Paddock Shots II
von Huelk
Kurzbeschreibung
Eine bunte Sammlung verschiedenster Oneshots, mit ganz verschiedenen Pairings, verschiedenen Protagonisten, etwas Fluff, Drama, Sarkasmus, Humor und was eben alles so dazu gehört. | Aktuell: "Heartplace" | Felipe Nasr x Carlos Sainz jr. | (Re-Upload!)
GeschichteAllgemein / P18 / MaleSlash
Carlos Sainz jr.
Charles Leclerc
Daniel Ricciardo
Lando Norris
Max Verstappen
Nico Hülkenberg
01.12.2019
30.03.2023
70
217.280
16
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18.03.2023
8.737
Depravazione | Part II
Budapest, Ungarn
31. Juli 2005
31. Juli 2005
Er konnte Fernando schon von Weitem sehen, als er von seinen Interviews zurückkehrte. Er selbst war auch noch nicht lange zurück. Sein Teamkollege hatte den Blick tief gesenkt, genauso wie die Schultern, weil er wusste, was ihn erwarten würde. Er wusste, welche Show sie wieder im Meeting abziehen mussten und wie es danach weiterging. Er wusste sogar, welche Gedanken Fernando jetzt durch den Kopf gehen mussten. Sie waren seinen eigenen garantiert sehr ähnlich. Aber helfen konnte er ihm deswegen nicht.
Seit dieser Nacht in Silverstone war er nicht mehr er selbst. Was dort passiert war hatte ihn gebrochen, ließ ihn auch nur noch mit dem Blick nach unten laufen, wenn nicht dringend etwas anderes von ihm erwartet wurde. Er schaffte es nicht, seinen Mut wieder zu finden und sich aus Flavios Fängen raus zu winden. Er hatte sich längst aufgegeben und versuchte einfach nur noch zu tun, was von ihm verlangt wurde. Es schnell hinter sich bringen und dann nichts mehr damit zu tun haben, bis es sich wiederholte.
Auf diese Weise wurde er wenigstens nicht mehr ganz so entsetzlich zugerichtet. Ein Schatten von kleinen Narben war übriggeblieben und würde für den Rest seines Lebens auch nicht mehr verschwinden. Er sollte das ganz bestimmt nicht so einfach hinnehmen. Er sollte dagegen angehen, sich nicht so behandeln lassen, nur fand er keinen Ausweg. Er hatte sehr darauf gehofft, dass er Flavios Geschmack nicht mehr entsprechen würde, wenn er die dreißig erreichte, dass er ihm dann zu alt war. Der schien ja mehr auf die Jüngeren zu stehen.
Leider hatte er feststellen müssen, dass das Alter für Flavio egal war. Dass er ihn so früh benutzt hatte lag lediglich daran, dass junge Menschen leichter zu beeinflussen waren.
Wenigstens war es ihm einigermaßen gelungen, sich ein privates Umfeld zu schaffen, in dem er vor diesen Dingen flüchten konnte. Am Anfang war Luna nur eine Ablenkung gewesen. Er hatte nur ein normales Leben gewollt. Ein Leben, ohne ständig an die Nacht in Silverstone zurück zu denken.
Sie war mehr geworden. Eine Freundin. Eine Seelenverwandte. Die Mutter seiner beiden Kinder. Aber nicht seine Ehefrau. Er wusste nicht wirklich eine Antwort darauf, wieso er mit ihr nicht auch diesen Schritt machen wollte. Es gab keinen rationalen Grund dafür.
Und obwohl er es ihr nicht erklären konnte, war sie die ganze Zeit geblieben. Sie hatte es viele Jahre akzeptiert, dass er ihr so viele Dinge nicht erzählte, dass er sich ihr oft Wochen oder Monate verschloss. Sie spürte, dass es da etwas gab und trotzdem bedrängte sie ihn nicht, machte ihm lediglich immer öfter ihre Besorgnis deutlich.
Zwei Ereignisse hatten ihn in der Vergangenheit schwerer getroffen, als er es nach all der Zeit noch für möglich gehalten hatte. Zum einen war es die Geburt seines Sohnes gewesen.
Bei Carlotta hatte er sich noch einfach über sein erstes Kind freuen können, aber bei Christopher war irgendwas passiert. Auf einmal war ihm in den Sinn gekommen, wie er seinem Vater als kleiner Junge immer nachgeeifert hatte, wie er zu seinem größten Vorbild wurde und genauso sein wollte.
Er fürchtete sich davor, dass es bei Christopher genauso wurde. Dass er so werden und dass er möglicherweise denselben Weg wie er einschlagen wollte. Und mit einem Mal war es nicht mehr er, der in seinen Gedanken unter Männern wie Flavio leiden musste. Das hatte ihn innerlich noch so viel mehr zerstört als alles, was er bis dahin schon kannte.
Bis zu diesem Tag war es ihm so vorgekommen, als könnte er körperlich keine Schmerzen mehr fühlen, als hätte er schon alles ertragen und wäre seitdem wie betäubt. Aber der Schmerz, der ihn bei diesen Gedanken überkommen hatte, war so viel schlimmer gewesen.
Luna war selbstverständlich mehr als erschrocken gewesen. Statt Freudentränen über sein zweites Kind, war Panik und Entsetzen seine erste Reaktion gewesen und das war vor zwei Jahren der Punkt, an dem er Luna nicht mehr alles verheimlichen konnte.
Er hatte ihr in Teilen erzählt, was er erlebt hatte, ließ aber viele Dinge aus. Es reichte gerade, um sein Verhalten gut begründen zu können. Er nannte ihr keine Namen und keine Einzelheiten. Das konnte er sich auch für ein weiteres Zweijahresgeständnis aufheben, wie er einst bitter für sich festgehalten hatte.
Leider bildete sich da tatsächlich ein Muster. Dass Luna ihn nicht längst aus ihrem Leben strich, überwältigte ihn nach wie vor.
Sein erstes Geständnis war, nicht ausschließlich auf Frauen zu stehen. Das zweite war, dass er mit sich selbst nicht im reinen war und sie nicht heiraten konnte. Ein großartiges Gespräch unmittelbar vor der Geburt seiner Tochter. Das dritte war, dass er etwas mit einem Fahrerkollegen angefangen hatte. Und das vierte war ihr zu sagen, dass er schon mit sechzehn missbraucht worden war.
Manchmal fragte er sich schon, wie er immer noch so fühlen konnte, wenn er gleichzeitig durch diese Hölle ging, aber das war natürlich unsinnig. Schlechte Erfahrungen konnten die Orientierung nicht ändern. Frauen, denen das passierte standen danach ja auch nicht plötzlich auf Frauen.
Trotzdem war alleine das schon schwer. Es passierte nicht oft, dass es Männer betraf. Vermutlich zwar öfter, als man so hörte, aber man verschwieg es lieber. Es kratzte am Ego, so blöd das klingen mochte. Aber man bildete sich nun einmal ein, dass einem das als Mann nicht passierte und wenn, dass man die Stärke besaß, etwas dagegen zu tun.
Es war seitdem wieder schwieriger, es einfach auszuhalten. Er fürchtete inzwischen aber nicht nur um die Konsequenzen für sich selbst, sondern auch, was dann aus seiner Familie wurde. Eigentlich glaubte er nicht, dass es noch schlimmer werden könnte. Er konzentrierte sich eigentlich nur auf sich und darauf, diese Nächte einfach auszuhalten, wenn sie kamen. Da er nicht für Flavios Team fuhr, konnte er ihm ab und an doch recht gut aus dem Weg gehen.
Bis er Ende des vergangenen Jahres wollte, dass er zu Renault kam. Nachdem er sich mit Jarno überworfen hatte und ihn sogar zwei Rennen vor dem Saisonfinale rausgeworfen hatte und Villeneuve ihn nur kurz vertreten sollte, wollte er ihn für die neue Saison an der Seite seines selbst entdeckten, neuen Talents: Fernando Alonso.
