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Wo wir begraben liegen

von Tschuh
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday L Naomi Misora OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
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Dieses Kapitel
5 Reviews
 
15.11.2019 4.004
 
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p r o l o g



Als Stanley Morrison, seines Zeichens Polizeichef der Wache Holden Creek, Oregon, an diesem ausgesprochen kalten und nebligen Oktobermorgen um sieben Uhr sechsundzwanzig am Leichenfundort eintraf, herrschte dort trotz unchristlicher Stunde bereits reger Betrieb. Keine vierhundert Meter vom Revier entfernt, nördlich der gedeckten Holzbrücke, die in die Stadt hineinführte, war ein kleiner Teil des Bachufers mit leuchtend gelben Plastikbändern abgesichert worden, die im silbrigen Dunst kaum zu übersehen waren. Der Chief kniff die Augen zusammen und reckte den Hals, um besser erkennen zu können, was unten an der Böschung vor sich ging, nachdem er sich leise ächzend unter dem Absperrband hindurchgebückt hatte. Er war mittlerweile auch nicht mehr der Jüngste …
  Oben am Weg stand bloß ein einziger Dienstwagen, den man vermutlich auch nur aus dem Grund den ganzen Weg hierher gefahren hatte, um das Equipment zu transportieren, ansonsten ging es bei diesem Wetter zu Fuß nun einmal deutlich schneller. Die Straße, oder eher gesagt der schlammige Feldweg, der quer durch den Ort führte, war um diese Jahreszeit nicht unbedingt für seine ebene Fahrbahn bekannt. Da blieb meist nur zu hoffen, dass es während der Herbstmonate keine allzu dringenden Notfälle gab.
  Morrison wusste genau, was das alles hier zu bedeuten hatte. Es hatte keinen Sinn, sich etwas anderes einzureden. Ein raues Knurren entkam seiner Kehle, als er sich die müden Augen zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. Angestrengt ließ er seinen Blick über den Fundort schweifen; im geöffneten Kofferraum des Polizeivans, der während der letzten paar Wochen mehr oder weniger zum Lastfahrzeug umgerüstet worden war, saß Lucy Weaver, eine Grundschullehrerin aus der Gegend, in eine Wolldecke gewickelt und starrte mit leerem Blick auf den dampfenden Thermosbecher in ihren Händen. Morrisons selbsternannte rechte Hand, Officer Delgado, leistete ihr währenddessen Gesellschaft und schien beruhigend auf sie einzureden – oder es wenigstens zu versuchen. Vermutlich war sie diejenige, die die Leiche auf dem Weg zur Arbeit hier gefunden hatte.
  ›Armes Mädchen‹, ging es dem Chief durch den Kopf. Misses Weaver war eine ausgesprochen sanftmütige und zartbesaitete junge Dame und sicherlich die letzte Person, der er so ein traumatisches Erlebnis wünschen würde. Delgado schien die Situation wohl ähnlich unangenehm zu sein, der Grünschnabel war mit Worten noch nie sonderlich geschickt gewesen, auch wenn er sich wirklich alle Mühe gab.
  Kaum war Morrison an den beiden vorbeigestapft, schien Delgado seine eigentliche Aufgabe mit einem Mal vollkommen vergessen zu haben und machte Anstalten, aufzuspringen und seinen Vorgesetzten schnellstmöglich über den Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen, schien sich dann jedoch wieder an die verstörte Frau neben sich zu erinnern und warf ihm stattdessen bloß ein wackeres Nicken zu.
  Gestern Nacht hatte es wie aus Eimern gegossen. Morrisons Stiefel hinterließen tiefe Fußspuren im schlammigen Untergrund und jeder Schritt musste sorgfältig vorausgeplant werden, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, auszurutschen und mit der Nase voraus die Böschung hinunterzuschlittern. Ein paar junge Pinien säumten das Ufer auf dieser Seite des Baches, bevor sie sich wenige Meter weiter langsam in einen dichten Wald verwandelten, der jegliches Tageslicht, das sich an der nahezu undurchdringlichen Wolkendecke am Himmel vorbeizudrängen versuchte, regelrecht zu verschlucken schien. Zwei Officers wuselten geschäftig an ihm vorbei, letzterer blinzelte kurz in seine Richtung und murmelte so etwas wie »Morgen, Chief«, bevor er erneut seine Kamera zückte und eifrig damit begann, Fotos von der Umgebung und den bereits markierten Beweisstellen zu schießen.
