getan und gehofft, dass sich alle Probleme von selbst regelten. Über den Ausrutscher vor einigen Jahren hatten sie niemals ein Wort verloren und seither war auch nichts dergleichen mehr passiert, aber ihr Verhältnis zueinander hatte sich verändert. Nikki war ihm gegenüber noch um ein Vielfaches aggressiver und herrschsüchtiger geworden und Vince provozierte absichtlich Streit wann immer er konnte. Seine letzten Worte zu Nikki waren gewesen, dass er eine elende Nervensäge war und sich verpissen sollte. Jetzt bereute er es. Nach ihrer Girls, Girls, Girls Tour hatte Nikki keine Lust gehabt, nach Hause zu fahren und niemand hatte etwas dagegen gesagt, im Gegenteil. Vince war sogar froh gewesen, dass er ein paar Wochen Ruhe haben würde und sich nicht mit ihm streiten musste. Und nun hatte er durch Zufall im Radio gehört, dass Nikki an einer Überdosis gestorben war. In einem verdammten Hotel am anderen Ende der Welt. Vince hatte seit ihrem Abschlusskonzert nichts mehr von ihm gehört und viel zu spät wurde ihm klar, dass sie Nikki niemals hätten alleinlassen dürfen. Seine beschissene Heroinsucht war vollkommen außer Kontrolle geraten und jetzt hatte Mötley Crüe ein Mitglied verloren. Wie versteinert saß er auf seiner hellgrauen Couch, während er das Telefon anstarrte, das vor ihm auf dem Wohnzimmertisch lag. Er hatte sofort Tommy, Mick, ein paar andere Freunde und Mötley‘s Manager Doc und Doug angerufen. Jetzt wartete Vince darauf, dass sich irgendjemand bei ihm meldete und ihm endlich sagte, was passiert war. Er spürte ein schmerzhaftes Stechen in der Brust, das ihm fast die Luft zum Atmen nahm und instinktiv wusste er, dass es nicht von dem Alkohol, dem Koks oder den Pillen herrührte. Die Uhr über dem Fernseher war stehengeblieben und jetzt gab es nicht einmal mehr das leise Ticken, das die Stille durchbrach. Es kam Vince vor, als sei die Zeit stehengeblieben und er spürte, dass ihn diese Ruhe langsam verrückt machte. Nikki durfte einfach nicht tot sein. Die im Radio mussten sich geirrt haben und er klammerte sich verzweifelt an diesen winzigen Funken Hoffnung. Wenn doch nur endlich jemand anrufen und ihm sagen würde, dass er recht hatte... “Daddy? Alles okay?“, vernahm er plötzlich die piepsige Stimme seiner dreijährigen Tochter neben sich und Vince zuckte erschrocken zusammen. Skylar schaute ihn besorgt mit großen Kulleraugen an, während sie ihren weißen Stoffhasen fest an sich drückte. So schnell und unauffällig wie möglich wischte Vince sich die Tränen aus dem Gesicht, ehe er aufstand und Skylar in den Arm nahm. Sie liebte Nikki und Tommy über alles und er wusste nicht, wie er ihr beibringen sollte, dass... “Ja, Baby, alles in Ordnung. Ich hab dich lieb“, murmelte Vince mit erstickter Stimme und er wusste, dass Skylar ihm kein Wort glaubte. Sie war zwar erst drei Jahre alt, aber nicht bescheuert, doch zum Glück fragte sie nicht weiter. “Ich hab dich auch lieb“, sagte sie nur, während sie ihre Arme fest um seinen Hals schlang und Vince musste furchtbar mit sich kämpfen, um nicht sofort wieder loszuheulen. “Und jetzt geht’s wieder ins Bett, na komm.“ Er schob Skylar sanft in Richtung ihres Kinderzimmers und musste ein paar Mal tief durchatmen, um sich zu beruhigen, ehe er ihr langsam folgte. Gerade hatte er sie zugedeckt, als er es Klingeln hörte und so schnell er konnte, sprintete Vince zum Telefon.

