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Wo wir begraben liegen

von Tschuh
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday L Naomi Misora OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
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15.04.2023 9.311
 
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ZURÜCK ZU DEN WURZELN



Samstag, 10. November 2001  •  20.06 Uhr


Sam und Megan waren bereits dabei gewesen, erneut nach ihren Mänteln zu greifen und sich ins Ungewisse zu stürzen, als Richard sie davon überzeugen konnte, zuvor noch einmal mit L Kontakt aufzunehmen. Wenn es jemanden gab, der ihnen brauchbare Informationen über ein leerstehendes, altes Waisenhaus tief in den Wäldern Oregons besorgen konnte, dann er – doch der weltbeste Detektiv ging natürlich wieder einmal nicht ans Telefon. Nicht, dass Richard das wirklich überraschte … doch weniger ärgerlich wurden seine ewig leeren Versprechungen dadurch auch nicht.
  Megan war gerade kurz davor, sein Handy in hohem Bogen aus dem Fenster zu schleudern, als Richard die rettende Idee kam, stattdessen einfach Naomi um Hilfe zu bitten. Und auch, wenn seine Partner dem Vorschlag anfangs eher skeptisch gegenüberstanden, schienen selbst sie einzusehen, dass sie im Augenblick nicht viele Optionen hatten. Einen Versuch war es wert. Und nachdem er ihrer Kollegin aus Los Angeles die Sachlage geschildert hatte, erklärte diese sich tatsächlich dazu bereit, sie zu unterstützen, und versprach ihnen, sich unverzüglich zu melden, sobald sie etwas herausgefunden hatte. So richtig wohl fühlte Richard sich zwar nicht dabei, ihr so viel zusätzliche Arbeit aufzubürden, doch irgendetwas sagte ihm, dass sie ihr damit einen Gefallen taten. Naomi wollte dieses Rätsel ebenso sehr lösen wie sie. Und wenn L sich nicht erreichen ließ, dann mussten sie sich eben auf andere Art und Weise behelfen.
  Draußen war es längst dunkel geworden, als die Ermittler die Pension zum zweiten Mal an diesem Tag verließen. Ein frostiger Wind heulte ihnen um die Ohren und schnitt in ihre Wangen wie Rasierklingen, doch das würden sie in Kauf nehmen müssen, wenn das bedeutete, dass sie endlich ein paar Schritte vorankamen.
  Zu Anfang ließ sich Misses Atkins’ Wegbeschreibung noch ohne Probleme folgen. Richard lotste das dick eingepackte Trio durch ganz Holden Creek, bis sie im Norden nur wenige hundert Meter außerhalb der Stadt tatsächlich auf eine Brücke stießen, die nirgendwo ausgeschildert war. Sie sah aus, als hätte sich schon seit Jahren niemand mehr um sie gekümmert, der alte Bruchstein war spröde und verwittert, und wenn sie mit dem Auto unterwegs gewesen wären, dann hätte Richard auch nicht darauf gewettet, dass sie es unbeschadet darüber schaffen würden. Selbst zu Fuß beschlich ihn ein ungutes Gefühl bei der Sache, das sich wie eine Ameisenkolonie über seinen Schultern auszubreiten schien. Als würde auf der anderen Seite etwas auf sie lauern, dem es nicht gefiel, dass sie hier waren … dabei hatten sie den Fluss nun wirklich schon oft genug überquert.
  Im ersten Moment war es zwar ganz angenehm, dass der Wind ihnen nun, da das Tannendickicht sie von allen Seiten schützte, nicht mehr so unbeherrscht um die Ohren toste, dafür konnten sie allerdings kaum die Hand vor Augen erkennen. Richard war heilfroh, dass sie alle eine Taschenlampe mitgebracht hatten, und doch begann er bereits nach wenigen Minuten an ihrer Entscheidung zu zweifeln. Sie hätten zumindest noch bis zum nächsten Morgen warten sollen, bei diesem Wetter würden sie sich hier höchstens eine Erkältung holen – wenn nicht sogar Schlimmeres. Die ganze Aufregung musste ihnen völlig den Verstand vernebelt haben! Richard erkannte sich in letzter Zeit selbst kaum wieder. Doch um kehrtzumachen, waren sie bereits zu weit gekommen und davon einmal abgesehen hatten sie inzwischen auch wirklich lange genug herumgesessen.
  Der Pfad, auf den die Brücke sie geführt hatte, war schmal, verwinkelt und mit allerlei Gestrüpp überwuchert, sodass es eine echte Herausforderung war, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn das doch bloß alles gewesen wäre, was Richard gerade zu schaffen machte … tief im Herzen des Waldes, abseits von Licht, Heizung und dem wachsamen Auge des Menschen, herrschte eine Atmosphäre, die ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Blut in den Adern gefrieren ließ – und das nicht bloß aufgrund der winterlichen Temperaturen. Es war schwierig zu beschreiben, wie dunkel es hier tatsächlich war. Wenn man die Taschenlampe ausknipste, dann sah man … gar nichts. Weder Bäume, noch Sträucher, nicht einmal der Himmel spendete ihnen zwischen den dicht beieinanderwachsenden Ästen ein wenig Licht. Es fühlte sich an, als hätte man Richard einen dicken, schwarzen Sack über den Kopf gezogen und ihn in einem fensterlosen Raum eingesperrt. Wie viel Zeit war inzwischen bereits vergangen? Seine Finger waren steif gefroren, seine Lider taub, und sein Rachen brannte vor Kälte. Der Wald erstickte ihn in jeder nur erdenklichen Hinsicht, kroch durch die Ritzen in seinen Körper hinein und verstopfte sie mit bitterer Übelkeit. Richard konnte sich nicht daran erinnern, jemals so etwas gespürt zu haben. Es war nicht so wie vor ein paar Wochen, als er Lily heimlich in den Wald gefolgt war … dieses Mal wusste er, wohin sie wollten. Der Wind heulte nicht mehr bloß, er brüllte, fegte mit einer solch knochenzerberstenden Gewalt durch die Äste, dass man meinen könnte, er wäre wütend, wütend auf sie, und versuchte mit allen Mitteln, sie von ihrem Ziel fernzuhalten.
  Doch er versagte. Denn nach zwanzig weiteren Minuten begann sich das Gestrüpp endlich zu lichten und ein riesiges Anwesen baute sich vor ihnen auf. Auch wenn man von weitem nur die Umrisse erkennen konnte und der Schein ihrer Taschenlampen nicht ausreichte, um mehr als ein paar hervorstehende Ecken und Kanten zu erfassen, gab es keinen Zweifel daran, dass dies das Heim aus Sawyers Fotoalbum war. Und je näher sie kamen, desto ersichtlicher wurde es, wie sehr der Zahn der Zeit tatsächlich an dem Gebäude genagt hatte; das Dach war eingesunken, die steinerne Fassade vor Moos und Efeu kaum noch zu erkennen, und die meisten Fenster entweder zersplittert oder mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt. Ehrlich gesagt hätte Richard nicht erwartet, dass das Haus überhaupt noch stand … die meisten Gebäude, die den Flammen zum Opfer fielen, hatten nach dreißig Jahren höchstens noch ein bröckliges Fundament zu bieten.
  Eingerahmt wurde das Grundstück von einer Mauer, die im Vergleich zum Rest noch erstaunlich stabil aussah, doch als sie sich dem gusseisernen Tor näherten, das auf den Hof hinausführte, mussten sie feststellen, dass dieses sperrangelweit offen stand. Richard blinzelte irritiert und fuhr sich durch die vom Wind mittlerweile völlig zerzausten Haare. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er glatt vermuten, man hätte sie …
  »Wow, die sind ja hier richtig gastfreundlich«, hörte er Megan neben sich murmeln und als er sich umwandte, konnte er gerade noch erkennen, wie sie eine ihrer Haarnadeln wieder zurück unter ihre Mütze schob. »Da könnte sich Townsend ruhig mal ’ne Scheibe von abschneiden.«
  Sam lenkte den Strahl seiner Taschenlampe zuerst auf die völlig verrosteten Überreste des Schlosses, die an einem der Torflügel baumelten, dann auf den Boden davor.
  »Da sind Schleifspuren«, bemerkte er stirnrunzelnd. »Es sieht ganz danach aus, als wäre erst kürzlich jemand hier gewesen … und hätte vergessen, die Tür wieder hinter sich zu schließen.«
  Richard konnte nicht verhindern, wie ihm bei dieser Vorstellung ein eisiger Schauer über den Rücken jagte. Er schluckte, versuchte sich sein Unwohlsein jedoch nicht weiter anmerken zu lassen, als Sam fortfuhr.
