Wo wir begraben liegen
von Tschuh
Kurzbeschreibung
Oktober 2001: In den umliegenden Wäldern der amerikanischen Kleinstadt Holden Creek werden mehrere brutal zerstochene Leichen ohne Augen aufgefunden. Die Anwohner sind zunehmend verängstigt und die Polizei tappt im Dunkeln, doch dann schaltet sich plötzlich der Meisterdetektiv L in die Ermittlungen ein. Er schickt ein Team aus drei herausragenden FBI-Agenten nach Holden Creek, die die Mordserie genauer unter die Lupe nehmen sollen. Doch sie bleiben nicht lang allein ... || Content Warnings: Diskussion von psychischen Störungen, Charaktertod und relativ intensive Gewaltdarstellung. Wünscheäußern und Miträtseln erwünscht!
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday
L
Naomi Misora
OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
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Dieses Kapitel
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15.03.2020
10.763
A K T I
»Was ist der Mensch, dass er rein dastehen könnte, und der von einer Frau Geborene, dass er gerecht wäre? Siehe, selbst auf Seine Heiligen vertraut Gott nicht, und der Himmel ist nicht rein in Seinen Augen, wie viel weniger der Abscheuliche und Verdorbene, der Mann, der Unrecht trinkt wie Wasser!«
— Hiob 15, 14–16.
✝ † ✝
k a p i t e l 1
HIER SPRICHT L
HIER SPRICHT L
Dienstag, 16. Oktober 2001 • 16.56 Uhr
Obwohl die Straßen bis auf ein paar Kinder, die im Vorgarten Baseball spielten, im wahrsten Sinne des Wortes wie leergefegt schienen, sorgte das schimmernde Sonnenlicht, das durch die rotgrün gesprenkelten Ahornkronen fiel, dafür, dass sie dennoch überraschend lebendig wirkten. Ein sanfter Windstoß wirbelte etwas Laub auf und verteilte das farbenfrohe Blattwerk wie Konfetti über den Bürgersteigen, während ein Eichhörnchen auf der Suche nach Vorräten eilig von einer Einfahrt zur nächsten huschte. Bis auf das leise Rascheln der Zweige und die gelegentlichen Rufe der Kinder, die ausgelassen durch die Nachbarschaft schallten, war es an diesem Nachmittag so ruhig in der Stadt, dass man meinen könnte, die Zeit wäre stehengeblieben.
Die Ankunft eines klobigen, dunkelroten Kleinwagens, dessen qualvolles Auspuffächzen sogar die Krähen auf den Garagendächern aufschreckte, setzte der Idylle jedoch ein jähes Ende. Er passierte die schmucken, kleinen Einfamilienhäuser mit den weiß verkleideten Fassaden und den verschlafenen Holzveranden und bog schließlich in eine Straße ein, an deren Ende sich ein paar weitaus weniger beschauliche Apartmentblocks befanden. ›Nicht schön, aber zweckmäßig‹, musste die Devise des Architekten gelautet haben, der sich beim Planen offensichtlich von den guten, alten sowjetischen Plattenbauten der Sechzigerjahre hatte inspirieren lassen.
Wie jeden Tag parkte der Besitzer der alten Schrottkiste diese ganz in der Nähe seiner Wohnung am Straßenrand, nahm seine Tasche vom Rücksitz und stieg aus. Dass es in diesem angestaubten Siebenhundert-Seelen-Dörfchen weder Tiefgaragen, noch anständige Parkplätze gab und seine ohnehin schon rostgefährdete Karre die Nächte deswegen im Freien verbringen musste, bereitete ihm zwar nach wie vor Bauchschmerzen, aber wenigstens kostete diese Art der Unterbringung kein halbes Vermögen.
Ein angestrengtes Ächzen entfuhr ihm, als er seinen dunkelbraunen Lederrucksack schulterte und für einen kurzen Moment buchstäblich von dessen Gewicht in die Knie gezwungen wurde. Rasch blickte er sich um, wie um sich zu vergewissern, dass seinen kleinen Schwächeanfall auch ja niemand mitbekommen hatte, doch glücklicherweise war er allein. Na, immerhin. Es war schon eine ganze Weile her, seit er sich ernsthaft mit seiner Fitnessroutine beschäftigt hatte … vielleicht sollte er seine morgendlichen Joggingrunden beim nächsten Mal doch um zwei, drei Meilen erweitern. Abwechslungsreiche Strecken gab es hier draußen ja nun wirklich genug.
Die spitzen Ecken der zahlreichen Bücher, die er in seiner Tasche verstaut hatte, stachen ihm unangenehm zwischen die Schulterblätter, während er sich mühsam die Treppe in den zweiten Stock hinaufquälte. Nicht nur das Parkhaus, sondern auch den Aufzug begann er langsam aber sicher schmerzlich zu vermissen, auch wenn er das nur ungern zugab. Das Stadtleben hatte ihm auf die Dauer wirklich nicht gut getan. Hier in Maine hatte er fast seine gesamte Jugend verbracht, war praktisch zwischen den Wäldern und Wiesen aufgewachsen, aber jetzt … jetzt fühlte sich das alles auf einmal so fremd an. Boston hatte einen richtigen Yuppie aus ihm gemacht. Oder war er am Ende vielleicht einfach bloß erwachsen geworden?
Oben angekommen kramte er den Schlüssel aus seiner Manteltasche und schloss die Wohnungstür auf. Und kaum hatte er das Wohnzimmer betreten, schienen die vergangenen neun Stunden mit einem Mal endlich ihren Tribut zu fordern; mit einem langgezogenen Stöhnen schmiss er seinen Rucksack in die Ecke – ungeachtet dessen, dass sich darin zum Teil ausgesprochen alte und wertvolle Archivbücher befanden –, kickte auf dem Weg zum Sofa die Stiefel von seinen Füßen und ließ sich wie ein nasser Sack der Länge nach auf die durchgesessenen Polster fallen.
Er hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung, wieso er sich nach einem Tag in der Bibliothek, den er dazu auch noch zum Großteil im Sitzen verbracht hatte, so erschöpft fühlte, doch wenn er ehrlich war, dann war es ihm in diesem Augenblick auch ziemlich egal. Der Gedanke an ein kurzes, unverbindliches Nickerchen vor dem Abendessen hatte schon lange nicht mehr so verlockend geklungen …
»Äh … willkommen daheim?«, drang in diesem Moment eine belustigte Stimme aus der Küche, woraufhin der gerade Nachhausegekommene seine Augen wieder öffnete und nachdenklich die Stirn runzelte.
»Darf ich fragen, warum du noch nicht weg bist, Eric?« In seinen Worten lag beinahe schon etwas Tadelndes.
»Ich hab noch ’n Nickerchen gemacht und plötzlich war’s halb fünf.«
Ein müdes Lächeln huschte über seine Lippen. »So kenne ich dich.« Er hob den Kopf, blinzelte ein paarmal und warf dann einen Blick in Richtung Küchentür, aus der das reichlich unrasierte Gesicht seines Mitbewohners ihm wissend entgegengrinste.
»Hab gerade den Wasserkocher angeschmissen. Siehst aus, als könntest du ein Teechen vertragen.« Das unverkennbare Zischen, das hinter Eric aus der Küche zu hören war, unterstrich seine Worte noch zusätzlich. Sein Haushaltsgenosse verschränkte zufrieden die Arme hinter dem Kopf.
»Was würde ich nur ohne dich tun?«
»Selber aufstehen, fürchte ich«, entgegnete Eric schulterzuckend und schlenderte nun ebenfalls zurück ins Wohnzimmer. »Ach was, Sammy, für dich würde ich doch alles tun.«
Sam zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. Wenn er es nicht besser wüsste, dann hätte er diesen leicht stichelnden Unterton in Erics Stimme glatt für Ironie gehalten, doch zum Glück wusste er es besser, schließlich waren die zwei bereits seit ihrer Grundschulzeit miteinander befreundet. Da hatte er nun wirklich genügend Zeit gehabt, um Erics etwas verquere Art und Weise, seine Zuneigung auszudrücken, zu verinnerlichen.
»Und?«, fuhr dieser fort, während er sich an seinem Freund vorbei zwischen Sofa und Couchtisch hindurchschlängelte, um sich durch die sich darauf stapelnden Berge aus schmutzigem Geschirr, alten Socken und Videokassettenhüllen zu wühlen. »Wie war’s in Skowhegan? Hast du ’n paar spannende Familiengeheimnisse aufdecken können?« Er kratzte sich geräuschvoll am Hinterkopf. »Sag mal, weißt du zufällig, wo meine Mütze abgeblieben ist?«
Als hätte er nur auf diese Frage gewartet, angelte Sam im selben Moment mit einer geradezu anmaßenden Lässigkeit etwas Graues zwischen den Polsterritzen hervor und reichte es Eric, der den alten Lumpen mit einem bewundernden »Ah!« an sich nahm.
»Ein hübsches Städtchen, ganz ohne Frage«, kam Sam wieder auf das vorherige Thema zurück, während Eric sich die Mütze überstreifte. »Das historische Viertel kann sich wirklich sehen lassen, genauso wie das Museum, aber das, wonach ich eigentlich gesucht habe, war leider nicht so leicht zu finden, wie ich mir erhofft hatte.« Er schürzte die Lippen und begann nachdenklich an seinem Ohrring herumzudrehen. »Wenn ich etwas über weiße Siedler lesen möchte, dann kann ich auch einfach hier ins Stadtarchiv gehen …«
»Also war die ganze Fahrt umsonst?«
»Nichts im Leben ist jemals umsonst«, belehrte Sam ihn weise und machte eine vage Handbewegung in Richtung seines vollbepackten Rucksacks, der noch immer neben der Garderobe in der Ecke lag. »Alles, was ich heute nicht mehr geschafft habe, mir durchzulesen, hab ich mir einfach ausgeliehen oder kopiert. Dann hab ich in den kommenden Tagen wenigstens etwas zu tun.«
Eric folgte seinem Blick, schlich zu der Tasche herüber und brach sich beim Versuch, sie hochzuheben, beinahe den Arm, zumindest wenn man dem unüberhörbaren Knacken in seinem Schulterbereich Glauben schenkte. Sam entfuhr ein kurzes, schadenfrohes Kichern.