Ich hab so viel gehört und doch kommt’s niemals bei mir an
Das ist der Grund warum ich nachts nicht schlafen kann

Zum gefühlt tausendsten Mal schaute Vince auf seine Armbanduhr, die neben ihm auf dem Nachttisch lag, ehe er seufzte und sich auf die andere Seite drehte. Es kam ihm vor, als seien Jahrzehnte vergangen, seit er das letzte Mal richtig geschlafen hatte, aber in Wahrheit waren nur wenige Wochen verstrichen. Der Anruf war von Tommy gewesen, der sich die halbe Nacht durch alle möglichen Krankenhäuser, Freunde und Journalisten telefoniert hatte. Nikki war tatsächlich tot gewesen, allerdings nur für knapp zwei Minuten. Ein Sanitäter hatte es mit Hilfe von zwei Adrenalinspritzen geschafft, ihn wiederzubeleben und Doc hatte dafür gesorgt, dass Nikki sofort in eines der Krankenhäuser von Los Angeles verlegt wurde. Natürlich hatte er sich dort auf der Stelle selbst entlassen und sich zu Hause vermutlich direkt den nächsten Schuss gesetzt. Und all das einen Tag vor Heiligabend. Wie jedes Jahr hatte Vince eine Woche später eine große Silvesterparty geschmissen und selbstverständlich auch die Jungs eingeladen. Nikki hatte einfach furchtbar ausgesehen und die meiste Zeit über verloren und am ganzen Körper zitternd von allen abseits gestanden, während er einen Drink nach dem anderen gekippt hatte. Es hatte Vince wirklich Mühe gekostet, doch nach einigen Drinks war er schließlich über seinen Schatten gesprungen und hatte versucht, mit Nikki zu reden, aber der hatte alles abgeblockt und wieder einmal Streit angefangen. In seinen Augen stand eindeutig der Schrei nach Hilfe geschrieben, aber Vince wusste, dass Nikki lieber sterben würde, als die Kontrolle abzugeben und sich helfen zu lassen. Später, lange nach zwei Uhr nachts, hatte er Nikki bewusstlos auf dem Boden des Gästebadezimmers gefunden. Die Spritze steckte noch in seinem Arm und eine Spur aus geronnenem Blut zog sich bis nach unten zum Handgelenk. Seine Klamotten und auch den hellgrauen Vorleger vor der Toilette hatte er mit Blut eingesaut, aber das war es nicht, was Vince zur Weißglut brachte. Das Heroin hatte Nikki ebenfalls neben sich auf dem Boden liegen und er war aufgewacht, als Vince es sich geschnappt und kurzerhand die Toilette heruntergespült hatte. Er hatte es so satt. Skylar war hier und Nikki ließ seine scheiß Drogen einfach offen herumliegen. Vince und auch seine anderen Gäste waren alle keine Unschuldsengel, aber jeder einzelne hatte begriffen, dass man sich zumindest ein kleines bisschen zusammenreißen musste, wenn sich ein kleines Kind im Haus befand. Jedes Mal, wenn seine Ex-Frau Sharise die Kleine zu ihm brachte, räumte Vince vorher artig alle Drogen weg und bisher hatten die Jungs sich immer im Griff gehabt und darauf geachtet, dass Skylar nichts von ihren Eskapaden mitbekam. Nikki hatte sich mühsam vom Boden aufgerappelt und ihn wütend angeschrien, was ihm denn einfiel und für wen er sich bitte hielt, bevor er ausgeholt hatte, um Vince zu schlagen. Dieser hatte Nikki grob an den Schultern gepackt, ihn gegen die Wand gedrückt und versucht, ihm möglichst ruhig das Problem zu erklären, aber der Bassist wollte davon nichts hören. Es interessierte ihn überhaupt nicht, dass er Skylar fahrlässig einer unnötigen Gefahr ausgesetzt hatte. Alles, worum es Nikki ging, waren seine beschissenen Drogen gewesen und Vince hatte endgültig die Schnauze voll gehabt. Ohne ein Wort zu sagen hatte er Nikki am Arm gepackt und ihn vor den Augen aller Gäste rausgeworfen. Seitdem herrschte Funkstille zwischen ihnen und es machte Vince so wütend, dass Nikki nicht einmal den Anstand besaß, sich zu entschuldigen. Obwohl er eigentlich der Letzte war, der sich darüber beschweren sollte. Vince konnte sich nicht erinnern, sich jemals bei jemandem ernsthaft entschuldigt zu haben, aber hier ging es um seine Tochter, verflucht nochmal. Die Regeln waren klar. Keine Drogen im Haus, wenn Skylar da war. Zumindest nicht dann, wenn die Gefahr bestand, dass sie etwas davon mitbekam. Das Schlimmste daran war, dass Nikki die Kleine eigentlich total liebhatte und niemals irgendetwas tun würde, was ihr schaden könnte. Nur war ihm seine scheiß Heroinsucht mittlerweile wichtiger und Vince wusste, dass der Idiot sich eher früher als später damit umbringen würde. Diese Wut, die Sorgen und all die unausgesprochenen Dinge zwischen ihm und Nikki schlugen ihm auf den Magen und sorgten dafür, dass er seit Wochen keine Nacht mehr richtig durchschlafen konnte. Sie schafften es aber einfach nicht, miteinander zu reden, ohne sich nach wenigen Minuten ordentlich zu fetzen und nicht zum ersten Mal dachte Vince darüber nach, Mötley Crüe zu verlassen.