Wieder war eine ganze Menge hochgekommen. Er hatte es all die Zeit verdrängt. Das Flavio weitermachte, dass er sich immer noch junge Fahrer suchte, mit denen er dasselbe machte, wie damals mit ihm. Er hätte auch nicht gewusst, wie er Fernando helfen könnte. Wenn er versucht hätte, ihn vor Flavio zu warnen, wäre das nicht sehr effektiv gewesen. Sie kannten sich nicht und damit war er bloß ein Rivale, der womöglich keinen starken Gegner wollte.
Er wollte sich weigern, bei Renault anzufangen, doch Flavio wusste genau, wie und womit er ihm drohen konnte und als sich andeutete, dass sich ein Vorfall wie in Silverstone wiederholen könnte, bei dem er dann auch gerne seine Luna daran teilhaben lassen konnte, war er wieder eingebrochen und hatte seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt.
Seitdem verschlechterte sich seine mentale Verfassung. Trotz des Auftaktsieges in Melbourne, fand er nicht zu sich selbst. Jetzt konnte Flavio ihm immer und überall auflauern, zwang sie jedes Mal, ihnen ihre Zimmernummern zu verraten, damit er jeder Zeit zu ihnen konnte. Er bekam hautnah mit, dass Fernando auch nicht mehr derselbe war, wie er wohl vor alldem.
Fernando wirkte wie ein Spiegelbild auf ihn. An ihm erkannte er klar und deutlich alles, was er zu verbergen versuchte. Wenn es das war, was Luna und auch sein inzwischen fester Freund und Lebenspartner bei ihm sahen, dann wusste er, dass er ihnen zu viel zumutete. Und nicht nur sie erlebten ihn so, sondern auch seine Kinder und das war das nächste Ereignis gewesen, welches ihn innerlich völlig zerrissen hatte.
Carlotta war ihm in den letzten beiden Jahren sehr ähnlich geworden. Luna war sich bereits sicher, dass sie ein absolutes Papakind war. Nicht, dass sie zu ihrer Mutter kein inniges Verhältnis hatte, aber sie hing spürbar an ihm. Sie rief ihn inzwischen sehr oft an, wenn er lange nicht zu Hause sein konnte und vertraute ihm ihre kindlichen Geheimnisse an und nicht Luna.
Als er nach den Wintertest noch einmal nach Hause kam – etwas früher als geplant – hatte er Luna und Carlotta in der Küche reden hören. Seine Tochter hatte geweint, was ihm alleine schon immer das Herz zerriss und gefragt, warum ihr Papa immer so traurig war, sogar dann, wenn alles total schön war.
Das hatte ihn so sehr getroffen. Da wurde ihm klar, was für ein feines Gespür seine inzwischen sechsjährige Tochter hatte. Er konnte es vor ihr nicht verstecken, genauso wenig wie er es ihr begründen könnte. Kurz gab es den Gedanken, weniger Zeit mit ihr zu verbringen, sich aus der Verantwortung zu ziehen, aber er konnte doch nicht sein kleines Mädchen bestrafen, nur weil sie so sensibel war, etwas zu bemerken.
Nein, das könnte er niemals. Er wusste nicht, wie er das jemals hinbekommen sollte, aber seine Kinder von sich zu stoßen, dass würde er niemals übers Herz bringen. Das konnte er nicht. Trotzdem beschäftigte ihn das seitdem sehr. Langsam wurde der Wunsch wieder stärker, sich doch noch irgendwie aus der Sache raus zu kämpfen. Aber wie?
Er war Fernando sehr bewusst aus dem Weg gegangen. Eigentlich verstand er sich mit ihm sehr gut, wann immer sie eben Zeit zusammen verbringen mussten. Aber er hielt sich zurück. Er wollte vermeiden, dass Fernando irgendwelche Hoffnungen in ihn setzte, dass er ihm helfen konnte oder dergleichen.
Das konnte er nicht. Er konnte sich nicht einmal selber helfen. Wie sollte er da für andere da sein können? Aber das schlechte Gewissen brachte ihn um den Verstand. Fernando verdiente es nicht, dasselbe durchmachen zu müssen. Er fühlte sich mit schuldig daran, weil er Flavio nicht aufhielt.
Den Startunfall heute, würde Flavio seinem neuen Liebling aber nicht verzeihen. Bis heute hatte Fernando in jedem Rennen, in dem er nicht ausschied, Punkte geholt, war in der Regel auf dem Podium, ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Fernando konnte mit seiner Situation anders umgehen, seine Leistung litt nicht darunter. Aber dadurch, dass er selbst auch kein perfektes Rennen abgeliefert hatte, führten sie nicht mehr in der Konstrukteurswertung und Flavio hatte sehr deutlich gemacht, dass sie es beide schwer bereuen würden, wenn es dazu kommen sollte.
Da half es auch nicht zu erklären, dass sie das nicht immer in der Hand hatten. Das zählte für Flavio nicht. Nach seiner Meinung hatte er ihnen ein absolut brillantes Auto hingestellt, mit dem sie nicht verlieren konnten und wenn sie es taten, dann gab er auch nur ihnen die Schuld.
Alles, um seine Perversionen rechtfertigen zu können. Wobei er gewiss keine bräuchte. Er tat ja einfach, was ihm gefiel und keiner hielt ihn auf. Er konnte sich alles erlauben. Leider bestätigte ihn die Tatsache, dass er selbst aufgegeben hatte.
In diesem Moment, als Fernando ihr Motorhome erreichte, sah er aus, als würde ihm die Hinrichtung drohen und das war keines falls eine Übertreibung. Eher im Gegenteil. Er wusste ganz genau, was dieses miserable Rennen bedeutete. Dabei war es so unwahrscheinlich, dass sie in den nächsten Rennen so gründlich versagen würden, dass sie auf die letzten Meter noch alles verloren. Flavio musste sich sicher sein, wie die Saison ausgehen würde, aber das hielt ihn nun einmal nicht davon ab.
Fernando blieb kurz stehen, als er ihn ausmachte. In seinen Augen lag nichts als Angst, so sehr er es auch zu verbergen versuchte. In seinem Blick lag etwas Flehendes, was sein schlechtes Gewissen lauter werden ließ. Er war der Einzige, der es wusste, der Einzige, der ihm helfen könnte, nur tat er es wegen seiner eigenen Angst nicht. Er ließ ihn damit völlig alleine und das fühlte sich so falsch an.
Er wollte etwas zu ihm sagen, aber was? Was half denn in dieser Verzweiflung? Er konnte ihm das ja nicht einmal abnehmen, weil er selber betroffen war.
Der Moment dauerte auch nicht lange genug, um sich etwas einfallen zu lassen. Fernando ging weiter, ehe er hätte reagieren können. Er sollte auch lieber reingehen. Wenn er jetzt noch zu spät käme, würde das sicher auch irgendwie mit ins Gewicht fallen. Zumal es unnötig war, da er hier ja schon ein Weilchen saß.
Manchmal wusste er nicht einmal, wie er es noch schaffte sich aufzurichten. Aber hier zu bleiben würde ihm auch nicht helfen. Im Gegenteil. Und so stand er auf und begab sich nach drin. Wenigstens hielten sich immer alle daran, wenn er sagte, dass er nicht angesprochen werden wollte. Er konnte Menschen selbst in seinem Arbeitsumfeld immer schlechter um sich haben, was für die gesellige, italienische Art eben alles andere als förderlich war.