Seit seiner Zwangsbeurlaubung vor einem Monat hatte Sam plötzlich eine ganze Menge Freizeit zur Verfügung gehabt, mit der er sich erst einmal einigermaßen hatte arrangieren müssen. Und nachdem er daraufhin auch noch beschlossen hatte, für eine Weile in seine Heimatstadt zurückzukehren und vorübergehend bei seinem Jugendfreund Eric einzuziehen, war sein Alltag endgültig aus den Fugen geraten. Sam liebte Jackman und seinen einsamen, verschlafenen Provinzcharme, aber es war gar nicht so einfach, sich nach all den Jahren in Boston wieder an diesen ländlichen Lebensstil zu gewöhnen. Allein zu wohnen hatte zwar durchaus seine Vorteile gehabt, vor allem sein geliebter Lesesessel und der antike Teekocher fehlten ihm schrecklich, doch er musste zugeben, dass es zur Abwechslung auch mal ganz schön war, sich den Haushalt mit jemandem teilen zu können. Und ein wenig erinnerte ihn das WG-Leben mit Eric auch an die guten, alten Collegetage. Besonders der Grasgeruch, der ständig in der Wohnung hing.
»›New Englands indigene Völker. Eine Kompaktenzyklopädie‹«, las Eric den Titel eines der Bücher vor, das er soeben aus Sams Rucksack gezerrt hatte und unterstrich sein Staunen mit einem anerkennenden Kopfnicken. »Nicht schlecht. ›Kompakt‹ sieht das für mich zwar nicht unbedingt aus, aber …« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn’s dir Spaß macht.« Rasch verstaute er den Schinken wieder in der Tasche und wandte sich zum Sofa um. »Saltimbocca von gestern steht noch im Kühlschrank. Mach sie dir warm, wenn du Hunger kriegst. Schmeckt aus der Mikrowelle wahrscheinlich nicht mehr ganz so umwerfend, aber wie gesagt, ich bin eingeschlafen … sorry.« Eric zog eine bekümmerte Grimasse, doch Sam schüttelte bloß den Kopf.
»Keine Sorge, ich werd das schon überleben. Aber das Wohnzimmer hättest du heute ruhig mal aufräumen können …« Er ließ den Blick erneut über den Couchtisch schweifen, auf dem nach wie vor Chaos herrschte, und konnte ein Schmunzeln nicht ganz unterdrücken. Eric war wirklich eine Klasse für sich; wenn er nicht so unfassbar faul wäre, dann könnte der alte Spinner mit Sicherheit in Null Komma Nichts eine Karriere als internationaler Sternekoch auf die Beine stellen – aber das würde ja Arbeit bedeuten. Und das vertrug sich nun wirklich überhaupt nicht mit seiner Lebensphilosophie.
»Du hast doch jetzt Zeit«, bemerkte Eric mit vorwurfsvoller Miene. »Warum investierst du die nicht einfach ein bisschen in den Haushalt, statt dich darüber zu beschweren?«
Ein blechernes Auflachen drang aus Sams Kehle, als er den Hinterkopf wieder zurück auf die Armlehne fallen ließ. »Ja … später vielleicht.«
Bevor er wieder bei Eric eingezogen war, hatte er ihm erzählt, er wäre aufgrund eines Arbeitsunfalls entlassen worden. Und auch wenn das theoretisch nicht gelogen war, so hatte es auch nicht ganz der Wahrheit entsprochen. Wenn er ehrlich war, dann konnte Sam sich nicht einmal mehr daran erinnern, warum er Eric bisher verschwiegen hatte, dass er für das FBI arbeitete, doch eigentlich war er im Moment sogar ganz froh darüber. Er wusste, dass sein Freund sich nur unnötig sorgen würde, wenn er von dem wahren Grund seiner Beurlaubung erfuhr und das wollte Sam ihm wenn möglich lieber ersparen. Dass seine Eltern ihn seitdem wie ein rohes Ei behandelten, reichte ihm vollkommen.
Sam widerstand dem plötzlich aufkommenden Drang danach, die Hand zu seinem Kragen zu führen und ihn zu lockern, als er spürte, wie sich wieder ein Kloß in seiner Kehle zu bilden begann, und schluckte ihn stattdessen mit grimmiger Entschlossenheit herunter. Nein, so war es definitiv einfacher für alle Beteiligten. Auch wenn Eric mit Sicherheit weniger kiffen würde, wenn er wüsste, dass sein Mitbewohner Polizist war. Oder zumindest so, dass er es nicht mitbekam.
Eric hatte die Türklinke bereits in der Hand, als er sich noch ein letztes Mal zu Sam umdrehte. »Ach ja, fast vergessen. Eben ist ein Paket für dich angekommen.«
Dieser runzelte fragend die Stirn. »Ein Paket? Aber ich erwarte doch überhaupt nichts …«
»Ist jedenfalls an dich adressiert.« Eric zuckte erneut mit den Schultern und machte eine Kopfbewegung in Richtung des kleinen, verstaubten Röhrenfernsehers, neben dem tatsächlich ein Päckchen auf dem Tisch lag. Sam setzte sich auf. »Irgend so ’ne Frau hat vorhin hier geklopft und wollte das bei uns abgeben. Wie’s aussieht haben die beim Ausliefern wohl mal wieder die falsche Tür erwischt.« Eric hob vielsagend die Augenbrauen. »Hast du dir etwa schon wieder was Unanständiges bestellt, Sammy?«
»Was heißt denn hier ›schon wieder‹?« Der Angesprochene schnaubte mit gespielter Empörung. »Und was für eine Frau? Jemand, den du kanntest?«
»Diese neue Nachbarin von gegenüber. Keine Ahnung, wie die heißt. Lange, blonde Haare, dunkelroter Lippenstift, trägt ständig so ’ne riesige High-Society-Sonnenbrille … ziemlich heißer Feger, muss man schon sagen.« Eric setzte ein verschmitztes Grinsen auf. »Und ich glaube, die steht auf dich.«
»Bitte? Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Na ja, die hat unbedingt darauf bestanden, dir das Päckchen persönlich zu geben und wollte es mir partout nicht überlassen, obwohl ich ihr zigmal zu verklickern versucht hab, dass du nicht da bist. Wenn du mich fragst, hat die wahrscheinlich nur nach ’nem Vorwand gesucht, um sich an dich ranzuschmeißen. Ehrlich, Sammy, du kannst froh sein, dass ich’s am Ende doch noch geschafft hab, sie zu überreden. So müde, wie du aussiehst, wär’ das sonst mit Sicherheit nur in irgendwelche Peinlichkeiten ausgeartet. Außerdem war die überhaupt nicht dein Typ … viel zu aufgetakelt und all sowas. High Society eben.«
Sam verdrehte die Augen. »Na, da hab ich aber Glück gehabt …«, murmelte er spöttisch, was Eric jedoch geflissentlich zu überhören schien. »Und wie genau hast du die Dame nun ›überredet‹, wenn ich fragen darf?«
»Ich hab ihr einfach ’n bisschen was über mich erzählt, du weißt schon, ihr ’nen kleinen Vorgeschmack auf meine unwiderstehliche Persönlichkeit gegeben, und sie gefragt, ob sie vielleicht mal zum Abendessen vorbeikommen und meine selbstgemachten Cevapcici probieren will. Und irgendwann hat sie mir das Paket dann einfach in die Hand gedrückt und ist abgehauen … wie’s aussieht, bin ich wohl auch nicht ihr Typ.«
Mit einem resignierten Kopfschütteln rieb Sam sich die Augen, verkniff sich mit aller Gewalt den unangebrachten Kommentar, der ihm gerade auf der Zunge lag, und machte stattdessen nur eine scheuchende Handbewegung in Richtung Wohnungstür.
»Verschwinde. Du kommst zu spät zur Arbeit.«
»Bin ja schon weg.« Zum Abschied zwinkerte Eric ihm noch einmal mit verräterischer Gelassenheit zu, dann trat er endlich auf den Flur hinaus. »Und vergiss nicht wieder, zu Abend zu essen!«, schallte seine Stimme zuletzt noch durch den Türspalt, bevor dieser sich endgültig schloss und Sam wieder allein in der Wohnung war.
Ein paar Sekunden lang saß er einfach nur so da und starrte gedankenverloren auf das Päckchen, das neben dem Fernseher lag, dann stand er mit einem langgezogenen Seufzen auf und ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Briefträger mit den Zustellungen durcheinanderkam, vor allem in letzter Zeit. Den Leuten hier schien es wirklich unfassbar schwerzufallen, mit neuen Gesichtern warmzuwerden, das hatte Sam schon damals zu spüren bekommen, nachdem er als kleiner Junge mit seiner Familie hierhergezogen war. Nur hatte er den wahren Grund dafür erst einige Jahre später verstanden; guter, alter, kleinstädtischer Rassismus. Das stolze Aushängeschild Amerikas.
Während Sam darauf wartete, dass der Teebeutel im heißen Wasser seine Wirkung entfaltete, nahm er auf dem Rückweg ins Wohnzimmer das Päckchen an sich und setzte sich damit zurück aufs Sofa. Es war relativ flach, hatte ungefähr DIN-A4-Größe und war in einem ganz gewöhnlichen, hellbraunen Umschlag verpackt. Sonderlich schwer war es auch nicht, aber dick genug, dass eine Akte hineinpassen könnte. Sams Name und seine Adresse waren maschinell darauf geschrieben worden, weshalb eine Handschriftenanalyse schon mal nicht infrage kam, doch ein Absender war nirgends zu entdecken. Eine Tatsache, die ihm durchaus zu denken geben sollte. Genauso wie das merkwürdige Verhalten der Nachbarin, die Eric den Umschlag anscheinend nur widerwillig ausgehändigt hatte – wobei Sam es ihr nicht wirklich übelnahm, dass sie ihn im Endeffekt doch lieber schnell losgeworden war, als sich weiter mit seiner ›unwiderstehlichen Persönlichkeit‹ herumzuschlagen.