  »Wenn Sawyers Mörder tatsächlich nach Informationen über das St. Albertine’s gesucht hat, dann würde es durchaus Sinn ergeben, dass er bereits hier gewesen ist. Außerdem können wir in diesem Fall wohl davon ausgehen, dass wir ebenfalls auf der richtigen Spur sind.«
  »Vielleicht sind wir bereits zu spät …«, murmelte Richard, während Megan dem alten Tor einen so groben Tritt verpasste, dass es mit einem markerschütternden Ächzen weiter aufschwang.
  »Ein Grund mehr, um keine Zeit zu verlieren!«, entschied sie und stolzierte hocherhobenen Hauptes hindurch. »Kommt schon, oder wollt ihr euch da draußen die Zehen abfrieren?«
  Richard konnte nicht behaupten, dass der Hof besonders ordentlich zurückgelassen worden wäre. Am Rande des grob gepflasterten Weges häufte sich undefinierbarer Schutt, Gras und Unkraut wucherten zwischen den Steinen und überall lagen alte Spielsachen herum. Ein stark zerbeulter, lederner Sack, der einst ein Ball gewesen sein musste, ein völlig zerfasertes Seil, das am Ast einer Buche baumelte … eine selbstgebastelte Schaukel, schätzte Richard und presste unweigerlich die Lippen aufeinander. All das war nicht wirklich ungewöhnlich für ein Kinderheim, aber die Tatsache, dass der ganze Krempel noch immer hier draußen herumlag, verwunderte ihn. Als hätten die Überlebenden das Anwesen ohne Rücksicht auf Verluste hinter sich gelassen.
  Mit einem eigenartig flauen Gefühl im Magen trat Richard näher an die Buche heran und ließ seine Taschenlampe über die vernarbte Rinde schweifen. In einigen der Kerben waren tatsächlich Buchstaben zu erkennen, die vor langer Zeit mit dem Taschenmesser dort hineingeritzt worden sein mussten. Die üblichen dummen Sprüche, an die er selbst sich noch aus seiner Schulzeit erinnern konnte, krude Fratzen, und Schwüre, sich ewig treu zu bleiben. ›E. liebt H.‹ oder ›A + A für immer‹ … wo die Kinder, die ihre Initialen einst hier verewigt hatten, wohl heute waren?
  Widerwillig löste Richard seinen Blick wieder von den Kritzeleien und ließ ihn stattdessen über das restliche Gelände wandern. Um das Anwesen herum erhoben sich ein paar kleine Hügel, die ein wenig zu akkurat platziert wirkten, um natürlich entstanden zu sein, und irgendwo in der Ferne ließ sich die Silhouette einer Kapelle erahnen, genau wie auf den Fotos. Ganz in der Nähe ragte etwas aus den Schatten hervor, das Richard an eine Art halb zerfallenen Schuppen erinnerte. So großräumig wie Townsends Werkstatt wirkte er allerdings nicht, war vermutlich eher für die Lagerung von Werkzeugen bestimmt gewesen. Sam schien der Schuppen ebenfalls zu interessieren, denn er hatte sich bereits auf den Weg dorthin begeben, als Megans Stimme erneut durch die Kälte schnitt.
  »Damit können wir uns später befassen, lass uns doch erst mal gucken, ob wir hier vorne irgendwie reinkommen!« Die Ungeduld in ihren Worten war nicht zu überhören, doch Richard musste zugeben, dass sie nicht ganz unrecht hatte. Auch ihn juckte es in den Fingern, sich das Hauptgebäude genauer anzusehen, selbst wenn es ihm gleichzeitig ein wenig davor graute.
  Sam schien noch einen Moment lang zu zögern, die Augen weiterhin argwöhnisch auf den Schuppen gerichtet, doch letztendlich machte auch er kehrt und folgte seinen beiden Kollegen zur Eingangstür. Irgendwie fühlte sich Richard von den schweren, dunklen Holzflügeln ein wenig an die Friedhofskirche von Holden Creek erinnert … und sonderlich beruhigend fand er diese Tatsache nicht.
  »Wisst ihr, was ich merkwürdig finde?«, begann Megan, als sie wieder beieinanderstanden, und fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Türrahmen. »Dass hier nirgendwo Graffiti, weggeworfene Glasflaschen oder sonstiger Müll zu sehen sind. Normalerweise sind solche alten, verlassenen Gebäude doch voll von so was.«
  »Das Waisenhaus ist hier oben schon ziemlich gut versteckt«, versuchte Richard es mit einer Erklärung, doch Megan zog lediglich eine Grimasse.
  »Ja klar, nachts im Dunkeln vielleicht! Aber diese Wälder sind weder privat, noch unbegehbar. Ihr könnt mir doch nicht erzählen, dass sich in dreißig Jahren keine einzige Menschenseele hierher verirrt hat! Gerade Teenager, die ein ungestörtes Plätzchen zum Kiffen suchen, haben für solche Geheimverstecke ein Näschen. Glaubt mir, ich weiß genau, wovon ich rede.«
  »Mich würde es nicht überraschen, wenn die meisten Leute bereits von der Umgebung abgeschreckt wären.« Obwohl Sams Gesicht im Schein der Taschenlampe geradezu gespenstisch blass wirkte, konnte Richard an seinem Stirnrunzeln erkennen, dass er sich mit dieser Vermutung nicht bloß auf die drohende Einsturzgefahr bezog. Es war … unangenehm hier. Selbst wenn man die Vorgeschichte nicht kannte. Irgendetwas an diesem Ort schrie ihn geradezu an, so schnell wie möglich die Beine in die Hand zu nehmen und wieder zu verschwinden … und Richard war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte, dass es anscheinend nicht nur ihm so ging.
  Wie sich bald herausstellte, war auch diese Tür nicht verschlossen und ließ sich im Gegenteil sogar erstaunlich leicht aufdrücken. Das Erste, was sie erkennen konnten, war eine Treppe, die aufwärts ins Ungewisse führte. Die Eingangshalle des alten Herrenhauses war über und über mit Staub, Spinnweben und herabgefallenem Schutt bedeckt, der sich wie ein Teppich über das Parkett erstreckte. Auch das wenige zurückgelassene Mobiliar bestand fast ausschließlich aus Holz; bleich angelaufen und morsch wie eine alte Sumpfhütte verströmte es einen unangenehm modrigen Duft, der ihm am ganzen Körper eine Gänsehaut bereitete. Durch Verfall und mangelnde Isolierung hatte auch die Witterung ihren Weg in das alte Gemäuer gefunden, und Richard konnte nicht anders, als instinktiv den Atem anzuhalten. Die faulen Ausdünstungen hatten die Kopfschmerzen, die er bisher eisern an den Rand seines Bewusstseins zu drängen versucht hatte, erneut in seinen Fokus gerückt, und dafür gesorgt, dass sie nun mit aller Gewalt von innen gegen seine Schläfen hämmerten. Wenn sie in dieser verfluchten Bruchbude nicht erfroren oder unter irgendwelchen Trümmern begraben wurden, dann würden ihn wahrscheinlich seine Migränesymptome frühzeitig ins Grab bringen …
  »Scheiße. Hier sieht’s ja aus wie im Film!« Obwohl Megans Stimme vor Sarkasmus nur so zu triefen schien, schwang dieses Mal auch eine Spur Anerkennung, wenn nicht sogar Ehrfurcht darin mit. Und sie hatte recht. Je weiter ihre Taschenlampen die Eingangshalle erforschten, desto eindrucksvoller wirkte sie. Früher musste dieser Ort einmal wunderschön ausgesehen haben. »Jetzt fehlt zur Vollendung des Klischees eigentlich nur noch, dass die Tür hinter uns zu-«
  Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte sowohl das Fundament, als auch ihre Knochen, als hätte jemand direkt hinter ihnen eine Kanone abgefeuert. Richard sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und seine Finger schlossen sich wie automatisch um Sams Oberarm.
  »-schlägt«, keuchte Megan ihren Satz zu Ende und fuhr sich angespannt mit dem Ärmel über die Stirn. »Wow. Falls das gerade Gottes Werk gewesen sein sollte, ist der Typ wirklich ein begnadeter Komiker.«
  Richard konnte das Schmunzeln auf den Lippen seines Kollegen gerade noch so aus dem Augenwinkel erkennen, bevor er sich mit einem demonstrativen Räuspern wieder von ihm löste und den Kragen seines Mantels nach oben schlug. Na gut, bei dem Wind, der draußen wehte, hätten sie auch damit rechnen müssen. Jetzt würde ihnen der zumindest nicht mehr ganz so energisch um die Ohren brausen.
  »Damit wäre immerhin für die richtige Stimmung gesorgt«, erlaubte sich nun sogar Sam zu scherzen, und Megan stieg natürlich sofort in seinen Spott mit ein.