Bei seinem Physio war er sich ohnehin sicher, dass er wusste, was hier lief. Wenigstens ungefähr. Er musste seine manchmal fürchterliche, körperliche Verfassung ja erkennen, aber er fragte nie nach. Ob es Angst war oder einer geheimen Bestechung geschuldet, wusste er nicht und er wagte nicht, es in Erfahrung zu bringen. Es änderte nichts.
Er ging schweigend an ihm vorbei und begab sich direkt zum obligatorischen Meeting, in dem Flavio heute wohl weniger charmante Worte finden würde. Der Frust über den Rennausgang würde er alle spüren lassen. Seine kranken Gelüste bekamen nur sie ab.
Eigentlich wollte er sich einen Platz für sich suchen, aber er war etwas spät dran. Die meisten waren schon hier und der einzige Platz, an den er noch konnte, war direkt neben Fernando, der sich zwar tapfer einigermaßen aufrecht hielt, innerlich aber schon viel zu sehr damit beschäftigt war, was ihn erwarten würde.
Als er sich neben ihn setzte, konnte er die viel zu weit runtergekauten Fingernägel deutlich erkennen. Teilweise waren sie so stark eingerissen, dass sie geblutet haben mussten. Ein weiteres Anzeichen für die stummen Qualen, die außer ihm wohl niemand sah.
Er fragte sich, ob Fernando wenigstens eine liebevolle Familie oder gute Freunde hatte, mit denen er sprechen konnte. War er damit alleine? Er fing langsam an, sich Sorgen zu machen. Er hatte es lange ignorieren wollen, aber sein Teamkollege war ihm nicht egal. Er wollte nicht, dass er diese Qualen auch durchlitt, weil das niemand verdient hatte.
Flavio ließ allerdings noch eine ganze Weile auf sich warten. Auch das war typisch für ihn. Er hielt sich nicht gerne an Terminpläne, nur wenn es nicht anders ging oder die Nichteinhaltung ihn in Schwierigkeiten brachte.
Minuten vergingen, die er vollkommen stumm und reglos neben Fernando saß und sich in Gedanken selbst zerfleischte, bevor Flavio auftauchte und die gewohnte, innere Anspannung hervorrief. Diesmal begrüßte er keinen der Anwesenden und machte sehr deutlich, dass er heute mit der Leistung von niemandem zufrieden war.
Eine halbe Stunde wurden jetzt erst einmal jeder Mechaniker und Ingenieur auseinandergenommen, der irgendwas zu melden hatte. Immer wieder regte er sich auf, gestikulierte herum und forderte Besserung im nächsten Rennen, da anderenfalls einige Arbeitsverhältnisse früher aufgelöst werden würden, als ihnen lieb war.
Er wünschte diese Worte würden auch für die Fahrer gelten, aber die wollte er nicht aus ihren Verträgen lassen, nur weil sie mal schlecht abgeschnitten hatten. Zu schade. Er wäre der erste, der konsequent bei jedem Rennen in die erste Mauer brettern würde, die er finden konnte, wenn er dafür nur endlich Flavio entkommen würde.
Als er endlich damit fertig war, seine Crew niederzumachen, widmete er sich natürlich ihnen. Er musste sich zwingen, den Kopf zu heben und Flavio anzusehen, als er von ihm angesprochen wurde.
„Du weißt, dass ich erwarte, dass du umso stärker bist, wenn es bei Fernando schlecht läuft. Ein neunter Platz ist lachhaft. Dass du nicht zum Weltmeister taugst hast du in jedem Rennen nach dem ersten ja bewiesen, aber dann sei wenigstens ein guter Helfer für Nano“, schlug Flavio ihm um die Ohren.
Das schmerzte. Er hatte sich nach seinem Saisonauftakt ja auch mehr erhofft, aber er bemerkte doch auch, dass Flavio mehr auf Fernando setzte, als auf ihn. Das ganze Auto war auf ihn abgestimmt, das wusste er alles und dann noch Flavios andere Erniedrigungen, über die er hier nicht sprechen durfte, konnte und wollte.
Er wusste, wo für Flavio sein Platz war und das widersprach den Worten, die er an ihn richtete. Aber das war nicht neu. Das machte er ständig. Er verunsicherte und schwächte ihn, wo es nur ging. Eine bessere Versicherung konnte er sich kaum schaffen.
„Hast du etwas dazu zu sagen?“, kam es schließlich noch hinterher.
Dieser Heuchler. Er erwartete wirklich, dass er vor der versammelten Mannschaft etwas sagte, um ihn noch mehr in Bedrängnis zu bringen. Stimmte er zu, war er der kleine Trottel, dem es an Kampfgeist fehlte. Gab er sich selbstbewusst, war er ein arroganter Spinner. Was er auch machte, er stand immer im schlechteren Licht, damit Fernando glänzen konnte und dem war das gerade sichtlich unangenehm.
„Aber er konnte ja nichts dafür“, setzte Fernando mit leiser Stimme an und das war natürlich nicht besonders gut für ihn. Zum einen klang er nicht sehr überzeugt, zum anderen hasste Flavio es, wenn man ihm widersprach. Wieso versuchte er das überhaupt? War der nicht auch schon mindestens fünf Jahre in Flavios Fängen? Dann müsste er doch wissen, dass jedes Wort ihn gerade in Schwierigkeiten brachte.
„Na schön, vielleicht willst du dich ja direkt danach für deine Dummheit am Start erklären, aber geben wir Fisico doch erst die Chance, sich zu erklären.“
Und damit lag die Aufforderung wieder bei ihm. Er versuchte einfach wie immer zu klingen. Neutral, freundlich und entschuldigend, aber noch selbstbewusst genug, um den Schein zu wahren, dass er an sich selbst glaubte. Leider war das Endergebnis sehr monoton.
„Es tut mir leid, für alle die ich heute enttäuscht habe und ich lasse nicht zu, dass es diese Saison noch einmal zu so einem Rennen kommt. Wir werden dieses Jahr beide Titel holen“, versicherte er, aber da klang weder Enthusiasmus noch Leidenschaft mit.
„Wenn du das sagst, dann nehmen wir dich natürlich alle beim Wort“, verkündete Flavio und er hörte den puren, beißenden Sarkasmus darin, ehe sein Teamchef sich wieder an Fernando wandte. „Und was hat unser aufstrebender Weltmeister zu sagen? Wie kann man so hochfliegen und dann alles in einer Sekunde in den Sand setzen?“
Er wusste nicht, ob es außer ihm noch jemandem auffiel, aber Fernando zuckte wie unter einem Schlag getroffen zusammen. Er hatte solche Gespräche lange nicht mehr führen müssen. Diese Saison lief einfach gut für ihn. Offensichtlich hatte er gehofft, dass sich das so bald nicht ändern würde. Er wusste schließlich, wie selbstbewusst sein Teamkollege sonst auftreten konnte.
„Es war nicht meine Schuld“, wollte er sich verteidigen und das war der nächste Fehler. Wenn Flavio einem schon die Schuld gegeben hatte, war das für ihn ein ungeschriebenes Gesetz und dann hatte man sich daran zu halten. Entsprechend verstimmt fiel Flavios Reaktion aus.
„Ach, die anderen waren es also, na dann musst du dir ja keine Mühe geben, wenn die anderen schuld sind“, machte Flavio unnötigerweise ein riesiges Fass deswegen auf. Es war anstrengend, diesem eitlen Menschen zuzuhören.
„Das meinte ich nicht“, wollte Fernando einwenden, aber gegen Flavios Tatsachenverdrehung hatte er am Ende natürlich keine Chance.
Er war noch lange nicht fertig mit ihm. Am Ende dauerte die Auseinandersetzung fast zwanzig Minuten und er ahnte, dass das nichts Gutes für seinen Teamkollegen bedeuten konnte. Es half doch nichts. Flavio hatte dafür gesorgt, dass er diese Macht über sie hatte. Da kam er nicht mehr raus.