Das alles änderte jedoch nichts daran, dass Sam eigentlich gar kein Päckchen erwartete. So gerne er normalerweise auch in Katalogen herumstöberte und sich hin und wieder ein paar Kleinigkeiten bestellte, in letzter Zeit hatte er tatsächlich viel auf unnötige Ausgaben verzichtet. Wer hatte ihm also dieses Paket geschickt? Und vor allen Dingen: was war darin?
Sam tastete den Umschlag von allen Seiten ab, schüttelte ihn vorsichtig hin und her und roch sogar daran, doch er stellte keinerlei Auffälligkeiten fest, die ihm weiter Anlass zur Sorge geben könnten. Bei dem Gewicht war die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Briefbombe handelte, jedenfalls ausgesprochen gering. Auch die Befürchtung, dass es eine gut getarnte Biowaffe sein könnte, die beim Öffnen in Form von winzigen Staubpartikelchen entfleuchen und ein tödliches Virus auf die Bevölkerung von Jackman loslassen würde, war wohl eher ein Produkt seiner blühenden Fantasie als alles andere.
Sam stöhnte leise auf und legte das Päckchen zur Seite. Im Laufe seiner Karriere hatte er sich zwar durchaus schon den einen oder anderen Feind gemacht, aber einen solchen Angriff würden sich die Superterroristen dieser Welt höchstwahrscheinlich eher für einen hochrangigen Politiker aufheben als für irgendeinen dahergelaufenen Bundesagenten – auch wenn er sich von so einer Aktion definitiv geschmeichelt fühlen würde. Und davon einmal abgesehen war er momentan ja noch nicht einmal im Dienst. Seit er wieder mit Eric zusammenwohnte, sah er eindeutig zu viel fern.
Sam beschloss, sich vorerst nicht länger damit zu beschäftigen und sich stattdessen lieber ein wenig zu entspannen. Da Eric unter der Woche meist nachts arbeitete, hatte Sam die Wohnung währenddessen ganz für sich allein und konnte so ziemlich alles tun, wozu er Lust hatte. Vielleicht könnte er ja heute einfach etwas früher ins Bett gehen und zur Abwechslung mal so richtig durchschlafen.
Während er den ersten Schluck heißen Tee zu sich nahm, dachte Sam darüber nach, ob er sich tatsächlich Erics übriggebliebene Saltimbocca warmmachen oder doch lieber eine Fertigportion Käsemakkaroni zu Abend essen sollte. Theoretisch könnte er auch mal wieder seinen Skizzenblock auspacken und ein paar Zeichnungen anfertigen. Der kleine Tagesausflug nach Skowhegan und die wunderschöne Altstadt waren erstaunlich inspirierend gewesen. Leider hatte er nicht daran gedacht, seinen Fotoapparat mitzunehmen … aber das konnte er ja nachholen, wenn er die Bücher in ein paar Wochen wieder zur Bibliothek zurückbrachte. Oder er fuhr demnächst einfach noch mal hin. Zeit hatte er ja, wie Eric schon ganz richtig bemerkt hatte, genug …
Doch egal, wie sehr Sam auch versuchte, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, sein Blick glitt immer wieder zu dem rätselhaften Umschlag zurück. Vielleicht sollte er ihn doch lieber bei der Polizei abgeben und ihn gründlich überprüfen lassen, bevor er ihn öffnete … andererseits würde man dort wahrscheinlich auch von ihm verlangen, dass er seinen Verdacht in irgendeiner Art und Weise begründen konnte. Und ›leichte bis mittelschwere traumabedingte Paranoia und durch Ängstlichkeit ausgelöste Intrusionen‹, wie sein Therapeut es bei ihrer letzten Sitzung ausgedrückt hatte, waren in diesem Fall wohl keine allzu stichhaltigen Begründungen. Oder zumindest keine, mit denen er sich vor irgendwelchen schnauzbärtigen Kleinstadtpolizisten mit Donutkrümeln auf der Oberlippe erniedrigen wollte.
Etwa eine halbe Stunde später stand Sam mit Laborantenbrille, medizinischem Mundschutz und Gummihandschuhen aus dem Erste-Hilfe-Kasten in der Gasse hinter dem Apartmentkomplex und schnitt mithilfe eines Brieföffners die Klebelasche des Umschlags auf. Er mochte vielleicht ein ausgebildeter FBI-Special-Agent und dazu auch noch einer der besten Profiler des Landes sein, der im Zuge seiner Karriere durchaus bereits das eine oder andere Basisseminar im Sprengstoffentschärfen absolviert hatte, aber leider war er mindestens genauso größenwahnsinnig und waghalsig, wie er gut in seinem Job war. Und manchmal war die Neugier eben einfach stärker als der Selbsterhaltungstrieb.
Nachdem er innerlich schon mit dem Gedanken abgeschlossen hatte, dass in wenigen Sekunden die gesamte Hinterhofgasse in die Luft fliegen würde, kippte Sam den Inhalt des Päckchens vor sich auf den Asphalt und stellte erleichtert – und vielleicht auch ein ganz klein wenig enttäuscht – fest, dass sich lediglich ein Dossier und ein zusammengefalteter Zettel darin befanden.
Stirnrunzelnd hob er die Mappe auf und betrachtete sie eingehend. Sie sah aus wie eine Polizeiakte. War dieses Paket etwa von seinem Chef? Wollte er Sam auf einmal doch wieder im Dienst zurückhaben? Nein, das ergab nicht viel Sinn. Ein kurzer Anruf hätte in diesem Fall völlig ausgereicht. Sein Vorgesetzter war zwar nicht unbedingt ein Mann vieler Worte, aber er würde ihm niemals ein Paket ohne Absender schicken.
Sam blätterte sich einmal oberflächlich durch das Dossier und überflog die Seiten. Es ging um eine Mordserie in irgendeiner Kleinstadt, von der er noch nie zuvor gehört hatte. Bisher gab es scheinbar drei Opfer, alle unterschiedlichen Alters und Geschlechtes, und das letzte … war erst heute Morgen aufgefunden worden? Er blätterte noch einmal zurück, nur für den Fall, dass er sich verlesen hatte, doch da stand es schwarz auf weiß: sechzehnter Oktober 2001. Keine Postgesellschaft dieser Welt war so schnell. Jemand hatte sich also tatsächlich die Mühe gemacht, ihm dieses Paket persönlich vorbeizubringen. Was hatte es mit dieser seltsamen, neuen Nachbarin bloß auf sich?
Erst jetzt kam Sam langsam auf die Idee, sich auch den beiliegenden Brief etwas näher anzusehen. Da keinerlei verdächtige Pülverchen oder anderweitig besorgniserregende Substanzen zusammen mit ihm aus dem Umschlag gerieselt waren, hielt er es für sicher, zumindest seine Schutzbrille vorläufig wieder abzusetzen, faltete den Zettel auseinander und begann zu lesen.
Sehr geehrter Special Agent Dunstan,
verzeihen Sie, dass ich auf derart unkonventionelle Art und Weise zu Ihnen Kontakt aufnehmen, doch da Sie momentan vom Dienst suspendiert sind und sich in Ihrer Wohnung derzeit kein funktionierender Rechner befindet, blieb mir leider nichts anderes übrig. Ich muss mich wohl oder übel darauf verlassen, dass Ihr Mitbewohner größeren Wert auf das Postgeheimnis legt als Sie.
Mein Name ist L und ich bin vor einiger Zeit aufgrund Ihrer maßgeblichen Beteiligung an der Auflösung des Coronado-Kartells in Boston auf Sie aufmerksam geworden. Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie an einer beruflichen Zusammenarbeit Interesse hätten. Selbstverständlich würde diese auch entsprechend entlohnt und mit Ihrem Vorgesetzten abgesprochen werden.
Nähere Informationen bezüglich des Falls, den zu bearbeiten ich Sie bitten würde, finden Sie in der beigelegten Akte. Es versteht sich natürlich von selbst, dass deren Inhalt unbedingt vertraulich behandelt werden muss.
Sam klappte beim Lesen dieser Zeilen buchstäblich die Kinnlade herunter. Das musste ein Scherz sein! ›L‹? Damit war doch wohl nicht etwa der L gemeint, oder? Der mit Abstand brillanteste, einflussreichste und nebenbei auch rätselhafteste Privatdetektiv, den es je gegeben hatte, und von dem sogar behauptet wurde, dass er die Unterstützung sämtlicher Geheimdienste und Regierungschefs dieser Welt im Rücken hatte, dieser L hatte ihn kontaktiert, um ihm eine Zusammenarbeit anzubieten?! Das klang ja fast noch unrealistischer als eine Briefbombe.
Andererseits … die Details, die der Absender dieses Päckchens über ihn in Erfahrung gebracht hatte, sprachen durchaus dafür, dass er die Wahrheit sagte. Mit der Razzia, bei der letzten Frühling unter anderem einer von New Englands berüchtigtsten Drogenbaronen verhaftet worden war, hatte Sam sich nicht nur in gewissen Kreisen des FBI einen Namen gemacht, sondern sie war im weitesten Sinne auch der Grund für seine Beurlaubung gewesen; beides Dinge, über die L offensichtlich bescheid wusste und für die man ein nicht unerhebliches Insiderwissen benötigte, an das bei weitem nicht jeder dahergelaufene Klatschreporter herankam. Und davon einmal abgesehen konnte Sam sich nicht vorstellen, dass es sonderlich viele Menschen gab, die es tatsächlich wagen würden, sich einfach so für den großen L auszugeben.
Doch egal, wie er es auch drehte und wendete, das beklemmende Gefühl, das sich nach diesen Worten in Sams Magen auszubreiten begonnen hatte, wollte einfach nicht verschwinden. Es behagte ihm nicht, dass es dort draußen jemanden gab, der so viel über ihn wusste, er aber nicht über ihn. Dass Eric die Reparatur seines alten PCs nun bereits seit Wochen vor sich herschob und sie deswegen seit einiger Zeit keinen Internetanschluss mehr hatten, konnte L jedenfalls nicht seiner Personalakte entnommen haben. Oder? Sam runzelte erneut die Stirn. ›Ich muss mich wohl oder übel darauf verlassen, das Ihr Mitbewohner größeren Wert auf das Postgeheimnis legt als Sie.‹ Wollte L damit etwa andeuten, dass …
Ihre herausragenden Fähigkeiten als Profiler wären mir bei der Aufklärung dieses Falls zweifellos von enormem Nutzen. Auch wenn ich davon ausgehe, dass Sie mir in diesem Punkt mit Sicherheit zustimmen werden, möchte ich Sie dennoch freundlich darauf hinweisen, dass ich mich ansonsten dazu verpflichtet sehe, Ihren Vorgesetzten von Ihrer Tendenz, gewisse Geheimhaltungsvorschriften zu missachten, zu unterrichten.
