Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Afraid

von nikkinvin
Kurzbeschreibung
SongficAngst, Schmerz/Trost / P18 / Gen
Nikki Sixx
23.11.2019
23.11.2019
1
9.889
3
Alle Kapitel
1 Review
Dieses Kapitel
1 Review
 
 
 
23.11.2019 9.889
 
Seid gegrüßt zu einem OS, den ich schon seit einiger Zeit mal schreiben wollte und der mir ganz besonders am Herzen liegt. Der Text gehört zu dem wundervollen Song Afraid aus dem Album Generation Swine von 1997. Afraid ist ein Song, der mir unglaublich viel bedeutet und mir vor allem in schweren Zeiten sehr viel Kraft gibt. Deshalb hab ich ewig an diesem OS gesessen, weil er einfach perfekt werden sollte. Ich hoffe, es ist mir gelungen. Über Rückmeldungen von euch würde ich mich natürlich wahnsinnig freuen <3

Ich möchte noch anmerken, dass ich alle Worte im Songtext, wie she, her, etc. durch die entsprechenden männlichen Varianten ersetzt habe. Es geht nun mal um Nikki Sixx und die weibliche Anrede ist für ihn einfach nicht passend :D

Ein großes Dankeschön an meinen lieben und tollen Freund Luca, der mir bei der Kurzbeschreibung geholfen hat <3

WARNUNG: Drugs, Self-Harm

Die Jungs von Mötley Crüe gehören ausschließlich sich selbst, ich leihe sie mir nur für diesen OS aus und verdiene damit kein Geld. Die Idee stammt aber von mir.

●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●


Do you, do you wanna bleed?
Do you, do you wanna live in vain?

Er hätte schon vor Stunden im Studio sein sollen, aber stattdessen hatte er sich einen weiteren Schuss gesetzt, bevor er auf dem kalten Fliesenboden seiner Küche weggenickt war. Sicherlich hatte das Telefon gut ein Dutzend Mal geklingelt, aber selbst, wenn Nikki es gehört hätte, wäre er sowieso nicht in der Lage gewesen, die Anrufe entgegenzunehmen. Es kostete ihn unendlich viel Kraft, sich nach oben in eine sitzende Position zu kämpfen und er lehnte sich erschöpft mit dem Rücken gegen den Kühlschrank. Gegen den leeren Kühlschrank, wohlgemerkt, und er fragte sich, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Die Spritze steckte noch in seinem linken Arm und eine Spur aus geronnenem Blut zog sich bis nach unten zu seinem Handgelenk. Er wollte sie herausziehen, doch seine andere Hand gehorchte ihm nicht so, wie er es gern hätte und er bekam die Spritze einfach nicht zu fassen. Es dauerte ewig, bis Nikki sie eher durch Glück, als durch geschickte Hand-Augen-Koordination mit Daumen und Zeigerfinger greifen und herausziehen konnte. Seine Hand zitterte dabei so stark, dass er sich die empfindliche Haut an der Innenseite seines Unterarms noch weiter aufriss und erneut fing die Wunde an zu bluten. Das interessierte ihn nicht besonders und er ließ die Spritze zu Boden fallen, ehe er seinen Kopf müde gegen den Kühlschrank hinter ihm sinken ließ. Was tat er hier eigentlich? Es kam ihm so vor, als säße er seit Wochen auf seinem schmutzigen Küchenfußboden, wo er sich einen Schuss nach dem anderen setzte und zwischendurch immer mal wieder im Rausch wegnickte. Ja, er war definitiv ganz unten angekommen. Seine Bandkollegen oder das Studio hatte Nikki seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen und auch seine heißgeliebten E-Bässe hatte er schon so lange nicht mehr angerührt. Überall in seiner Wohnung lagen halbfertige Songtexte herum und sie alle waren beschissen. Das hatte er bei jedem einzelnen bereits nach wenigen Zeilen bemerkt, sofort die Lust daran verloren und sich dem nächsten gewidmet. So würde das neue Album niemals fertig werden und Nikki wusste, dass sich die anderen auf ihn verließen. Darauf, dass er wieder Hits wie Live Wire, Shout at the Devil oder Too fast for Love schrieb, aber er konnte nicht. Die meiste Zeit verbrachte er damit, vor sich hinzudämmern, während er völlig drauf war und die wenigen klaren Momente opferte Nikki für die kläglichen Versuche, vom Heroin wegzukommen. Er scheiterte jedes Mal und setzte sich kurz darauf den nächsten Schuss. Sein Leben war eine Verschwendung; er war eine Verschwendung. Er schaffte es ja nicht einmal, zu duschen oder etwas zu essen und wie aufs Stichwort bekam er so heftige Magenschmerzen, dass sich sein ganzer Körper verkrampfte. Mit einem gequälten Stöhnen ließ Nikki sich seitlich auf die kalten Fliesen sinken, ehe er sich wie ein Fötus zusammenrollte und so flach wie möglich atmete. In diesem Zustand würde er keine Zeile zu Papier bringen, das wusste er. Aber wenn er keine Songs mehr schreiben konnte, wozu sollte er dann überhaupt noch kämpfen? Schon als kleiner Junge hatte er genau gewusst, dass er nichts Anderes als Musik machen wollte und zwar sein Leben lang, aber alles, woran er jetzt denken konnte, war das unbeschreibliche Gefühl, wenn er sich einen Schuss setzte. Eigentlich sollte er sich zum Telefon schleppen und Vince oder Tommy oder Mick oder seine Manager Doc und Doug anrufen. Sie bitten, ihm zu helfen. Ihm beizustehen, während er den grausamsten Entzug durchmachte, den es gab. Aber er tat es nicht. Stattdessen griff Nikki mit zittriger Hand nach dem kleinen, durchsichtigen Plastikbeutelchen, welches neben ihm auf dem Boden lag und mit einem weißen Pulver gefüllt war. Die Spritze, die er sich gerade noch so mühevoll aus dem Arm gezogen hatte, lag genau neben seinen Knien und mit dem Fuß schaffte er es, auch den Löffel zu sich zu kicken, den er brauchte. Scheiß drauf. Dann würde er sein Leben eben weiter verschwenden. Es interessierte doch sowieso niemanden.

It’s only life
He’s so afraid to kiss and so afraid to laugh
Is he running from his past?