  »Pass auf, gleich stimmen sie die obligatorische Orgelsinfonie an und dann fängt’s garantiert auch noch an zu gewittern!«
  »Beschwör es nicht herauf …«
  »Wir sollten hier drinnen vorsichtig sein«, bemühte Richard sich wieder zum Thema zurückzukommen. »Erstens wissen wir nicht, wie stabil diese Ruine ist, theoretisch könnte das ganze Konstrukt jeden Moment in sich zusammenstürzen, und zweitens besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass wir hier nicht allein sind.«
  Megan grinste ihn herausfordernd an. »Sag bloß, du hast Angst vor Geistern.«
  »Du weißt ganz genau, was ich meine. Wenn schon jemand vor uns dagewesen ist, dann könnte es gut sein, dass derjenige noch einmal zurückkehrt. Oder wer weiß, vielleicht hat er das Anwesen auch nie ver-«
  »Psst!« Ein scharfes Zischen brachte die beiden augenblicklich zum Schweigen und sorgte dafür, dass sie sich irritiert zu ihrem Kollegen umwandten. Dieser hatte einen Finger auf die Lippen gelegt und den Kopf in Richtung Treppe erhoben, wie ein Bluthund, der gerade die Fährte eines Fuchses aufgenommen hatte. »Habt ihr das gehört?«
  »Was gehört? Die Geister?«
  »Da oben ist doch gerade irgendetwas gewesen. Ein Knarzen, als würde jemand über die Dielen schleichen …«
  Megan stieß ein Seufzen aus und verdrehte genervt die Augen. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, da draußen herrscht gerade ein absolutes Scheißwetter. Natürlich wackelt da hin und wieder mal die Bude! Ich geb’s ja nur ungern zu, aber ich fürchte, Dick hat recht: wenn wir nicht aufpassen, wo wir hintreten, dann könnte uns hier im wahrsten Sinne des Wortes die Decke auf den Kopf fallen.«
  Sam schien mit dieser Antwort nicht wirklich zufrieden zu sein. Seine Augen blieben unbeirrt auf dem oberen Treppenabsatz fixiert und die Falte zwischen seinen Brauen wurde immer tiefer, je länger Richard sie anstarrte, doch er sagte nichts.
  »Das wird jetzt wahrscheinlich richtig bescheuert klingen, aber …«, begann Megan nach einer Weile zögerlich und wandte sich zu ihren beiden Partnern um. »Ich denke, wir sollten uns aufteilen?« Sie verzog das Gesicht, als wäre sie soeben barfuss auf eine Nacktschnecke getreten. »Scheiße, dieses Haus muss echt verhext sein. So langsam fühl ich mich hier wie der Hauptcharakter in einem Horrorfilm!« Eine flüchtige Kopfbewegung nach rechts, wo ihnen ein von oben bis unten mit dunklem Holz vertäfelter Flur entgegengähnte wie ein riesiger, schwarzer Schlund. »Ich nehm den da.«
  »Gut, dann werde ich mich mal oben umsehen«, entschied Sam daraufhin und setzte den ersten Fuß auf die Stufe, was dieser ein gequältes Aufstöhnen entlockte. Augenscheinlich ließ er sich von dem Klang jedoch nicht im Geringsten beeindrucken.
  Richard wollte irgendetwas sagen, den beiden viel Glück wünschen und sie daran erinnern, vorsichtig zu sein, doch die Worte blieben ihm buchstäblich in der Kehle stecken und auch seine Glieder wollten sich keinen Zentimeter mehr rühren. Die Taschenlampen der anderen entfernten sich immer weiter und ließen Richard schließlich vollkommen allein in der alles erstickenden Schwärze der Eingangshalle zurück. Sein eigener Herzschlag hallte unheilvoll von den Mauern wider und pulsierte hinter seinen Augen wie ein Presslufthammer. Er könnte ja in der Zwischenzeit … den linken Flur erkunden. Ja, das wäre mit Sicherheit eine gute Idee. Besser als tatenlos hier herumzulungern war es allemal. Jetzt musste er es nur noch irgendwie schaffen, sich von der Stelle zu bewegen … und das konnte ja wohl nicht so schwer sein, oder?


  Richard hatte kaum zehn Schritte in den Flur hineingewagt, als das Pochen hinter seiner Stirn so unerträglich wurde, dass er die Zähne zusammenbeißen und sich für einen Moment an die Wand lehnen musste. Er hatte das Gefühl, als würden sich glühende Nägel durch seine Schädeldecke bohren, seine Knie zitterten so stark, dass er sich kaum aufrecht halten konnte, und der gesamte Raum schien sich wie ein Karussell zu drehen. Eine kleine, wehleidige Stimme irgendwo in der hintersten Ecke seines Bewusstseins bettelte förmlich darum, einfach nachhause gehen und sich für den Rest des Jahres unter der Bettdecke verkriechen zu dürfen, doch das war natürlich keine Option. Richard hatte den Auftrag angenommen und jetzt musste er ihn auch zu Ende führen, ob es ihm nun Spaß machte oder nicht. Es fühlte sich beinahe so an, als würde sein Körper dagegen rebellieren, von Sam und Megan getrennt zu sein, denn je weiter er sich von ihnen entfernte, desto schlimmer wurde es, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er musste Sawyers Vergangenheit aufdecken. Er musste Antworten finden!
  Richard schloss die Augen, atmete ein paarmal tief durch, und zählte langsam in seinem Kopf bis zehn. Eigentlich war es überhaupt kein Wunder, dass er sich so elend fühlte. Kopfschmerzen hatte er bereits seit heute Morgen gehabt, der Tag war ziemlich stressig gewesen, und die Luft in dieser alten Ruine war eine einzige Katastrophe. Aber sie hatten es fast geschafft. Heute Nacht würde er schlafen wie ein Stein und morgen würden sie der ganzen Sache endlich auf den Grund gehen. Das war er den anderen schuldig. Alles andere war egal …
  Letztendlich konnte Richard seinen Körper dazu überreden, die Kopfschmerzen erneut beiseitezuschieben und weiterzugehen. Er rüttelte an jeder Klinke, die ihm auf dem Flur begegnete, doch die meisten Türen waren entweder abgeschlossen oder wurden von der anderen Seite blockiert. Und die wenigen Zimmer, die sich öffnen ließen, boten leider auch nicht viel Interessantes.
  Was Richard jedoch bereits auf den Gängen stutzig machte, war die Tatsache, dass hier jegliche Spuren eines Brandes zu fehlen schienen. Keine Rußflecken an den Wänden, keine geschwärzten Decken, keine verkohlten Möbel. Von den irreparablen Schäden, die Schwester Carroll in dem Zeitungsartikel erwähnt hatte, war jedenfalls nichts zu sehen – wenn man von dem Verwesungsprozess, der hier in den letzten Jahren stattgefunden hatte, einmal absah. Natürlich könnte sich der größte Schaden auch in einem anderen Teil des Gebäudes befinden oder durch den vielen Schimmel nicht mehr so gut zu erkennen sein, aber Richard kam das Ganze trotzdem ein wenig merkwürdig vor. Es konnte doch nicht sein, dass das noch niemandem aufgefallen war. Und warum sollte überhaupt jemand über so etwas lügen?
  Als Richard zwischen den Deckenbalken ein Knarzen hörte, hob er reflexartig den Kopf, kam jedoch rasch zu dem Schluss, dass Sam sich über ihm befinden musste, und als er den Strahl seiner Taschenlampe wieder geradeaus richtete, fand er sich auf einmal in einem völlig neuen Raum wieder.
  An den Wänden standen zwei kleine, hölzerne Bettgestelle und eine Wiege. Die Seiten waren mit kunstvoll geschnitzten Wellenmustern verziert worden, während der Schleier, der das Kind wohl vor allzu grellem Licht hatte schützen sollen, nun als zerfetzter Lumpen von der Stange herunterhing. Es gab eine Kommode, einen Wickeltisch und sogar einen Schaukelstuhl, der in der kühlen Brise, die Richard aus dem Flur mitgebracht hatte, träge auf und ab wippte. Als wäre dieses ganze Anwesen nicht bereits unheimlich genug …
  Dies musste die Kinderstube gewesen sein; ein Zimmer für die kleinsten Bewohner des Heims, um die man sich auch während der Nacht regelmäßig hatte kümmern müssen. Richard konnte die schwarz gekleidete Ordensschwester mit dem Säugling auf dem Arm beinahe vor sich sehen, ein gütiges Lächeln auf den Lippen, während sie ihm beim Schaukeln vorlas oder ihn mit der Flasche fütterte. Die hölzernen Mobiles, die überall von der Decke baumelten, waren ebenfalls von der Brise erfasst worden und klimperten nun leise vor sich hin. Sonne, Mond und Sterne tanzten über dem bleichen Gerippe der Kinderbettchen, deren ursprüngliche Farben sich nach all den Jahren kaum noch erahnen ließen.