Der Zeitpunkt war ohnehin denkbar schlecht. Normalerweise musste Flavio immer aufpassen, dass er sie nicht zu sehr in seinen Bestrafungen verletzte, weil sie oftmals ein bis zwei Wochen später wieder normal im Rennwagen sitzen können mussten. Jetzt hatten sie die Sommerpause direkt vor sich und da hielt Flavio nichts davon ab dafür zu sorgen, dass sie die erste Woche nicht mehr sitzen konnten.
Er hatte kein gutes Gefühl, als ihre Zusammenkunft sich schließlich auflöste. Er wollte schnell aufstehen und aus dem Raum flüchten, hatte sich bereits erhoben, aber er konnte Fernando doch nicht so zurücklassen. Der machte nämlich keine Anstalten, aufzustehen.
Er biss sich auf die Lippe, er wollte etwas sagen, aber Flavio hatte sie im Blick. Dennoch wagte er es auch nicht zu gehen.
„Sei so gut und lass mich mit Fernando alleine sprechen“, richtete Flavio das Wort irgendwann an ihn und er hatte das Gefühl, als würde sein Teamkollege in diesem Moment noch kleiner werden.
„Was hast du vor?“, wagte er zu fragen, obwohl er dabei kein gutes Gefühl hatte. Am Ende machte auch das die Situation noch schlimmer. Man wollte meinen, dass es das nicht konnte, doch Flavio wusste immer einen Weg, sich und seine Grausamkeit zu steigern.
„Das geht dich nichts an, aber von mir aus. Fernando bekommt einen kleinen Vorgeschmack darauf, was ihn erwarten wird“, teilte Flavio ihm mit. Das wusste er sich natürlich bestens zu übersetzen.
„Muss das wirklich sein?“, ließ er sich zur nächsten Dummheit verleiten. Er sollte seine Chance nutzen und gehen. Aber das war unmöglich. Er konnte das nicht wieder und wieder geschehen lassen. Er konnte es schon jetzt nicht mehr wirklich mit seinem Gewissen vereinbaren.
„Dass du so eine dämliche Frage stellst, aber ganz wie du meinst. Ich kann es ihm auch an dir demonstrieren“, schlug Flavio vor und er zuckte schon ganz automatisch einen Schritt zurück. Das wollte er eben so wenig riskieren, aber zu gehen und so zu tun, als würde das nicht passieren, kam nicht in Frage.
„Nein!“, platzte es da aber aus Fernando raus. In seinen Augen lag nichts als Panik, als er Flavio so flehend ansah. „Nein, bitte! Lass ihn in Ruhe. Es war doch mein Fehler!“
Das überraschte ihn. Wieso versuchte er, ihm beizustehen, wo er doch in all der Zeit überhaupt nichts für ihn tat? Das verstand er nicht, aber es tat auch nichts zur Sache. Es machte nur noch deutlicher, wieso es falsch war, alles zu ignorieren.
„Ihr wart heute beide beschissen, das macht für mich keinen Unterschied und Giancarlo weiß wenigstens, wo sein Platz ist, ganz im Gegensatz zu dir. Vielleicht muss ich es dir ja mal demonstrieren“, schwafelte Flavio weiter und noch bevor er richtig reagieren konnte, stand sein Teamchef plötzlich neben ihm, packte ihn grob im Nacken und zog ihn mit sich.
Fernando protestierte erneut, wollte Flavio davon abhalten, ihm etwas anzutun. Das hätte er von ihm niemals erwartet. Es überraschte ihn. „Bitte, er hat doch damit nichts zu tun!“, flehte Fernando und klang immer noch wie ein unschuldiger Junge und nicht wie jemand, der bereits selbst durch die Hölle gegangen war.
Doch statt Flavio damit Einhalt zu gebieten sorgte er nur dafür, dass er in schallendes Gelächter ausbrach, während er selbst von ihrem Teamchef bereits mit dem Oberkörper auf einen der Tische gedrückt wurde.
„Nichts damit zu tun? Oh, Nano... Du bist so ein naiver, kleiner Junge, weißt du das?“, spottete Flavio wie üblich. Er wagte es nicht, sich in diesem Moment zu rühren, trotzdem wurde er mit Brust und Kopf weiter unnachgiebig nach unten gepresst. „Hab ich dir nie gesagt, wer mein Erster war? Dachtest du, du bist der Einzige, der je mein Interesse geweckt hat? Oh, mein Junge, du solltest nicht so eingenommen von dir selbst sein. Giancarlo hat seinerzeit auch meine Begeisterung geweckt.“
Nichts, was er gerne noch einmal hörte. Er wollte sich an damals nicht erinnern, aber Flavio hatte sich dazu entschlossen, Fernando ins Bild zu setzen. Er hatte nicht gewusst, dass sein Teamkollege davon keine Ahnung hatte, aber weshalb hätte Flavio es ihm auch sagen sollen? Doch er war auch davon ausgegangen, dass Fernando mindestens einen Verdacht hatte, als er ihn ansah.
„Weißt du, Nano, er war auch mal so wie du. Ich dachte damals, ich könnte einen Weltmeister aus ihm machen. Ein paar Jahre musste ich ihm noch geben, bevor ich ihm einen Vertrag für die Königsklasse besorgen konnte, aber er war bereit, eine ganze Menge dafür zu tun“, erzählte Flavio weiter und war der Einzige, dem es gerade gefiel, diese Worte zu hören.
Eine seiner großen Pranken lag direkt zwischen seinen Schulterblättern und hielt ihn weiter unten. Die andere Hand griff ihm fest ins Haar, sorgte dafür, dass er seinen Kopf nicht irgendwo anders hindrehen konnte, sondern in Fernandos Richtung blicken musste.
„Er war von Anfang an gut in dem, was ich von ihm wollte“, sprach Flavio weiter von ihm, als wäre er überhaupt nicht anwesend. „Du könntest da sicher eine Menge lernen. Seine Blowjobs sind deutlich besser. Er setzt seine Zunge mehr ein als du, aber du hast die besseren Lippen dafür und den größeren Mund.“ Beschreibungen, bei denen ihm ganz übel wurde. „Aber wie dem auch sei. Ein großes Problem gab es immer. Denn, wie ich früh feststellen musste, lernt Giancarlo einfach nichts dazu. Immer wieder hat er so ein aufbrausendes Temperament und er war dumm genug zu denken, dass er sich an unsere Vereinbarung nicht halten müsste.“
Fernando fühlte sich mit jedem Wort mindestens so unwohl wie er selbst. Flavios Finger bewegten sich in seinem Haar, bevor er seinem unsinnigen Gerede hinzufügte: „Ich musste wirklich sehr streng mit ihm sein, damit er lernt, dass er sich zu fügen hat. Sieh‘s dir nur an.“
Kaum hatte Flavio das gesagt, löste sich die Hand aus seinem Haar und jene von seinem Rücken, nur um ihm sein Shirt auszuziehen und ihn dann wieder in dieselbe Position zu zwingen. Fernando wollte sich abwenden, doch das ließ Flavio ihn nicht tun.
„Sieh gefälligst hin!“, schrie er Fernando an, der sich daraufhin zwang, sich die Narben auf seinem Rücken anzusehen. Er konnte erkennen, wie sehr ihn das verstörte, wie es ihm Angst einjagte, was er da sehen musste.
Er musste sich zwingen, gar nichts zu tun. Er wollte sich immer noch dagegen wehren. Er wollte nicht, dass Flavio sowas mit ihnen machte, aber er wusste ja, dass es ihm nichts brachte. Selbst wenn sie sich gegen ihn wehrten, er konnte sich ganz sicher sein, dass Flavio im Team genügend Unterstützung genoss. Er würde alles so hindrehen, als wäre er der Unschuldige. Deswegen hatte er sie vor allen auch so übertrieben runtergemacht. Wenn sie ihn jetzt angriffen, könnte er selbst denen, die nicht ganz überzeugt von ihm waren, vermitteln, dass sie auf ihn losgegangen waren, weil sie wütend waren.