“Verdammt, Nikki! Jetzt konzentriere dich doch mal!“ motzte Vince genervt und er wedelte mit der Hand vor Nikkis Gesicht herum. Es war das letzte Mal, dass Nikki sich mühevoll ins Studio geschleppt hatte, bevor er die nächsten Wochen fast ausschließlich auf dem Boden seiner Küche, seines Schlafzimmers oder seines Badezimmers verbringen und sich einen Schuss nach dem anderen setzen würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nichts davon, aber er ahnte es bereits. Zum etwa zwanzigsten Mal versuchte er, auf seinem E-Bass die Melodie von Wild Side einzuspielen, aber Nikki konnte seine Konzentration einfach nicht aufrechterhalten. Bevor er ins Studio gekommen war, hatte er sich einen Schuss gesetzt, aber das war bereits mehrere Stunden her und er konnte an nichts Anderes denken, als an die bittersüße Erlösung, die nur Heroin ihm zu geben vermochte. Nikki spürte schon deutlich die ersten Entzugserscheinungen. Sein Kopf schmerzte, er zitterte am ganzen Körper, sah alles nur noch verschwommen und seine Finger verkrampften sich schmerzhaft beim Spielen. Wenn sogar Vince ihm sagte, dass er sich konzentrieren sollte, war das kein gutes Zeichen. Der war nämlich selbst oft unkonzentriert, betrunken oder high, genau wie Tommy und Mick. Auch die beiden musterten ihn genervt, beinahe schon abfällig, und Nikki presste die Kiefer fest aufeinander, ehe er den Kopf senkte und erneut anfing zu spielen. Nach wenigen Takten kam er aus dem Rhythmus und Vince stöhnte genervt auf. “Alter, dein scheiß Ernst?“ murmelte er eher zu sich selbst, als zu Nikki und der Bassist antwortete nicht darauf. Er hasste sich selbst dafür, dass er einfach nichts mehr auf die Reihe brachte. Er wollte spielen. Er wollte das Album fertigbekommen. Er wollte auftreten, vor tausenden von jubelnden Fans. Er wollte Musik machen, Texte schreiben, mit seinen Bandkollegen lachen und feiern. Aber nichts davon war möglich. “Weniger Heroin, dann klappt’s auch mit dem Spielen“, bemerkte Mick trocken und Nikki hob den Kopf so ruckartig, dass ihm schwindelig wurde und er beinahe vom Stuhl fiel. Seine Beine zitterten beträchtlich, als er aufstand und seinen Bass wütend vor sich auf den Boden warf. “Leck mich, Mick! Ich bin clean!“ fauchte er gereizt. Gerade Mick wagte es, ihm Vorhaltungen zu machen? Er war doch selbst pausenlos betrunken und auch jetzt hielt er eine halbleere Flasche Wodka in der Hand. Zugegebenermaßen schaffte Mick es trotzdem jedes Mal, in nur wenigen Versuchen eine perfekte Melodie mit seiner Gitarre abzuliefern, während Nikki mit dem Bass gerade gnadenlos scheiterte. Er machte sich etwas vor und Nikki wusste, dass die anderen es wussten. Eiskalt log er seinen Freunden ins Gesicht und er sollte sich deswegen schämen, aber er fühlte gar nichts. Außer vielleicht das Verlangen, sich endlich einen neuen Schuss zu setzen, damit seine Hände aufhörten, zu zittern. Er brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass er grauenhaft ausschaute. In den letzten Wochen hatte er abgenommen und er sah furchtbar blass und krank aus. Seine schwarzen Haare hingen ihm zerzaust und kraftlos ins Gesicht und seine grünbraunen Augen hatten den frechen Glanz verloren, der die Mädchen reihenweise schwachwerden ließ. Eine Ewigkeit war es her, dass er auch nur eine Frau gesehen hatte, aber wenn er ehrlich war, interessierte ihn das nicht einmal. Im Moment hatte Nikki wirklich ganz andere Probleme, die ihm im Kopf herumschwirrten und ihn zur Verzweiflung brachten. Da brauchte er den Stress, den bisher all seine Beziehungen mit sich gebracht hatten, nicht auch noch. “Nikki, du bist wie ein Bruder für mich, also lass mich dir sagen, dass du echt Hilfe brauchst“, meldete Tommy sich nun zu Wort und sein Tonfall war ungewöhnlich sanft. Er musterte Nikki mit einer Mischung aus Sorge und Mitleid und er wusste, dass Tommy ihm nur helfen wollte, aber genau das brachte ihn jetzt endgültig zur Weißglut. “Mir geht es bestens! Heute is‘ einfach nicht mein Tag!“ brüllte er wütend und so laut, dass Vince neben ihm kurz zusammenzuckte. Seine Wutausbrüche waren legendär, aber Nikki war schon lange nicht mehr richtig ausgerastet. Dafür fehlte ihm in letzter Zeit meistens die Kraft und er musste zugeben, dass er auch immer gleichgültiger wurde. “So wie die letzten zehn Tage auch nicht dein Tag waren?“ fragte Vince sarkastisch und als er ‘dein Tag‘ mit den Fingern in Anführungszeichen setzte, kostete es Nikki ein enormes Maß an Mühe, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. “Fickt euch! Fickt euch einfach alle!“ zischte er hasserfüllt und er stieß Vince grob zur Seite, ehe er aus dem Studio rannte. Er schaffte es nicht einmal bis zur Eingangstür des Gebäudes. Noch auf der versifften Toilette, auf der das Licht flackerte und das Waschbecken kaputt war, setzte er sich den nächsten Schuss.

It’s only life
He’s so afraid of love, is so afraid of hate
What‘s he runnin‘ from now?

Seine Hand zitterte heftig, als er sich die Spritze in den Arm stach, nur wenige Millimeter neben der Wunde des letzten Schusses. Das Blut hatte Nikki noch nicht weggewischt, denn es war ihm völlig egal. Er hasste das Gefühl, wenn er sich Heroin spritzte. Es fühlte sich an, als würden seine Venen – nein, sein ganzer Körper – in Flammen stehen. Dafür war das, was danach kam, umso besser und erstrebenswerter. Keine zitternden Hände mehr. Keine schmerzenden Glieder. Keine düsteren Gedanken. Keine Selbstzweifel. Keine Schuldgefühle. Er war einfach… Ruhig. Ganz ruhig und entspannt. Nikki fühlte sich, als könne er alles schaffen. Ja, er würde später die Band anrufen und sich mit ihnen für morgen im Studio verabreden. Dann konnten sie endlich das Album fertig aufnehmen und bald auf Tour gehen. Die Fans liebten Mötley Crüe und Nikki liebte die Fans. Und seine Bandkollegen, die für ihn die einzige Familie waren, die er jemals gekannt hatte. Wenn er halbwegs nüchtern war und klar denken konnte, hatte er manchmal Angst, dass die anderen ihn hassten oder zumindest verachteten, weil er so schwach war und einfach nicht von den Drogen loskam. Aber sie waren ja selbst nicht besser. Tommy hatte auch eine Schwäche für Heroin, Mick kam keinen Tag ohne Wodka aus und Vince hatte noch nie einer Line Koks widerstehen können. Nein, sie waren wirklich nicht besser oder disziplinierter als er selbst. Aber Nikki war immer noch der Alte. Er konnte Hits schreiben, die sich millionenfach verkauften und ganze Stadien füllten. Er drehte den Kopf ein Stück, sodass er freie Sicht auf den Couchtisch in seinem Wohnzimmer hatte, auf dem allerhand halbfertige Songtexte lagen, die nur darauf warteten, beendet zu werden. Und genau das würde er auch tun. Nikki wollte aufstehen, doch stattdessen sank er wie automatisch nach unten, bis er wieder auf der Seite lag. Er war so unendlich müde. Aber er musste die Texte beenden und der Band beweisen, dass er es immer noch draufhatte. Nur ein kleines, ganz kurzes Nickerchen, sagte er sich selbst in Gedanken, und dann würde er die Texte zu Ende schreiben.

Do you, do you wanna scream?
Do you wanna face the strange?
Do you, do you believe?
Are you, are you afraid of change?

In seinen wenigen klaren Momenten wollte er schreien. Er wollte um Hilfe schreien, weil er genau wusste, dass er alleine nicht die Kraft hatte, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Er brauchte die Band, aber Nikki konnte sich einfach nicht überwinden, sie um Hilfe zu bitten. Die Angst, dass sie ihn einfach links liegen ließen, war allgegenwärtig und nahm ihm die Luft zum Atmen. Vor nicht einmal drei Jahren hatte Vince nach dem verhängnisvollen Autounfall neunzehn Tage im Gefängnis gesessen und einen vom Gericht angeordneten Entzug machen müssen. Niemand hatte sich um ihn geschert oder ihm geholfen, Nikki am allerwenigsten. Und er bereute es. Er schämte sich wahnsinnig für sein Verhalten. Vince war wie ein Bruder für ihn und er hatte ihn im Stich gelassen und sich stattdessen lieber voll und ganz dem Heroin gewidmet. Verdammt, er hatte ihn kein einziges Mal im Gefängnis besucht und ihm hinterher nichts als Vorwürfe gemacht. Vince war wirklich zuerst bemüht, clean zu bleiben, aber das erste, was Nikki nach seiner Entlassung getan hatte, war ihn zu einer Line Koks zu überreden. Zumindest hatte er Vince gesagt es sei Koks. In Wahrheit hatte er ihm Heroin gegeben und sich köstlich amüsiert, als Vince sich daraufhin sofort übergeben hatte und danach einfach bewusstlos umgekippt war. Entschuldigt hatte er sich bis heute nicht dafür und er wusste, dass er das auch niemals über sich bringen würde. Für so etwas war er viel zu stolz. Schon als Kind hatte er gelernt, dass man nur verletzt wurde, wenn man sich öffnete und andere Menschen zu nah an sich heranließ und Nikki kannte dieses widerliche, beinahe schon lähmende Gefühl viel zu gut. Sobald es auch nur ansatzweise darum ging, Gefühle oder seine eigene Verletzlichkeit zu zeigen, blockte Nikki sofort ab. Er stieß alle von sich, fauchte wie eine wütenden Katze und igelte sich ein. Es gab niemanden, dem er vollständig vertrauen konnte und er wagte es auch gar nicht, dieses Neuland zu betreten. Sein Verhältnis zu Vince hatte dadurch einen Riss bekommen, den niemals mehr jemand flicken konnte. Das Band zwischen ihnen war noch nicht vollständig durchtrennt, aber stark angerissen und bei jedem Streit ging es ein winziges Stück weiter kaputt. Zu gern würde er Vince einfach beiseite nehmen und mit ihm reden. Ihm erklären, wieso er sich so verhielt und sich entschuldigen, aber jedes Mal aufs Neue verließ ihn der Mut. Nikki hatte wahnsinnige Angst. Angst, dass sich etwas veränderte. Vince hatte schon oft angedeutet, dass es ihm nicht gefiel, wie es momentan bei Mötley Crüe lief und der Hauptgrund dafür war ohne Zweifel Nikki. Sein herablassendes Verhalten, obwohl er ja selbst keinen Deut besser war und die Tatsache, dass er immer seinen Dickkopf durchsetzen musste, ohne Rücksicht auf die anderen. Im Streit hatte Vince ihn schon oft einen herrischen Diktator genannt, der nur seine eigene Meinung gelten ließ und am meisten daran störte ihn, dass der Sänger damit recht hatte. Aber Nikki konnte nicht anders. Irgendwann würde es unweigerlich zum großen Knall kommen. Er konnte nicht einschätzen, wie lange Vince sich das noch gefallen ließ und Nikki hasste sich manchmal selbst für das, was er tat und was er sagte. Er wollte nicht, dass sich etwas veränderte. Mötley Crüe, das waren er, Tommy, Mick und Vince. Genau so war es gut und richtig und so sollte es auch bleiben, aber es kriselte immer öfter, immer heftiger und wenn Nikki versuchte, gegenzulenken, machte er alles nur noch schlimmer. Das beste Beispiel war sein Ausraster zuletzt im Studio. An diesem Tag ging es ihm absolut beschissen, aber er hatte die Band nicht versetzen wollen. Natürlich hatte er mit seinem Bass keinen einzigen brauchbaren Ton hinbekommen und seine Wut auf sich selbst an den anderen ausgelassen. Verdammt, er war so dämlich. Tommy hatte ihm sogar noch Hilfe angeboten, sie ihm auf dem Silbertablett serviert, aber Nikki hatte abgeblockt und war geflüchtet. Seitdem herrschte Funkstille zwischen ihnen. Er wusste nicht einmal, wie lange das her war. Eine Woche? Zwei? Zehn? Jegliches Zeitgefühl hatte er schon lange verloren und er seufzte müde. In seinem Kopf hämmerte es so heftig, dass sich in seinen Augen schon die Tränen sammelten, aber Nikki machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Auf dem kalten Fliesenboden seiner Küche, nur mit einer Unterhose und einem T-Shirt bekleidet, fror er erbärmlich und er wünschte sich in sein Bett, unter die warme und weiche Decke. Seine Versuche, aufzustehen blieben Versuche und vor Kälte zitternd dämmerte er langsam wieder weg.