Das konnte doch wohl nicht … jetzt wollte der Typ ihn auch noch erpressen?! Je weiter er las, desto schräger wurde dieser Brief! Dass er es mit den Vorschriften im Beruf nicht immer allzu genau nahm, war Sam durchaus bewusst, aber das tat er doch nicht aus Spaß an der Freude! Wenn er diese Dokumente damals nicht zufälligerweise aus der Asservatenkammer hätte mitgehen lassen, dann hätten sie diesen schmierigen Nachtclubbesitzer mit den osteuropäischen Mädchen im Keller nie rechtzeitig drangekriegt, bevor er sich still und heimlich auf den Balearen abgesetzt hätte. Das war kein moralisches Verbrechen gewesen, für das Sam sich schämen müsste, sondern eine absolute Notwendigkeit, um unschuldige Menschenleben zu retten! Manchmal konnte man eben nicht auf einen Durchsuchungsbeschluss warten. Und das wusste L mit Sicherheit genauso gut wie er.
Bitte lesen Sie sich die beiliegenden Unterlagen aufmerksam durch und bereiten Sie sich entsprechend auf die Ermittlungen vor. Alle weiteren Informationen diesbezüglich erhalten Sie in den kommenden Tagen.
Ich rechne bei der Aufklärung dieses Falls mit Ihrer vollsten Unterstützung und freue mich auf unsere bevorstehende Zusammenarbeit.
L
Missmutig faltete Sam die Nachricht wieder zusammen und rieb sich die müden Augen zwischen Daumen und Zeigefinger. Scheinbar hatte L nicht nur vorausgesehen, dass er Bedenken haben würde, sich auf ein derartiges Angebot einzulassen, nein, er hatte auch sichergestellt, dass er im Endeffekt überhaupt nicht auf Sams Entscheidung angewiesen war. Und dann noch diese unfassbar süffisante Ausdrucksweise! In was für ein durchtriebenes Machtspielchen war er denn hier nur hineingeraten?!
Natürlich hätte Sam nun versuchen können, sich einzureden, dass er ja eigentlich gar keine andere Wahl hatte, als diesen dubiosen Auftrag anzunehmen und brav auf weitere Anweisungen Ls zu warten. Oder dass er einfach noch eine Nacht darüber schlafen musste, um all die wirren Gedanken, die ihm diesbezüglich gerade durch den Kopf schwirrten, zu ordnen. Doch er wusste, dass er sich damit nur selbst belügen würde. Sam konnte zu so einer Herausforderung einfach nicht Nein sagen, auch wenn er genau wusste, dass er sich im Zuge dessen auf eine Verpflichtung einließ, bei der äußerste Geheimhaltung und bedingungsloser Gehorsam von ihm gefordert wurden. Zwei Dinge, die nicht unbedingt zu seinen größten Stärken gehörten. Und er war fest davon überzeugt, dass L sich dessen ebenfalls bewusst war.
Aber wenn sein Chef ihn nicht in den Einsatz schicken wollte, weil er der Meinung war, dass Sam nach diesem dämlichen Vorfall bei der Razzia ›noch nicht wieder bereit‹ für den Außendienst war, dann musste er sich eben auf andere Art und Weise bewähren. Unter der Führung von jemandem, der sein Talent und seinen Ehrgeiz wirklich zu schätzen wusste – und der ihn nebenbei vielleicht auch ein ganz klein wenig erpresste, aber das war eine andere Sache. Um das zu klären, würde er sicher später noch genügend Zeit haben. Jetzt musste Sam sich erst einmal diese Fallakte durchlesen. Und später daran denken, Eric zu bitten, seine Bibliotheksbücher rechtzeitig zurückzugeben. Was hatte sein Mitbewohner vorhin noch einmal gesagt, sollte er heute Abend nicht vergessen?
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Dienstag, 16. Oktober 2001 • 18.11 Uhr
Ganz so, wie man es zur Rush Hour gewohnt war, platzte die Stadt auch an diesem Abend wieder einmal aus allen Nähten. Busse und Taxis stauten sich wie Herdentiere an den Kreuzungen und versuchten fieberhaft, sich in den Feierabendverkehr einzugliedern, Menschenmassen drängelten sich durch U-Bahn-Türen und Einkaufsstraßen, und selbst die meisten Rad- und Rollerfahrer mussten sich eingestehen, dass man deutlich schneller vorankam, wenn man sein Gefährt einfach neben sich herschob. Und mit jedem Zentimeter, den die goldene Abendsonne sich dem Horizont näherte, schien sich die Anzahl der ausgelaugten Anzugträger, die allesamt auf dem Weg nachhause sein mussten, nur noch zu verdoppeln.
»Nein, Rachel, ich hab dir doch gesagt, ich- man, jetzt hör mir doch mal zu!«
Mit wehendem Schal und zielgerichtetem Blick manövrierte die junge Frau sich durch die überfüllten Fußgängerzonen und wich dabei gekonnt einem entgegenkommenden Radfahrer aus, der mit einem ungehaltenen Klingeln an ihr vorbeirauschte. Sie selbst verdrehte bloß die Augen, war ansonsten aber glücklicherweise zu beschäftigt, um dem offensichtlichen Sonntagsradler noch irgendwelche Beleidigungen hinterherzubrüllen. Das aufgeregte Geplapper, das aus ihren Handylautsprechern dröhnte, war so laut, dass es eigentlich das gesamte Stadtviertel mitbekommen dürfte.
»Ich bin bisher einfach noch nicht dazu gekommen, mir darüber Gedanken zu machen. Du hast ja keine Ahnung, was bei uns in letzter Zeit alles los war, ich hab Überstunden geschoben bis zum Gehtnichtmehr! Da hatte ich einfach nicht die Nerven, um mich damit noch zusätzlich zu-«
Ein seltsam erstickter Laut, der ein wenig so klang, als wäre jemand auf eine Gummiente getreten, drang aus ihrer Kehle, als das Auto, das sie gerade beinahe über den Haufen gefahren hätte, im letzten Moment eine nahezu sagenhafte Vollbremsung hinlegte. Keine Sekunde später hatte sie sich jedoch schon wieder gefasst, tätschelte grinsend die Motorhaube, dankte dem sichtlich empörten Fahrer mit einer entschuldigenden Handgeste für seine herausragende Reaktionsfähigkeit und setzte dann sowohl ihren Weg, als auch ihr Telefongespräch fort.
»Was? Nein, ich hab gesagt- Rachel, du kannst dich so oft wiederholen, wie du willst, das wird auch nichts daran ändern! Ich kann’s dir im Augenblick einfach noch nicht sagen. Da brauchst du auch gar nicht so genervt zu stöhnen, du beleidigte Leberwurst!«
Ihr Marsch in Richtung Zielgerade kam jedoch wenig später erneut zu einem abrupten Halt, als der ohnehin schon viel zu schmale Bürgersteig, auf dem kaum zwei Personen nebeneinander laufen konnten, vorläufig von einer alten Dame mit Gehhilfe blockiert wurde. Das untere Augenlid der Jüngeren zuckte warnend auf.
»Es sind nur noch zwölf Tage, Megan!«, erinnerte Rachels Stimme sie mit eindeutig mahnendem Unterton und riss die Angesprochene damit wieder aus ihren Gedanken. Diese hatte gerade darüber nachgedacht, ob sie dem Großmütterchen mit etwas Anlauf vielleicht über den Buckel springen konnte, wenn sie sich ein wenig geschickt anstellte. »Ich will dir dieses Jahr nicht schon wieder fünfzig Dollar und ’ne Grußkarte schicken, das ist doch nicht der Sinn der Sache! Mom ist auch schon total verzweifelt, weil sie nicht weiß, was sie dir schenken soll. Und jetzt komm mir nicht wieder mit der Arbeit, du kannst dir so was ja auch einfach mal früher überlegen!«
»Sag mal, willst du mich jetzt allen Ernstes dafür fertigmachen, dass ich keine Geburtstagswünsche hab?!« Megan schnaubte gereizt und schüttelte den Kopf. Mittlerweile musste sie wirklich aufpassen, dass sie der alten Dame vor ihr nicht in die Fersen trat, auch wenn es langsam immer verlockender wurde, ihre gute Erziehung kurz zu vergessen und ihr stattdessen einfach wie ein hungriger Jaguar ins Genick zu springen. Andere Leute hatten für solche Situationen einen Stressball … nur weil Granny Smith als Ruheständlerin alle Zeit der Welt zur Verfügung hatte, hieß das ja noch lange nicht, dass es jedem so ging! Und wenn sie jetzt nicht bald in die Hufen kam, würde Megan wohl oder übel ihre Einkaufstasche als Bowlingkugel benutzen und die Alte mit einem einwandfreien Strike vom Bürgersteig räumen müssen.
»Weißt du was? Ich glaub, mir ist da gerade doch was eingefallen.« Megan klammerte sich mit der freien Hand an der Mauer fest, die den Gehweg von einem angrenzenden Parkplatz trennte, stieß sich mit einem kräftigen Satz vom Boden ab und zog sich mit geradezu spielerischer Leichtigkeit nach oben. »Wie wär’s mit einer neuen Schwester, die mir nicht alle zwei Tage mit denselben Fragen in den Ohren liegt, sondern sich zur Abwechslung vielleicht auch mal selber Gedanken macht?« Flink wie eine Katze balancierte sie den Mauervorsprung entlang, vorbei an der völlig entgeistert dreinblickenden Omi, der sie dabei ganz unverfroren zuwinkte, sprang ein paar Meter weiter wieder zurück auf den Bürgersteig und setzte ihren Heimweg unbeirrt fort.