  Und dann sah er es; dasselbe Bild wie letzten Monat und den Monat davor. Dasselbe Bild, das sich inzwischen so tief in seine Netzhaut eingebrannt hatte, dass es ihn selbst im Schlaf noch verfolgte. Das Bild, das ihn ohne Zweifel eines Tages ins Grab bringen würde.
  Der Betende hatte demütig den Kopf gesenkt, sodass sein Gesicht von der Krempe seines Hutes verdeckt wurde, und die kalten, blau geschwollenen Hände locker in seinem Schoß gefaltet. In einen schwarzen Wollmantel gehüllt lehnte er mit der Schulter gegen den rauen Pinienstamm, während ihm feuchte Nadelzweige in Ohren und Nase ragten. Man war beinahe geneigt zu glauben, es würde sich um einen erschöpften Wanderer handeln, der am Wegesrand lediglich eine kurze Pause einlegen wollte, doch Morrison wusste es besser. Es war bereits die dritte Leiche, die auf diese Art und Weise drapiert worden war.
  Neben dem Toten, mit hochkonzentriertem Blick und dem rechten Knie tief im Morast steckend, hockte Officer Shepherd, die seit Beginn der Mordserie neben der Erfüllung ihrer üblichen Pflichten auch die Junior-Rechtsmedizinerin mimen musste, und machte sich fleißig ihre Notizen. In seiner fast dreißigjährigen Karriere als Kleinstadtpolizist in Holden Creek hatte Chief Morrison bis vor ein paar Wochen noch keinen einzigen Mord untersuchen müssen und so etwas wie ein Rechtsmediziner war bei ihnen bisher einfach überflüssig gewesen. Shepherd war die Einzige auf dem Revier, die für diese Aufgabe zumindest ansatzweise qualifiziert gewesen war, und so wie es aussah, schien es ihr auch überhaupt nichts auszumachen, ganz im Gegenteil; die Rolle wirkte ihr wie auf den Leib geschneidert.
  »Wer ist es diesmal?«, begrüßte Morrison seine Kollegin seufzend, nachdem er etwas an sie herangetreten war und beugte sich zu ihr herunter, um auch die Leiche näher in Augenschein nehmen zu können. Shepherd wandte sich zu ihm um und rückte ihren dunkelbraunen Stetson zurecht. Auch sie sah bereits ziemlich fertig aus, obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte, doch im Gegensatz zu ihrem Chef wusste sie dies immerhin hinter einer halbwegs zuversichtlichen Miene zu verbergen.
  »Doktor Harrison Munroe.« Mit einer eleganten Bewegung zog sie eine Brieftasche aus dem Mantel des Opfers und wedelte damit vor Morrisons Gesicht herum. »Weiß, männlich, fünfundvierzig Jahre alt, arbeitete als Kardiologe in der Uniklinik von Pinefield. Laut McCarthy hat er hier gleich um die Ecke gewohnt.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Straße. »Hat Louise vor drei Jahren den neuen Herzschrittmacher eingesetzt. Keine Frau, keine Kinder oder sonstige Angehörige in der näheren Umgebung. Muss ziemlich einsam gewesen sein. Nicht die schönste Art zu gehen …«
  Morrison ignorierte den letzten Teil. »Wieder unser Freund?«
  Statt zu antworten verzog Shepherd bloß das Gesicht, als hätte sie auf eine schimmelige Zitrone gebissen. Vorsichtig platzierte sie ihre Finger unter dem Kinn des Toten und hob seinen Kopf ein wenig an, sodass der Chief ihm in die Augen sehen konnte – das hieß, wenn er Augen gehabt hätte. Leere, feucht glänzende Höhlen, die mit hellrotem Fleisch ausgekleidet waren, welches ihn auf eine makabere Art und Weise an das samtene Innere eines Schmuckkästchens erinnerte, starrten ihm vorwurfsvoll entgegen. Keine Wölbung war unter den steifen Lidern zu erkennen, die die beiden klaffenden Löcher nur noch zur Hälfte bedeckten. Die Mullbinde, die unter Doktor Munroes Hut hervorschaute und mit deren Hilfe zuvor seine Kiefer aufeinandergepresst worden waren, hatte sich gelöst und klebte nun an Officer Shepherds weißen Latexhandschuhen. Der Anblick dieses kalten, maskenhaften Antlitzes, dessen fahle Wangen im Nebel seltsam bläulich wirkten, hätte normalerweise schon ausgereicht, um den meisten Menschen das Blut in den Adern gefrieren zu lassen, doch die leeren Augenhöhlen setzten dem Ganzen noch einmal die Krone auf. Morrison wandte seinen Blick ab und nickte. Mehr brauchte er nicht zu sehen.