It‘s only life
He‘s so afraid of this and so afraid to ask
He hides behind his mask

Es war eine dumme Idee gewesen, ausgerechnet heute die Heroindosis zu erhöhen, aber wie immer bemerkte Nikki erst viel zu spät, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die übliche Menge reichte ihm schon lange nicht mehr und er hatte wirklich versucht, das Unausweichliche möglichst lang hinauszuzögern. Schon seit einigen Tagen ging es ihm beschissen, doch heute hatte er den absoluten Tiefpunkt erreicht. Nikki war bereits schweißgebadet, mit schmerzenden Gliedern und am ganzen Körper zitternd aufgewacht, woraufhin er sich sofort einen Schuss gesetzt hatte, aber das reichte nicht aus. Nicht einmal eine Stunde später zeigte sein Körper dieselben Symptome und er hatte anschließend fast zwei Stunden über der Toilettenschüssel gehangen und sich immer wieder heftig übergeben. Tommy hatte irgendwann geklopft und Nikki wusste nicht mehr, wie er es fertiggebracht hatte, sich zur Tür zu schleppen. “Man, Alter, du siehst echt scheiße aus“, hatte Tommy nur grinsend gesagt und ihm freundschaftlich auf die Schulter geschlagen. Eigentlich etwas, das keine Schmerzen auslösen sollte, aber es hatte sich angefühlt, als würden ein Dutzend Knochen gleichzeitig brechen. Nikki hatte nicht einmal gewusst, welcher Tag heute war und als Tommy ihm erklärt hatte, dass sie gleich ein Konzert geben würden und er ihn abholen wollte, wäre er am Liebsten einfach abgehauen. Die Musik bedeutete ihm so unendlich viel und er liebte es, aufzutreten. Auf der Bühne hatte er sich immer wohlgefühlt, so als wäre er zu Hause. Als wäre er endlich angekommen. Nach einer langwierigen und kräfteraubenden Suche nach etwas, von dem er selbst nicht einmal wusste, was es war. Vor jedem Auftritt spürte er eine angenehme Nervosität, die ein sanftes Kribbeln in seinem ganzen Körper auslöste und ihn sich lebendig fühlen ließ, aber heute? Er fühlte rein gar nichts. Es war ihm völlig egal, ob sie auftraten. Ja, schlimmer noch, er wollte nicht. “Muss mich noch umziehen. Komme gleich“, hatte er undeutlich genuschelt und Tommy einfach im Wohnzimmer stehen lassen. In seinem Schlafzimmer hatte er sich die erstbeste Hose geschnappt, die er fand und sie angezogen, ehe er das Heroin aus dem Nachtschränkchen neben seinem Bett gekramt hatte. Nikki brauchte es unbedingt, sonst würde er den Rest des Tages nicht durchstehen. Fast die doppelte Menge hatte er sich gespritzt und nachdem es sich minutenlang so angefühlt hatte, als würde das Blut in seinen Venen kochen, setzte endlich die erlösende Wirkung ein. Er hörte auf zu zittern und auch seine Schmerzen ließen nach. In seinem Kopf machte sich eine angenehm kühle Leere breit und er hatte sich mit einem zufriedenen Lächeln gegen sein Bett gelehnt. Die höhere Dosis sorgte dafür, dass es ihm endlich wieder halbwegs gut ging und voller Elan hatte Nikki sich seinen Bass geschnappt und sich wenig später neben Tommy auf den Beifahrersitz fallen lassen. Wenn nur dieses unaufhörliche Schwindelgefühl nicht wäre, das so stark geworden war, dass er seinen Kopf gegen das kalte Glas der Fensterscheibe sinken ließ und die Augen schloss. Nun stand er hier, am Rand der Bühne und er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihm war schwindelig und schlecht und alles, was um Nikki herum passierte, nahm er nur ganz dumpf wie durch einen dichten Nebelschleier wahr. Tommy stand neben ihm, Mick hinter ihm und Vince war noch in der Garderobe. Wie immer würde er erst im letzten Moment die Bühne betreten, nur ein paar Sekunden, bevor er anfangen musste, zu singen. Vince liebte diese Auftritte in letzter Sekunde. Nikki richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne, wo die Vorband gerade die letzten Takte des letzten Songs spielte. Etwa achttausend Fans waren gekommen, nur um Mötley Crüe zu sehen und Nikki krallte seine Finger fest um das Griffbrett seines Basses, so als könne es ihm Halt geben. Sein klägliches Frühstück von einem halben Toast hatte er vor ein paar Stunden wieder ausgekotzt und er wusste nicht mehr, ob er am Vortag überhaupt irgendetwas gegessen hatte. Das Heroin betäubte zum Glück all seine Schmerzen, egal welcher Art. Körperlich hatte er in letzter Zeit oft mit Magenkrämpfen, Kopfweh und schmerzenden Gliedern zu kämpfen. Seelisch sah das alles schon ganz anders aus. Viel schlimmer. Mit Dingen wie Kopfschmerzen oder einem rebellierenden Magen wusste er umzugehen. Da hieß es einfach, Zähne zusammenbeißen und die Schmerzen ignorieren, aber alles andere ließ sich leider nicht so leicht ausblenden. Eigentlich war Nikki unglaublich unsicher und er brauchte Bestätigung. Von seinen Bandkollegen, von den Fans, von seinem Management, von der Plattenfirma, von Magazinen und Radiosendern. Dank seiner Eltern und seiner verkorksten Kindheit hatte er mit starken Verlustängsten zu kämpfen und ständig hatte er das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Natürlich würde Nikki das niemals zugeben. Er versteckte seine Zerbrechlichkeit stets hinter einer Maske aus Überheblichkeit und Kontrollsucht und je mehr ihn etwas verunsicherte, desto arroganter und herrschsüchtiger wurde er. Er gab immer vor, genau zu wissen, was er tat und das beherrschte Nikki so gut, dass jeder ihm glaubte. Der Sänger der Vorband kündigte Mötley Crüe an und wie in Trance folgte er Tommy auf die Bühne, wobei er keine Miene verzog. Das Konzert war grauenhaft. Er hätte Five Years Dead und You’re all I need nicht auf die Setlist setzen dürfen – die er noch eben schnell innerhalb von zwei Minuten im Auto geschrieben hatte –, denn die Songs waren nicht einmal fertig aufgenommen. Vince war alles andere als textsicher, Nikki kam ständig aus dem Rhythmus und damit verunsicherte er sogar Mick, der sich daraufhin ebenfalls ein paar Mal verspielte. Auch ansonsten war die Band absolut nicht in Höchstform. Vince traf fast keinen Ton und Nikki wurde immer unkonzentrierter, was ihn zunehmend wütend machte. Er hasste sich selbst. Mal wieder hatte er zu viel gewollt und es verbockt. Wieso war er nicht bei den Songs geblieben, die sie problemlos spielen konnten? Home Sweet Home, On with the Show, Danger, Red Hot, Tonight. Es gab so viel Auswahl, aber Nikki hatte stolz seine neuen Songs präsentieren wollen, die er erst wenige Tage zuvor geschrieben hatte. Natürlich war die Zeit zu knapp gewesen. Selbst, wenn Vince nicht pausenlos auf Koks wäre, hätte er Mühe gehabt, die Texte auswendig zu lernen. Nikki schämte sich. Die Fans hatten Geld für die Konzertkarten bezahlt und sie lieferten eine Show ab, die wirklich unter aller Sau war. Nach dem letzten Song hatte sich in seinem Bauch so viel Wut angestaut, dass er seinen Bass nahm und sich zu Tommys Schlagzeug umdrehte, das auf einem Podest ganz hinten auf der Bühne stand. Er schmetterte ihn so hart gegen die Kante des Podestes, dass sein schneeweißer Bass sofort in seine Einzelteile zersprang und Nikki nur noch das Griffbrett in den Händen hielt. Die Fans johlten und jubelten, weil alle dachten, es gehöre zur Show und Nikki zwang ein Grinsen in sein Gesicht, ehe er sich umdrehte und das Griffbrett ins Publikum warf. Das alles passierte zehn Tage, bevor er im Studio ausrastete und daraufhin komplett abstürzte.