Während Rachel sich erneut darüber zu empören begann, dass man sich mit Megan einfach nicht normal unterhalten konnte, griff diese mit gelangweilter Miene in ihre Einkaufstüte, wühlte einen Moment lang darin herum und fischte schließlich eine Handvoll Gummibärchen heraus, die sie sich zufrieden in den Mund stopfte. So eine bemerkenswerte Klettereinlage musste schließlich auch angemessen belohnt werden.
»Also, wenn ich ehrlich sein soll«, unterbrach Megan die Predigt ihrer Schwester, als sie endlich in die Straße einbog, in der sich ihr Apartmentblock befand, und kramte vorsorglich schon einmal ihren Wohnungsschlüssel aus der Jackentasche. »Dann sind mir Geldgeschenke eigentlich schon immer die liebsten gewesen.«
Rachel schwieg, doch es war ein sehr spezielles Schweigen. Eines, das Megan so gut kannte, dass seine unterschwellige Bedeutung ihr selbst übers Telefon nicht verborgen blieb. Es war ausgesprochen selten, dass einer Rachel Newman buchstäblich die Worte fehlten, aber wenn es tatsächlich dazu kam, dann konnte man normalerweise getrost davon ausgehen, dass sie mit ihrem Latein am Ende war. Ein verstohlenes Lächeln huschte über Megans Lippen, als sie das leere Treppenhaus betrat. Spiel, Satz und Sieg. Manchmal musste man den Leuten eben nur so lange auf den Wecker gehen, bis sie es von allein aufgaben, einen belehren zu wollen.
»Na gut. Aber wehe, du beschwerst dich. Wenn ich beim nächsten Mal auch nur ein winzigkleines Frustfältchen auf deiner Stirn sehe, dann sorge ich dafür, dass Mom und Dad dich enterben.«
»Das wäre dann wohl das dritte Mal dieses Jahr.«
»Du hast nicht ernsthaft mitgezählt, oder?«
»Na sicher, was hast du denn gedacht?«
Am anderen Ende der Leitung war ein resigniertes Seufzen zu hören. »Für sowas hast du natürlich Zeit, aber dir zu überlegen, was du dir zum Geburtstag wünschst, ist zu viel Arbeit … alles klar, verstehe.«
Das Grinsen auf Megans Gesicht wurde immer breiter, während sie munter ihre Wohnungstür aufschloss. »Grüß Mom und Dad von mir, ja? Und Dan und die Kleinen auch, wenn du schon mal dabei bist. Wir sehen uns … spätestens an Thanksgiving?«
»Spätestens«, wiederholte Rachel noch einmal nachdrücklich, damit ihre Schwester auch ja nicht auf die Idee kam, anderweitige Pläne zu schmieden. »Mach ich. Dann bis demnächst. Ich hab dich lieb, Meg.« Die tadelnde Schärfe war mittlerweile beinahe vollständig aus ihrer Stimme gewichen. Es war nahezu beängstigend, wie fürsorglich sie plötzlich klang. »Ach ja, und … pass auf dich auf, okay?«
»Tu ich doch immer«, versicherte Megan ihr mit einem Schmunzeln. »Ich dich auch. Bis bald.«
Kaum hatte Rachel aufgelegt, deponierte Megan ihre Einkäufe neben dem Schuhregal, schlurfte mit hängenden Schultern den Flur entlang, ließ dann erst ihr Handy und anschließend sich selbst wie einen Sack Zement aufs Bett fallen, sodass der alte Lattenrost nur so ächzte.
Auch wenn diese Position nun wirklich alles andere als bequem war und das Kissen unter ihrem Gesicht ihr schmerzhaft die Nase plattdrückte, so lange sie dabei wenigstens liegen konnte, war ihr alles andere egal. Megan hatte in den vergangenen drei Wochen nicht eine einzige ruhige Minute gehabt und auch wenn sie durchaus des Öfteren zu Übertreibungen neigte, war sie sich ziemlich sicher, dass ihre Einschätzung diesmal tatsächlich einigermaßen realistisch war. Aber Verbrechen vereitelten sich nun einmal nicht von selbst. Und der unbändige Stolz, den sie verspürt hatte, als sie letzte Woche mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm aus dem brennenden Lagerhaus getreten war, sowie die grimmige Gewissheit, das kranke Schwein, das dafür verantwortlich gewesen war, endlich hinter Gittern zu wissen, war es definitiv wert gewesen. Irgendwie war es ja doch eine lohnende Arbeit, auch wenn sie einem auf Dauer ganz schön die Nerven rauben konnte. Dem Druck auch dann noch standzuhalten, wenn er fast unerträglich wurde, und immer weiterzumachen, selbst wenn die Lage aussichtslos schien und die Unterarme voller Brandblasen waren, das war die wahre Kunst. Und wie viele Menschen konnten so etwas schon von sich behaupten?
Nachdem sie ein paar Minuten lang völlig reglos und steif wie ein Brett auf ihrer Matratze gelegen hatte, beschloss Megan, sich vor dem Abendessen noch ein schönes, heißes Bad einzulassen. Nach diesem anstrengenden Heimweg und dem ebenso anstrengenden Gespräch mit Rachel hatte sie sich das aber auch wirklich verdient. Und anschließend würde sie sich noch etwas Leckeres vom Italiener um die Ecke bestellen. Ja, das klang nach einem Plan!
Mindestens genauso schwerfällig wie die alte Dame, die sie vorhin auf der Straße überholt hatte, schleppte sich Megan ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und legte ihre Kleidung ab. Die langen, lockigen Haare band sie sich zu einem losen Knoten zusammen, damit sie nicht nass wurden, setzte sich seitlich auf den Badewannenrand und stützte träge das Kinn in ihre Hände, während sie dem Wasserspiegel beim Steigen zusah.
Ihr Geburtstag war dieses Jahr an einem Sonntag, weshalb sie sich überlegt hatte, am Samstagabend mit ein paar Freunden essen zu gehen und einfach in ihren Ehrentag hineinzufeiern. Es sollte weiß Gott keine große Festveranstaltung werden. In kleiner Runde zusammenzusitzen, zu lachen und sich vielleicht das eine oder andere Bierchen zu genehmigen reichte ihr vollkommen aus, Hauptsache sie konnte einfach mal für ein paar Stunden abschalten und musste sich um keinerlei Verpflichtungen kümmern. Die ganze Sache mit der Entführung hatte sie wirklich einiges an Kraft gekostet, aber bei diesem Job konnte man sich nun mal nicht einfach krankmelden oder nach Belieben ein paar Urlaubstage nehmen, vor allen Dingen dann nicht, wenn es um das Leben eines Kindes ging. Das hatte Megan gewusst, als sie sich damals dazu entschlossen hatte, zum FBI zu gehen, und bis heute hatte sie ihre Entscheidung auch kein einziges Mal bereut. Und das würde hoffentlich auch so bleiben.
Als die Schaumdecke so weit angestiegen war, dass sie beinahe über den Rand hinausquoll, drehte Megan den Hahn wieder zu und prüfte mit den Zehenspitzen vorsichtig die Wassertemperatur. Es war brühend heiß – genau richtig also.
Sie stand bereits mit einem Fuß in der Wanne, als von irgendwoher plötzlich ein seltsames, melodisches Fiepen an ihre Ohren drang. Im ersten Moment war Megan sich fast sicher, dass ihr Gehör ihr wieder einmal einen Streich zu spielen versuchte, was besonders in stressigen Zeiten nicht allzu selten vorkam, dann jedoch wurde ihr langsam bewusst, dass es sich um das Klingeln ihres Handys handeln musste. Sie gab ein missmutiges Knurren von sich und rümpfte die Nase. Wer auch immer sie gerade zu erreichen versuchte, würde sich wohl oder übel gedulden müssen, bis sie mit dem Baden fertig war. Ab und zu musste man schließlich auch mal Grenzen setzen. Aber wenn es um etwas Wichtiges ging …? Nein, sie blieb dabei. Im Augenblick war nur eine Sache wichtig und das war Megans Schaumbad.
Doch es half nichts. Selbst nachdem sie es sich in der Wanne bequem gemacht hatte und irgendwann aus Frust sogar mit dem Kopf unter Wasser getaucht war, konnte sie das nervtötende Klingeln immer noch hören. Inzwischen waren schon fast drei Minuten vergangen und das verdammte Ding läutete einfach fröhlich weiter! Wer auch immer dafür verantwortlich war, schien wirklich, wirklich dringend mit ihr sprechen zu wollen. Wie sollte man sich bei so einem Lärm denn bitte entspannen?!
Megan konnte die Wutader bereits auf ihrer Schläfe pulsieren spüren. Fest entschlossen, dem rücksichtslosen Anrufer ordentlich den Marsch zu blasen, stieg sie mit einem ungehaltenen Plätschern aus der Wanne, warf sich ihren Bademantel über und stampfte zurück ins Schlafzimmer, wo ihr Handy noch immer munter zwischen den Bettlaken vor sich hin dudelte. Sie schnappte sich das kleine Telefon, drückte energisch auf den grünen Hörer und hielt es sich ans Ohr.
»Ich will nichts kaufen, ich will an keiner Umfrage teilnehmen und ja, mein Kühlschrank läuft noch, Sie Penner!«
Noch bevor die Person am anderen Ende etwas erwidern konnte, hatte Megan das Gespräch auch schon beendet, ihr Handy zurück aufs Bett gepfeffert und sich wieder in Richtung Bad umgedreht, als das penetrante Gebimmel plötzlich von vorne begann. Die junge Frau zuckte heftig zusammen und ihre Nackenhaare stellten sich auf wie die Borsten eines angriffslustigen Stachelschweins. Wie aufdringlich konnte man denn bitte sein?! Sie rang einen Augenblick lang mit der Frage, ob dieser dreiste Vogel den Ärger wirklich wert war, kam dann aber schnell zu der Erkenntnis, dass ihr Feierabend im Grunde genommen sowieso schon gelaufen war, und griff erneut nach dem Handy.