  Es fühlte sich irgendwie falsch an, ein Kinderzimmer in einem solchen Zustand zu sehen; verrottet, vergessen und in tiefe, eisige Dunkelheit getaucht. Die Kinder, die ihre Jugend hier verbracht hatten, dürften inzwischen in Richards Alter sein. Ob sie sich noch an die Tapete erinnern konnten? An die Figuren, die über ihren Betten gebaumelt und sie jede Nacht ins Land der Träume begleitet hatten? An die Stimmen der Frauen, die sie beruhigt, getröstet und ihnen vorgesungen hatten?
  Richards altes Kinderzimmer hatten seine Eltern kurz nach seinem Auszug in ein Gästezimmer umgewandelt, die hellblaue Streifentapete durch weiße Wandfarbe ersetzt, die Hockeyposter durch biedere Aquarelle, und den mit Hunderten von Sammelstickern beklebten Kleiderschrank durch eine Kommode, in der frische Bettbezüge und Ersatzdecken gelagert wurden. Bis heute konnte er nicht genau sagen, ob ihre Bereitwilligkeit, seine Kindheitserinnerungen so einfach zusammenzuräumen und auf den Dachboden zu verbannen, ihn tatsächlich verletzt hatte oder nicht. Der warme Schein der Nostalgie konnte trügen, das wusste er mittlerweile nur allzu gut. Bis sie Sophies Zimmer angefasst hatten, waren immerhin Jahre vergangen …
  Erst als er die Hände in seinen Manteltaschen zu Fäusten ballte, wurde Richard bewusst, wie sehr seine Finger inzwischen schmerzten. Auch das Pochen hinter seiner Stirn versuchte sich allmählich wieder zurück in sein Bewusstsein zu drängen, doch statt zu lamentieren, biss er abermals die Zähne zusammen und trat näher an die Wiege heran. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Zwischen den ausgeblichenen Mustern der altbackenen Blumentapete waren so etwas wie … Risse zu erkennen. Bruchstellen. Als hätte jemand im Zuge eines unkontrollierten Wutanfalls dagegengeschlagen. Richard runzelte die Stirn und positionierte seine Taschenlampe so, dass er einen besseren Blick auf die Stelle bekam. Dort an der Wand waren ganz klar Flecken zu erkennen … Ruß vielleicht? Nein, die Farbe stimmte nicht. Und ein Wasserschaden sah auch anders aus. Das war …
  Richard konnte spüren, wie ihm buchstäblich das Herz in den Magen sank und die Übelkeit erneut in seiner Kehle aufzubrodeln begann.
  Wieso um alles in der Welt klebte im Kleinkindzimmer Blut an der Wand?!
  Einer Ahnung folgend, die ihm selbst nicht ganz geheuer war, hastete Richard zur Tür zurück und suchte mit der Taschenlampe den Rahmen ab. Dunkle Stellen. Er stürmte hinaus auf den Flur. Dieselben dunklen Stellen auf dem Parkett. Fußabdrücke, die tief in die Bodendielen eingezogen waren. Und sie führten in Richtung Eingangshalle … Richard wurde augenblicklich schlecht, doch diesmal hatte das nichts mit seinen Migränesymptomen zu tun. Irgendetwas Furchtbares war hier geschehen, aber so langsam begann er ernsthaft daran zu zweifeln, dass tatsächlich ein Feuer daran schuld gewesen war …



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Samstag, 10. November 2001  •  20.23 Uhr


Kaum war Sam an der Spitze der Treppe angelangt, begann er seine Entscheidung, den ersten Stock zu übernehmen, auch schon wieder zu hinterfragen. Jeder Schritt kam hier oben einem Drahtseilakt gleich. Sam hatte überhaupt keine Gelegenheit, sich die Galerie genauer anzusehen, er musste den Taschenlampenstrahl konsequent vor sich auf den Boden richten, um auch ja nicht aus Versehen danebenzutreten. Nur leider ließ sich der Zustand der Dielenbretter nicht immer auf den ersten Blick erkennen … ein wenig erinnerte ihn das ganze Spiel daran, wie er früher gemeinsam mit Jonah die Eisdecke auf dem See ausgetestet hatte. Wenn ihnen die Kieselsteine ausgegangen waren, hatte sein Bruder stattdessen ihn vorgeschickt, und eine derart große Verantwortung hatte Sam natürlich nicht einfach zurückweisen können. Einmal wäre er sogar beinahe ertrunken, wäre Onkel Burt nicht zufälligerweise zur Stelle gewesen, um ihn wieder an Land zu ziehen … bei dem Gedanken konnte Sam ein Seufzen nicht unterdrücken. Wahrscheinlich würde er es nie lernen.
  Und dieses Mal war Jonah auch nicht da, um ihn vom Ufer aus anzufeuern.
  Ein anderes Problem, welches beim Erforschen des Anwesens Sams ungeteilte Aufmerksamkeit forderte, war die Luft. Zwar war es hier längst nicht so heiß und stickig wie in Sawyers Hütte, doch das Gegenteil kam ihm auch nicht unbedingt gesundheitsfördernd vor. Sam konnte geradezu spüren, wie sich die Pilzsporen ihren Weg durch seine Atemwege bahnten, da half es auch nichts, sich den Schal um die untere Gesichtshälfte zu wickeln. Es fühlte sich an, als würde er langsam ersticken, ohne es richtig zu bemerken, mit nichts weiter als einer vagen Vorahnung im Hinterkopf. Und als wäre das alles nicht bereits anstrengend genug, erinnerte ihn auch jeder noch so kleine Schatten, der im Schein der Taschenlampe durch den Flur huschte, an Ryuzakis Gestalt. Zumindest würde der Kerl mit seinen stechenden, schwarzen Augen und seinem schleichenden Gang hier wunderbar in die Kulisse passen. Nicht, dass er ihn mit all diesen Fantasien noch aus Versehen heraufbeschwor …
  So langsam begann Sams delikate psychische Verfassung ihm selbst auf die Nerven zu gehen. Es konnte doch wohl nicht so schwer sein, sich an diesem Tag noch ein allerletztes Mal zusammenzureißen! Ruhig bleiben, Wollfusseln einatmen, nicht an Ryuzaki denken. Sam war nur hier, um Hinweise zu sammeln, alles andere hatte ihn nicht zu interessieren, ganz egal, wie beklemmend dieses alte, verlassene Waisenhaus mit seinen knirschenden Dielenbrettern und klappernden Fensterläden auch sein mochte. Er konnte atmen, es gab nichts, was ihn davon abhielt; weder eine Hand über seinem Mund, noch ein Messer an seiner Kehle. Ein- und wieder ausatmen. Ganz langsam, kein Grund zur Panik. Verflucht noch mal, warum musste dieses dumme Haus auch so unerträglich laut sein?! Die Bretter unter seinen Füßen schienen allmählich ein Eigenleben zu entwickeln, stöhnten und ächzten unter Todesqualen, kaum dass er sie berührte, über ihm knarzten die Balken, der Wind keifte und die Dachpfannen klapperten Beifall. Sam konnte ja kaum seine eigenen Gedanken hören! Hatten Richard und Megan wirklich nichts davon mitbekommen? Das konnte er sich kaum vorstellen.
  Sam widerstand dem Drang, sich die Hände auf die Ohren zu pressen, auch wenn es im Augenblick kaum etwas gab, was er lieber tun würde. Mit der Zeit wurde es immer schwieriger, all die wild durcheinander dröhnenden Geräusche um ihn herum zu ordnen. Zwischen das Quietschen der Türscharniere schienen sich nach einer Weile ganz und gar menschliche Schmerzenslaute zu mischen, das Heulen des Windes glich dem Weinen eines Mädchens, und das Pfeifen am Ende des Flures einem schelmischen Kichern. Die tollsten Streiche spielte einem der Verstand nämlich erst dann, wenn man ohnehin mit den Nerven am Ende war … und dieser einzelne, durchdringende Ton wollte Sam einfach nicht aus dem Kopf gehen. Es war ein klarer, melodischer Ton, selbstbewusst und wohlüberlegt, kein zufälliges Knirschen oder Knarzen, das durch jahrelange Einsamkeit aus den Stützpfeilern dieses Gebäudes hervorgequält wurde.
  Es war ein C.
  Ein tiefes, emphatisches C, die erste weiße Taste auf der Klaviatur.
  Sam hatte gar keine andere Wahl, als dem Klang zu folgen. Wie automatisch trugen seine Füße ihn in das Zimmer mit dem abgebrochenen Türflügel und den vibrierenden Fenstern, auf denen die Zweige von außen einen sich stetig verändernden Rhythmus klopften, wie um das monotone Stück zu untermalen. Völlig einsam und verlassen stand das Piano in der Mitte des Zimmers, als hätte es dort all die Jahre über auf ihn gewartet. Und bevor Sam so richtig darüber nachdenken konnte, war er auch schon auf das Instrument zugetreten, den Arm vorsichtig ausgestreckt und die Taste mit seinem Finger liebkosend wie einen lang vermissten Liebhaber.