It’s only life
He’s so afraid of pain and so afraid of blame
It’s driving him insane

“Was sollte die Scheiße, Mann?“ fauchte Nikki wütend und er schubste Vince mit dem Rücken gegen die Wand, kaum, dass sie von der Bühne gegangen waren. Seine Übelkeit hatte sich inzwischen verflüchtigt und einer alles beherrschenden Wut Platz gemacht. Und die ließ er mal wieder an Vince aus, obwohl er genau wusste, dass der Sänger bestenfalls einen kleinen Anteil der Schuld trug. Natürlich hätte er nüchtern kommen sollen, denn dann hätte er auch wesentlich mehr Töne getroffen, aber Vince war nicht das Problem. Nein, Nikki selbst war es. Er hatte das Konzert gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt und dementsprechend auch keine Setlist vorbereitet, die er im Vorfeld mit der Band durchgehen konnte. Trotzdem hatte er You’re all I need und Five Years Dead auf die Liste gesetzt, obwohl er doch wusste, dass Vince den Text kaum beherrschte und Mick die Melodie erst ein oder zwei Mal gespielt hatte. So etwas tat er ständig. Nikki hielt sich selbst und Mötley Crüe für unbesiegbar und es gab nichts, was sie nicht schaffen konnten. Er hasste es wie die Pest, wenn er vor Augen geführt bekam, dass sie eben doch nicht unfehlbar waren. Sein Kopf war wie leergefegt und seine Hände zitterten vor Wut und nur ganz tief in seinem Inneren wusste er, dass er nicht sauer auf Vince war, sondern auf sich selbst. “Du blöder Wichser, leck mich doch! Du tauchst hier völlig breit auf und lässt mich Songs singen, die ich erst zweimal gehört hab! Du kannst mich mal!“ giftete Vince wütend und er stieß Nikki so heftig zurück, dass er gegen Mick prallte, der ihn gerade noch so auffing und verhinderte, dass er auf dem Boden landete. Nikki wollte noch etwas sagen, doch Vince ließ ihn einfach stehen. Einen Moment spielte er wirklich mit dem Gedanken, ihm hinterherzulaufen und eine Schlägerei anzufangen, aber Tommy hielt ihn zurück, indem er ihm eine halbvolle Flasche Whiskey in die Hand drückte. Nikki nahm zwei kräftige Schlucke, doch besser fühlte er sich danach nicht. Vince hatte es nicht direkt ausgesprochen, doch Nikki wusste, dass er ihm die Schuld für dieses missglückte Konzert gab. Genau wie Mick und Tommy, die aber glücklicherweise nichts sagten. Mick schnappte sich seine Gitarre und ging ohne ein Wort des Abschieds. Er schaute Nikki dabei nicht einmal an und das war ein deutliches Zeichen, dass Mick vor Wut kochte. Tommy bat ihn nur, anzurufen und ihm mitzuteilen, wann er am Album weiterarbeiten wollte, bevor auch er Nikki einfach stehen ließ. Es tat unglaublich weh, wenn die Band wütend auf ihn war und er hasste den gewaltigen Orkan an Gefühlen, der auf ihn einprasselte. Eigentlich war es nur ein missglücktes Konzert gewesen. Nichts Weltbewegendes. So etwas passierte doch jeder Band mal. Aber Nikki hatte das Gefühl, dass er versagt hatte und das auf ganzer Linie. Ihm bedeutete die Musik alles und er wollte jedes Mal eine grandiose Show abliefern. Für die Fans und auch für sich selbst. Es war leichter, hinterher Vince die Schuld zu geben und ihn anzuschreien, denn dann musste er sich nicht mit seinen eigenen Gefühlen auseinandersetzen. Diese widerlichen Schuldgefühle, die ihn regelrecht verrückt machten. Er leerte die Whiskeyflasche auf Ex, bevor er sie mit voller Kraft gegen die Wand schleuderte, wo sie in hunderte Scherben zersprang.

So insecure
There is no cure

In wachem Zustand löste Heroin bei ihm in den ersten Stunden große Glücksgefühle aus sowie den Glauben, dass einfach nichts unmöglich war. Danach ging es meistens sehr schnell bergab und Nikki wurde zum unsicheren Nervenbündel, das extrem schnell die Fassung verlor. Immer noch dachte er ständig an das missglückte Konzert von vor ein paar Wochen. Eigentlich sollten sie das Album fertigstellen, aber die Gelegenheit hatte sich zufällig ergeben und natürlich hatte Doc sie sofort gebucht. Er und Doug waren verdammt gute Manager, die alles taten, um Mötley Crüe zu unterstützen und ihren Erfolg zu vergrößern, aber in solchen Momenten hasste Nikki die beiden. Sie wussten, dass er Heroin nahm, genau wie die Band. Aber keiner von ihnen wusste, wie schlimm es wirklich um ihn stand. Nicht einmal Nikki selbst wollte es sich eingestehen. Er redete sich manchmal immer noch ein, dass er nicht süchtig war und jederzeit aufhören konnte, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass es Schwachsinn war. Das schlimmste daran waren ja nicht einmal die Entzugsescheinungen, die nach immer kürzeren Intervallen auftraten oder die Schmerzen oder die Tatsache, dass er furchtbar aussah, nein. Das schlimmste waren die Albträume. Wie oft hatte er schon Vince, Mick oder Tommy sterben sehen, während er nur danebenstand, unfähig, etwas zu tun? In den besonders grausamen Träumen war sogar er selbst es, der das blutverschmierte Messer oder die Pistole in der Hand hielt. Diese Träume fühlten sich so real an, dass er mehr als einmal schweißgebadet aufgewacht war und vor Panik keine Luft mehr bekommen hatte. Einmal hatte er geträumt, dass Vince an einer Überdosis gestorben war und Nikki hatte ihn daraufhin mitten in der Nacht angerufen und aus dem Bett geklingelt. Auch das hatte er zunächst für einen Traum gehalten, bis Vince ihm am nächsten Tag davon erzählt und sich über ihn lustig gemacht hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie peinlich ihm das gewesen war. Vince konnte manchmal so ein verdammter Idiot sein. Nikki hatte Angst um ihn gehabt und so wurde es ihm gedankt? Seither hatte er keinen der Jungs mehr nach einem Traum angerufen, egal, wie real er sich auch angefühlt hatte und wie stark er den Drang verspürte, zu wissen, ob alles in Ordnung war. Auch jetzt träumte er, hier in seiner Wohnung auf den kalten Fliesen des Küchenfußbodens und er bekam nicht mit, dass er im Schlaf heftig weinte und sich vor Panik beide Arme blutig kratzte.