Wenn ich auch tausend Lieder vom Vermissen schreib‘
Heißt das noch nicht, dass ich versteh‘
Warum dieses Gefühl für immer bleibt

Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe herum, während er auf das Blatt Papier und die wenigen Zeilen darauf starrte, das vor ihm auf dem Tisch lag. Während ihrem Entzug hatte Nikki mit Hilfe der Jungs zwei Drittel der Texte für ihr neues Album geschrieben, dem sie nach kurzer Zeit den Titel Dr. Feelgood verpasst hatten. Drei Monate hatte es gedauert, aber nun waren sie alle endlich clean. Allerdings hatte der ständige Kontakt zu Vince wieder etwas in ihm aufgewühlt, das Nikki jahrelang unter einem ganzen Haufen an Ausreden und Ängsten begraben hatte. Auch dahingehend hatte ihm das Heroin unglaublich gut geholfen, aber das war keine Option mehr für ihn. Eine dritte Überdosis wollte er nicht durchmachen müssen und er nahm den Bass von seinem Schoß, ehe er ihn neben sich auf das Sofa legte und sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr. Zwischen ihm und Vince war soweit alles in Ordnung, aber sie konnten immer noch nicht normal miteinander umgehen. Jedes Gespräch mit ihm fühlte sich seltsam verkrampft und falsch an und Nikki konnte es kaum ertragen, ihn anzusehen oder neben ihm zu sitzen. Sie hätten niemals miteinander schlafen dürfen und bis heute hatten sie es nicht geschafft, darüber zu reden. Niemand wusste etwas von diesem Ausrutscher und Nikki wollte verdammt sein, wenn es jemals irgendwer erfuhr. Er nahm seinen Kugelschreiber wieder in die Hand und zog den Text näher zu sich heran, der erst aus vier Zeilen bestand, aber ziemlich sicher den Titel Without you bekommen würde. ‘Without you I‘d be lost‘ - ‘I‘d slip down from the top‘ - ‘I‘d slide down so low‘ - ‘Boy, you never, never know‘. Nikki stockte und minutenlang starrte er auf die Zeilen, die er soeben geschrieben hatte. Kurz entschlossen strich er das Wort ‘Boy‘ durch und ersetzte es durch ‘Girl‘.

“Vielleicht würden dir die Texte besser gefallen, wenn du mit uns daran arbeiten würdest!“, schnauzte Tommy wütend und auch Nikki spürte den Zorn in sich hochkochen. Die Feelgood-Tour hatte ewig gedauert und sie alle wahnsinnig geschlaucht. Es war für Nikki nicht leicht gewesen, monatelang jeden Tag mit Vince zu verbringen und schnell waren sie alle in alte Verhaltensmuster zurückgefallen. Vince trank wieder und warf sich eine Pille nach der anderen ein, während Nikki erneut zu einem herrschsüchtigen Kontrollfreak geworden war. Ihr Alltag bestand wieder daraus, sich wegen Kleinigkeiten zu zoffen und sich gegenseitig zu provozieren, wo es nur ging. Dr. Feelgood war ihre erste Nummer-Eins-Platte gewesen und das nächste Album musste mindestens dasselbe erreichen. Mit weniger wollte Nikki sich nicht zufriedengeben und dementsprechend stark setzte er die anderen unter Druck. Tommy und Mick hatten damit keinerlei Probleme, denn auch ihr Ehrgeiz war geweckt, während Vince sich einen Dreck um ihr neues Album scherte. Zu den Proben tauchte er entweder viel zu spät oder gar nicht auf und wenn er dann kam, tat er nicht einmal so, als würde er ihnen bei den Texten helfen wollen. “Wir sind hier, um zu arbeiten und das wollen wir auch, aber was wir nicht wollen, ist dich ständig zu zwingen, auch hier zu sein! Machst du das eigentlich mit Absicht?“, motzte Nikki und er versuchte gar nicht, seinen überheblichen Tonfall zu verstecken. Vince‘ Verhalten nervte ihn schon seit Wochen und Tommy lag ihm immer öfter in den Ohren, dass sie sich einen neuen Sänger suchen sollten. “Wisst ihr was? Fickt euch. Also, ich bin raus. Scheiß drauf, das war‘s“, fauchte Vince bissig und Nikki fühlte sich, als hätte er soeben einen Tritt in den Magen kassiert. Irgendetwas in seinem Inneren war gerade zerbrochen und er wusste, dass er nur eine Chance hatte, um Vince umzustimmen. “Gut, du bist nämlich gefeuert!“, rief er stattdessen und die Worte waren schon über seine Lippen, bevor er darüber nachdenken konnte. Nein, verdammt, das wollte er ganz sicher nicht, aber Nikki konnte nicht anders. Wie immer versteckte er seine Angst und die Unsicherheit hinter seinem aggressiven Trotz. “Ich bin doch schon raus, du Idiot“, sagte Vince nur, ehe er die Tür hinter sich zuschlug und die anderen im Studio stehenließ.