Dann meldeten sich irgendwelche Teammitglieder, die das ganze angeblich gesehen hatten und selbst, wenn es jemanden gab, der dieser Sache ernsthaft nachgehen würde, am Ende würde keiner von ihnen einen Beweis für seine Version erbringen können.
„Ich hoffe, dass du dich an Vereinbarungen halten wirst. Ich würde dir nur ungern dasselbe zumuten müssen“, behauptete Flavio nun an Fernando gewandt, der gar nicht mehr wusste, wie ihm geschah oder was er sagen sollte. Das alles verängstigte ihn und nahm ihn sichtlich mit. Wer konnte es ihm verdenken?
Das hier bewies auch bestens, wie sicher ihr Teamchef sich fühlen konnte. Dass er nicht fürchtete, jemand von der Crew könnte etwas mitbekommen. Das zeigte, wie viele Befürworter er haben musste und dass sie dagegen niemals ankommen würden, ganz gleich, was sie auch versuchten.
Schließlich beugte Flavio sich zu ihm nach unten, sprach ihm direkt ins Ohr: „Ich finde, wir sollten Nano mal zeigen, wie gut du inzwischen auf mich hörst. Er soll schließlich genauso gut werden wie du.“
Das war das letzte, was er wollte, nur was blieb ihm anderes übrig? Er wollte sich weigern, nur wusste er, dass Flavio ihn trotzdem zwingen würde und so, wie er seine Psychospielchen liebte, würde er es vor allem an Fernando auslassen. So wie er dessen angebliches Fehlverhalten nun an ihm ausließ. Er wollte bewusst diese Schuldgefühle in ihnen wecken, sie mental brechen um sie damit gefügig zu machen und das Schlimmste daran war, dass es bestens funktionierte.
Er wurde losgelassen und er wusste, was Flavio jetzt von ihm erwartete. Auch nach so langer Zeit war es noch schwer, es einfach zu tun. Sechzehn Jahre waren es inzwischen. Das war sein halbes Leben. Er hatte genauso lange unter dem Italiener gelitten, wie er zuvor ohne ihn gelebt hatte. Das war so unvorstellbar.
Aber wenn er es in all der Zeit nicht geschafft hatte, wie sollte es dann jetzt funktionieren, Flavio für immer zu entkommen? Er richtete sich selbst langsam wieder auf und drehte sich zu seinem Teamchef um. Der beschränkte sich auf eine auffordernde Geste. Wenn er jetzt nichts tat, würde er ihn mit aller Gewalt zwingen.
Im Grunde war es ja nichts, was er nicht schon hunderte Male getan hatte. Dass Fernando anwesend war und das alles mitansehen musste, änderte für ihn aber einiges. Er wusste, was das in ihm auslösen musste. Er wollte ihm das Ganze nicht zumuten. Für sich selbst hatte er damit irgendwie abschließen können, aber Fernando...
Eine heftige Ohrfeige von Flavio riss ihn aber aus diesen Gedanken. „Hast du nicht zugehört! Du sollst deinem Teamkollegen zeigen, wie es geht!“, erhob Flavio die Stimme und gab ihm damit die letzte Chance, es selbst zu tun.
Hitze schoss ihm in die Wange und er hatte das Gefühl, als würde sie bereits anschwellen, obwohl das unmöglich so sein konnte. Entweder zwang er sich selbst oder Flavio machte es. Er überwand sich zur ersten Version und versuchte auszublenden, dass Fernando da war. Er ließ sich auf die Knie sinken und machte sich an Flavios Hose zu schaffen.
Dieser grinste einigermaßen zufrieden auf ihn nieder, griff mit einer Hand fest in sein Haar. „Na siehst du, ich hab doch gewusst, dass du es tun wirst und dass du eigentlich gar nicht genug davon kriegen kannst.“
⊱☆⊰
Budapest, Ungarn
1. August 2005
1. August 2005
Er konnte seit Stunden nur dasitzen und ins Leere starren.
Eigentlich konnte er nicht einmal das, weil es entsetzlich schmerzen müsste, aber das bemerkte er kaum noch. Seine Gedanken schwirrten durcheinander, ohne dass er sagen könnte, worum genau sie sich drehten. Es war auch völlig egal, weil er wieder an diesem Punkt hier gelandet war. Der Punkt, an dem er regungslos auf dem Boden irgendeines Hotelzimmers saß, direkt vor dem Bett. Es wiederholte sich immer wieder und schien kein Ende zu finden. Nicht für ihn und gewiss auch nicht mehr für Fernando.
Dieser hatte sich in einer Ecke dieses Zimmers zusammengekauert, die Arme fest um seine angezogenen Knie geschlungen und den Kopf soweit gesenkt, dass er sein Gesicht nicht sehen konnte. Das Beben in seinem Körper war dagegen sehr deutlich zu erkennen. Er wünschte er könnte irgendwas tun, nur was? Es gab keine Worte, die diese Situation besser machen konnten.
Er wusste zwar, was er damals gerne von jemandem gehört hätte, aber das hätte er zum einen nicht glauben können und zum anderen wäre es auch nicht wahr, denn...
Er konnte nicht versprechen, dass das aufhörte oder dass es irgendwann besser wurde. Er konnte ihm nicht versprechen, dass alles wieder in Ordnung kam, dass alles wieder wie früher werden und er das überstehen würde. Er konnte überhaupt nichts versprechen. Nur, dass es von alleine kein Ende finden würde und das war keine sonderlich schöne Aussicht.
Trotzdem war es kaum zu ertragen.
Genauso wenig, wie der vergangene Abend und die Nacht, die sie hinter sich hatten. Er hatte mit den Bildern immer noch zu kämpfen und wusste, dass das auch noch lange so bleiben würde. Er wünschte, er könnte soweit abstumpfen, dass ihn das nicht mehr interessierte und vielleicht konnte er das auch eines Tages, aber noch ging das nicht. Noch fühlte er das alles und machte sich eine Menge aus dem, was Fernando passiert war. Selbst, wenn sein Gesicht nicht mehr in der Lage war, diesen Schmerz zu spiegeln. Fast, als wäre sein Gesicht gelähmt und könnte Empfindungen nicht mehr zeigen.
Er war so tief in seine eigene Welt versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie Fernando irgendwann aufblickte und sich vorsichtig umsah, als könnte Flavio noch irgendwo stehen und darauf lauern, dass sie sich rührten. Für ihn war er einfach überall. Selbst wenn er bei seiner Familie war, kam es ihm nie so vor, als wäre er vor ihm sicher. Er wurde sich seines Teamkollegen erst wieder gewahr, als er von ihm angesprochen wurde.
„Wie lange?“
Er brauchte eine Weile, um den Kopf überhaupt in seine Richtung drehen zu können. Er war so weit weg und doch konnte er nicht entkommen. Als er Fernando ansah, stand diesem der ganze Horror der vergangenen Stunden sehr deutlich ins Gesicht geschrieben. Die geschwollenen, feuchten Augen, die Angst, die er darin unverkennbar sah und die leichten Blessuren der Tortur, die schlimmer wurden, je tiefer man an seinem Körper hinabblicken würde.
Allerdings wusste er nicht, wonach genau Fernando ihn in diesem Moment fragte.
„Wie meinst du das?“, wollte er also wissen. Seine Stimme klang ganz rau und heiser. Wie immer nach solchen Qualen.
Er konnte beobachten, wie Fernando um jedes Wort kämpfen musste, weil er eigentlich noch viel zu verstört war, um ein rationales Gespräch zu führen. „Was er mit dir macht. Wie lange tut er das schon?“ Dabei sprach Fernando so leise, dass er ihn fast nicht verstehen konnte.