  Kein Ton war zu hören.
  Natürlich nicht.
  Wie lange hatte sich schon niemand mehr um dieses Klavier gekümmert? Sein Innenleben musste völlig marode sein, die Hämmer verfault und die Saiten zerschlissen wie altes Garn. Es versetzte Sam einen Stich, wie etwas, dessen Wartung so viel Hingabe und Vorsicht bedurfte, derart in Vergessenheit geriet. Selbst wenn dabei kein lebendes Wesen zu Schaden gekommen war, konnte er nicht anders, als der Entscheidung, das Piano hier zurückzulassen, eine gewisse Grausamkeit zuzuschreiben. Wer um alles in der Welt würde denn so etwas tun?
  Sam drückte die Taste erneut, wie um zu prüfen, ob sie vielleicht bloß ihren Einsatz verpasst hatte, und auch diesmal war nichts zu hören. Aber woher war dann vorhin dieser Ton gekommen?
  Aus seinen eigenen Gedanken, wurde ihm schlagartig bewusst. So wie vermutlich die Hälfte der Geräusche, die er bis gerade eben zu vernehmen geglaubt hatte. Es war verflucht einfach, sich irgendwelche Klaviermusik einzubilden, wenn man schon so lange auf den Beinen war. Und es hatte auch keinen Sinn, sich länger in diesem Raum aufzuhalten. Sam machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Musikzimmer so rasch, wie er gekommen war, den restlichen Lärm, sein klopfendes Herz, und das unaufhörliche Stechen in seinem Rachen konsequent ignorierend. Er setzte entschieden einen Fuß vor den anderen, bis er schließlich am Ende des Ganges angekommen war, und blieb erst stehen, als er auch die letzte Tür aufgestoßen hatte.
  Sie war nicht verschlossen.
  Der Raum war größer und schmaler als das Musikzimmer. Links und rechts von ihm reihten sich gut ein Dutzend Bettgestelle auf, und Sam kam nicht umhin, bei diesem Anblick an die Ferienlager aus seiner Kindheit zurückzudenken. Eine bittersüße Erinnerung regte sich in seiner Brust, von lauen Sommerabenden, gerösteten Marshmallows und Mückenstichen, aber auch von Pulsrasen, Dreck zwischen seinen Zähnen und hämischem Gekreische, dessen genauen Inhalt er sich lieber nicht ins Gedächtnis zurückrufen wollte. Tatsächlich hatten die alten, angelaufenen Holzgestelle, von denen nur noch die wenigsten mit einer Matratze versehen waren, auch etwas unbestreitbar Beklemmendes an sich. Etwas Militärisches. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass einige der Heimbewohner hier ihre gesamte Kindheit verbracht hatten. Auch Sam hatte sich zwar lange ein Zimmer mit seinem Bruder geteilt, aber jede Nacht mit zehn Mann auf einem Haufen zu schlafen, klang nach der reinsten Folter. Auf diesen Aspekt hätte er auch während seiner FBI-Ausbildung gut verzichten können …
  Sam fühlte sich beinahe selbst wie eine Gouvernante, während er mit durchgedrückter Wirbelsäule durch die Reihen schritt und seine Blicke aufmerksam über die leeren Betten schweifen ließ. Welche Uhrzeit mochte eine Ordensschwester in den Sechzigerjahren wohl für angemessen gehalten haben, um ein Dutzend Kinder aus den Federn zu zitieren? Manche Fragen blieben wohl besser unbeantwortet.
  Der Profiler war bereits im Begriff, sich wieder umzudrehen, als ihm in der hintersten Ecke des Schlafsaals ein Bettpfosten auffiel, auf dem sich ein paar Kratzer befanden. Und als er mit seiner Taschenlampe näher heranging, konnte er auch erkennen, dass es sich dabei um Worte handelte. Unweigerlich musste er schmunzeln. Ganz egal, zu welcher Zeit man jung gewesen war, manche Dinge blieben wohl immer gleich.
  ›Das unbequemste Bett in ganz Holden Creek gehört: …‹ war in das Holz geritzt worden, dicht gefolgt von einer Reihe Namen, deren Besitzer einst die zweifelhafte Ehre genossen hatten, hier die Nacht zu verbringen. Der Lattenrost sah enorm ramponiert aus, etliche Sprossen waren durchgebrochen oder fehlten komplett, und irgendetwas sagte Sam, dass diese Mängel auch nicht erst nach der Schließung des Heims aufgetreten waren. Timothy, Clarence, Christopher, James … so wie es aussah, war er hier wohl im Jungenschlafsaal gelandet. Einer der Namen ließ Sam jedoch innehalten und noch einmal genauer hinsehen.
  Harrison.
  Das … das musste ein Zufall sein. Es gab tausende Männer in den Vereinigten Staaten, die abgesehen von Doktor Munroe diesen Namen trugen, vermutlich hatte das überhaupt nichts zu bedeuten. Andererseits käme ihnen diese Verbindung wirklich erstaunlich gelegen … zu gelegen, um den anderen nicht zumindest davon zu erzählen. Die Welt mochte zwar groß sein, aber Holden Creek war klein.
  Bevor Sam jedoch länger darüber nachdenken konnte, sorgte ein plötzliches Poltern in seinem Rücken dafür, dass er sich umwandte und den Strahl seiner Taschenlampe wie eine Waffe durch den Raum schwenkte.
  Die Tür des Schlafsaals war ganz von allein ins Schloss gefallen.
  Sam spannte die Schultern an und atmete zitternd aus. Bei diesem Wetter war das nun wirklich kein Wunder. Er stand auf, klopfte sich etwas Staub von den Oberschenkeln, und schritt zurück zur Tür. Der Gedanke, hier oben eingesperrt zu sein, selbst wenn er im Prinzip nur die Klinke herunterdrücken musste, behagte ihm nicht. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand einen potenziellen Fluchtweg abschneiden wollen und die Atmosphäre in diesem alten Gemäuer war auch so schon beklemmend genug. Hier lag doch mit Sicherheit irgendwo ein Stück Schutt herum, das er als Türstopper verwenden konnte …
  Kaum hatte Sam die Tür erneut geöffnet, blies ihm ein frostiger Windhauch entgegen, der seine Vermutung bestätigte, als er mit einem Mal einen Schatten in seinem Augenwinkel vorbeihuschen sah. Sein Herz machte einen derartigen Satz in seiner Brust, dass ihm der Atem wegblieb und er nicht anders konnte, als wie gelähmt in das schwarze Loch am Ende des Ganges zu starren, bevor er endlich auf die Idee kam, mit seiner Taschenlampe in den Flur zu leuchten. Natürlich war dort nichts zu sehen. Die Dunkelheit hatte ihm lediglich einen Streich gespielt, die Tür hinter ihm zugeknallt und war anschließend kichernd davongelaufen. Die Schatten waren überall, genauso wie die Stimmen in den Wänden. Kein Ryuzaki weit und breit. Keine Geister. Seine Fantasie begann allmählich mit ihm durchzugehen, nichts weiter.
  »Sehr witzig, Megan.« Eigentlich hatte Sam gehofft, dass er sich ein wenig besser fühlen würde, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, doch genau das Gegenteil traf ein. Und eine Antwort bekam er natürlich auch nicht. Seine Stimme hallte erschreckend laut von den Mauern des Anwesens wider und ließ ihn unweigerlich frösteln. Sie klang kaum noch wie seine eigene … so heiser und verunsichert, ja beinahe ängstlich, dass er bereits die Scham auf seinen Wangen brennen spüren konnte, obwohl ihn mit Sicherheit niemand gehört hatte. Sam biss sich auf die Unterlippe und wandte sich wieder dem Flur zu.
  Dies war der Moment, in dem er die Gestalt am Treppengeländer stehen sah.
  Ein Blinzeln.
  Nein … der Stuhl. Ein Stuhl, der auf den ersten Blick wie eine kleine, schmächtige Person ausgesehen hatte, die ihren Arm in Richtung Eingangshalle ausstreckte. Sam presste sich zähneknirschend den Handballen gegen die Stirn, als könnte er seine Wahrnehmung auf diese Weise wieder ein wenig auf Touren bringen. Schon wieder begann die Kontrolle über seine Atemfrequenz ihm zu entgleiten und sein Puls beschleunigte sich, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Hatte dieser Stuhl schon vorher da gestanden? Natürlich hatte er das. Wer sollte ihn in der Zwischenzeit auch dorthin gestellt haben? Er sah und hörte Gespenster und das ging ihm verflucht noch mal auf die Nerven! Zumindest hatte der ohrenbetäubende Lärm mittlerweile aufgehört. Jetzt war es nahezu totenstill im Haus und Sams eigener Atem klang in seinen Ohren wie Radiorauschen. Er musste hier raus … und zwar so schnell wie möglich. Für heute hatte er wirklich genug von diesem grauenvollen Wald.