So laut
Die Stunden nach dem Aufschlag, als es galt
Das alles
Zu erfassen und verstehen

Wie gelähmt saß Vince auf seiner Couch und das schon seit Stunden, während er einfach nur dumpf an die Wand starrte und einen Whiskey nach dem anderen trank. Anders konnte er die Situation nicht ertragen und es würde ihn nicht wundern, wenn die Nacht mit seiner ersten Überdosis endete. Er hatte alles verloren. Monatelang hatte Skylar im Krankenhaus gelegen, unzählige Operationen über sich ergehen lassen müssen und immer, wenn sie gerade auf dem Weg der Besserung schien, hatten die Ärzte etwas Anderes gefunden. Jedes Mal hatte Vince im Krankenhaus gewartet, um an ihrer Seite sein zu können, wenn sie aufwachte. Skylar hatte Angst gehabt, weil sie zu jung gewesen war, um das alles wirklich zu verstehen und Vince hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr die Wahrheit zu sagen. Ihre Überlebenschancen waren sehr gering gewesen, aber als der Arzt heute nach weniger als einer Stunde zu ihm gekommen war, mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, da hatte Vince es gewusst. So schnell konnte eine derart komplizierte Operation gar nicht vorbei sein und noch bevor der Arzt ein Wort sagen konnte, hatte Vince schon wie ein Schlosshund geheult. Sharise war völlig ausgerastet und sie hatte geweint und ihm an den Kopf geworfen, dass er daran schuld sei. Vince war ihr nicht einmal böse deswegen, denn ihm ging es nicht anders. Er würde auch am liebsten irgendjemandem die Schuld geben und denjenigen hassen, aber es war sinnlos. Das brachte Skylar auch nicht zurück und Vince wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Im Moment fühlte er gar nichts, aber er wusste, dass das vermutlich nur der Schock war. Fast rechnete er damit, dass Skylar plötzlich neben ihm stand, mit ihrem Stoffhasen im Arm, und ihn bat, ihr noch eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, weil sie schlecht geträumt hatte. Dass das nie wieder passieren würde versuchte Vince mit aller Macht, auszublenden. Er hatte es längst noch nicht realisiert, dass er Skylar nie wieder in den Arm nehmen oder sie lachen hören würde. Noch nie hatte er die Jungs so sehr vermisst, wie in diesem Augenblick. Sie konnten diese beschissene Situation auch nicht ändern, aber wenigstens wäre er dann nicht allein. Seit drei Jahren hatte er kein Wort mehr mit ihnen gewechselt und keine zwei Wochen nach seinem Ausstieg war er schon ersetzt worden. Vince erinnerte sich noch gut daran, wie wütend er gewesen war und wie unglaublich es ihn verletzt hatte. Insgeheim war das nur ein weiterer Versuch gewesen, Nikki zu provozieren und er hatte gar nicht aus der Band aussteigen wollen. Zumindest nicht wirklich. Er wusste ja selbst nicht, was er sich erhofft hatte. Vielleicht, dass Nikki ihn aufhielt. Dass er ihn bat, Mötley Crüe nicht zu verlassen. Dass er endlich den ersten Schritt machte und all das Unausgesprochene zwischen ihnen ansprach, weil er selbst es nicht konnte. Stattdessen hatte Nikki nur gesagt, er sei gefeuert. Auch damals hatte Vince lange gebraucht, um wirklich zu verstehen, dass er raus war. So ein furchtbares und lähmendes Gefühl hatte er nie wieder erleben wollen und jetzt traf es ihn erneut und zwar so heftig, dass ihm fast die Luft wegblieb.