  »Soweit ich das bisher beurteilen kann, dürfte er seit etwa sechs bis acht Stunden tot sein. Ansonsten sieht momentan alles nach der üblichen Handschrift aus«, fuhr Shepherd fort. »Die Pose, in der er hergerichtet wurde, die Augen, die beiden Rosenkränze um den Hals, und ich wette, wenn er nachher auf dem Obduktionstisch liegt, werden wir die gleichen Verletzungen finden können wie bei den anderen beiden auch. Professor Hayes ist ebenfalls informiert, sie ist bereits auf dem Weg hierher. Ach ja, und dann ist da natürlich noch das hier …« Sie griff in ihre Jackentasche und holte ein durchsichtiges Plastiktütchen hervor, in dem sich ein feuchtes Stofftaschentuch und ein etwa daumengroßes, hölzernes Kruzifix befanden. Sorgfältig verarbeitet, und doch an einigen Stellen mit diversen Ecken und Kanten versehen, woran klar erkennbar wurde, dass es selbstgeschnitzt worden sein musste. »Das hier hab ich im Mund des Opfers gefunden. Genauso wie …«
  »Genauso wie bei den anderen beiden auch«, beendete Morrison ihren Satz murrend. »Ich hab’s mir fast gedacht.« Mit einem langgezogenen Stöhnen richtete er sich wieder auf und stemmte die Hände in den Rücken, bis dieser ein beunruhigendes Knacken von sich gab. Seine Kollegin konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
  »Heiliger Strohsack, Stan, das klingt aber gar nicht gut! Vielleicht solltest du langsam doch mal über einen verfrühten Ruhestand nachdenken.«
  »Nicht so lange dieser kranke Bastard meine Stadt unsicher macht und weiterhin Leuten die Augen aussticht.« Obwohl Shepherd ihren Chef inzwischen lange genug kannte, um zu wissen, dass er den neckenden Unterton in ihrer Stimme durchaus zur Kenntnis genommen hatte, klangen seine Worte todernst. Viele Leute waren der Meinung, Chief Morrison besäße in seinem Körper nicht einen einzigen Funken Humor, doch Shepherd wusste es zum Glück besser. Man musste eben nur wissen, wie man diesen Funken aus ihm herauskitzeln konnte.
  Die Aushilfsforensikerin stand ebenfalls auf, verstaute die kleine Plastiktüte wieder in ihrer Tasche und warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr.
  »Unser Paparazzo vom Dienst müsste eigentlich auch schon längst hier sein. Komisch, sonst ist die Nase doch immer pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk …«
  Von einer auf die andere Sekunde schien Morrisons Gesicht plötzlich um zehn Jahre zu altern und seine Mundwinkel sanken wie Steine auf den Grund des Baches. »Wenn Nicky hier auftaucht, lässt du dich auf gar keinen Fall auf irgendwelche Kompromisse ein, verstanden? Ich bin dieses andauernde Reportergewusel allmählich leid. Das hier ist ein Tatort und kein Vergnügungspark, wir sind auch so schon überarbeitet genug und können uns jetzt nicht auch noch mit diesen Aasgeiern von der Zeitung herumschlagen.«
  Shepherd verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihrem Vorgesetzten einen entwaffnenden Blick zu. »Das wird nicht einfach werden, aber ich tue, was ich kann.« Die dunklen Krähenfüße um ihre Augen herum begannen sich verstohlen zu kräuseln. »Weißt du, in puncto Sturheit seid ihr euch ganz schön ähnlich, Nicky und du. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm, schätze ich.«
  Bevor Morrison etwas erwidern konnte, erklang hinter ihnen plötzlich ein dumpfer Aufschrei, dicht gefolgt von einem feuchten Klatschen, und als die beiden Polizisten sich umdrehten, konnten sie gerade noch erkennen, wie Officer Delgado sich mit schmerzverzerrter Miene wieder aufrichtete, während er sich frustriert die Schlammflecken vom Hosenboden wischte. Shepherd brach augenblicklich in schallendes Gelächter aus, wohingegen Morrison bloß kopfschüttelnd das Gesicht in seinen Händen verbarg.