Er wusste, dass die ehrliche Antwort ihm Angst machen würde, weil ihm dann klar werden würde, was ihm noch alles bevorstand. Aber er konnte ihm nicht anlügen, also verriet er es ihm, wenn auch mit Magenschmerzen.
„Sechzehn Jahre.“
Und das traf Fernando, wie er erwartet hatte. Er hatte natürlich auf etwas anderes gehofft. Er konnte es selbst manchmal nicht glauben. So viel Lebenszeit, in der er verängstigt war und sich in seiner eigenen Haut nicht mehr wohlfühlte. Vermutlich endete das alles erst, wenn Flavio den Löffel abgab und das konnte noch lange dauern. Der war ja erst fünfundfünfzig. Und schlechte Menschen schienen einfach länger zu leben.
Fernandos Augen weiteten sich erschrocken, ehe deutliche Verzweiflung darin zu erkennen war. „Sechzehn Jahre?“, wiederholte er ungläubig und es klang auch für ihn, als wäre es unmöglich. „Wie hältst du das nur aus?“ Eine berechtigte Frage, nur...
„Das tue ich nicht. Es ist unerträglich für mich“, gab er ehrlich zu. Er hatte Fernando bislang damit völlig alleine gelassen, da würde ihn jetzt nicht auch noch anlügen.
„Aber du hast nicht ein einziges Mal geschrien. Du warst die ganze Zeit stumm, während er das getan hat“, wunderte Fernando sich. Das konnte er ihm auch nicht verdenken und er verstand auch, wie sehr sein Teamkollege wollte, dass er das auch könnte. Das wäre allerdings ganz und gar nicht gut.
Er deutete mit einer Hand hinter sich, auf seinen Rücken, bevor er meinte: „Das war ja nicht alles. Aber damit fing es an, dass ich es nicht mehr richtig fühlen konnte. Ich kann dir das schwer erklären, aber ich spüre diese Art von Schmerz nicht mehr richtig. Ich spüre fast gar nichts mehr.“
Wieder wurde er ziemlich schockiert angesehen. Er selbst hatte damit schon irgendwie abgeschlossen, aber für jemand anderen musste das entsetzlich klingen.
Er erinnerte sich noch, dass er einmal zu Hause versehentlich mit der Hand auf die Herdplatte gekommen war, als er wieder so tief in seine Gedanken versunken war. Er hatte es überhaupt nicht richtig bemerkt.
Hätte Luna es damals nicht unmittelbar mitbekommen, dann hätte er jetzt wohl schwere Brandnarben auf der Handinnenfläche. So war es nach wenigen Wochen wieder einigermaßen verheilt. Trotzdem war es nicht gut, dass er solchen Schmerz nicht mehr oder nur noch sehr schwach spüren konnte. Es war gefährlich, wenn man die Warnsignale seines Körpers nicht mehr erkannte.
„Ich will das auch nicht mehr spüren“, hörte er Fernando unglücklich sagen. Er konnte das so gut verstehen. Niemand wollte sowas Entsetzliches fühlen müssen. Er beobachtete, wie Fernando sich regelrecht im Sitzen zusammenrollte.
Wieder bekam er dieses Gefühl ihn im Stich gelassen zu haben. Er hatte schnell gewusst, dass Flavio Fernando nicht anders behandelte, als ihn selbst. Er hätte eingreifen müssen. Irgendwie. Wenigstens sagte ihm das sein Gewissen.
Ihn dort so sitzen zu sehen, so verloren und alleine mit all den schrecklichen Dingen, die er auch schon viel zu lange erleiden musste, setzte ihm wahnsinnig zu. Wie konnte er diese Schuld nur jemals begleichen?
Ihm waren schon lange nicht mehr die Tränen gekommen, wenn so etwas passierte. Diesmal allerdings spürte er, dass sie ihm wieder über die Wangen liefen, auch wenn er selbst dabei stumm blieb.
„Es tut mir so leid“, richtete er seine Worte schließlich wieder an Fernando, der sofort aufblickte. „Dass ich nichts unternommen habe und nichts gegen ihn tun konnte, all die Jahre. Und vor allem, dass ich dich damit ganz alleine gelassen habe.“
Worte, die er so dringend loswerden musste. Selbst, wenn Fernando ihm keine Schuld geben würde, war es ihm trotzdem wichtig, dass er das wusste. Er wischte sich durchs Gesicht, weil er fast nichts mehr sehen konnte.
Fernando schüttelte allerdings den Kopf und sprach ihn tatsächlich von seiner Schuld frei. „Du kannst doch nichts dafür, dass er so ein Monster ist. Eigentlich bin ich nur froh, dass wir damit jetzt nicht mehr alleine sind.“ Und das waren Worte, die ihn sehr überraschten. Meinte er das ernst? Sie waren Teamkollegen und wussten nun ein so schreckliches Geheimnis voneinander. Seit der Sache mit Schumacher hatte er nicht mehr gewollt, dass Dritte es wussten, erstrecht keine Fahrerkollegen, aber das hier war natürlich anders.
Er wusste nicht, wie er es Fernando danken sollte, dass er ihm keine Vorhaltungen machte oder dergleichen. Er könnte verstehen, wenn er ihm die Schuld gab, weil er in sechzehn langen Jahren nicht dafür gesorgt hatte, dass das ein Ende fand.
Wie lange saßen sie überhaupt schon hier?
Flavio war schon lange weg und hatte sie mit einigen Drohungen zurückgelassen. Das Übliche. Zu keinem ein Wort und die Lektion lernen. Täten sie es nicht, würde er ihnen das Leben zur Hölle machen, was inzwischen lächerlich war. Ihr Leben war längst die Hölle, sobald sie aus dem Rennwagen stiegen.
Da lebten sie einen so unwirklichen Traum auf der einen Seite, hatten das beste Auto und die Saison ihres Lebens, lächelten in jede bescheuerte Kamera, die sich im Paddock auf sie richtete und sobald sie mit Flavio irgendwo alleine waren, schlug alles ins Gegenteil um und man wünschte sich, tot zu sein.
Fernando wagte es schließlich als Erster, sich aufzurichten, hatte dabei allerdings so seine Schwierigkeiten. Er musste sich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Ist dir auch immer so schlecht, wenn er... Du weißt schon...?“, fragte Fernando vorsichtig nach, woraufhin er nickte. Die Übelkeit und der Schwindel waren schrecklich und wenn er danach versuchte etwas zu essen, musste er sich fast augenblicklich übergeben.
„Das hält noch eine Weile an. Du solltest dir Zeit lassen, sonst übergibst du dich. Dann wird der Schwindel schlimmer und du kommst gar nicht mehr auf die Füße“, teilte er seine Erfahrungen also mit Fernando. Es war immer schwer, sich diese Zeit auch zu nehmen. Das schien sein Teamkollege auch so zu sehen.
Fernando sah sich kurz im Raum um, als würde er fürchten, dass Flavio jeden Moment wieder auftauchen und weitermachen könnte.
„Sollten wir nicht lieber versuchen, so schnell wie möglich zu verschwinden?“, wollte sein Teamkollege von ihm wissen. Ein Gedanke, der ihm früher auch immer sofort gekommen war und es war eine ganz natürliche Reaktion, dass man einfach nur wegwollte, aber wieder schüttelte er den Kopf.
„Nein. Flavio kommt nicht wieder. Der fliegt direkt nach Mailand. Vor dem musst du erst wieder Angst haben, wenn der nächste Termin ansteht“, versicherte er Fernando also. Flavio nutzte immer die Nacht nach dem Rennen, weil sie da völlig erschöpft waren und er leichteres Spiel mit ihnen hatte. Am nächsten Tag war er dann schnell verschwunden.