Und es war so laut
Dass alles, was wir dachten
Nichts als Leere zu uns brachte

Nikki hasste Veränderungen. Er hasste es, dass Vince gegangen war und noch mehr hasste er sich selbst, weil er ihn nicht aufgehalten hatte. John, ihr neuer Sänger, war ein netter Kerl und die Texte, die er schrieb, waren wirklich solide. Aber es war nicht dasselbe. Seit der ersten Sekunde war Tommy von ihm hin und weg gewesen und er hatte sich am stärksten dafür eingesetzt, dass John ihr neuer Sänger wurde. Schließlich hatte Nikki nachgegeben, denn sie brauchten immerhin einen Sänger. Oft hatte er überlegt, mit Vince zu reden und ihn zu bitten, zurückzukommen, aber Nikki hatte es nicht über sich gebracht. Seine Sturheit, sein Stolz und vor allem seine Unsicherheit hatten ihn davon abgehalten. Er mochte John eigentlich, aber der war nun mal nicht Vince und das störte ihn. Nikki wusste, dass Mick sich ständig mit John in den Haaren lag, weil er nach wie vor darauf bestand, ganz allein für den Gitarrensound verantwortlich zu sein. Mit Vince hatte es diesbezüglich nie ein Problem gegeben, aber John konnte und wollte auch Gitarre spielen und bei diesem Thema reichte schon ein falsches Wort von ihm und Mick flippte völlig aus. Dazu kam noch, dass John und Vince einen komplett unterschiedlichen Gesangsstil hatten und sich auch ihre Stimmen kein bisschen ähnelten. All die Songs, die Nikki in der Annahme geschrieben hatte, Vince würde sie singen, konnten sie nicht mehr verwenden und das neue Material war... Anders. Nicht schlecht oder langweilig, nur anders. Aber ihren Fans gefiel das nicht. Ihr Album war auf Platz Sieben der Charts eingestiegen und zunächst war Nikki verdammt erleichtert gewesen, aber eine Woche später war es bereits auf Platz achtundzwanzig abgerutscht. Was für eine Katastrophe. Auch die geplante Tour hatten sie nach wenigen Konzerten abbrechen müssen, weil die Besucher ausgeblieben waren. Vor Wut hatte Nikki ihren Manager Doug und den Produzenten des Albums gefeuert. Irgendjemandem musste er schließlich die Schuld geben und er wollte nicht einsehen, dass er selbst ebenso verantwortlich für dieses Dilemma war. Er mochte die Songs des Albums, konnte aber nachvollziehen, dass es den Fans nicht gefiel. Schon bei den Proben und den Aufnahmen zum Album hatte er gemerkt, dass John einfach nur... Laut war. Tommy gefiel das wahnsinnig gut, denn das ging genau in die Richtung, die er sich von Mötley Crüe erhofft hatte. Nikki hingegen war skeptisch und je öfter sie probten, desto unsicherer wurde er. Das alles fühlte sich falsch an. Er konnte kaum seine eigenen Gedanken hören, wenn John sang und nach den Proben fühlte er sich furchtbar ausgelaugt und regelrecht leer. Vince sollte eigentlich am Mikrofon stehen und nicht John, aber Nikki war viel zu stolz, um das zuzugeben. Inzwischen hatte er wieder angefangen, Heroin zu nehmen, weil er einfach nicht wusste, wie er sonst damit fertigwerden sollte. Ihr Album war gefloppt, von Vince hatte er seit zwei Jahren nichts gehört und im Studio hielt er es nie länger als drei Stunden aus. Es fühlte sich so falsch an, John singen zu hören und dessen ständiger Streit mit Mick über irgendein scheiß Gitarrensolo zehrte gewaltig an seinen Nerven. Ihm war mittlerweile sogar die Lust daran vergangen, Songs zu schreiben, obwohl das eines der wenigen Dinge war, die seinem Leben einen Sinn gaben. Nikki hatte es verbockt, und zwar von Anfang an. Mit Vince zu schlafen war ein Fehler gewesen. Nie mit ihm darüber zu sprechen ebenfalls. Ihn zu feuern und einen anderen Sänger zu engagieren auch. Und wieder mit dem Heroin anzufangen, war der allergrößte Fehler.