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Samstag, 10. November 2001  •  20.40 Uhr


Das Büro der Heimleiterin zu durchsuchen schien Megan für den Anfang eine gute Idee zu sein. Und im Gegensatz zu den meisten anderen begehbaren Zimmern hier sah dieses sogar noch verhältnismäßig unversehrt aus. Ein schwerer, klobiger Schreibtisch aus Eichenholz stand in der Mitte des Raumes, während sich ringsherum Bücherregale und rostige Aktenschränke aneinanderreihten. Hinter dem bis zur Unkenntlichkeit zerschlissenen Chefsessel hing ein riesiges, hölzernes Kruzifix an der Wand. Das Ding besaß beinahe Lebensgröße und der daran festgenagelte Jesus war so detailliert aus dem Block geschnitzt worden, dass es ihr regelrecht unangenehm war, ihn länger als nötig zu betrachten. Das wurmstichige Gesicht des Kerls war zu einer gequälten Fratze verzogen, der Mund zu einem Todesschrei geöffnet, und die angelaufenen Stellen an Armen und Beinen erinnerten Megan viel zu sehr an das faulig-aufgedunsene Fleisch einer Wasserleiche. Sonderlich behütet oder von ihren Sünden freigesprochen fühlte sie sich mit dieser Horrorfigur im Rücken jedenfalls nicht.
  Abgesehen davon hatte sie allerdings kaum Gelegenheit, sich zu gruseln oder der immer unerträglicher werdenden Kälte in ihren Gliedern Beachtung zu schenken. Megan hatte eine Mission zu erfüllen. Und die Schreibtischschubladen ließen sich zum Glück ganz einfach mit ein paar zurechtgebogenen Haarnadeln knacken. Je weiter sie sich durch die alten, halb zerbröselten Akten wühlte, desto mehr schien ihr Puls sich zu beschleunigen. Nach der Sache mit Sawyers geheimer Falltür hatte Megan Blut geleckt und würde nicht eher ruhen, bis sie etwas gefunden hatte, was all diese Todesfälle auf sinnvolle Art und Weise miteinander verknüpfte. Und wenn sie dafür die ganze Nacht in dieser Bruchbude verbringen musste! Die Wahrheit war zum Greifen nah – das spürte sie einfach!
  Was sie außerdem spürte, waren die winzigen Beinchen eines Tausendfüßlers, der beim Herumkramen über ihren Handrücken krabbelte. Megan stieß einen kurzen, erschrockenen Schrei aus, schüttelte das Insekt von sich, und wischte sich umgehend an ihrer Jacke die Finger ab. Von so einem blöden Mistvieh würde sie sich garantiert nicht aus der Bahn werfen lassen! Nur leider waren die meisten Dokumente, die sie bisher aus den Tiefen des Schreibtisches hatte bergen können, entweder verblichen, hatten einen Wasserschaden, oder waren anderweitig unlesbar geworden. Dass man den ganzen Papierkram überhaupt hier zurückgelassen hatte …
  Neben einem erstaunlich gut erhaltenen Rosenkranz auf dem Grund der untersten Schublade entdeckte Megan letztendlich doch einen halbwegs brauchbar aussehenden Hinweis: ein Foto. Wieder einmal. Das schien langsam zur Gewohnheit zu werden. Es war ordentlich gerahmt worden und hatte augenscheinlich kaum etwas von der ganzen Feuchtigkeit abbekommen, zumindest konnte man die Personen darauf noch einigermaßen gut erkennen. Megan wischte mit ihrem Jackenärmel die gröbsten Schmutzreste vom Glas und betrachtete das Bild etwas genauer.
  Drei schwarz verschleierte Nonnen, ein Mann, und – Megan zählte nach – zweiundzwanzig Kinder unterschiedlichen Alters hatten sich unter der Buche auf dem Hof für ein Gruppenfoto zusammengefunden. Von pausbäckigen Babys mit zusammengekniffenen Augen, die von den Schwestern im Arm gehalten wurden, bis hin zu schlaksigen Vorpubertierenden war so ziemlich alles dabei. Auf die Rückseite des Rahmens hatte jemand das Datum ›März 1969‹ geschrieben. Dasselbe Jahr, in dem das Feuer ausgebrochen und das Heim endgültig geschlossen worden war. Megan runzelte argwöhnisch die Stirn. Bei dem Mann handelte es sich offensichtlich um den jungen Dale Sawyer, die hellblonde Tolle würde sie überall wiedererkennen, doch die restlichen Personen kamen ihr nicht bekannt vor. Was logisch war, schließlich konnten dreißig Jahre einen ganz schön verändern, und das nicht nur äußerlich …
  Megan bekam jedoch keine Gelegenheit, das Foto länger zu studieren, denn in diesem Moment drangen plötzlich Schritte an ihre Ohren und als sie aufblickte, konnte sie Richard und Sam vor sich im Türrahmen stehen sehen. Heilige Scheiße, die beiden sahen … absolut furchtbar aus. Mit hängenden Schultern, fettigen Haaren und Augenringen, die sie wie zwei Skelettfratzen aussehen ließen, schleppten die Männer sich ins Büro und nicht einmal Megan konnte sich bei diesem jämmerlichen Anblick dazu durchringen, ihnen einen zynischen Kommentar an den Kopf zu werfen.
  »Was für ’ne Laus ist euch denn über die Leber gelaufen?«, fragte sie mit all dem Mitgefühl, das eine Megan Newman aufbringen konnte, und zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. »Ihr seht aus, als hätten euch schon mindestens fünfzig Geister heimgesucht.«
  »Hast du irgendetwas finden können?«, ignorierte Sam ihre Worte und trat näher an den Schreibtisch heran. Megan rümpfte beleidigt die Nase, hatte im Augenblick jedoch wenig Lust, sich mit ihrem Lieblingskollegen anzulegen, und reichte ihm stattdessen bloß wortlos das Foto.