„Dann haben wir die nächste Woche Ruhe vor ihm?“, fragte Fernando unsicher weiter, wagte nicht zu hoffen, dass es so sein könnte.
„Besser du dankst es ihm, dass er dir deinen Urlaub lässt. Er hält sich da für sehr großzügig“, teilte er seinem Teamkollegen mit unverkennbarem Sarkasmus mit. All diese Dinge kannte er leider längst, wusste, wie Flavio dieses Spiel spielte. Es widerstrebte ihm zwar, ausgerechnet von solchen Erfahrungswerten zu berichten, weil er ihm lieber gute Dinge zeigen würde und nicht, wie man seine Torturen überstand.
Trotzdem war es besser, wenn er es wusste und Flavio möglichst selten gegen sich aufbrachte. Sein Rücken bewies ja neun Jahre später noch immer, wozu Verweigerung führen konnte. Es war so schwer, es zu verbergen. Er wollte ja nicht von jedem darauf angesprochen werden und wenn man fast direkt am Meer lebte, war das so gut wie unmöglich.
Als ihm das alles wieder so in den Sinn kam, fiel ihm auch ein, dass er sich noch bei jemand ganz anderem melden musste. Er war gestern mach dem Rennen noch kurz dazu gekommen, Luna und seine Kinder anzurufen, aber nicht seinen Partner, der ihm bestimmt schon ein paar Nachrichten mehr aufs Handy geschickt hatte.
Selbst ihm sagte er nicht alles, behielt so viel für sich. Das war nicht richtig. Er konnte froh sein, dass er sich mit seinen vagen Erklärungen zufriedengab und ihn nicht bedrängte. Dennoch würde er sich vielleicht mehr denken können, als er wahrhaben wollte.
Jetzt, wo er Fernando gegenüber schon sein Schweigen gebrochen hatte überlegte er, ob er wohl je bereit sein würde, es dem Menschen zu sagen, den er seit vier Jahren liebte. Das konnte und durfte eigentlich nicht das Problem sein, war es aber.
Fernando hatte inzwischen innegehalten und war damit beschäftigt, seine malträtierten Handgelenke anzustarren. Er selbst hatte diese Male auch, ignorierte sie aber ebenso, wie den brennenden Schmerz, der sich von seiner Körpermitte aus überallhin ausdehnte.
„Trägst du deswegen dein Armband, damit man sowas hier nicht sieht?“, wollte Fernando von ihm wissen und er stellte fest, dass sein Teamkollege aufmerksamer war, als er geglaubt hatte. Und dumm war er auch nicht. Er zog da durchaus die richtigen Schlüsse. Er hätte nicht erwartet, dass das so offensichtlich war.
„In den ersten Tagen sieht man es leider oft. Das verschwindet wieder, aber ja. Das ist der Grund“, gab er zu, worauf Fernando verstehend nickte. Er war immer darauf bedacht, nicht zu viel von sich zu erzählen. Sein Privatleben sollte mit dem Sport nicht zu eng verbunden sein. Er wollte das voneinander trennen können, aber endlich mit Fernando zu reden, fühlte sich so richtig an.
Er konnte nicht beschreiben was es war oder woran genau es lag. Vielleicht war es der Verzweiflung geschuldet oder was auch immer. Aber er hatte das Gefühl, als seien sie nicht nur wegen dieser gemeinsamen Geschichte ein wenig miteinander verbunden. Es erinnerte ihn an das Gefühl von Freundschaft, welches er nie mit dem Motorsport in Verbindung brachte. Obwohl er hier auch schon die Liebe seines Lebens gefunden hatte.
„Meine Tochter hat das gemacht“, ließ er Fernando also an dem teilhaben, woran er gerade dachte. Ihm war aufgefallen, dass sein Teamkollege immer noch auf das Armband schaute. „Sie hatte die Verletzung an meinem Handgelenk gesehen und war überzeugt davon, dass das helfen würde. Die Illusion wollte ich ihr nicht nehmen.“ Es war eine von so vielen Erinnerungen, die schmerzhaft und rührend zugleich waren.
Auch ohne Worte konnte er sehen, dass das etwas bei Fernando auslöste, dass ihn diese Geschichte irgendwie berührte. Er konnte sehen, dass es ihn ein wenig traurig machte, aber auch zum Lächeln brachte, ehe er meinte: „Das hätte ich ihr auch nicht nehmen wollen. Wie alt ist sie?“
Er hätte nicht gedacht, dass er hier jemals so ein privates Gespräch mit jemandem führen würde.
„Im April ist sie sechs geworden“, antwortete er und war selbst erstaunt, wie leicht das sein konnte und wie gut es eigentlich gerade tat, über diese normalen Dinge reden zu können. Seine Familie war immer alles, was ihn noch zu einem echten Lächeln bringen konnte.
„Wie schaffst du das? Dieses Monster auf der einen Seite und eine Familie auf der anderen. Wie erträgst du das?“, kam es fast schon ein wenig schüchtern von Fernando.
Eine gute Frage... Wie schaffte er das? Manchmal wusste er das selbst nicht so genau. Aber eine Sache hatte er ja vorhin schon angemerkt. „Ich ertrage es nicht. Ich bin verzweifelt und das ist der einzige Halt, den ich habe.“ Fernandos Blick ließ ihn allerdings etwas Schreckliches vermuten. „Was ist mit deiner Familie?“
Sofort schien sein Teamkollege wieder in sich zusammenzusinken. Er ahnte, dass es für ihn sehr schwer war, davon zu sprechen. „Ich hab keinen Kontakt mehr zu ihnen“, gestand Fernando mit bebender Stimme, was umso deutlicher verriet, wie schlimm es für ihn war. „Ich hab sie sehr verärgert und jetzt melden sie sich nicht mehr bei mir.“
Er hatte Zweifel, dass es wirklich an Fernando lag. Zumindest sagte ihm das seine innere Stimme.
„Was ist passiert?“, wollte er also wissen und beobachtete, wie Fernando sich auf die Lippe biss.
Wenn er ihn hier so erlebte, dann wirkte er einfach viel jünger als vierundzwanzig. Er war nun kaum älter als er damals, er versucht hatte, von Flavio loszukommen und es so bitter bezahlen musste. Irgendwie machte Fernando ihm sehr deutlich, wie unerfahren und dumm er damals immer noch gewesen war.
„Sie waren nicht einverstanden mit Flavio. Dass es nötig war, um weiterzukommen verstanden sie schon, aber viele Entscheidungen nicht, die er treffen wollte. Sie wollten nicht, dass ich direkt woanders hinziehe, aber Flavio fand es für die Karriere besser. Alles was er sagte, klang auch immer vernünftig, aber meine Eltern wollten das nicht. Und dann haben wir uns überworfen. Ich hatte danach noch versucht, mich zu entschuldigen, aber sie haben sich seitdem nie mehr gemeldet. Egal was ich versucht hab. Es ist, als ob es sie gar nicht mehr gibt.“
Das klang so schrecklich, dass ihm schon das Hören alleine auf den Magen schlug. Er konnte ja nur erahnen, wie grausam das sein musste. Zwar war es ihm auch nie möglich gewesen, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, aber wenigstens gab es sie in seinem Leben. Obwohl er ihnen so viel verheimlichte, aber sie waren da.
„Dann bist du damit ganz alleine?“, kam es ihm mehr als besorgt über die Lippen. Doch zu seiner Überraschung schüttelte Fernando den Kopf.
„Nein, ich… Es gibt da jemanden, mit dem ich reden kann und…“, setzte Fernando an, aber es schien ihm schwerzufallen, mehr darüber zu sagen. Verdenken konnte er es ihm nicht. Wer auch immer diese Person war, Fernando wollte sie genauso schützen und aus allem raushalten. Im Grunde erleichterte es ihn auch nur, dass Fernando nicht völlig alleine war.