So laut und so verloren war es hier
Als Stille bei uns wohnte, anstatt dir

Nur wenige Tage nach Skylars Tod hatte Nikki davon erfahren und es hatte ihm das Herz gebrochen. Aber getan hatte er nichts. Wochenlang hatte ihn die Frage gequält, ob er sich bei Vince melden und was er ihm überhaupt sagen sollte, doch schließlich war so viel Zeit verstrichen, dass er sich nicht mehr getraut hatte, ihm unter die Augen zu treten. Skylar war so ein wundervolles Mädchen gewesen und jede Erinnerung an sie schmerzte unheimlich. Wie Vince sich fühlte, wollte er sich vermutlich nicht einmal vorstellen und je mehr Zeit verging, desto mehr verließ ihn der Mut, sich bei ihm zu melden. Nikki wusste, er hätte es tun müssen. Er hätte ihn damit niemals alleinlassen dürfen und diese widerlichen Schuldgefühle betäubte er jeden Tag aufs Neue mit einer großen Portion Heroin. Auch im Studio kamen sie kein bisschen voran. Nikki hatte inzwischen jegliche Motivation verloren und die Songs für ihr neues Album schrieb er halbherzig, während er völlig zugedröhnt und mit den Gedanken ganz woanders war. Ihre Proben im Studio bestanden meistens daraus, dass John irgendeinen Vorschlag machte, Mick ihn daraufhin anschnauzte und Tommy dann Mick anfuhr, weil dieser sich mit John stritt. Nikki hatte es längst aufgegeben, zwischen ihnen zu schlichten. Die meiste Zeit über saß er gedanklich abwesend auf dem alten und unfassbar unbequemen Sofa, bis ihm die Streitereien irgendwann zu viel wurden und er die Flucht ergriff. Es fiel ihm immer schwerer, diese Lautstärke zu ertragen und jedes Mal zog er sich in irgendeine dunkle Ecke zurück, um sich einen Schuss zu setzen. Nikki hatte sich noch nie so verloren gefühlt, wie in letzter Zeit. Nicht einmal damals, kurz vor seiner zweiten Überdosis, als er schwer heroinabhängig gewesen war und sich an fast keinen Tag wirklich erinnern konnte. Die ganze Situation belastete ihn unheimlich. Jedes Mal diese angespannte Stimmung im Studio und der nicht enden wollende Streit. Nikki bekam davon Kopfschmerzen, wenn alle durcheinanderbrüllten und jeder versuchte, den anderen zu übertönen und dann, wenn er nach Hause kam… Nichts. Absolute Stille. Das war fast noch schlimmer, als der ewige Streit seiner Bandkollegen, weil er dann mit seinen Gedanken allein war. Jeder Abend endete damit, dass er sich betrank, während er krampfhaft versuchte, nicht an Skylar, Vince, den Misserfolg ihres letzten Albums und den ständigen Zoff zu denken. Mitten in der Nacht, wenn er es dann nicht mehr aushielt, spritzte Nikki sich erneut Heroin, ehe er auf dem Sofa, dem Fußboden seiner Küche oder dem kleinen Teppich vor seiner Toilette wegdämmerte.

So still
Obwohl ich dich mit jedem Tag vermiss‘

Das erste Treffen mit den Jungs war verdammt komisch gewesen. Er hatte seit fünf Jahren kein Wort mit ihnen gewechselt und auch jetzt, zwei Jahre nach Skylars Tod, verging kein Tag, an dem er nicht an seine Tochter denken musste. Vince hatte sich längst noch nicht davon erholt und jeden Abend brauchte er eine ordentliche Portion Koks und mindestens eine Flasche Whiskey, damit er überhaupt einschlafen konnte. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, jemals noch einmal persönlich mit den Jungs zu reden. Er hatte nicht einmal erwartet, dass sie überhaupt nochmal ein Album aufnahmen. Das letzte hatte er gehört und es war... Furchtbar. Wer auch immer gedacht hatte, John Corabi sei als neuer Sänger eine gute Wahl gewesen, gehörte verprügelt. Keiner von ihnen hatte sich bei ihm gemeldet, nachdem Skylar gestorben war und das nahm er den Jungs, die mehr als zehn Jahre lang seine besten Freunde gewesen wären, verdammt übel. Umso mehr hatte es Vince überrascht, als Mick plötzlich vor seiner Tür gestanden und ihn förmlich angefleht hatte, zurückzukommen. Er hielt die Situation auch nicht mehr aus und er würde ebenfalls aussteigen, wenn Vince nicht zurückkam. Offensichtlich konnte Mick ihren neuen Sänger überhaupt nicht ausstehen, weil dieser sich ständig in den Vordergrund drängte. Sowohl bei den Texten, als auch beim Gitarrenspiel und vor allem letzteres war ein Thema, auf das Mick schon immer extrem empfindlich reagiert hatte. Zunächst hatte Vince abgeblockt und gesagt, er wolle nicht zurück zu Mötley Crüe. Vor allem wollte er nicht zurück zu Nikki. Jahrelang hatten sie sich gegenseitig verletzt, manchmal absichtlich, manchmal nicht, aber er wollte nicht, dass alles wieder von vorn losging. Zwischen ihnen war einfach zu viel passiert. Und doch vermisste er ihn irgendwie. Tommy und Mick hatte er auch vermisst, aber bei Nikki fühlte er noch etwas Anderes, was er allerdings nicht benennen konnte. “Nikki nimmt wieder Heroin. Der Idiot denkt, er sei clever und wir würden es nicht merken, aber man sieht es ihm an“, hatte Mick irgendwann gesagt, nachdem sie gemeinsam eine Flasche Schnaps geleert hatten und sofort hatte Vince einen dicken Kloß im Hals gehabt. Das war der Grund gewesen, wieso er einem Treffen zugestimmt hatte. Er konnte es nicht guten Gewissens hinnehmen, dass Nikki sich langsam aber sicher umbrachte. Den Fehler, einfach nur untätig dabei zuzusehen, wollte er kein zweites Mal machen. Sein Gesicht hat Bände gesprochen, als Vince am nächsten Tag im Studio aufgetaucht war und angedeutet hatte, er wolle vielleicht wieder zurückkommen. Mit Nikkis Reaktion hätte er niemals gerechnet. Fast zwei Minuten lang hatte er Vince einfach bloß angeschaut, als sei er ein Geist, bevor er sich zu John umgedreht und nur ganz trocken “Du bist gefeuert.“ gesagt hatte. Das war der Moment, in dem Vince begriff, dass Nikki ihn auch vermisst hatte.