»WAS?!«
»Guten Abend, Special Agent Newman. Ich wollte Ihnen eigentlich gerade einen Auftrag anbieten, aber Sie klingen beschäftigt …«
Megan blinzelte irritiert und wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Es war eine fremdartige, computerverzerrte Stimme gewesen, die gerade zu ihr gesprochen hatte, eine Stimme, die sie noch nie zuvor gehört hatte, die aber anscheinend sowohl ihren Namen, als auch ihre Stellung beim FBI kannte. Wer würde denn … Moment mal, hatte dieser Typ gerade ›Auftrag‹ gesagt? Was bildete der sich ein?! Sie war doch kein Postkurier!
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Freundchen!«, begann sie schnaufend, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Entweder Sie verraten mir jetzt auf der Stelle, wer zur Hölle Sie sind und was Sie von mir wollen, oder ich werde-«
»Mein Name ist L und ich habe eine Aufgabe für Sie, die Sie mit Sicherheit interessieren dürfte.«
Megan schnappte entsetzt nach Luft und verschluckte sich beinahe an ihrem eigenen Atem. Sollte das etwa lustig sein?! Irgendjemand aus dem Büro wollte sich mit Sicherheit einen Spaß mit ihr erlauben … nur schade, dass sie momentan nun wirklich überhaupt nicht zu Späßen aufgelegt war.
»Natürlich haben Sie das«, knurrte sie düster, nachdem sie sich wieder einigermaßen gefangen und die Augen zu Schlitzen verengt hatte. »Tony, ich schwöre dir, wenn du das bist, dann werd ich dir morgen früh auf der Arbeit dermaßen die Hammelbeine langziehen, dass du nicht mehr weißt, wo oben und unten ist, darauf kannst du dich verlassen!«
»Es besteht keinerlei Grund dazu, Agent Velazquez ›die Hammelbeine langzuziehen‹ und ich kann Ihnen auch versichern, dass ich nicht die Absicht habe, Sie zu verschaukeln, Special Agent Newman.« Megan verzog das Gesicht, als hätte sie in eine schimmelige Zitrone gebissen, doch bevor sie sich ein weiteres Mal aufregen konnte, fuhr der geheimnisvolle Anrufer fort. »Sie sind eine erstklassige Ermittlerin, deren Abschluss in Quantico bis heute zu den besten der vergangenen zehn Jahre gehört. Sowohl Ihre akademischen, als auch Ihre athletischen Leistungen waren überragend und auch im Einsatz haben Sie bisher grandiose Dienste geleistet. Ich bin mir sicher, dass Sie der Herausforderung, die dieser Fall mit sich bringen wird, mehr als gewachsen sind.«
Megan schwieg beklommen. All der Honig, den dieser Unbekannte ihr gerade ums Maul zu schmieren versuchte, änderte nichts daran, dass er deutlich mehr über sie und ihr Leben wusste, als ihr lieb war. Momentan klang das Ganze für sie noch verdächtig nach einem Stalker – wäre da nicht die Tatsache, dass er sich ihr vorhin als L vorgestellt hatte. Natürlich wusste Megan, wofür dieses Pseudonym stand, das wusste jeder, der auch nur im Entferntesten mit der Verbrechensbekämpfung zu tun hatte. Die Organisation ›L‹, deren Mitglieder ausschließlich anonym agierten, hielt sich stets im Schatten und nahm nur äußerst selten direkten Kontakt zu Einzelpersonen auf, weshalb es kein Wunder war, dass Megan dieser Behauptung mit einer gewissen Skepsis begegnete. Andererseits … von so jemandem als ›erstklassige‹, ›überragende‹ und ›grandiose‹ Ermittlerin gelobt zu werden war durchaus eine Möglichkeit, um zumindest ihr Interesse zu wecken.
»Woher weiß ich, dass Sie tatsächlich L sind und nicht nur irgendein Spinner, der vorhat, mein Bankkonto leerzuräumen?«, hakte Megan nach und fuhr mit dem Daumen immer wieder über ihre zerrupften Nagelbetten, die sich vom Badewasser ganz weich und krümelig anfühlten.
»Sie wurden am achtundzwanzigsten Oktober 1974 in Warden, Washington, geboren und lebten dort bis zu Ihrem Highschool-Abschluss 1991, den Sie aufgrund einer übersprungenen Klasse ein Jahr früher als üblich erreichten. Ihre Mutter ist gebürtige Norwegerin, Ihre Blutgruppe Null positiv und vor sechs Tagen retteten Sie die vierjährige Tochter von Bezirksstaatsanwalt Matthews aus einem brennenden Gebäude, nachdem diese zuvor aus Rache von einem ukrainischen Drogenboss namens Doroshenko entführt worden war, der im Zuge dessen ebenfalls festgenommen wurde. Soll ich fortfahren?«
Megan, die das Gefühl hatte, dass ihr Gesicht inzwischen auch das allerletzte Bisschen Farbe verloren hatte, schluckte sämtliche spitze Bemerkungen, die ihr gerade noch auf der Zunge gelegen hatten, als Zeichen ihres Respektes herunter.
»Nein«, krächzte sie. »Danke, das reicht mir.« Es gefiel ihr zwar noch immer nicht, dass dieser Mensch offenbar so viel über sie zu wissen schien, doch wenn sie ehrlich war, dann war sie von seinen Recherchemethoden schon ziemlich beeindruckt. Aber wenn man zur besten Detektivorganisation des Planeten gehörte, dann war so etwas wahrscheinlich auch keine große Kunst. Um nicht allzu verunsichert zu klingen, fügte sie noch hinzu: »Aber Sie werden sicher verstehen, dass ich nicht jedem dahergelaufenen Hobbydetektiv, der behauptet, L zu sein, gleich meine volle Aufmerksamkeit schenken kann.«
»Selbstverständlich nicht. Ich kann Ihr Misstrauen durchaus nachvollziehen und eine solche Reaktion ist in Anbetracht der Risiken mit Sicherheit auch nicht unangebracht. Sollten Sie noch immer Bedenken haben, möchte ich Sie natürlich nicht weiter belästigen, schließlich gibt es noch zahlreiche weitere Kandidaten, die ich für eine Zusammenarbeit in Betracht ziehen-«
»Nein!«, rutschte es Megan plötzlich heraus, woraufhin sie die Panik in ihrer Stimme augenblicklich mit einem Räuspern zu überspielen versuchte. »Ich meine … da-das wird nicht nötig sein. Wie gesagt, ich glaube Ihnen, dass Sie L sind, und es wäre mir wirklich eine große Ehre, mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen. Um was genau geht es denn eigentlich, wenn ich fragen darf?«
»Bei dem Fall, den zu bearbeiten ich Sie bitten würde, handelt es sich um eine Mordserie, die in Holden Creek, Oregon, seit Mitte August bereits drei Opfer gefordert hat, das letzte heute Morgen. Da ich mich zurzeit aber leider nicht persönlich darum kümmern kann, benötige ich Ihre Hilfe, Special Agent Newman. Weitere Informationen zum derzeitigen Ermittlungsstand werde ich Ihnen in Kürze zukommen lassen.«
»Aha, und wann soll das Ganze losgehen?«
»Übermorgen.«
»Übermorgen!«, wiederholte Megan mit heiserer Stimme und riss unweigerlich die Augen auf. »Aber mein Chef … ich meine, ich kann doch nicht einfach so mitten in der Woche nach Oregon fliegen, schließlich bin ich ja erst seit ein paar Monaten aus der Probezeit raus und-«
»Das dürfte kein Problem darstellen. Ihr Vorgesetzter ist bereits informiert und für Ihren Transport ist ebenfalls gesorgt. Alles, was Sie in den kommenden paar Tagen tun müssen, ist sich entsprechend auf den Fall vorzubereiten, es sollten für Sie also keinerlei Unkosten anfallen. Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?«
›Ja‹, lag es Megan auf der Zunge. ›Und wie ich das habe, Sie Witzbold!‹ Sie verkniff sich die Nachfrage jedoch und schüttelte stattdessen bloß den Kopf, bevor sie sich wieder daran erinnerte, dass sie am Telefon war – obwohl es sie nach diesem Gespräch nicht sonderlich wundern würde, wenn L es trotzdem mitbekommen hätte. Ob nun dank telepathischer Kräfte oder heimlich installierter Überwachungskameras.
»Nein, keine Fragen.«
»Sehr gut, dann werde ich nun dafür sorgen, dass die entsprechenden Akten, sowie sämtliche Informationen bezüglich Ihres Fluges in zwei Tagen Sie unverzüglich erreichen. Jetzt möchte ich Sie aber nicht weiter stören. Ich wünsche Ihnen noch einen erholsamen Abend, Agent Newman. Auf Wiederhören.«
»Wiederhören …« Doch L hatte bereits aufgelegt, noch bevor sie ihre zerknirschte Verabschiedung überhaupt ausgesprochen hatte.
Megan ließ ihr Handy, das ihr mittlerweile wie ein Ziegelstein in der Hand lag, zum dritten Mal an diesem Tag auf die Bettdecke fallen, bevor sie mit einem Mal ein eisiger Schauer überkam und sie augenblicklich frösteln ließ. War das gerade wirklich passiert? Oder war sie jetzt vollkommen verrückt geworden? Sie hatte tatsächlich mit L, einem der größten und mit Abstand erfolgreichsten Detektive der Weltgeschichte, telefoniert … und er hatte sie in den höchsten Tönen gelobt und sie gebeten, für ihn in einem Fall zu ermitteln … wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass einem so etwas passierte? Eins zu einer Milliarden? Megan wusste, dass sie dieses Angebot auf gar keinen Fall hätte abschlagen dürfen, allein um ihrer Karriere Willen, so eine Chance bekam man schließlich nur einmal im Leben, aber warum fühlte sie sich dann trotzdem so … unwohl? Vielleicht weil sie nach ihrem letzten Fall eigentlich dringend ein paar ruhige Bürowochen hätte vertragen können, statt gleich wieder mit so einem enormen Leistungsdruck konfrontiert zu werden. Ihre Glieder begannen sich plötzlich wie Blei anzufühlen. Und das so kurz vor ihrem Geburtstag …
Wie in Zeitlupe wandte Megan sich um und schlich mit schlurfenden Schritten aus dem Schlafzimmer. Vielleicht taugte das inzwischen eiskalt gewordene Badewasser ja wenigstens noch dazu, um sich darin zu ertränken.