  »Nichts passiert!«, versicherte der junge Mann seinen Kollegen rasch und stapfte etwas unbeholfen zu ihnen herüber. Shepherd grinste noch immer ein wenig schadenfroh, doch er tat sein Bestes, um dies weitestgehend zu ignorieren. »G-guten Morgen, Chief! Tut mir leid, dass ich vorhin nicht-«
  »Wie geht’s Misses Weaver?«, unterbrach Morrison ihn barsch, was Delgado im ersten Moment zwar ein wenig zusammenfahren ließ, ihn ansonsten aber keineswegs in seinem Tatendrang zu bremsen schien.
  »Nicht gut«, erwiderte er niedergeschlagen. »Die Arme ist ziemlich durch den Wind und hat ’ne Menge geweint. Sie hat zwei Packungen Taschentücher aufgebraucht …« Er runzelte die Stirn und schien kurz über etwas nachzudenken, doch als er den ungeduldigen Blick seines Chefs bemerkte, fuhr er hastig fort. »Ähm, Misses Weaver hat die Leiche vor etwa einer Stunde entdeckt, während sie mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit war. Sie ist näher herangegangen, um nachzusehen, ob der Mann Hilfe braucht, und als er nicht reagierte, hat sie sofort bei uns angerufen.«
  »Sonst nichts?«
  »Sonst nichts«, bestätigte Delgado. »Keine verdächtigen Fahrzeuge oder Personen in der Nähe, oder irgendetwas in der Art.«
  »So wie immer.« Morrison strich sich mit bitterer Miene über den dicken, schwarzen Schnurrbart. Es war ihm höchst zuwider, dass so etwas Abnormales und Grauenvolles wie eine Mordserie für ihn überhaupt in irgendeiner Form zur Routine werden konnte, aber es nutzte nichts. Emotionale Abstumpfung war in seinem Beruf nach so langer Zeit zwar nichts Ungewöhnliches, doch das bedeutete noch lange nicht, dass es ihm nichts ausmachte.
  »Der Mörder platziert seine Opfer stets in der Nähe des Baches, vermutlich während der Nacht, nie direkt am Wegesrand, aber dennoch sichtbar genug, sodass die Leiche für einen aufmerksamen Passanten nicht allzu schwer zu entdecken ist.« Shepherd legte die Stirn in Falten und fuhr sich mit den Fingerkuppen über das hervorstehende Kinn. »Er will, dass sie gefunden werden, aber wenn er mit den Morden prahlen oder der Öffentlichkeit irgendein eindeutiges Zeichen setzen wollen würde, hätte er sie sicherlich noch etwas mehr in Szene gesetzt.«
  »Also, ich finde das hier schon ziemlich pervers ›in Szene gesetzt‹.« Anklagend deutete Morrison auf den toten Arzt. »Auf so etwas kommt doch kein geistig gesunder Mensch!«
  Mit ratlosem Blick sah Shepherd sich am Bachufer um. »Es sind auch nirgendwo Fußabdrücke zu sehen, ganz zu schweigen von Schleif- oder sogar Reifenspuren. Das Wetter hat dem Typen diesmal wirklich in die Hände gespielt. Es scheint fast so, als wäre die Leiche einfach … aus dem Nichts erschienen. Ziemlich eigenartig, wenn ihr mich fragt.«
  »Versuchen wir es doch mal positiv zu sehen!«, warf Delgado schließlich ein und stemmte zuversichtlich die schlammverschmierten Hände in die Hüften. Morrison bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick.