Und wo immer du auch gerade bist
Du zeigst mir
Dass Stille jetzt dein Freund geworden ist

Seine Augen brannten wie Feuer und die Tränen, die ihm unaufhörlich über die Wangen liefen nahmen ihm die Sicht. Seine Hand zitterte so heftig, dass ihm das Telefon aus den Fingern rutschte, aber Vince scherte sich nicht darum. Wie in Trance ließ er sich auf seine Couch sinken, während er versuchte, das zu verstehen, was Tommy ihm gerade unter Tränen am Telefon gesagt hatte. Er wollte es nicht wahrhaben und Vince wünschte sich, dass das alles nur ein Albtraum war und er jeden Moment aufwachte. Aber er wusste, dass es nicht passieren würde.

Über zehn Jahre lang hatten sie sich davor gedrückt, über jene Nacht zu sprechen, aber Nikkis Reaktion heute im Studio hatte Vince wachgerüttelt. Wenn sie jetzt nicht endlich klärten, wo sie standen, würden sie es nie schaffen. Er hasste es, den ersten Schritt zu machen, aber darauf, dass Nikki es tat, brauchte er nicht hoffen. Sein Herz klopfte heftiger, als er zuzugeben bereit war, während er an seine Tür klopfte und es dauerte fast zwei Minuten, bis Nikki endlich öffnete. Sein überraschter Ausdruck machte ihm deutlich, dass Nikki nicht mit ihm gerechnet hatte, doch anders als erwartet fing er dieses Mal keinen Streit an. Es fiel Vince so unglaublich schwer, dieses Thema anzusprechen und bereits nach wenigen Minuten schoss ihm die Röte in die Wangen. Glücklicherweise war es in Nikkis Wohnung ziemlich dunkel, denn der Bassist hasste es, wenn das große Deckenlicht eingeschaltet war. Meistens hatte er nur die Stehlampe neben seinem Sofa an, die das Wohnzimmer in ein schummeriges Licht tauchte, doch Vince war sich sicher, dass Nikki ihm trotzdem ansehen konnte, wie unangenehm er dieses Gespräch fand. Er war mit dem Vorsatz hergekommen, ruhig mit ihm zu reden und dieses Mal nicht zu streiten, doch er hatte erwartet, dass Nikki ihn trotzdem wieder anschreien und alles abblocken würde. Aber er tat es nicht. Stundenlang saßen sie zusammen und endlich schafften sie es, all das Unausgesprochene zwischen ihnen anzusprechen. Es hatte zwölf Jahre, eine Überdosis, eine Trennung, ein missglücktes Album, unendlich viel Schmerz und Streit und Skylars Tod gebraucht, damit sie es auf die Reihe bekamen und jetzt besaß keiner von ihnen mehr die Kraft, die Fassade aufrechtzuerhalten. Vince sagte ihm auch ehrlich, dass er sich Sorgen machte, weil Nikki wieder mit dem Heroin angefangen hatte und das auch zurecht, wie ihm schon heute im Studio klargeworden war. Nikki sah einfach fürchterlich aus. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, er zitterte am ganzen Körper und seine Angespanntheit konnte Vince beinahe greifen. Genauso hatte Nikki auch damals ausgesehen, kurz bevor er im Dezember 87 seine zweite Überdosis gehabt hatte und Vince wollte das nicht nochmal miterleben müssen. Nikki versprach ihm, dass er einen Entzug machen und endgültig mit dem Heroin aufhören würde und das sagte er derart überzeugt, dass Vince ihm glaubte. Endlich hatten sie alles geklärt und es war nicht halb so schlimm gewesen, wie Vince es sich immer vorgestellt hatte. Er verfluchte die Tatsache, dass sie jahrelang so stur und uneinsichtig gewesen waren und jetzt fühlte er sich wahnsinnig befreit. Mittlerweile war es schon weit nach ein Uhr nachts und Vince konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten, doch Nikki bat ihn, noch zu bleiben. Gemeinsam machten sie es sich auf der Couch bequem, während Nikki auf der Suche nach etwas halbwegs Vernünftigem durch sämtliche Fernsehkanäle zappte und schließlich blieben sie bei irgendeiner mitternächtlichen Satiresendung über Politik hängen, wovon sie zwar nur die Hälfte verstanden, aber das war egal. So konnten sie nebenher noch in Ruhe über alles Mögliche reden und zusammen eine Flasche Whiskey leeren. Völlig unerwartet nahm Nikki plötzlich seine Hand und ehe Vince irgendwie reagieren konnte, hatte er sich schon zu ihm herübergebeugt und ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Das schockte ihn so sehr, dass es fast eine halbe Minute dauerte, bis er realisiert hatte, dass er den Kuss gerade erwiderte. Das war genau das, was er wollte und gleichzeitig das, was er überhaupt nicht wollte. Es fühlte sich gut und richtig an, aber er wusste, dass es falsch und abartig war. Das durften sie nicht und Vince war ganz kurz davor, einen feuchten Dreck darauf zu geben, als sein Verstand die Oberhand gewann und er Nikki von sich schob. “Ich muss los, is‘ schon spät“, murmelte er undeutlich, ehe er aufsprang und die Flucht ergriff. Den verletzten Ausdruck in Nikkis Augen würde er niemals vergessen, aber er war der festen Überzeugung, dass er das Richtige tat.