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Mittwoch, 17. Oktober 2001 • 1.09 Uhr
Das monotone Klackern der Tastatur und das nahezu hypnotische Summen, das die Laptop-Lüftung von sich gab, waren zu dieser Zeit die einzigen Geräusche, die im Zimmer zu hören waren. Die grellen Lichter der Stadt, die selbst in einer mondlosen Nacht wie dieser den Himmel erhellten, kämpften sich energisch an den Gardinen vorbei und mischten sich mit dem schwächlichen Glühen des Computerbildschirms, welches das Gesicht seines Benutzers in ein geradezu maskenhaftes Eisblau tauchte. Leicht und behände glitten seine Finger über die Tasten, er musste seine Augen kaum vom Monitor abwenden, so vertraut war er mit der Position der Buchstaben und so konzentriert war seine Aufmerksamkeit auf den Text vor ihm gerichtet.
Links neben ihm stand eine dampfende Tasse Kaffee, die er eigentlich gar nicht brauchte, da er ohnehin schon seit Stunden wach lag, während sich zu seiner Rechten ein Teller mit sage und schreibe fünf unordentlich geschnittenen Gurkenscheiben befand. Zugegeben, ein klein wenig merkwürdig sah dieses Arrangement schon aus, doch so etwas kam nun einmal dabei heraus, wenn man nachts um eins mit brummendem Schädel durch die Küche tigerte und krampfhaft nach irgendetwas zu essen suchte, dessen Verzehr man am nächsten Morgen nicht allzu bitter bereuen würde. Gemüse war schließlich gesund und die halbe Salatgurke, die seit Tagen in seinem Kühlschrank vor sich hin vegetierte, begann allmählich doch etwas schrumpelig zu werden, und so konnte sie wenigstens noch als spontaner Mitternachtssnack herhalten. Die unerhebliche Tatsache, dass er sich dazu auch noch einen Kaffee gekocht und sich mitten in der Nacht an einem Wochentag vor den Rechner gehockt hatte, versuchte er dabei weitestgehend zu verdrängen.
Obwohl er am vergangenen Abend eigentlich zu einer völlig angemessenen Uhrzeit ins Bett gegangen war, hatte er seitdem kein Auge zugetan. Ganz egal, wie er sich auch drehte und wendete, ob mit Decke oder ohne, in Bauch- oder Rückenlage, nichts schien zu helfen. Irgendwann hatte er es schließlich aufgegeben und stattdessen beschlossen, seine Schlaflosigkeit zu nutzen und den Bericht fertigzuschreiben, den er seinem Kollegen bis übermorgen versprochen hatte. Wenn er es schon nicht schaffte einzuschlafen, dann konnte er ja wenigstens das zu Ende bringen, auch wenn er sich dafür morgen früh mit Sicherheit in den Hintern beißen würde. Damit musste er sich dann wohl oder übel später herumschlagen. Und besser als tatenlos herumzuliegen und sich das Hirn zu zermatern war es allemal.
Leise murrend fuhr er sich mit den Fingern über die schmerzenden Lider. Es war nicht so, dass er nicht müde war – ganz im Gegenteil sogar. Aber momentan gab es einfach viel zu viele Dinge, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten. Und wenn er keine Möglichkeit hatte, sich abzulenken, gerieten diese Gedanken schnell mal außer Kontrolle. Als er die Hand nach der Kaffeetasse ausstreckte, um einen weiteren Schluck zu trinken, hielt er auf einmal mitten in der Bewegung inne, als er bemerkte, dass sie wieder zu zittern begonnen hatte. Er presste die Lippen aufeinander und ballte die Hand zur Faust, um seinen Muskelfunktionen wieder Herr zu werden, doch es bedurfte einiger Versuche, bis das Zittern auch tatsächlich nachließ. Er hasste dieses Gefühl. Hilflos im eigenen Körper zu sein, wenn auch nur in solch geringem Ausmaß, gehörte seiner Meinung nach zu den furchtbarsten Dingen, die einem Menschen widerfahren konnten. Auch wenn die Alternative in seinem Fall noch um einiges beängstigender war …
Als in diesem Moment plötzlich das Telefon klingelte, zuckte er so heftig zusammen, dass er mit dem Unterarm beinahe die Tasse vom Schreibtisch gefegt hätte und ein schmerzhaftes Stechen sich in seinem Nacken auszubreiten begann. Seine Lider flatterten und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wer zum Teufel rief ihn denn um diese Uhrzeit noch an?! Mit fahrigen Fingern und immer noch vollkommen durch den Wind wühlte er neben seinem Laptop nach dem Telefonhörer, hielt ihn sich ans Ohr und begrüßte die Person am anderen Ende mit einem völlig benommenen »Ja?!«.
»Upps. Das ging aber schnell.«
»Leo …«, murmelte er mit heiserer Stimme und wischte sich mit dem Saum seines alten Hockey-Shirts über die Stirn, nachdem ihm für eine Sekunde doch tatsächlich der Schweiß ausgebrochen war. Natürlich. Niemand sonst würde es wagen, ihn so spät noch aus dem Bett zu klingeln. Oder so früh. Je nachdem, wie man es betrachtete. »Du bist doch wahnsinnig … hast du in letzter Zeit mal einen Blick auf die Uhr geworfen?«
»Jetzt tu mal nicht so unschuldig, ich wusste doch, dass du noch wach bist.«
»Ach ja? Woher?«
»Wenn dich etwas beschäftigt, dann schläfst du erst spätestens um halb zwei ein, unabhängig davon, wann du ins Bett gegangen bist. In den meisten Fällen versuchst du dich in solchen Situationen auch lieber abzulenken. Und da du so schnell ans Telefon gegangen bist, nehme ich an, du sitzt noch am Rechner, stimmt’s?«
»Touché.« Er seufzte. Leo kannte ihn manchmal besser, als ihm lieb war. »Deine empirischen Schlussfolgerungen sind mal wieder einwandfrei. Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, den Berufszweig zu wechseln. Beim FBI wärst du sicher gut aufgehoben, Leonard.«
»Nein danke, das überlasse ich lieber dir, Richard.«
Die überschwängliche Betonung zauberte ihm unweigerlich wieder ein Lächeln auf die Lippen und er konnte deutlich spüren, wie sich die Anspannung in seinem Innern allmählich zu lösen begann. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, dann war er eigentlich sogar ganz froh darüber, dass Leo beschlossen hatte, ihn anzurufen.
»Und außerdem«, fuhr dieser fort. »Bin ich mir ziemlich sicher, dass die mich hier in der Notaufnahme viel besser gebrauchen können.«
»Apropos. Hast du wieder Nachtschicht?«
»Klar, warum, glaubst du, würde ich dich sonst an einem Mittwochmorgen um ein Uhr anrufen?« Richard konnte sich das schelmische Grinsen auf dem Gesicht seines Freundes nahezu bildlich vorstellen. »Ich hab mich gerade nach draußen geschlichen, mir ’ne Zigarette angezündet und mir gedacht: ›Hey, warum erschreckst du nicht einfach mal den guten, alten Rich? Der wird es dir sicher danken.‹ Und tja … gesagt, getan.«
»An deiner Stelle würde ich den Tabakkonsum lieber etwas zurückschrauben, du scheinst in letzter Zeit ja auf ziemlich abenteuerliche Gedanken zu kommen.«
Leo lachte laut auf. »Ich dachte, du magst meine abenteuerlustige Seite!« Nun konnte auch Richard sich das Grinsen nicht mehr verkneifen. Wann hatte er das letzte Mal eine derartige Leichtigkeit verspürt, als er mit jemandem gesprochen hatte? »Jetzt aber mal im Ernst: was machst du gerade? Irgendwelche … strenggeheimen Regierungsoperationen, von denen ich wissen sollte?«
Sofort verfinsterte sich Richards Miene wieder und er warf einen angespannten Blick auf den Bildschirm seines Laptops. »Ich hab Howard gestern versprochen, dass ich die restliche Fallakte für ihn übernehme, weil er sich darüber beschwert hat, dass er ständig den ganzen Papierkram erledigen muss. Aber langsam bekomme ich das Gefühl, dass ich mir da selbst etwas zu viel vorgenommen habe …«
Leo seufzte. »Oh ja, das ist mein Rich …« Es entstand eine kurze Pause, in der Richard glaubte, das Klicken eines Feuerzeuges zu hören. Hoffentlich war Leo bewusst, dass er seinen Rat vorhin durchaus ernst gemeint hatte. »Hör mal, ich hab den Eindruck, dass du dich in letzter Zeit ein bisschen mit der Arbeit übernimmst. Jedes Mal, wenn wir reden, wirkst du total müde und ausgelaugt und so wie du dich anhörst, scheinst du den Schlaf wirklich dringend nötig zu haben. Ich weiß ja, dass du nur helfen willst, aber du kannst nicht immer alles allein in die Hand nehmen. Ab und zu musst du auch mal Nein sagen. Du kannst dich selbst nicht ständig belasten um andere zu entlasten.«
Richard zog eine säuerliche Grimasse und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er konnte nicht abstreiten, dass Leo recht hatte, aber so einfach war das leider nicht. »Ich weiß«, erwiderte er kleinlaut. »Manchmal denke ich in solchen Momenten einfach nicht nach … und wenn ich den Bericht erledige, dann weiß ich wenigstens, dass er, nun ja … auch erledigt wird.«
Mit zusammengebissenen Zähnen massierte er sich die Schläfe und klappte den Laptopbildschirm mit dem Ellenbogen etwas herunter, um wenigstens seine Augen für einen kurzen Moment entspannen zu können. Er hatte schon seit Tagen diese furchtbar lästigen Kopfschmerzen, die einfach nicht verschwinden wollten. Sie waren nicht stark genug, um langfristig seine Konzentration zu stören oder eine Tablette zu rechtfertigen, reichten aber aus, um ihm tierisch auf die Nerven zu gehen und ihn bei der einen oder anderen Gelegenheit Dinge sagen zu lassen, die er eigentlich gar nicht sagen wollte. Er hoffte inständig, dass es nichts Ernstes war, denn krank zu werden konnte er sich im Augenblick nun wirklich überhaupt nicht leisten.