Well, he’s so afraid
He’s so afraid of death
He’s afraid, afraid of life

Da war Blut, so viel Blut, dass Nikki sofort eine Panikattacke bekam, weil er seinen Traum für real hielt. Die quälend langen Sekunden, die es dauerte, bis er die Situation richtig erfasst hatte, waren die schlimmsten in seinem Leben. Es war sein eigenes Blut, das er auf seinem weißen T-Shirt verteilt hatte und die Wunden auf seinen Armen brannten höllisch. Nikki sah aus, als hätte er sich mit einem wütenden Löwen angelegt und er blutete immer noch. Dies war einer der wenigen Momente, in dem ihm überdeutlich bewusstwurde, dass jeder Tag sein letzter sein könnte. Er betrachtete die Wunden auf seinen Armen und einige davon waren wirklich schon kritisch. Man sollte nicht glauben, dass man sich ohne einen scharfen Gegenstand wie ein Messer oder eine Schere derart stark verletzen konnte, aber Nikki hatte es irgendwie fertiggebracht. Es überraschte ihn, dass er im Schlaf eine solche Kraft aufbringen konnte und noch mehr überraschte es ihn, dass er von den Schmerzen nicht aufgewacht war. Aus zwei oder drei der Wunden sickerte immer noch unaufhörlich Blut, das sowohl auf sein Shirt, als auch auf den Boden tropfte und Nikki wusste, dass er seine Arme zumindest verbinden sollte, doch er tat nichts. Er blieb einfach sitzen und schaute fasziniert zu. Normalerweise wäre er sofort panisch aufgesprungen und ins Bad gerannt, um einen Verband zu suchen, aber die Wirkung des Heroins hatte noch nicht vollständig nachgelassen. Er war ganz ruhig und entspannt und das änderte sich auch nicht, als er deutlich spürte, dass er immer schwächer wurde. Nikki konnte kaum den Kopf oben oder die Augen offenhalten, aber er würde schon nicht verbluten. Nein, das wäre lächerlich. Nicht von ein paar Kratzern auf seinem Arm. Er merkte gar nicht, wie er wieder seitlich nach unten rutschte und erneut wegdämmerte und als er das nächste Mal aufwachte fühlte er sich elend. Überall an ihm klebte getrocknetes Blut und ihm war schlecht. Hier lag er nun, auf dem Boden seiner Küche, zugedröhnt, blutverschmiert und nicht einmal in der Lage, aufzustehen. Er war erbärmlich. Sollte es etwa so mit ihm zu Ende gehen? Nikki war sich sicher, dass niemand sich um ihn scherte, nicht einmal seine Bandkollegen. Nicht nach dem, was er in letzter Zeit abgezogen hatte. Vermutlich wären sie sogar froh, wenn sie ihn endlich los waren. Die Texte, die er schrieb, waren der letzte Mist und er bekam keinen brauchbaren Ton aus seinem Bass heraus. Zudem tat er fast nichts Anderes, als auf den Jungs herumzuhacken und sie von oben herab für ihre Fehler zu kritisieren. Vor allem Vince bekam das volle Ausmaß seiner Launen zu spüren und Nikki glaubte fest daran, dass er ihn mittlerweile hasste. Trotzdem gab es irgendeinen undefinierbaren Teil ganz tief in ihm drinnen, der sich an das Leben klammerte, wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz. Nein, er wollte nicht sterben, noch nicht. Verdammt, er war nicht einmal dreißig und er wollte ganz bestimmt nicht blutverschmiert auf dem Küchenfußboden draufgehen. Nikki hatte wahnsinnige Angst vor dem Tod und eine innere Unruhe machte sich in ihm breit, die ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Es war, als ob sein Körper wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde und er bekam Panik. Auf der anderen Seite wollte er aber auch nicht mehr so weitermachen. Seine Band scherte sich nicht um ihn und ihre Manager und die Plattenfirma interessierte nur das Geld. Wenn Nikki nicht mehr in der Lage war, anständige Songs zu schreiben oder vernünftig Bass zu spielen, wäre es ihnen egal, ob er lebte oder starb. Nein, dieses Leben wollte er nicht. Er hatte eine Band, deren Mitglieder ihn bestenfalls tolerierten, weil er bisher ein paar Hits geschrieben hatte. Dazu ständig diese Schmerzen und das unaufhörliche Chaos an Gefühlen, das ihm Angst machte und das er nur loswurde, wenn er sich einen Schuss gesetzt hatte. Es war ein Teufelskreis und Nikki wusste einfach nicht, wie er ausbrechen sollte. Allein besaß er nicht die Kraft dafür, doch er konnte sich immer noch nicht überwinden, jemanden um Hilfe zu bitten. Stattdessen griff er mit zittrigen Fingern erneut nach der Spritze, die neben ihm lag. Sie war ebenfalls voller Blut und auch der Löffel zu seiner Rechten sah nicht anders aus. Seine Arme waren völlig zerkratzt und voll von getrocknetem Blut und Nikki wusste noch nicht genau, wo er die Spritze ansetzen sollte, aber er würde schon eine geeignete Stelle finden. Das musste er und zwar schnell. Er konnte die ganzen Gefühle nicht ertragen, die gerade hochkamen, denn sie schmerzten und trieben ihm die Tränen in die Augen. Er wollte nichts mehr fühlen.

The drama in his head
Getting louder all the time
Getting louder all the time

Es war die absolute Hölle, völlig allein mit seinen Gedanken zu sein, in seiner viel zu leisen Wohnung. Nur das Ticken der Uhr an der Wand über dem Fernseher durchbrach die Stille. Die wundervollen, Euphorie auslösenden Glücksgefühle, die er nach jedem Schuss bekam, hatten sich dieses Mal innerhalb weniger Minuten verflüchtigt und nun fühlte er sich elend. Ihm war schwindelig und die Umgebung verschwamm so stark vor seinen Augen, dass er bald schon nicht mehr sagen konnte, wo oben und wo unten war. Nikki wusste nur, dass er erbärmlich fror und er schlang die Arme fest um eine Beine, ehe er den Kopf auf seinen Knien ablegte. So saß er stundenlang da, während er versuchte, sich auf das Ticken der Uhr zu konzentrieren, aber Nikki konnte das Gedankenchaos einfach nicht abschalten. Da war so viel, was er nicht fühlen wollte und was ihm Angst machte, aber je mehr er sich dagegen sträubte, desto lauter wurde es in seinem Kopf. Er hatte Angst. Angst, dass die Band auseinanderbrach. Dass das neue Album floppte. Schon seit Monaten kamen sie keine zwei Stunden miteinander aus, ohne sich zu streiten und die einzigen halbwegs brauchbaren Songs waren Wild Side und Girls, Girls, Girls. An beiden Liedern hatten die anderen mitgeschrieben, aber den Rest des Albums konnte man in die Tonne treten. Mit Müh und Not hatten sie zehn Songs zusammengekriegt, aber Nikki schämte sich regelrecht für das, was sie ablieferten. Vielleicht weigerte er sich auch deshalb standhaft, sich mit den anderen im Studio zu verabreden. Auch Vince hatte sich mehrfach gesträubt, einige der Songs zu singen, weil er sie für ‘den größten Bullshit aller Zeiten‘ hielt, um es mit seinen Worten zu sagen. Nikki musste ihm leider recht geben. Aber mehr hatten sie nicht und egal, wie sehr Nikki es auch versuchte, er bekam nichts Brauchbares zu Papier. Einfach alles war beschissen und er wusste, dass er mit dem Feuer spielte, als er erneut mit zitternder Hand nach der Spritze griff. Es war gefährlich, sich so schnell wieder Heroin zu spritzen, denn der letzte Schuss konnte noch keine drei Stunden her sein, aber Nikki brauchte es. In seinem Kopf herrschte Chaos und er wusste damit nicht mehr umzugehen. Seit fast zwanzig Jahren betäubte er jegliche Gefühle mit allen möglichen Drogen, weil er noch nie gut darin gewesen war, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und er wollte es auch überhaupt nicht.