  »Wir sollten morgen mal schauen, ob wir mehr über diese Nonnen in Erfahrung bringen können«, schlug sie vor, während ihre Partner das Bild im Licht ihrer Taschenlampen betrachteten. »Eine davon ist ja angeblich bei dem Feuer ums Leben gekommen, aber vielleicht lassen sich Schwester Carroll und die andere ja noch irgendwo auftreiben. Wenn uns jemand sagen kann, was in diesem Waisenhaus passiert ist, dann die Pinguine. Denn ganz ehrlich, je länger ich mich hier umsehe, desto spanischer kommt mir dieser Zeitungsartikel vor …«
  »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, war es ausgerechnet Richard, der ihr zustimmte. »Ich war vorhin in der Kinderstube und da hat anscheinend irgendjemand Löcher in die Wand geschlagen. Ich bin mir nicht ganz sicher, vielleicht täusche ich mich auch, aber es hat ausgesehen, als wären dort … Blutflecken um die Bruchstellen herum verteilt gewesen.« Er schluckte. »Und nicht nur da. Sie waren am Türrahmen, auf dem Boden, überall, es hat … keine Ahnung.« Richards Stimme klang ungewöhnlich verloren und selbst Megan musste zugeben, dass ihr bei dieser Beschreibung ein wenig mulmig zumute wurde. »Hier ist definitiv etwas passiert, aber ich glaube nicht, dass es ein Brandunfall gewesen ist. Irgendetwas hat die Bewohner des Heims dazu getrieben, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden und alles stehen und liegen zu lassen …«
  »Irgendetwas, was den ganzen Aufwand dieser Vertuschung rechtfertigen würde«, beendete Megan seinen Gedanken. »Zumindest in den Augen der Verantwortlichen. Was könnte so furchtbar und unaussprechlich gewesen sein, dass man es aus dem historischen Bewusstsein einer kompletten Stadt auszulöschen versucht?«
  »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das hier relevant ist, aber …«, meldete sich jetzt auch Sam wieder zu Wort und Megan konnte nicht anders, als über seine Wortwahl die Augen zu verdrehen. »Ich habe oben ein Graffiti mit dem Namen Harrison gefunden. Höchstwahrscheinlich aus der Zeit, als das Heim noch bewohnt war. Natürlich könnte das auch bloß Zufall gewesen sein, aber … nur mal angenommen, rein theoretisch, es wäre tatsächlich Doktor Munroe gewesen, der sich damals auf diesem Bettpfosten verewigt hat. Der Mann war zum Zeitpunkt seines Todes fünfundvierzig Jahre alt. Das Heim ist 1969, also vor genau zweiunddreißig Jahren geschlossen worden. Da wäre Munroe dreizehn Jahre alt gewesen. Das würde hinkommen, oder?«
  Richard runzelte die Stirn. »Aber wir haben doch mit seiner Mutter gesprochen …«
  »Und Misses Atkins meinte, dass die überlebenden Kinder nach der Schließung auf andere Waisenhäuser und freiwillige Pflegefamilien verteilt worden sind«, erinnerte sich Megan. »Das wird jetzt vielleicht ein Schock für dich sein, mein lieber Dick, aber es ist durchaus schon vorgekommen, dass Waisenkinder im Laufe ihres Lebens adoptiert worden sind.« Auf einmal regte sich etwas in ihrem Gedächtnis und sie packte Richard so unvermittelt am Arm, dass dieser regelrecht zusammenzuckte. »Oh mein Gott. Erinnerst du dich noch an das Fotoalbum, das wir bei der Durchsuchung von Munroes Haus gefunden haben? Und wie seltsam wir es fanden, dass das älteste Bild darin von seinem vierzehnten Geburtstag stammte?« Jetzt schien auch ihr Partner langsam zu begreifen, worauf sie hinauswollte, und die plötzliche Erkenntnis in seinen Augen ließ Megans Herz im wahrsten Sinne des Wortes höher schlagen. »Wenn er erst mit dreizehn in diese Familie gekommen ist, dann würde auch das einen Sinn ergeben! Harrison Munroe ist im St. Albertine’s aufgewachsen!«
  »Das wäre eine mögliche Verbindung zwischen den Opfern«, gab Sam zu bedenken, auch wenn Megan das ›Aber‹ bereits deutlich aus seiner Stimme heraushören konnte. »Und dank Mister Larone wissen wir ja jetzt, dass auch Dana Griffith eine Waise war, aber zum St. Albertine’s hatte sie keinerlei Verbindung. Sie war damals noch nicht einmal geboren. Genauso wie Nicole Morrison …«
  »Hat die nicht mit fünf Jahren ihre Mutter verloren?« Megan erinnerte sich noch genau an den lodernden Hass in den Augen der jungen Frau, als sie es gewagt hatte, sie während des Verhörs darauf anzusprechen, um ihr ein Geständnis zu entlocken. Verlorene Liebesmüh, wie sie heute wusste. »Das bedeutet, Nicole ist den Großteil ihres Lebens über Halbwaise gewesen. Ist das nichts?« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Irgendwas?«
  Sam sah aus, als würde er etwas erwidern wollen, schien jedoch auch nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte, und zog stattdessen bloß eine unzufriedene Grimasse. Richard ließ seinen Blick indessen weiter über den Schreibtisch gleiten – heilige Scheiße, der Typ sah mittlerweile fast so zerwühlt aus wie dieser Ryuzaki –, bis seine müden Augen schließlich an dem Rosenkranz hängenblieben, den Megan vorhin aus einer der Schubladen gekramt hatte. Eine Weile lang starrte er das Ding einfach bloß an, als versuchte er, es zu hypnotisieren, bevor mit einem Mal eine solche Klarheit in seinen Augen aufblitzte, dass Megan kurz fürchtete, ihm hätte sich spontan der Sinn des Lebens erschlossen.
  »Die Rosenkränze«, murmelte er atemlos, oder zumindest waren das die einzigen Worte, die Megan verstehen konnte, der Rest seines fieberhaften Genuschels schien nicht für ihre Ohren bestimmt zu sein. »Die Rosenkränze!«, wiederholte er dann, diesmal schon ein ganzes Stück selbstsicherer, und nahm es in die Hand. »Was wäre, wenn die für die toten Elternteile stehen würden? Am Anfang hatte jedes Opfer zwei davon um den Hals hängen, aber bei Nicole war es nur einer, weil ihr Vater noch am Leben ist! Griffith und Munroe sind beide in einem Heim aufgewachsen, und das Kreuz, das sie im Mund hatten …« Er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte mutlos den Kopf. »Ich weiß nicht, vielleicht … vielleicht steht das ja für die Opfer selbst? Die zurückgelassenen Kinder? Da bin ich mir noch nicht ganz sicher, das könnte alles Mögliche bedeuten … bei Sawyer passt der Tathergang nicht zusammen, aber dafür hatte er eine Verbindung zum St. Albertine’s, und wenn der Mörder es tatsächlich auf die ehemaligen Bewohner des Heims abgesehen hat, dann-«
  »Richard.« Nun war Sam derjenige, der seinen Partner mit fiebrigen Fingern am Ärmel fasste und ihn anstarrte, als hätte er ihm soeben einen Heiratsantrag gemacht. »Du bist ein Genie!« Selbst im blassen Licht der Taschenlampe war die aufsteigende Röte in Richards Wangen nicht zu übersehen, doch er kam nicht dazu, irgendetwas zu erwidern, denn Sam brabbelte einfach weiter. »Wenn du recht hast, dann wird er sich womöglich als Nächstes mit den überlebenden Schwestern befassen wollen, weshalb es umso wichtiger ist, dass wir sie so schnell wie möglich ausfindig machen! Ganz zu schweigen von den anderen Kindern … vielleicht ist unser Täter sogar eines von ihnen. Aber was will er mit all diesen Morden erreichen …«
  »Und was ist eigentlich mit Nathan Gilbert?« Allmählich schien auch Richards Euphorie wieder abzuebben und er sank mit jedem Wort ein klein wenig weiter in sich zusammen. »Den haben wir bisher auch noch nicht in dieses Muster einordnen können. Vielleicht sollten wir erst einmal ein Stück zurückrudern und nicht gleich so viele voreilige Schlüsse ziehen …«
  In Megans Magen bildete sich mit einem Mal ein Knoten, der ihre Innereien regelrecht zusammenzudrücken schien. Scheiße. Da war ja was. Das hätte sie während der ganzen Aufregung beinahe vergessen … und einen eindeutigeren Wink des Schicksals hätte sie sich in dieser Situation wohl auch kaum wünschen können.
  »Ähm … wegen Gilbert«, presste sie hörbar zerknirscht hervor, während ihre Finger wie von selbst zu ihren Haaren hinaufwanderten und sich in die dichten, rotblonden Locken gruben. Die erwartungsvollen Blicke, die die beiden Männer ihr daraufhin zuwarfen, bohrten sich wie Nadeln unter ihre Haut.
  »Ich, äh … ich glaube, es gibt da etwas, was ich euch beichten muss.«
  Na, wunderbar. Jetzt hatte sie ihren Kollegen auch noch Angst eingejagt. Zumindest ließ Richards Miene so etwas vermuten, wobei Sams angespanntes Schweigen sie auch nicht unbedingt motivierte. Aber was blieb ihr schon anderes übrig? Irgendwann hätte sie sowieso damit herausrücken müssen. Augen zu und durch!
  »Also … Folgendes ist passiert. Als wir Nicoles Wohnung durchsucht haben, ist mir dieses Foto in die Hände gefallen. Von Nathan Gilbert und seinen Eltern. Es hat an ihrer Fallwand gehangen, weshalb ich dachte, sie könnte vielleicht an irgendwas dran gewesen sein, also hab ich mir die Sache mal etwas genauer angesehen. Anscheinend hat Nicole sich gefragt, ob es sich bei diesen Leuten um seine leiblichen Eltern gehandelt hat, ohne irgendwelche sichtbaren Beweise übrigens, was mich ehrlich gesagt ziemlich stutzig gemacht hat, und es sah auch nicht danach aus, als würde-«
  »Komm zum Punkt, Megan«, unterbrach Richard sie mit schleppender Stimme und rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger. Megan war versucht, aus Trotz einfach noch weiter um den heißen Brei herumzureden, sah jedoch ein, dass für so etwas jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war. Stattdessen gab sie sich damit zufrieden, ihm noch einen giftigen Blick zuzuwerfen, bevor sie fortfuhr.
  »Ich hab das Foto mitgenommen und anschließend meinen Kollegen Tony aus Denver angerufen, um ihn zu fragen, ob er Gilberts Familie für mich überprüfen könnte, und siehe da, vor ein paar Tagen hat er sich tatsächlich zurückgemeldet! Mit brandheißen Neuigkeiten im Gepäck.« Sie klatschte feierlich in die Hände. »Im Alter von sieben Monaten wurde ein gewisser Nathan Dunn von einer Pflegefamilie aus Holden Creek aufgenommen, die zufälligerweise den Namen Gilbert trug, und ihn ein paar Jahre später auch vollständig adoptierte. Tony konnte sogar herausfinden, in welchem Krankenhaus er zur Welt gekommen ist und dass seine leibliche Mutter dabei ums Leben kam … verrückter Zufall, was?«
  Richard starrte sie an, als hätte sie sich soeben spontan vor ihm ausgezogen, die Augen weit aufgerissen und keinen Muskel rührend, bevor mit einem Mal wieder Leben in ihn zu fahren schien und er in einem seltenen Anflug von Theatralik die Arme in die Luft warf.