»Hast du deinen Vater schon zurückgerufen?«
Richard sog unwillkürlich die Luft zwischen den Zähnen ein und konnte spüren, wie sich in seinem Magen eine unangenehme Hitze auszubreiten begann. Im Moment war er sich jedoch nicht ganz sicher, ob das nicht auch an dem Kaffee liegen könnte. »Ich … ich wollte das morgen machen.«
Ein skeptisches Brummen war am anderen Ende der Leitung zu hören. »Kommt mir irgendwie bekannt vor, diese Ausrede …«
»Das ist keine Ausrede!«, versuchte Richard sich zu verteidigen, ärgerte sich gleich darauf jedoch schon wieder über diese kindische Reaktion. »Okay, gut, vielleicht ist es eine … aber ich hab dazu bislang auch noch gar keine Gelegenheit gefunden. Du weißt, wie anstrengend er manchmal sein kann … und um mich damit auch noch herumzuschlagen fehlt mir im Augenblick einfach die Energie. Das führt sonst nur wieder dazu, dass wir uns gegenseitig anpampen. Und so lange ich das irgendwie vermeiden kann …«
»Ich verstehe ja, dass du dich ablenken willst, aber du kannst die Arbeit nicht einfach als Vorwand dafür nehmen, um nicht mit deinem Vater sprechen zu müssen. Du wirst das nicht ewig vor dir herschieben können. Wann hat deine Mutter noch mal Geburtstag?«
»Am fünfundzwanzigsten Oktober …« Richard kniff die Augen zusammen und rieb sich mit einem angestrengten Seufzen über den Nasenrücken. »Genau einen Tag vor Sophies Todestag.«
»Rich …« Die Art und Weise, wie Leo seinen Namen aussprach, glättete die Sorgenfalten auf seiner Stirn wieder ein wenig. »Ich weiß, dass dir das keinen Spaß macht. Väter sind nun mal … schwierig. Glaub mir, ich kann selbst ein Lied davon singen.« Er setzte zu einem Lachen an, schien es sich jedoch im letzten Moment noch einmal anders zu überlegen. »Aber er meint es doch nicht böse. Wahrscheinlich glaubt er einfach, dass er ihr auf diese Weise etwas Ablenkung verschaffen kann und weil er weiß, dass dir das ebenso wichtig ist, hat er dich um Hilfe gebeten. Das zeigt doch nur, wie sehr er deinem Urteil vertraut. Und wenn du Bedenken hast, dann wird er das sicher verstehen. Es mag vielleicht ätzend sein, aber du musst mit ihm darüber sprechen, Rich. Anders geht es nicht.«
»Alles, was ich will, ist, dass Mama an ihrem Geburtstag endlich wieder lachen kann …« Seine Eingeweide krampften sich schmerzhaft zusammen, als die Bilder der vergangenen Jahre wieder in seinen Erinnerungen auftauchten. Betretenes Schweigen begann den Raum zu erfüllen. Niemand sagte ein Wort. Und die Stille pochte von innen gegen Richards Schädel, als wollte sie ihn in tausend Teile hämmern.
»Na ja, ein bisschen Zeit hast du ja noch«, fuhr Leo irgendwann mit hoffnungsvoller Stimme fort. »Du musst dich nicht sofort entscheiden. Vielleicht könntest du ja … ich weiß nicht, dir eine Liste mit Dingen machen, die du ihm sagen möchtest?«
Ein schwaches Lächeln stahl sich auf Richards Lippen, während er den Laptopbildschirm wieder nach oben klappte. Das grelle, weiße Licht brannte in seinen Augen, doch immerhin vertrieb es die Erschöpfung ein wenig.
»Du meinst wie in der Grundschule?«
»Hey, ich versuche hier nur zu helfen …«
»Ich weiß. Tut mir leid.« Er seufzte erneut und strich sich die Haare zurück. »Und ich bin dir wirklich dankbar dafür. Ich … ich werd’s versuchen.«
»Dank mir später. Und warte nicht zu lange, okay?«
»Versprochen.« Richard speicherte sein aktuelles Dokument ab, minimierte das Fenster und öffnete seinen Posteingang. Vielleicht gab es ja noch irgendwelche unbeantworteten E-Mails, mit denen er sich von seinen Familienproblemen ablenken konnte, bevor er sich nachher wieder ins Bett legte.
»Also … wegen des Ausfluges nach Birdsboro nächsten Monat«, wechselte Leo plötzlich das Thema, worüber auch Richard ehrlich gesagt ganz froh war. »Ich hab mir neulich mal ein paar Fotos angeschaut und ich glaube, die Steilwände da werden uns ganz schön ins Schwitzen bringen. Natürlich nur, wenn das Wetter auch mitspielt. Vielleicht hilft dir das ja ein wenig bei deiner Zerstreuung.«
»Das hoffe ich doch.« Eine neue Nachricht blinkte auf einmal in Richards Postfach auf und er runzelte nachdenklich die Stirn. So spät noch? Wer außer ihm schrieb denn um diese Zeit noch E-Mails? »Wenn ich nicht bald wieder zum Klettern komme, verlerne ich das noch.« Der Absender war Agent Larry Howard, der Kollege, für den er gerade den Bericht schrieb. ›Kein Betreff‹ lautete der Titel. Richard rümpfte die Nase. Wenigstens diese Mühe hätte er sich ja machen können …
»Ich hab dir doch neulich erzählt, dass ich im Moment auf ein Paar neue Schuhe spare. Also, wenn alles glatt läuft, dann kann ich sie mir vielleicht schon nächste Woche bestellen … die sollen total hochwertig und robust sein, die Marke hat mir Emmie vor kurzem empfohlen …«
Richard hörte seinem Freund mittlerweile nur noch mit einem Ohr zu, während er gleichzeitig den Inhalt der Nachricht überflog, doch schon nach wenigen Zeilen wurde ihm klar, dass diese eindeutig seine volle Aufmerksamkeit erforderte.
»Leo, tut mir leid, dass ich dich unterbreche, aber können wir das vielleicht auf morgen verschieben? Ich … ich ruf dich zurück, sobald ich kann.«
»Oh klar, kein Problem. Bist du etwa doch müde geworden?«
»Nein … ich meine ja, das auch. Aber du bekommst nächsten Monat eine irre Handyrechnung, wenn du nicht bald auflegst.«
»Hast recht … verdammt. Okay, dann bis morgen, würde ich sagen. Schlaf gut, Rich.«
»Danke. Du auch.«
Vielleicht ein ganz klein wenig zu energisch legte Richard den Hörer beiseite, rieb sich mit den Fingerknöcheln erneut über die Augen und blinzelte ein paarmal, um auch ganz sicher zu gehen, dass er ja nichts überlas, dann befasste er sich ein zweites Mal mit der geheimnisvollen E-Mail.
Sehr geehrter Special Agent Williams,
bitte sehen Sie mir nach, dass ich Sie zu so später Stunde noch bei Ihrer Arbeit störe, aber ich benötige Ihre Hilfe bei der Aufklärung einer Mordserie. Drei Personen sind dieser bereits zum Opfer gefallen und ich habe großes Interesse daran, den Verantwortlichen schnellstmöglich zu stoppen, bevor noch weitere Menschen zu Tode kommen.
Aus Sicherheitsgründen und um mir Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit gewiss sein zu können, habe ich mir zu diesem Zweck vorübergehend die Mailadresse Ihres Kollegen ausgeliehen. Auch dies bitte ich Sie zu entschuldigen.
Alle weiteren Informationen bezüglich der Ermittlungen werde ich Ihnen in Kürze zukommen lassen.
L
Richard rückte etwas näher an den Bildschirm heran und verengte die Augen ungläubig zu Schlitzen. War diese Signatur etwa ein Tippfehler oder … er schüttelte den Kopf und brummte irgendetwas Unverständliches.
›L‹ – das war ein Name, der nicht nur in den Kreisen der internationalen Verbrechensbekämpfung regelmäßig für Furore sorgte. In seiner Abteilung wusste so ziemlich jeder, was es mit diesem Pseudonym auf sich hatte – und auch, dass mit dessen Träger absolut nicht zu verhandeln war. Wenn L sich an das FBI wandte, dann hieß es, alles andere hinten anzustellen, ob es einem gefiel oder nicht. Denn der weltberühmte Privatdetektiv, der bisher noch nie öffentlich in Erscheinung getreten war, hatte nicht nur zahlreiche Feinde, sondern auch mindestens genauso viele mächtige Freunde, die ihm falls nötig den Rücken stärken konnten. Zumindest erzählte man sich das. Mit jemandem wie L zusammenzuarbeiten wäre ohne Zweifel eine ganz besondere Ehre, die nicht vielen zuteil wurde. Aber konnte er so einer kryptischen E-Mail, die mitten in der Nacht plötzlich in seinem Posteingang auftauchte, wirklich trauen?
Richard kam nicht mehr dazu, weiter über das Für und Wider dieser Aufforderung nachzudenken, denn die letzte Zeile der Nachricht ließ ihn sich beinahe an seinem mittlerweile nur noch lauwarmen Kaffee verschlucken.
PS: Ich würde Ihnen wirklich wärmstens empfehlen, sich in Zukunft ein besseres Antivirenprogramm zuzulegen.
Kaum hatte er den Satz zu Ende gelesen, schlossen sich plötzlich wie von Geisterhand sämtliche Anwendungen auf seinem Desktop und machten stattdessen einem grellen Weiß Platz. Unwillkürlich presste Richard die Lippen aufeinander und seinen Rücken fest gegen die Lehne seines Schreibtischstuhls. Er war von der ganzen Situation so überrumpelt, dass er nicht einmal daran dachte, den Stecker zu ziehen. Das durfte doch wohl nicht wahr sein, warum hatte er diese vermaledeite E-Mail bloß geöffnet?!
Wenige Sekunden später erschien auf dem Monitor ein gräuliches, leicht durchsichtiges ›L‹ in der Signaturschriftart des Meisterdetektivs, dann flackerte der Bildschirm kurz auf und ein kleines Eingabefenster öffnete sich.
›Guten Abend, Special Agent Williams. Hier spricht L …‹