  »Was soll denn an einer verstümmelten Leiche bitte positiv sein?«
  »Na, ich meine, vielleicht versteckt sich ja diesmal irgendwo der entscheidende Hinweis! Ich weiß, der Killer ist verdammt penibel und hat bisher noch nicht einmal einen Fingerabdruck hinterlassen, aber selbst er ist doch nur ein Mensch, oder? Und Menschen machen Fehler.« Ein Lächeln schlich sich auf die Lippen des jungen Polizisten. »›Das perfekte Verbrechen existiert nicht.‹ So lautet doch Ihre Devise! Vielleicht haben wir ja Glück und er fängt langsam an, schusselig zu werden!«
  »Ich würde deinen Optimismus ja gerne unterstützen, aber momentan hab ich eher den Eindruck, dass genau das Gegenteil der Fall ist«, gab Shepherd mit hochgezogenen Schultern zu bedenken. »Der Typ scheint nicht nur mit jedem weiteren Mord selbstsicherer, sondern auch noch vorsichtiger zu werden. Wie gesagt, es gibt ja nicht einmal Fußabdrücke.« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Ich glaube, wir sollten uns lieber keine allzu großen Hoffnungen machen.«
  »Vielleicht haben wir bisher einfach zu engstirnig gedacht! Irgendwelche Spuren muss er ja hinterlassen haben. Man muss auch über den Tellerrand hinausschauen können!« Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Möglicherweise liegt die Antwort viel näher, als wir denken!«
  »Du kannst McCarthy und Kruger ja gerne beim Suchen helfen, wenn du sonst nichts Besseres zu tun hast.« Der Chief drehte sich um und machte sich langsam wieder daran, die Böschung emporzusteigen. »Was mich angeht, ich werde jetzt erst mal zu Hart’s gehen und mir einen Cream Cheese Bagel und einen Kaffee genehmigen. Und dann, tja …« Er sah zur Straße hinauf und kniff erneut die Augen zusammen. »Ich schätze, dann sehen wir weiter.«



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Den Rest des Tages verbrachte Chief Morrison damit, seinen Kollegen auf die Füße zu treten, Anweisungen zu verteilen und wie ein aufgescheuchter Hase von einem Standort zum nächsten zu hasten. Misses Weavers Zeugenaussage musste auf der Wache noch einmal fachgerecht aufgenommen werden, weitere Anwohner nach möglichen Auffälligkeiten befragt, der Tote zur Autopsie in die vorübergehend zum Obduktionssaal umfunktionierte Leichenhalle am städtischen Friedhof transportiert, und natürlich eine ganze Menge Papierkram erledigt werden.
  Aus diesem Grund kehrte Morrison auch erst am späten Abend aufs Revier zurück, nachdem alle anderen schon längst Feierabend gemacht hatten. Für jeden von ihnen war der heutige Tag anstrengend gewesen, daran gab es keinen Zweifel, doch der Chief weigerte sich nach wie vor strikt dagegen, sich in irgendeiner Art und Weise an diesen Zeitplan zu gewöhnen. Sobald sie diese Situation als Status quo anerkannten, würden sie sich damit automatisch ihre Niederlage eingestehen. Und dazu durfte es niemals kommen.
  Morrison versuchte nicht darüber nachzudenken, dass er morgen früh wieder vor der zerschlissenen, alten Korktafel in seinem Büro stehen, stundenlang die neuen Fotos darauf anstarren und krampfhaft versuchen würde, sich Verknüpfungen zusammenzureimen, die es einfach nicht gab. Nicht genug damit, dass der Mörder bisher noch keine einzige brauchbare Spur hinterlassen hatte, es schien auch selbst zwischen den Opfern nicht die geringste Gemeinsamkeit zu geben. Normalerweise hatten es solche Psychopathen doch auf bestimmte Personengruppen abgesehen; brünette Frauen, die sie an ihre verhassten Mütter erinnerten, Prostituierte von der Straße, um die sich niemand scherte, oder ahnungslose Kinder, die sich mit ein paar Süßigkeiten leicht ins Auto locken ließen. Hier jedoch schien es bis auf die Tatsache, dass alle drei Opfer in Holden Creek gewohnt hatten, so gut wie gar keine Verbindung zu geben.
  Egal wie viel positive Stimmung Delgado auch zu verbreiten versuchte, es gab schlicht und ergreifend keinen Fortschritt. Aufzugeben klang mit jedem Tag ein wenig verlockender … doch das konnte Morrison sich nicht leisten. Wenn er jetzt den Schwanz einzog, dann würde hier das reinste Chaos ausbrechen. Nichts würde mehr seinen geregelten Gang gehen und er ganz allein wäre dafür verantwortlich. Er durfte nicht zulassen, dass noch mehr unschuldige Menschen starben und tatenlos dabei zusehen, wie der Zusammenhalt der Gemeinde nach und nach den sprichwörtlichen Bach herunterging. Morrison würde diesem kranken Schwein das Handwerk legen, koste es, was es wolle!