  »… und das sagst du uns jetzt?!«
  »Es hatte sich bisher einfach noch keine Gelegenheit ergeben!«
  »Das ist nicht dein Ernst … Megan, so was kannst du doch nicht einfach für dich behalten! Scheiße, wir sind ein Team! Wir sollen hier zusammenarbeiten und uns gegenseitig unterstützen, verdammt noch mal, ich dachte, das hättest du mittlerweile auch begriffen! Hast du eine Ahnung, wie viel Zeit wir hätten sparen können, wenn du uns eher davon erzählt hättest? Mein Gott, was hast du dir nur dabei gedacht?!«
  Wie aus Reflex öffnete Megan den Mund, um sich zu verteidigen, bemerkte dann jedoch, dass sie nicht wirklich wusste, was sie darauf antworten sollte. Stattdessen zogen sich ihre Eingeweide noch enger zusammen und schnürten ihr buchstäblich den Atem ab, als sie realisierte, dass dieses spießige Arschloch recht hatte. Die Aktion war dämlich gewesen, und kindisch noch dazu, auch wenn sie einen triftigen Grund dafür gehabt hatte – nur dass dieser ihr auf einmal gar nicht mehr so triftig vorkam, je länger sie darüber nachdachte …
  »Ich wusste ja nicht, ob … i-ich meine, wenn mein Verdacht falsch gewesen wäre, dann hätten wir damit auch nur Zeit verschwendet!«
  »Er war aber nicht falsch.« In Richards Stimme brodelte es regelrecht. »Und selbst wenn, ist das genauso Teil unseres Jobs! Der erste Schritt ist immer Spekulation, und wenn du einen Hinweis findest, kannst du uns den nicht einfach so unterschlagen, wir haben bei dieser Ermittlung ein Recht darauf, zu erfahren-«
  »Ich hatte einfach keinen Bock, mich schon wieder von euch runtermachen zu lassen, okay?!«, platzte es mit einem Mal aus Megan heraus und die Taubheit in ihren Fingerspitzen schien von einem auf den anderen Moment wie weggeblasen. »Seit Nicoles Tod habt ihr mich wie ein kleines Kind behandelt, das allein nichts auf die Reihe bekommt, wieso hättet ihr mich also in diesem Punkt ernst nehmen sollen?! Verarschen kann ich mich alleine.« Ein frustriertes Knurren drang aus ihrer Kehle. »Ich hätte euch ja noch davon erzählt, ich wollte nur zuerst Gewissheit haben. Dass ich nach dem Anruf nicht sofort mit der Sprache rausgerückt hab … ja, mein Gott, das war vielleicht nicht gerade mein goldenster Moment! Ist ja nicht so, als wär ich die Einzige hier, die ab und zu mal Fehler macht.«
  »Du … hattest das Gefühl, dass wir dich nicht ernst nehmen?« Sams Worte klangen im Gegensatz zu Richards nicht nur sehr viel ruhiger, sondern geradezu erschrocken. »Megan, das war nie unsere Absicht, wir …« Er druckste herum. »Wir haben uns bloß Sorgen um dich gemacht.«
  »Ja, hab ich gemerkt. Das wird dich jetzt vielleicht überraschen, Sammy, aber ich bin keine zehn mehr. Ich kann schon ganz gut auf mich selber …« Megan brach ab, biss sich auf die Zunge, und begann dann noch einmal von vorn, sich selbst so gut es ging davon überzeugend, dass Sarkasmus sie hier nicht weiterbringen würde, selbst wenn es verlockend war. »Was ich damit sagen will, ist … ich weiß ja, dass ihr es nur gut meint. Wäre auch verdammt traurig, wenn nicht. Aber das macht das Ganze leider auch nicht besser. Scheiße, ich hab doch einfach bloß die Schnauze voll davon, ständig zu versagen!«
  »Das wird ab jetzt auch nicht mehr passieren«, behauptete Richard auf einmal mit einer solchen Überzeugung, dass Megan sich kurz fragte, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Ihr Kollege sah noch immer aus, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren, doch in seinen Worten lag nicht bloß eine erschreckende Gewissheit, sondern auch ehrliche Reue. Aus irgendeinem Grund. Was war denn plötzlich in den gefahren? »Es tut uns leid, Megan. Du bist natürlich ein ebenso wichtiges Mitglied dieses Teams wie jeder andere von uns auch, und wir hätten nicht versuchen sollen, dich zu bevormunden.« Jetzt legte der Kerl ihr auch noch eine Hand auf die Schulter! »Aber wie gesagt, damit ist jetzt Schluss. Ich bin es nämlich auch langsam leid. Und ich für meinen Teil habe kein Problem damit, das alles hinter uns zu lassen und noch einmal von vorne anzufangen, wenn das bedeutet, dass wir diesen Fall endlich abschließen können. Mehr Kommunikation. Und keine Geheimnisse mehr. In Ordnung?«
  Megan blinzelte irritiert. »Ähm … in Ordnung.«
  »Wunderbar.« Richard stieß ein erleichtertes Seufzen aus und ließ die Schultern sinken. »Mein Gott, was für ein beschissener Tag … können wir jetzt bitte endlich zurück zur Pension?«
  »Das wär mir ehrlich gesagt auch ganz recht.«
  Megan konnte nicht verhindern, dass ein kleines, verzweifeltes Auflachen ihrer Kehle entkam, doch im Augenblick war ihr das wirklich so was von egal. Selbst auf Richards sonst so verkniffener Miene war der Schatten eines Lächelns zu erkennen, und aus irgendeinem Grund schien ihr die Ruine mittlerweile auch nicht mehr ganz so kalt und vereinsamt wie zuvor.
  »Ihr habt heute beide großartige Arbeit geleistet«, war es nun Sam, der sich zur Abwechslung mal zu einem Lob herabließ, und Megan musste unangenehmerweise feststellen, dass ihr bei diesen Worten erneut die Hitze in die Wangen stieg. »Aber ich bin auch der Meinung, dass wir uns jetzt wieder auf den Heimweg machen sollten. Morgen ist auch noch ein Tag. Und die Mütze Schlaf habt ihr euch wirklich redlich verdient.«
  Megan versuchte nicht einmal, sich das Grinsen zu verkneifen. »Ist ja gut, du kannst jetzt mit dem Geschleime aufhören. Es sei denn natürlich, du hast in deiner Tasche noch ein kleines Leckerli für mich versteckt.«
  »Wenn du Glück hast, sind da noch ein paar Bonbons drin, die ich beim Halloween-Fest habe mitgehen lassen …«
  »Nein, danke! Deine klebrigen, alten Drops kannst du gerne behalten, Opa.«
  Es tat unerwartet gut, zu lachen, die Anspannung des Tages für einen kurzen Moment zu vergessen, und einfach loszulassen. Megans Gesicht glühte mittlerweile regelrecht und der Knoten in ihrer Brust hatte sich ebenfalls gelöst. Wie schafften diese zwei Idioten es nur, dass sie sich nach einem derartigen Höllenritt auf einmal wieder wie ein kicherndes Schulmädchen fühlte? Es ergab einfach keinen Sinn. Aber eigentlich musste es das auch gar nicht. In Holden Creek liefen die Dinge eben ein wenig anders als bei ihr zuhause. Und Megan konnte sich anpassen. Das hatte sie bisher immer irgendwie geschafft.



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AN: Hallooo, ANs gibt’s ab jetzt immer hier unten, damit ich nicht schon am Anfang das ganze Kapitel spoilere!

Eigentlich wollte ich hier gerade so was schreiben wie »Ich hoffe, ihr habt die superlangen WWBL-Kapitel zumindest ein bisschen vermisst«, aber dann ist mir aufgefallen … bis auf das erste hab ich schon seit Jahren kein superlanges WWBL-Kapitel mehr geschrieben? (^:, Die wurden bisher immer aufgeteilt. Wobei ich das hier aber auch echt nicht wollte, einfach weil es so zusammenhängend ist (und die 10k noch nicht überschritten hat hehe).

Dieses Kapitel ist eines der wichtigsten in der ganzen Story und ich bin auch super froh darüber, es endlich hochladen zu können tbh. Es werden einfach … verdammt viele Dinge revealed und auch gleichzeitig miteinander verknüpft, weshalb ich hoffe, dass es zusammen mit der Haunted-House-Atmosphäre auch bei euch ein bisschen lang ersehnte Befriedigung auslösen konnte. <3
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