Wenn er auf sein Herz, anstatt auf seinen Verstand gehört hätte; wenn er gestern Nacht bei Nikki geblieben wäre; wenn er einmal in seinem Leben nicht davongelaufen wäre… Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Ganz sicher sogar. Er war schuld daran und Vince wusste das. Nikki war tot und dieses Mal endgültig. Seine dritte Heroinüberdosis hatte er nicht überlebt und Vince fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war jetzt kurz vor neun Uhr morgens und Vince hatte sich gewundert, wer ihn so früh anrief. Zunächst wollte er das Klingeln ignorieren, aber als das Telefon innerhalb von zehn Minuten gut ein Dutzend Mal losgegangen war, hatte er sich schließlich aus dem Bett gequält, weil es sich scheinbar um einen sehr dringenden Anruf handelte. Tommy war völlig aufgelöst und panisch gewesen, denn er hatte Nikki in seiner Wohnung gefunden. Sie sollten zu einem Meeting bei ihrem Label erscheinen und Tommy hatte ihn abholen wollen, als er… Natürlich hatte er sofort den Notruf gewählt, aber die Sanitäter konnten nur noch den Tod feststellen. Todeszeitpunkt vermutlich irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Vince wollte es nicht wahrhaben und er hatte keine Ahnung, wie er damit leben sollte. Er konnte einfach nicht glauben, dass er Nikki niemals wiedersehen und nie wieder seine Stimme hören würde. Er vermisste ihn jetzt schon so sehr, dass es körperlich schmerzte und ihm die Luft zum Atmen nahm. Verdammt, er vermisste sogar ihre Streitereien. Vor nicht einmal zwölf Stunden hatten sie noch miteinander geredet und alles geklärt und Vince war sich sicher gewesen, dass es ab jetzt wieder bergauf ging. Nikki war verletzt und verzweifelt gewesen und das Schlimmste daran war, dass Vince nie erfahren würde, ob die Überdosis ein Versehen gewesen war oder er sich tatsächlich hatte umbringen wollen. In seinen letzten Stunden war Nikki ganz allein gewesen. Er starb einsam und vermutlich in der Annahme, dass Vince ihn verachtete. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er Nikki geliebt hatte und das seit ihrer gemeinsamen Nacht vor zwölf Jahren, aber diese Erkenntnis kam viel zu spät. Nun würde er nicht mehr die Gelegenheit haben, ihm das zu sagen. Dabei hatte er Nikki gestern noch versprochen, ihm dabei zu helfen, endlich vom Heroin wegzukommen. Es war so unfair. Nikki hatte es nicht verdient, im Alter von gerade mal neununddreißig Jahren auf diese Art und Weise zu sterben und Vince wusste, dass er mit dieser Schuld nicht leben konnte. Die Uhr über dem Fernseher stand immer noch still und das einzige, was diese unerträgliche Ruhe gelegentlich durchbrach, war sein verzweifeltes Schluchzen.
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