  Vollkommen ausgelaugt und mit deutlichen Ringen unter den Augen schleppte der Chief sich durch den düsteren Eingangsbereich. Die alte, verblichene Tapete blätterte an einigen Stellen bereits von der Wand ab und auch der urige Empfangstresen aus Eichenholz, auf dem sich wie so oft allerhand Ordner stapelten und der schon mindestens seit den Sechzigerjahren hier stehen musste, hatte mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen.
  Irritiert blinzelte Morrison dem schwachen Lichtschein entgegen, als er den Büroraum betrat. Hatte Delgado etwa schon wieder vergessen, seine Tischlampe auszuknipsen, bevor er gegangen war? Angestrengt verengte er die Augen zu Schlitzen und musste keine Sekunde später feststellen, dass er wohl doch nicht so allein auf dem Revier war, wie er anfangs angenommen hatte.
  Ein älterer Herr, den er noch nie zuvor gesehen hatte, saß vor dem dämmrig beleuchteten Schreibtisch seines Kollegen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und hob gemächlich den Kopf, als Morrison durch die Tür trat. Er trug einen langen, schwarzen Mantel, der ziemlich schwer und unbequem aussah, so wie einen farblich dazu passenden Hut, dessen breite Krempe einen großen Teil seines Gesichtes verdeckte. Einzig der silbergraue Schnauzbart und die tiefen Falten unter seinem Kinn, die Morrison im Schatten gerade noch so erkennen konnte, gaben Aufschluss über sein ungefähres Alter, seine Körperhaltung wirkte im Gegensatz dazu beinahe schon verdächtig gerade. Vielleicht war er mal beim Militär gewesen? Nichtsdestotrotz eine ausgesprochen merkwürdige Aufmachung, besonders wenn er hier schon länger wartete. Die Garderobe im Eingangsbereich war eigentlich nicht zu übersehen.
  »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Morrison versuchte gar nicht erst, seine miese Stimmung zu verbergen. Im Augenblick wollte er nichts weiter als ein paar letzte Vorbereitungen für den kommenden Arbeitstag zu treffen und dann so schnell wie möglich nachhause zu verschwinden, wo er es sich mit einem dreistöckigen Thunfisch-Sandwich, einer Dose Bier und einer Wärmflasche auf dem Bauch vor dem Fernseher gemütlich machen und für einen Moment einfach alles Elend der Welt vergessen konnte. Wer auch immer der Alte war, Morrison hatte ganz bestimmt nicht vor, sich jetzt noch von ihm in ein Gespräch verwickeln zu lassen.
  »Sie müssen Chief Morrison sein.«
  Der Angesprochene rümpfte ungeduldig die Nase. »Wie er leibt und lebt. Und mit wem hab ich das Vergnügen?«
  »Man hat mir gesagt, Ihnen obliege die Verantwortung für die derzeitigen Mordermittlungen in den Fällen Gilbert, Griffith und Munroe, ist das korrekt?«, fuhr der ältere Herr fort, ohne dabei auch nur ansatzweise auf die Frage des Polizisten einzugehen. Dieser legte die Stirn in Falten. Menschen, die einem keine klaren Antworten gaben und dauerhaft um den heißen Brei herumredeten, konnte er auf den Tod nicht ausstehen. Vor allem nicht an einem Tag wie diesem.
  »Wer will das wissen?« Auch wenn der Unmut in Morrisons Stimme inzwischen nicht mehr zu überhören war, schien sich der geheimnisvolle Besucher davon in keinster Weise abschrecken zu lassen. »Hören Sie, Sir, ich habe keine Ahnung, wie Sie hier reingekommen sind, aber wenn Sie mich sprechen wollen, dann müssen Sie wohl oder übel bis morgen früh warten, ich hab nämlich jetzt Feierabend und ich werde ganz sicher nicht-«
  »Oh, ich denke, Sie werden sich sehr dafür interessieren, was mein Vorgesetzter Ihnen zu sagen hat.« Der Alte griff nach dem schwarzen Aktenkoffer, der neben ihm auf dem Fußboden stand, legte ihn vor sich auf dem Tisch ab und öffnete ihn. Morrison zog die buschigen Augenbrauen nach oben.