Es entstand ein kurzer Moment des Schweigens. Er hatte nie vorgehabt, mit Fernando über all diese Dinge zu sprechen, aber wahrscheinlich war es besser, wenn sie das ab jetzt nicht mehr alleine mit sich ausmachten. Kurz kam ihm in den Sinn, ob es gemeinsam nicht doch möglich sein könnte, irgendwie gegen Flavio vorzugehen, aber…
Die Antwort darauf kannte er doch bestens und es wäre auch nicht fair, wenn er seinem Teamkollegen nun Hoffnung auf etwas machen würde, was es am Ende gar nicht geben konnte. Dafür steckten sie inzwischen beide zu tief drin und er wusste selbst wohl am besten, wozu ihr Teamchef fähig war. Es wäre nicht besonders klug, wenn er sich dessen Zorn wieder zuziehen würde, doch andererseits konnte er nun nicht mehr wegschauen.
Es war unerträglich zu wissen, was Flavio Fernando antat. Es war unmöglich, es einfach zu ignorieren und so weiterzumachen, als würde es nur um ihn gehen. Das konnte er nicht.
Er wusste zwar noch nicht, wie genau er Fernando helfen wollte, aber dass er es von nun an bedingungslos tun würde, stand außer Frage. Er hatte ihn lange genug damit alleine gelassen. Ganz egal, was es am Ende für ihn bedeutete, er durfte nicht zulassen, dass es so weiterging. Vielleicht war das in der Tat sein Kampfgeist, der langsam wieder zum Leben erwachte. Er wollte es hoffen, denn den könnte er sehr gut gebrauchen.
Selbst, wenn Fernando wohl kaum mehr als Kind zu bezeichnen war, fühlte er sich schon ein wenig für ihn verantwortlich. Es war nicht direkt eine Art Beschützerinstinkt, der in ihm aufkam, wobei es dem womöglich noch am nächsten kommen würde.
Er beobachtete, wie Fernando einen Blick auf seine Uhr warf und dann das Gesicht verzog.
„¡Carajo! Ich hab meinen Flug schon verpasst“, stellte Fernando fest. Dabei wollte er sicherlich auch einfach nur noch nach Hause und vergessen, was passiert war.
Wenn es nur so einfach wäre. Wenn man es nur vergessen konnte, aber das ging nicht. Viel mehr verlor man die Erinnerungen an die guten und schönen Dinge des Lebens. Er konnte sich an die Zeit, bevor er Flavio begegnet war, kaum noch erinnern und das lag gewiss nicht nur daran, dass man älter wurde. Die meisten erzählten recht detailliert von ihren ersten Teenagerjahren. Er würde sich auch lieber an die Zeit erinnern, als an alles danach.
„Ich hab noch gar nicht gebucht“, ließ er Fernando wissen, der ihn daraufhin ein wenig überrascht anblickte. „Irgendwann hab ich das gelassen, weil es so oft dazu kam. Seitdem buche ich erst, wenn es vorbei ist.“
Ob Fernando es ebenso halten würde, war natürlich ihm überlassen, aber so vermied man wenigstens die unnötigen Fluggebühren. Die machten zwar ab einem gewissen Einkommen keinen großen Unterschied, aber es ging ihm viel mehr darum, sich nicht auch noch mit solchen Zwängen zu belasten. Und hinzu kam ja noch…
„Seit diesen Verletzungen weiß ich nie, ob ich mich danach noch behandeln lassen muss“, gab er zu. Es fiel ihm nicht leicht, davon zu sprechen, aber diese Möglichkeit bestand nun einmal. Er wusste, dass es seine Familie immer wahnsinnig machte, dass er nie so genau sagen konnte, wann er ankam. Aber es konsequent immer so zu machen, ließ sie irgendwann damit zurechtkommen. Würde er sich dauernd bemühen, es anders zu machen, erzeugte das auch wieder Druck, mit dem er nicht umgehen könnte.
Fernando senkte etwas betreten den Blick. Vermutlich versuchte er sich eine Vorstellung davon zu machen, wie es war, so viele Jahre mit solchen Ängsten zu leben. Er war sich sicher, dass die Gedanken seines Teamkollegen der Wahrheit schon sehr nahe waren. Er sah betroffen aus, als er wieder zu ihm sah.
„Du lebst damit, dass er dir jeder Zeit wieder etwas Schreckliches antun kann und du weißt nicht einmal, ob du jedes Mal wieder nach Hause kommst. Wie kannst du da weitermachen?“, wollte Fernando wissen. Ihm war anzusehen, dass es ihm nicht ganz leicht über die Lippen kam, danach zu fragen. „Ich meine… Nicht, dass du es tun solltest. Ich bin froh, dass du es nicht getan hast, aber die meisten würden doch irgendwann versuchen es zu beenden. Und wenn man Flavio nicht aufhalten kann, dann bleibt ja nur…“
Fernando wurde mit jedem Wort leiser, brach den Satz am Ende ab, biss sich sichtlich auf die Lippe, als würde er in diesem Moment bemerken, dass die Frage vielleicht ein bisschen zu weit ging. Aber das empfand er nicht so. Er konnte den Gedanken sehr gut verstehen. Immerhin war er ihm schon in den Sinn gekommen.
„Ja, darüber hab ich sehr oft nachdenken müssen“, erzählte er ihm also offen davon. „Welchen Sinn sollte es auch machen, das immer wieder und wieder über sich ergehen zu lassen, wenn man weiß, dass man nicht entkommen kann?“ Es war für ihn noch nie leicht gewesen, solche Dinge auszusprechen. „Es ist so: Der eine Punkt ist, dass ich meine Kinder nicht alleine lassen will, obwohl das einen erschreckend geringen Teil ausgemacht hat.“
Es hörte sich für ihn schrecklich an. Schon, wenn er es nur in seinem eigenen Kopf mit sich ausmachte. Es laut auszusprechen, war sogar noch schlimmer.
„Der andere Punkt ist mein Glaube. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass das der kleinere Teil ist, der mich davon abhält, denn grundsätzlich sind mir meine Kinder wichtiger. Aber ich fürchte die Konsequenzen, die es für mich haben würde, wenn ich meinem Leben selbst ein Ende setzen würde“, gestand er.
Das war bestimmt keine sehr moderne Ansicht, nur war er von diesen Dingen nun einmal überzeugt. Die Zwänge seines Glaubens machten zwar vieles sehr schwer, aber auch eine Menge sehr viel einfacher. Er für seinen Teil war sich sicher, dass er das alles sonst niemals bis zu diesem Tag überstanden hätte.
Er wusste nicht, wie Fernando das sah, bis dieser verstehend zu nicken begann und meinte: „Daran dachte ich auch. Es wäre falsch, eine Sünde mit einer anderen entkommen zu wollen.“
Das traf in etwa, was ihm selbst auch durch den Kopf ging. Da schienen sie sich also ziemlich ähnlich zu sein. Er wusste noch nicht, wohin das am Ende führen würde. Er wusste nicht einmal, wie er die kommenden Tage überstehen sollte und wie es in Zukunft an der Rennstrecke werden würde. Mit Fernando und Flavio und dieser ganzen Show, die sie für die Öffentlichkeit abziehen mussten.
Aber zumindest bemerkte er, dass wieder ein bisschen Hoffnung aufkeimte, alles irgendwie überstehen zu können, denn wenigstens waren sie nicht mehr ganz alleine mit ihren schrecklichen Ängsten.
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Meinungen, Anregungen oder Verbesserungsvorschläge? Lasst mich sehr gerne wissen, ob es Euch gefallen hat und falls nicht, was ich anders machen könnte. ◠‿◠