He’s so afraid, afraid to lose
Been so afraid of fame

Seit Nikki denken konnte, wollte er berühmt sein. Als Kind hatte er viel Zeit damit verbracht, sich vorzustellen, wie es sich wohl anfühlte, auf einer Bühne vor tausenden von jubelnden Fans zu stehen. Seine Großmutter hatte sich mit ihm oft Konzerte im Fernsehen angesehen und jedes Mal hatte Nikki gebannt mit offenem Mund vor dem Bildschirm gesessen. Oder laut und schief mitgesungen, während er auf dem Sofa herumsprang. Niemals hatte er auch nur für eine Sekunde darüber nachgedacht, in seinem Leben irgendetwas anderes als Musik machen zu wollen. Nein, Nikki hatte immer gewusst, dass er dafür bestimmt war, auf einer Bühne zu stehen und die Leute zu begeistern. All die Jahre hatte er nur auf dieses eine Ziel hingearbeitet, ohne einen Plan B in der Hinterhand zu haben und oft hatte ihm das alles wahnsinnige Angst gemacht. Sein Vorhaben war nicht gerade bescheiden oder leicht in die Tat umzusetzen, aber er hatte nie aufgegeben. Anfangs war es eine innere Zerrissenheit gewesen, die ihn fast verrückt gemacht hatte und die er sogar jetzt noch manchmal fühlte. Auf der einen Seite war da dieses großartige Gefühl, auf der Bühne zu stehen, mit Blick auf tausende Fans, die ihm begeistert zujubelten. Das pure Adrenalin, das durch seine Adern schoss, wenn er seinen Bass in die Hand nahm und spielte. Der Stolz, wenn er einen Text geschrieben hatte und der sich regelrecht verzehnfachte, wenn im Studio dann daraus ein fertiger Song wurde. Die Freiheit, dass er tun konnte was er wollte und wann er es wollte. Nikki hatte keine festgelegten Arbeitszeiten und er musste sich auch nicht den Arsch für irgendeinen Boss aufreißen, der es ihm sowieso nicht dankte. Das hatte er vor Mötley Crüe lange genug tun müssen und er hatte jeden einzelnen Tag gehasst. Das Beste daran war aber, dass Nikki seine Kreativität ausleben konnte. Für einen kreativen Menschen gab es keine größere Folter, als daran gehindert zu werden. In seinen Songs konnte Nikki alles verarbeiten, was ihn beschäftigte und dabei machte es ihm komischerweise keine Angst, seine Gefühle zuzulassen und sich damit auseinanderzusetzen. Außerhalb des Songschreibens gelang ihm das nicht und er betäubte sich mit allen möglichen Drogen, bis er überhaupt nichts mehr fühlte und das war auch bitternötig, damit er nicht komplett die Fassung verlor. Das waren die Schattenseiten des Ruhmes. Als bekannter Rockstar konnte er sich nicht einmal die Nase putzen, ohne dass sofort sämtliche Magazine und Fernsehsender darüber berichteten. Auf seinen Schultern lastete ein enormer Druck und Nikki tat gern so, als wäre es ihm vollkommen egal, was andere Leute über ihn dachten, aber das stimmte nicht. Natürlich interessierte es ihn, was die Band, die Fans, die Kritiker, die anderen Promis von ihm hielten. Er brauchte ständig die Bestätigung, dass er irgendetwas gut gemacht hatte. Und sei es nur, dass Tommy oder Vince sagten, dass sein neuer Song toll war. Oder dass ein Album sich lange weit oben in den Charts hielt. Wenn er diese Bestätigung eine Weile nicht bekam, fing Nikki an, immer stärker an sich selbst zu zweifeln. Er bekam furchtbare Angst, zu versagen und alles zu verlieren, was er sich in den letzten Jahren so mühsam mit den Jungs aufgebaut hatte. Es war ein langer Kampf gewesen, der viel Kraft gekostet und große Opfer gefordert hatte. Nikki wusste, dass er die Angst vor dem Versagen wahrscheinlich niemals gänzlich ablegen konnte und umso mehr machte ihm die Tatsache zu schaffen, dass er momentan nichts auf die Reihe bekam. Anfangs hatte er tatsächlich auch Angst davor gehabt, berühmt zu werden. Also, so richtig berühmt. Eigentlich ein Widerspruch, das wusste Nikki, aber es entsprach nun mal der Wahrheit. Er hatte es zwar immer unbedingt gewollt, aber je berühmter und gefeierter man war, desto tiefer konnte man fallen, wenn man etwas verbockte. Und der Aufprall würde hart sein. So verdammt hart, dass Nikki sich davon nicht mehr erholte, dessen war er sich absolut sicher. In letzter Zeit dachte er ständig darüber nach und oft fragte er sich, was wäre wenn… Die Band auseinanderbrach? Das Album floppte? Er nie wieder auch nur einen vernünftigen Song hinbekam? Das waren nur drei von unendlich vielen Fragen, die ihm ständig im Kopf herumschwirrten und die Antworten darauf gefielen Nikki nicht. Sie machten ihm Angst und deswegen beeilte er sich, die Spritze mit dem flüssigen Heroin zu füllen, von dem er schon fast die Hälfte verschüttet hatte. Seine Hände zitterten so stark, dass er den Löffel nicht ruhig halten konnte und ein paar Tropfen von der kochend heißen Flüssigkeit landeten auf seinem Bein. Nikki konnte einen zischenden Schmerzlaut nicht unterdrücken und er zuckte zusammen, wodurch er nur noch mehr verschüttete. Großartig, jetzt war er schon zu blöd, um sich einen Schuss zu setzen. Er sah alles nur verschwommen und egal, wie sehr er sich anstrengte, er konnte seinen Blick einfach nicht fokussieren. Nikki zog die Spritze mehr oder weniger blind auf und am Ende musste er raten, wieviel Heroin da jetzt eigentlich drin war. Ein wahnsinnig gefährliches Spiel mit dem Feuer und früher oder später würde Nikki sich daran die Finger verbrennen, das wusste er. Aber er konnte nicht anders, selbst, wenn er gewollt hätte. Er war ganz unten angekommen und hielt den Druck nicht mehr aus, dem er allein gewachsen sein musste, weil er niemandem vertrauen konnte. Er brauchte das Heroin, weil er ansonsten durchdrehte.

Everyday he feels the same
It’s driving him insane

Hinter seiner so arroganten, selbstsicheren und rebellischen Fassade versteckte sich nur ein unsicherer Junge, der Angst hatte, alles zu verlieren und der versuchte, seine Panik mit Drogen zu unterdrücken. Noch während Nikki sich das Heroin in die Venen spritzte, wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sein ganzer Arm brannte, so als würde er in Flammen stehen und Nikki spürte, wie seine Muskeln sich schmerzhaft verkrampften. Anfangs fühlte es sich immer so an, als ob das Blut in seinen Adern regelrecht kochte, aber dieses Mal war etwas anders. Nikki spürte deutlich, wie sein Herz stolperte und mehrfach aussetzte. Heroin war seit Monaten das einzige, was ihn über Wasser hielt und ihm Glücksgefühle bescherte, aber in Wahrheit war er so weit von echtem Glück entfernt, wie man es nur sein konnte. Die Tage verschwammen ineinander und Nikki wusste nicht einmal, welches Datum sie heute hatten. Er wollte aufstehen und versuchte, sich hochzukämpfen, aber er schaffte es nicht. Es fühlte sich an, als ob ihn irgendetwas gepackt hielt und unnachgiebig nach unten auf den Boden drückte und ihm dabei die Luft abquetschte. Er konnte nicht atmen, sein ganzer Körper schmerzte und krampfte und eine alles beherrschende Panik machte sich in ihm breit, die ihn nur noch weiter lähmte. Nikki wollte schreien, wollte um Hilfe rufen, aber seine Stimmbänder gehorchten ihm nicht. Alles, was er zustande brachte, war ein leises Wimmern und seine eigene Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren. Er war so ein verdammter Idiot. Eigentlich hatte er alles, was er brauchte, um wirklich glücklich zu sein. Er hätte sich nur mit seinen Gefühlen und Ängsten auseinandersetzen und der Band vertrauen müssen. Stattdessen hatte er zugelassen, dass er in die Heroinsucht abrutschte und alles, was er sich aufgebaut hatte, mit Füßen getreten. Vielleicht war das hier jetzt seine verdiente Strafe für den Mist, den er gebaut hatte. Dass er im Alter von gerade mal neunundzwanzig Jahren einsam und allein auf dem schmutzigen Boden seiner Küche draufging. An einer verdammten Überdosis. Sein Herz stolperte immer heftiger und es hämmerte gegen seine Rippen, sodass er davon Kopfschmerzen bekam. In seinen Ohren rauschte es so laut, dass er nichts Anderes mehr wahrnehmen konnte und dieses Geräusch ließ ihn fast verrückt werden. Es machte ihm Angst. Er spürte seine Beine nicht mehr und auch seine Arme wurden langsam taub, während sein Blick immer weiter verschwamm und in diesem Moment wusste Nikki, dass er es übertrieben hatte. Die Erkenntnis sickerte ganz langsam in seinen Verstand und obwohl er wusste, dass es sinnlos war, versuchte er ein letztes Mal, sich hochzukämpfen, doch er hatte keine Chance.