  »Ihr Vorgesetzter? Sind Sie vom FBI oder so ähnlich?« Das würde jedenfalls seine seltsame Tracht erklären. Je länger dieser Mann ihn zum Narren hielt, desto ungehaltener wurde er und desto weniger konnte er ihn leiden. Langsam wurde es ihm zu bunt. »Jetzt passen Sie mal gut auf, Mister!« Morrison hob warnend den Zeigefinger und trat einen großen Schritt nach vorn, doch bevor er den Herrn im langen Mantel ordentlich zurechtweisen und eine Schimpftirade vom Stapel lassen konnte, die ihn später mit Sicherheit teuer zu stehen gekommen wäre, drehte dieser seinen Aktenkoffer zu ihm herum und enthüllte auf diese Weise den sich darin befindenden Laptop. Das Flackern des weißen Bildschirms blendete ihn zunächst ein wenig, sodass er die Augen zusammenkneifen musste, um überhaupt etwas darauf erkennen zu können. Ein einzelner Buchstabe prangte in der Mitte des Monitors; die Form war unverwechselbar und die kunstvollen Serifen hätten wohl ausgereicht, um einen ganzen Hörsaal voller Kriminologie-Studenten in helle Aufregung zu versetzen – ein großes, schwarzes ›L‹ leuchtete ihm entgegen.
  »Guten Abend, Chief Morrison«, ertönte ein verzerrtes Schnarren aus den Lautsprechern des Laptops und jagte dem Polizisten einen ehrfürchtigen Schauer über den Rücken. Nie hätte er geglaubt, diese Stimme einmal mit eigenen Ohren hören zu dürfen. »Hier spricht L.« Ja, was er nicht sagte. »Sie werden sich mit Sicherheit fragen, wieso ich den Kontakt zu Ihnen suche.« Unwillkürlich ballte Morrison die Hände zu Fäusten. Insgeheim fürchtete er sich bereits vor der Antwort. »Die Mordserie, an der Sie und Ihre Kollegen von der Polizeidienststelle Holden Creek gerade scheitern, hat vor kurzem mein Interesse geweckt. Aus diesem Grund werde ich den Fall von nun an persönlich übernehmen.«
  Ungläubig riss der Chief die Augen auf. ›An der Sie und Ihre Kollegen gerade scheitern‹?! Der Typ hatte vielleicht Nerven! Morrison wusste überhaupt nicht, worüber er sich zuerst aufregen sollte. Seines Wissens nach war L, der erfolgreichste, berühmteste und mit Abstand genialste Detektiv seiner Zeit, ein vielbeschäftigter Mann, der sich nie im Leben mit irgendwelchen Kleinstadt-Killern oder ähnlichen Lappalien aufhalten würde. Warum also sollte er ausgerechnet hierfür eine Ausnahme machen? Das ergab doch gar keinen Sinn!
  Einen Moment lang hatte Morrison den Verdacht, soeben Opfer eines raffinierten Betrugs geworden zu sein, doch diese Befürchtung verbannte er rasch wieder aus seinen Gedanken. Nicht einmal die abgebrühtesten Scherzbolde würden es wagen, sich für den großen L auszugeben, die Konsequenzen eines solchen Streiches wären katastrophal. Und davon einmal abgesehen war er sich ziemlich sicher, dass sich der Aufwand ohnehin nicht lohnen würde. Nein, er hatte es zweifellos mit dem echten L und dessen Assistenten zu tun, doch das erklärte noch immer nicht, wieso er sich dazu entschlossen hatte, seine wertvolle Zeit gerade in dieses Verbrechen zu investieren.
  »Ich rechne bei der Aufklärung dieses Falls mit Ihrer vollsten Unterstützung, Chief Morrison«, fuhr L ungerührt fort. »In den kommenden Tagen werde ich ein paar Verbindungspersonen zu Ihnen nach Holden Creek delegieren, die mich vor Ort vertreten und meine Anweisungen direkt entgegennehmen werden. Seien Sie unbesorgt, die Sicherheit Ihrer Stadt ist in guten Händen.« Morrison sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Sollten Sie noch weitere Fragen haben, so wird Watari Ihnen diese sicherlich gerne beantworten. Ich freue mich auf unsere bevorstehende Zusammenarbeit.«
  Und damit brach der Kontakt ab. Das flackernde Bild auf dem Laptopmonitor erlosch und eine angespannte Stille begann sich im Büro auszubreiten. Morrison konnte spüren, wie sie langsam seine Wirbelsäule emporkroch und sich jedes einzelne Härchen in seinem Nacken aufstellte, eines nach dem anderen. Müde schloss er die Augen.
  ›Sei vorsichtig, was du dir wünschst, alter Mann … es könnte in Erfüllung gehen.
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