It’s driving him insane

Das Telefon klingelte jetzt schon zum dritten Mal und Vince verfluchte die Tatsache, dass er es mit ins Wohnzimmer genommen hatte. Sicherlich war es Nikki, der sich einbildete, die Band über Weihnachten ins Studio schleifen zu müssen, aber das konnte er vergessen. Über die Feiertage wollte Vince seine Ruhe haben, zumindest vor der Band und allen voran natürlich Nikki. Er wollte ausschlafen, die Nachmittage vor dem Fernseher verbringen und am Abend ordentlich feiern und vielleicht das ein oder andere Mädchen mit nach Hause nehmen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Vince wusste nicht, wieso, aber er griff nach dem Telefon, das auf dem Couchtisch vor ihm lag und ging ran. Vielleicht, weil das Nachmittagsprogramm einen Tag vor Heiligabend sowieso Mist war und er sich langweilte. Vielleicht aber auch, weil er wusste, dass es nur Nikki sein konnte und er ihm gern ein paar Beleidigungen an den Kopf werfen wollte. “Was?“ motzte er genervt in den Hörer. “Endlich erreiche ich einen von euch Idioten! Nikki sollte mich schon vor einer halben Stunde bei Elektra treffen“, schlug ihm die wütende Stimme ihres Managers Doc entgegen und Vince seufzte lautlos. “Und warum ist das mein Problem?“ fragte er genervt. Das war so typisch. Nikki baute Mist und er wurde dafür dumm angemacht. Vince hatte so die Schnauze voll. “Gut, ich formuliere es anders. Wenn ihr Jungs für euer Album auch nur einen müden Dollar von Elektra sehen wollt, schleifst du Nikkis verdammten Arsch sofort hier her, kapiert?“ fauchte Doc herrisch und ehe Vince noch etwas sagen konnte, hatte er schon aufgelegt. Großartig, einfach großartig. Obwohl er sich keine großen Hoffnungen machte, versuchte er, Tommy und Mick anzurufen, aber natürlich meldete sich bei beiden nur der Anrufbeantworter. Vince überlegte wirklich, ob er den Anruf einfach ignorieren und es sich weiterhin auf dem Sofa bequem machen sollte. Nikki war doch selbst schuld, wenn er unbedingt bei jedem Meeting dabei sein wollte, nur um seine Kontrollsucht zu befriedigen. Was hatte Vince denn bitte damit zu tun, wenn er einen Termin verpennte? Andererseits war Nikki ein manipulativer kleiner Mistkerl, der es mit absoluter Sicherheit schaffte, alles irgendwie so hinstellen, als sei er das Unschuldslamm schlechthin und Vince der Böse. Falls das Label ihnen wirklich die Kohle für die Produktion von Girls, Girls, Girls strich, würde Nikki sich fein herauswinden und mit dem Finger auf Vince zeigen. Darauf konnte er auch dankend verzichten und obwohl er überhaupt keine Lust darauf hatte, schaltete er den Fernseher aus und zog sich seine Schuhe an. Einen Tag vor Heiligabend war auf den Straßen von Los Angeles die Hölle los und er brauchte über eine halbe Stunde, bis er endlich vor der Tür von Nikkis Wohnung stand. “Hey, Sixx! Doc wartet bei Elektra auf dich!“ rief er, nachdem er geklopft hatte, doch es kam keine Reaktion. Sein Auto stand unten im Hof, also war er sehr wahrscheinlich zu Hause. Vince klopfte noch einmal, aber es tat sich wieder nichts. Anscheinend ignorierte Nikki ihn und sofort sammelte sich wieder die altbekannte Wut in seinem Bauch. Seit einiger Zeit sein ständiger Begleiter, wenn es um Nikki ging und er hatte sowas von keine Lust mehr darauf. Mötley Crüe entwickelte sich für Vince immer mehr zu einem Albtraum und langsam war das Maß endgültig voll. Nikki führte sich auf, wie ein Diktator und er tat so, als habe er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Als sei nur seine Meinung die einzig wahre und als habe er immer Recht. “Du bist so ein blöder Wichser, weißt du das? Elektra streicht uns die Kohle, wenn du nicht gleich deinen Arsch hochkriegst!“ schrie er wütend, ehe er sein Ohr gegen die Tür drückte und lauschte. Drinnen war alles ruhig und Vince erkannte, dass Nikki ihm nicht aufmachen würde, selbst, wenn er sich hier dumm und dämlich klopfte und nach ihm rief, bis er heiser war. “Oh nein, so nicht, Freundchen“, murmelte er wütend zu sich selbst und Vince stellte sich auf die Zehenspitzen, um an den Ersatzschlüssel zu kommen. Der Türrahmen ragte etwa zwei Zentimeter aus der Wand heraus und Nikki hatte den Schlüssel dort platziert, weil er sich schon ein paar Mal ausgesperrt hatte. Er wusste nicht, dass Vince das Versteck kannte und der brauchte nicht lange, um den Schlüssel zu ertasten und ihn im Schloss herumzudrehen. Nikkis Wohnung lag fast vollständig im Dunkeln, denn alle Jalousien waren heruntergelassen und nur die Stehlampe neben der Couch im Wohnzimmer war eingeschaltet. Wie immer herrschte hier fürchterliche Unordnung, doch das interessierte Vince nicht sonderlich, denn bei ihm zu Hause sah es auch nicht besser aus. Als er seinen Blick jedoch zur offenen Küche schweifen ließ, die nur durch die L-förmige Anordnung der Schränke vom Wohnzimmer abgegrenzt war, rutschte ihm das Herz in die Hose. Schnell schaltete Vince das Licht ein und er überbrückte die wenigen Meter im Laufschritt. Das erste, was ihm auffiel, als er sich neben Nikki auf den Boden kniete, war Blut. So viel Blut. Auf seinen Armen, seinen Beinen, seinem Shirt, auf dem Boden und dem Holz der Küchenschränke. Nikki lag halb auf dem Bauch, halb auf der Seite und seine Haare sowie seine Arme verdeckten den Blick auf sein Gesicht. Oh Gott, seine Arme… Es sah aus, als hätte Nikki sich mit Freddy Krueger aus A Nightmare on Elm Street angelegt und Vince spürte eine Panik in sich aufsteigen, die ihm die Kehle zuschnürte und sein Herzschlag beschleunigte sich. “Nikki?“ murmelte er mit zitternder Stimme, doch der Bassist reagierte nicht. Verflucht, was war hier passiert? Was hatte dieser Idiot angestellt? Nikki würde ihn irgendwann noch in den Wahnsinn treiben, dessen war er sich sicher. Vorsichtig strich Vince ihm die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Nikki sah blass aus und seine aufgebissenen Lippen waren blutleer, seine Augen geschlossen. Die Panik nahm Überhand und Vince musste sich zur Ruhe zwingen. Auf einen Schlag war alles vergeben und vergessen, was Nikki getan hatte und Vince machte sich riesige Sorgen um ihn. Er wusste, dass Nikki sich Heroin spritzte, sie alle wussten es, aber keiner hatte geahnt, wie schlimm es wirklich um ihn stand. Vor Anspannung hielt Vince die Luft an, während er mit zwei Fingern an Nikkis Hals nach dem Puls suchte. Er konnte ein panisches Schluchzen nicht unterdrücken, als er keinen fand. Nein, nein, nein, das durfte nicht sein, nicht Nikki. Fuck, was sollte er tun? Seine Hände zitterten und wie gelähmt starrte er auf Nikki herunter, den er sich inzwischen ohne es zu merken halb auf den Schoß gezogen hatte. Erneut legte Vince zwei Finger an seine Hals, aber da war kein Puls und er spürte, wie sich die ersten Tränen in seinen Augen sammelten und ihm die Sicht nahmen. Nein, er konnte Nikki nicht einfach so sterben lassen, irgendetwas musste er tun, verfickt nochmal! Und dann kam ihm endlich die rettende Idee. Nikki hatte schon mal eine Überdosis gehabt und ein paar Tage später war Doc dann mit ein paar Adrenalinspritzen aufgetaucht. Er wollte nicht sagen, wo er sie herhatte, aber das spielte auch keine Rolle. Wortlos hatte er sie ohne Nikkis Wissen in dessen Bad versteckt und dem Rest der Band sowie seinem Kollegen Doug gesagt, wo sie waren. “Danke, Doc“, murmelte Vince in Tränen aufgelöst und seine Stimme zitterte dabei beträchtlich. Er legte Nikki so schnell, aber behutsam wie möglich wieder auf dem Boden ab und sprintete dann ins Bad. Hoffentlich war es nicht schon zu spät.

It’s driving him insane

Um ihn herum war alles dunkel und still und Nikki wusste nicht, wo er sich überhaupt befand. Er konnte sich nicht bewegen und jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, verließ kein Ton seine Lippen. Alles, was er fühlte, war Angst. Wo war er? Was war passiert? War er tot? Oder war das hier nur ein weiterer Albtraum? Verlor er jetzt endgültig den Verstand? “Nikki?“ Er hörte ganz deutlich eine Stimme, die seinen Namen sagte. Sie kam ihm vertraut vor und die Angst ebbte sofort ein wenig ab, aber er konnte sie nicht zuordnen. Es hörte sich an, als sei sie unendlich weit weg und sie klang besorgt. Er spürte eine Hand in seinen Haaren und an seinem Hals und kurz darauf ein Schluchzen, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. So panisch und verzweifelt und voller Angst. Nikki sammelte alle Konzentration, die er aufbringen konnte und er versuchte mit aller Macht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, aber er schaffte es einfach nicht. Die warme Hand an seiner Wange zitterte und er hörte jemanden schluchzen. Es machte Nikki fast verrückt, dass er die Stimme ganz genau kannte, sie aber niemandem zuordnen konnte. Auf einen Schlag hörte er wieder das entsetzlich laute Rauschen, das alle anderen Geräusche überschattete und die Schwärze um ihn herum lichtete sich langsam. Noch einmal versuchte Nikki, sich aufzusetzen und sehr zu seiner Überraschung schoss er in eine aufrechte Position und es fühlte sich an, als sei er schwerelos. Schnell stand er auf und er musste sich eine Hand vor die Augen halten, weil das gleißende, weiße Licht über seinem Kopf ihn blendete. Überrascht musterte er seine Arme, die völlig unversehrt waren. Nein, das konnte nicht sein. Er hatte sich im Schlaf wirklich schlimm verletzt, diese Wunden konnten nie und nimmer so schnell und ohne Narben verheilen. Irgendwas war hier mehr als seltsam und Nikki wollte etwas sagen, aber noch immer bekam er keinen Ton heraus. Unsicher blickte er nach unten und er erschrak heftig, als er sich selbst sah, wie er auf dem dreckigen Boden seiner Küche lag. Mit blutverschmiertem Shirt, zerzausten Haaren und einer Spritze im Arm. Er wusste immer noch nicht, ob er träumte oder tatsächlich tot war und panisch blickte er sich um. Was sollte er tun? Konnte er überhaupt etwas tun? Oder hatte er es ein letztes Mal komplett verbockt? Plötzlich wurde er ruppig gepackt und beinahe schon ungeduldig nach unten gedrückt. Nikki schaute an sich herunter, doch er konnte nichts sehen und versuchte deshalb, dagegen anzukämpfen. Das brachte ihm rein gar nichts und die unsichtbare Kraft zerrte ihn blitzschnell und erbarmungslos nach unten, sodass er mit einem schmerzhaften Ruck in seinem Körper landete. Das weiße Licht verschwand und das Rauschen in seinen Ohren endete abrupt. Alles tat so unendlich weh, dass sich Tränen des Schmerzes in seinen Augen sammelten und als er einatmete, brannten seine Lungen wie Feuer. “Nikki? Komm schon, Alter“, vernahm er wieder die Stimme von vorhin und erst jetzt erkannte er, dass sie eindeutig zu Vince gehörte. Er klang panisch und verzweifelt und erneut wollte Nikki etwas sagen, wollte ihn beruhigen, aber seine Zunge schien an seinem Gaumen festgeklebt zu sein und er bekam keinen Ton über die Lippen. Es kostete ihn unendlich viel Mühe, die Augen zu öffnen und als er es endlich geschafft hatte, erkannte er Vince nur schemenhaft. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen und sein ganzer Körper schmerzte, so als hätte jemand mit einem Messer auf ihn eingestochen. Arme und Beine fühlten sich bleischwer an und er zitterte vor Kälte. Unter Aufbringung all seiner Kräfte schaffte Nikki es, langsam und ungelenk die Hand zu heben und sie Vince auf den Arm zu legen. “Verfickte Scheiße, Mann, mach das nie wieder“, motzte Vince, doch es klang nicht wütend, sondern einfach nur erleichtert. Ganz langsam klärte sich sein Blick und Nikki schaute an sich herunter. Sein Shirt hatte Vince hochgeschoben und in seiner Brust steckten zwei Adrenalininjektionen, von denen ein dumpfes und schmerzhaftes Pochen ausging. Während er die eine Hand fest in Vince‘ Arm krallte, griff er mit der anderen nach den Spritzen, um sie herauszuziehen, doch die Kraft verließ ihn, noch ehe er sie greifen konnte. “Warte, ich mach das“, murmelte Vince und mit einem Male klang seine Stimme ganz sanft, aber immer noch zittrig und verunsichert. Ganz vorsichtig zog er zuerst die eine Spritze aus seiner Brust und danach die andere, während Nikki ihm stumm dabei zusah, immer noch unfähig, etwas zu sagen. Vince sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Seine Unterlippe bebte vor Anspannung, er sah furchtbar blass aus und seine Augen waren gerötet; seine Wangen nass. Vince hatte ihn für tot gehalten und tatsächlich um ihn geweint. Er hatte alles getan, um ihn zu retten. Dabei hatte Nikki gedacht, die Band würde sich einen Dreck um ihn scheren. Was war er doch für ein Idiot. “Vince… Es tut… Mir leid“, nuschelte er undeutlich mit schwacher Stimme und jedes Wort schmerzte in seinem Hals. Diese Entschuldigung war schon lange überfällig und Nikki schämte sich, dass er erst sterben musste, um sie endlich über die Lippen zu bringen. Vince schenkte ihm nur ein schiefes Grinsen und in seinen braunen Augen erkannte Nikki die pure Erleichterung. Er zog seine Jacke aus, bevor er Nikki sanft nach oben in eine sitzende Position hievte und sie ihm um die Schultern legte. “Komm, ich bring‘ dich ins Krankenhaus“, murmelte Vince und Nikki hatte nicht die Kraft, um zu widersprechen. Ohne Gegenwehr ließ er sich von Vince auf die Beine helfen und er trug Nikki mehr nach unten zu seinem Auto, als dass er selbst lief. Seine Beine zitterten wie verrückt und sie schmerzten und noch immer drehte sich alles um ihn herum. Er wusste gar nicht, was er davon halten sollte, dass Vince sich so um ihn sorgte. Nikki konnte damit umgehen, wenn sie sich fetzten und prügelten, aber diese Fürsorge war neu und ungewohnt und es machte ihm Angst. Auf der anderen Seite war er Vince unglaublich dankbar, denn ohne ihn wäre Nikki jetzt tot, das wusste er. Es war seine zweite Überdosis gewesen und auch dieses Mal hatte er einfach nur wahnsinniges Glück gehabt, dass Vince rechtzeitig aufgetaucht war. Ein drittes Mal würde er es wahrscheinlich nicht schaffen. Er musste aus diesem Teufelskreis ausbrechen und zwar sofort, aber das konnte er nicht allein. Müde öffnete er die Augen und er schaute herüber zu Vince, der nachdenklich auf seiner Unterlippe herumkaute, während er das Auto durch die Straßen von L. A. lenkte. Nikki biss sich auf die Zunge. Wenn er es jetzt nicht sagte, würde er es nie schaffen. Nein, er wollte nicht… Aber er musste. “Wir brauchen ‘nen Entzug. Wir alle“, nuschelte er leise und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit, das so stark war, dass es selbst all die Schmerzen überschattete. Nikki hatte noch nie um Hilfe gebeten, weil ihm das so unendlich schwerfiel, doch dieses Mal gab es keinen anderen Weg. Seine Überdosis heute hatte ihm bewusstgemacht, dass er auf keinen Fall sterben wollte. Sehr zu seiner Überraschung nickte Vince, jedoch ohne ihn anzusehen. “Ich sag‘ den anderen Bescheid“, antwortete er ruhig und Nikki atmete erleichtert aus. Er ließ seinen Kopf wieder gegen die Lehne des Beifahrersitzes sinken, ehe er die Augen schloss. Nikki hoffte inständig, dass er die Kraft hatte, um diesen Entzug durchzustehen, aber wenn die Band ihm half – wenn sie sich alle gegenseitig halfen –, würden sie es schaffen, da war er sich ganz sicher.
Review schreiben
 
 
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast