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Wo wir begraben liegen

von Tschuh
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday L Naomi Misora OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
Alle Kapitel
58 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
15.03.2022 6.618
 
AN: Hier ist der erste Teil des Finales von Akt I! (Der lustigerweise genau heute vor zwei Jahren angefangen hat ... yippie!) Ich bin so froh, dass ich es zeitlich hinbekommen habe, das ganze Ding tatsächlich im Oktober zu schreiben, wo die Atmosphäre einfach wunderbar zum Inhalt gepasst hat! ♡ (Genauso wie der Over The Garden Wall Soundtrack … *chef’s kiss*)

Anyway, hier wird mal wieder viel gelabert. Was auch der einzige Grund ist, wieso das Kapitel so lang geworden ist … macht einfach die Augen zu und stellt euch vor, es wäre wieder Herbst. ;^D



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k a p i t e l   2 0
LASST UNS ESSEN UND TRINKEN …



Mittwoch, 31. Oktober 2001  •  17.09 Uhr


Es war bereits später Nachmittag, als Richard beschloss, Misses Atkins zu fragen, ob es für das Halloween-Fest so etwas wie einen Dresscode gab, oder zumindest ein paar Richtlinien, die er im Hinterkopf behalten sollte, wenn er sich nachher etwas zum Anziehen rauslegte. Schließlich wollte er es tunlichst vermeiden, bereits aufgrund seiner Kleidung aus der Menge herauszustechen, in der sie doch eigentlich unterzutauchen versuchten – so lange sie es schafften, ihren Plan für den heutigen Abend auch einzuhalten. Was er wirklich von ganzem Herzen hoffte, denn mit unerwarteten Abweichungen musste man leider immer rechnen, vor allen Dingen, wenn man mit den Special Agents Samuel Dunstan und Megan Newman zusammenarbeitete. Wirklich Lust auf das bevorstehende Spektakel hatte Richard ehrlich gesagt nicht, aber es half ja nichts. Und etwas anderes blieb ihnen jetzt sowieso nicht mehr übrig.
  Als die Pensionsbesitzerin seine Frage hörte, brach sie erst einmal in schallendes Gelächter aus.
  »Aber nicht doch!«, brachte sie zwischen langsam abebbenden Glucksern hervor und musste sich sogar eine Träne aus dem Augenwinkel wischen, während sie ihm mit der anderen Hand aufmunternd auf die Schulter klopfte. »Mein Lieber, das hier ist nichts weiter als ein etwas zu groß geratenes Dorffest! Natürlich dürfen Sie sich auch gerne etwas herausputzen, wenn Ihnen der Sinn danach steht, aber ich kann Ihnen versichern, dass es Ihnen niemand übelnehmen wird, wenn Sie dort nicht in Schlips und Kragen auftauchen.« Sie zwinkerte ihm verstohlen zu. »Gerade für Sie dürfte das doch die perfekte Gelegenheit sein, um den Leuten zu zeigen, dass es an Ihnen auch noch eine andere Seite zu bestaunen gibt. Ihren guten Anzug, so schick er auch aussehen mag, können Sie heute ruhig mal im Schrank hängen lassen und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht die Einzige bin, die sich darüber freuen würde.«
  Wenn er ehrlich war, dann wusste Richard nicht so recht, was Misses Atkins ihm mit diesen Worten sagen wollte. Einen derart spießigen Eindruck konnte er doch gar nicht gemacht haben, oder? Schließlich war er aus rein beruflichen Gründen hier, und selbst wenn Ls direkte Involvierung in diesen Fall bisher nur den Wenigsten bekannt war, musste er mit seiner Garderobe ja immer noch das FBI repräsentieren. Und es war ja jetzt auch nicht so, als würde er jeden Tag eine Krawatte tragen!
  Ein Blick in Sams und Megans breit grinsende Gesichter, die sich nach diesem Gespräch nur mit Mühe das Lachen zu verkneifen schienen, ließ jedoch erneut Zweifel in ihm aufkeimen. Nun ja, wenn er sich die übliche Kleiderwahl der beiden so ansah … da tanzte er schon ein wenig aus der Reihe. Agent Misora konnte er in seinen Vergleich nicht mit einbeziehen, die war ja schließlich auch nicht dienstlich hier. Aber gut, dann würde er sich diesmal eben etwas weniger ›formell‹ kleiden. Wenn er sich bei der Definition dieses Wortes denn wirklich so sehr verschätzt hatte …
  Der schlichte, aber elegante Filzmantel, den Richard für gewöhnlich über einem weißen oder hellblauen Hemd trug, blieb heute zur Abwechslung mal am Haken und wurde durch eine kobaltfarbene Cordjacke mit Wollkragen ersetzt, die vor allen Dingen auf seinen Kletterausflügen mit Leo oft zum Einsatz kam. Darunter blitzte ein kariertes Hemd in einem ähnlichen Farbton hervor, nur was seine Hosen betraf, würde er vorerst bei der guten, alten Bügelfalte bleiben. Ein gewisses Maß an Stil wollte er schon bewahren, wobei er an diesem Abend vermutlich größtenteils von Stroh und festgetretenem Schlamm umgeben sein würde. Zumindest Sam und Megan schienen seine endgültige Auswahl für angemessen zu halten, sofern man ihrem anerkennenden Pfeifen Glauben schenken wollte. Auch wenn das in ihrem Fall so ziemlich alles bedeuten konnte.
  Sam hatte sich Misses Atkins’ Rat anscheinend ebenfalls zu Herzen genommen und sich ein wenig in Schale geworfen. Ein dunkelrotes Sakko mit locker zurückgeschlagenen Ärmeln, das ihm mehrere Nummern zu groß war und einige Falten an seinem doch eher schmalen Körper warf, bildete den zentralen Blickfang seiner abendlichen Garderobe. Und auch, wenn Richard sich noch nie sonderlich viel mit Mode auseinandergesetzt hatte, musste er doch zugeben, dass es seinem Kollegen außerordentlich gut stand. Das Haar hatte er wieder einmal zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden und hinter einigen der lose um sein Gesicht baumelnden Strähnen war ein einzelner, aus einem dunklen Holzstück gefertigter Ohrring zu erkennen.
  Megans Haare hingegen fielen ihr auch heute offen über die Schultern, und ihre Ausgehkleidung bestand aus der abgetragenen, hellbraunen Lederjacke, in der sie bisher die meiste Zeit verbracht hatte, einer ausgewaschenen Jeans, und einem weiten, mit blau-weißem Streifenmuster verzierten Strickpullover. Eine Kombination, die Richard ebenfalls sehr ansprechend fand, was er ihr auch gleich darauf mitteilte.
  »Hätte ja nicht gedacht, dass ich ausgerechnet von dir noch mal irgendwann ein Kompliment bekommen würde«, grinste sie ihm mit einem verräterisch rosigen Schimmer auf den Wangen entgegen. »Das kann ich übrigens nur zurückgeben.«
  Agent Misora hatte sich mit ihrer Aufmachung nicht so viel Mühe gegeben und erschien auch an diesem Abend ganz in Schwarz unten an der Rezeption. Beinahe hätte diese Tatsache Richard einen verschmitzten Kommentar entlockt, bevor ihm die Augenringe auffielen, die sich heute in das ungewohnt blasse Gesicht der jungen Frau gegraben hatten. Allzu große Lust auf dieses Fest schien sie jedenfalls nicht zu haben, weshalb er sich dazu entschloss, sie vorerst lieber in Ruhe zu lassen.
  Bevor noch irgendjemand anderes etwas sagen konnte, klatschte Misses Atkins tatbereit in die Hände und zog damit wie so oft die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich.
  »So! Sind Sie alle aufbruchsbereit? Oder muss vorher noch einmal jemand auf die Toilette?«
  »Alles bereits erledigt«, beantwortete Megan die Frage im Namen aller Anwesenden und stemmte mindestens ebenso motiviert die Hände in die Hüften. Es schien auch niemand etwas dagegen einzuwenden zu haben.
  »Na dann, auf geht’s! Folgen Sie mir unauffällig.«



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Mittwoch, 31. Oktober 2001  •  18.44 Uhr


Als das Fünfergespann auf der Bradley-Farm eintraf, herrschte dort bereits ordentlich Stimmung. Die Atmosphäre war einfach atemberaubend: nachdem der Himmel sich in der vergangenen halben Stunde sichtbar verdunkelt hatte, kamen die vielen Laternen, Lampions und ausgehöhlten Kürbisse, in deren Innern unzählige Kerzen flackerten, und die den gesamten Hof in ein schaurig-warmes Licht tauchten, besonders gut zur Geltung. Sowohl das Gutshaus und die Scheune, als auch der grob gepflasterte Platz, in dessen Mitte sich bereits ein paar fleißige Bräter um die kleine Ansammlung von Grills geschart hatten, waren mit Girlanden, Vogelscheuchen, und allerlei anderem Schnickschnack dekoriert worden. Aus dem offenen Scheunentor drangen nicht nur wild durcheinanderquasselnde Stimmen und Gelächter, sondern auch Musik, die selbst hier draußen ein paar einzelne Besucher zum Tanzen veranlasste, wenn sie nicht gerade das Grillfleisch inspizierten oder anderweitig in ein Gespräch vertieft waren. Dass hier tatsächlich so viel los sein würde, hatte Richard wirklich nicht erwartet.
  Auch das Maislabyrinth, das er und seine Kollegen bereits gestern Nachmittag kurz hatten bewundern dürfen, war an diesem Abend hell erleuchtet und machte einen richtig stimmungsvollen Eindruck. Eine Gruppe kostümierter Jungen, die ungefähr in Maisies Alter zu sein schienen, schoben sich gegenseitig in Richtung Eingang und animierten einander mit angeregtem Getuschel dazu, endlich den ersten Schritt zu wagen. Ein paar jüngere Kinder fütterten die Schafe, von denen sich einzelne trotz des ganzen Tumultes neugierig an den Weidezaun herangewagt hatten, mit ausgerissenen Grasbüscheln.
  Die Pensionsbesitzerin und ihre Gäste liefen gerade an den Grills vorbei, in deren Nähe es köstlich nach frisch gebratenen Steaks, Würstchen und Frikadellen duftete. Gordon, Carol und Lily Hart standen schwitzend und von dichten Rauchschwaden umgeben am Bratrost und hatten alle Hände voll damit zu tun, die zahlreichen Fleischstücke zu wenden und die fertigen Portionen so schnell wie möglich zum Buffet zu bringen. Bürgermeister Holloway, dessen aufdringlich gemustertes Hemd noch geschmackloser aussah, als die Krawatte, die er damals bei Richards Ankunft im Rathaus getragen hatte, verbrannte sich währenddessen beim Versuch, den verkohlten Rand einer Bulette abzuschaben, den Ärmelsaum. Hoffentlich würde der Rest dieses neonfarbenen Albtraums bald folgen.
  Die Buffettische, die in der Scheune aufgebaut worden waren, bogen sich beinahe unter dem Gewicht der vielen Speisen, die sich darauf befanden. Teller- und schüsselweise Salate, Saucen und alle nur erdenklichen Getränkesorten von fruchtiger Bowle bis hin zu Craig Griffiths hausgebranntem Whiskey reihten sich dort aneinander, so weit das Auge reichte. Richard wusste überhaupt nicht, wovon er zuerst probieren sollte, und wenn der kurze Abstecher zum Grill seinen Magen nicht bereits zum Knurren gebracht hätte, dann wäre das wohl spätestens beim Anblick der hier aufgeführten Köstlichkeiten der Fall gewesen.
  Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr begann die unterschwellige Pietätlosigkeit dieses Festes sich wieder in den Vordergrund zu drängen. Drei Menschen waren gestorben … und ihr Mörder befand sich höchstwahrscheinlich gerade mitten unter ihnen. Vielleicht würde er heute Abend etwas vom Apfelkuchen probieren oder eines der Kinder für sein originelles Kostüm loben. Richard könnte ihm direkt gegenüberstehen und nicht die geringste Ahnung haben, welches Scheusal sich hinter seinem Lächeln verbarg. Aber dessen waren die Bewohner von Holden Creek sich vermutlich ebenso bewusst wie er. Und Richard konnte auch verstehen, wenn man nach all dem Horror der vergangenen Monate einen Moment brauchte, um einfach bloß durchzuatmen und all diese furchtbaren Erinnerungen kurz ausblenden zu können, selbst wenn es nur für einen Abend war.
  »Ziehen die Kinder heute gar nicht mehr durch die Nachbarschaft?«, fragte Sam beiläufig, während der Großteil seiner Aufmerksamkeit noch immer den zahlreichen Kuchen und Pasteten auf dem Buffettisch galt. »Wenn ich mich hier so umsehe, dann dürfte ja mittlerweile kaum noch jemand zuhause sein, um ihnen die Tür zu öffnen.«
  »In Holden Creek drehen die Kinder normalerweise direkt nach der Schule ihre Süßes-oder-Saures-Runden«, erklärte die alte Dame ihnen. »Hausaufgaben werden um Halloween herum auch nur sehr wenige aufgegeben, damit die kleinen Ungeheuer sich nach dem Unterricht sofort auf den Weg machen und ordentlich Süßigkeiten einsammeln können. Viele kommen sogar bereits kostümiert zur Schule! Niedlich sieht das immer aus.« Ein warmes Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Das Halloween-Fest ist schon ein sehr bedeutendes kulturelles Ereignis in unserem kleinen Städtchen. An vielen Stellen wird deswegen auch tatsächlich der komplette Tagesablauf darauf angepasst.«
  Nun gut, bei einer derart überschaubaren Gemeinde war das vermutlich auch nicht allzu schwer umzusetzen, vor allen Dingen, wenn besagte Tradition bereits seit Jahrzehnten existierte. So weit Richard wusste, kam es auch nicht selten vor, dass Kleinstädte wie diese ganze Festivals veranstalteten, von denen man außerhalb noch nie etwas gehört hatte.
  »Außerdem gibt es auch einen Kostümwettbewerb«, fuhr Misses Atkins begeistert fort. »Lucy gehört dieses Jahr zu den Preisrichterinnen, und so wie es aussieht, sind ihre Klassen auch schon ganz aus dem Häuschen, genauso wie die Chorgruppe! Die Kinder geben sich immer so viel Mühe mit ihren Verkleidungen, einige von ihnen sind sogar selbstgebastelt. Was bei dem Preis aber auch kein Wunder ist: ein Zwanzig-Liter-Eimer randvoll mit Süßigkeiten, zusammengestellt von Gordon Hart höchstpersönlich!«
  Kaum hatte Misses Atkins ihren Satz beendet, wurden Megans Augen mit einem Mal tellergroß. »Also, wenn ich das früher gewusst hätte, dann wäre ich hier auch im Kostüm aufgekreuzt!« Sie stieß Richard grinsend mit dem Ellenbogen in die Seite und legte den Kopf schief. »Du hättest mir ja eine von deinen Krawatten und ein bisschen Haargel leihen können, dann wäre ich als dein sehr viel besser aussehender Zwillingsbruder gegangen.«
  Der Angesprochene hingegen verdrehte bloß die Augen. »Ich glaube nicht, dass du mit einem derart halbherzigen Versuch auch nur einen Blumentopf gewonnen hättest. Geschweige denn einen Eimer Süßigkeiten.«
  »Das stimmt, an die Kreativität und den Einfallsreichtum unserer zukünftigen Modeschöpfer kommen Sie mit Sicherheit nicht so schnell heran«, schmunzelte Misses Atkins, während sie einen kurzen Blick nach draußen auf den Hof warf, über den immer wieder kleine Vampire und Hexen in flatternden Polyesterumhängen flitzten. »Was die älteren Kinder und Jugendlichen betrifft, die nutzen die zusätzliche freie Zeit lieber, um ihre eigenen Feierlichkeiten zu veranstalten. Die meisten von ihnen verbringen den Abend in Pinefield in irgendwelchen Diskotheken. Lily hat mir erzählt, dass sie später auch noch eine Verabredung hat. Ihr Freund möchte sie zu einer Party abholen, ist das nicht süß? Ich habe überhaupt nicht gewusst, dass es da jemanden in ihrem Leben gibt, aber ihren Schwärmereien nach zu urteilen scheint das ja ein ganz anständiger, junger Bursche zu sein.«
  Richard konnte nicht anders, als eine gewisse Erleichterung über diese Worte zu verspüren, auch wenn er sich dazu entschloss, sie lieber unkommentiert zu lassen. Es war beruhigend, zu wissen, dass zumindest die Sache mit Reese, Lily und ihrer Mutter ein gutes Ende genommen zu haben schien.
  Misses Atkins straffte die Schultern und rückte ihren dickmaschigen, roten Schal zurecht, nachdem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen und sich allem Anschein nach an etwas Wichtiges erinnert hatte.
  »Ich fürchte, ich werde Sie wohl vorerst allein lassen müssen«, bestätigte sie Richards Gedanken mit einem entschuldigenden Lächeln. »Der Backwettbewerb, bei dem ich dieses Jahr in der Jury sitze, sollte in Kürze beginnen und die anderen Preisrichter warten mit Sicherheit schon auf mich, von den Kandidaten einmal ganz zu schweigen. Ich habe mir heute Mittag extra nur ein Scheibchen Toast geschmiert, damit ich jetzt auch ordentlich zuschlagen kann! Und so langsam wird es auch wirklich Zeit, dass ich wieder etwas zwischen die Zähne bekomme …« Sie nickte den vier Agenten aufmunternd zu und wirbelte schnurstracks an ihnen vorbei. »Mischen Sie sich doch ein wenig unter die Leute! Und keine Sorge, es wird Sie schon niemand beißen. Schließlich sind wir ja alle nur hier, um Spaß zu haben!« Mit diesen Worten ließ sie die Gruppe im Scheunentor stehen und verschwand nach draußen auf den Hof.
  »Also, ich weiß ja nicht, was ihr vorhabt, aber ich werd mir jetzt erst mal was vom Grill holen«, verkündete Megan mit einem vorfreudigen Funkeln in den Augen, denen man deutlich ansehen konnte, wie ihr beim bloßen Gedanken an diesen Plan das Wasser im Mund zusammenlief. »Wer direkt an der Quelle zuschlägt, der bekommt auch die besten Stücke. Das wusste man schon im Paläolithikum.«
  »Ich werde mich fürs Erste Misses Atkins anschließen«, fügte Sam kurz angebunden hinzu, bevor er sich ebenfalls auf den Weg machte, der alten Dame zu folgen. »Dieser Backwettbewerb scheint nämlich genau innerhalb meines Interessengebietes zu liegen. Bis nachher!«
  Richard hatte kaum Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie er sich die Zeit vertreiben sollte, bevor ihm bewusst wurde, dass Agent Misora und er als einzige übriggeblieben waren. Und so zerknittert, wenn nicht sogar leicht apathisch, wie die arme Frau an diesem Abend aussah, würde er sie auch wirklich nur ungern sich selbst überlassen.
  »Buffet?«, fragte er hoffnungsvoll in ihre Richtung. Agent Misora hob den Kopf und schaffte es tatsächlich, sich ein erleichtertes, wenn auch noch immer etwas schwerfälliges Lächeln abzuringen.
  »Buffet.«


  Die beiden waren gerade dabei, sich einen Becher Fruchtbowle einzuschenken, als sie am Getränketisch Officer Delgado begegneten. Auch dieser hatte sich heute Abend dazu entschlossen, sein Uniformhemd und die schwarze Pelzkragenjacke zuhause zu lassen, und sah in Jeans und Pullover sogar richtig präsentabel aus.
  »Schön, Sie hier zu treffen, Special Agents!«, grüßte er sie mit dem üblichen Strahlen im Gesicht, auch wenn in seinem Blick, als dieser für einen kurzen Moment an Richard hängenblieb, noch immer eine gewisse Unsicherheit zu erkennen war. Wenn man ihre letzte Begegnung bedachte, dann war das allerdings auch kein Wunder und der Ermittler musste zugeben, dass ihm bei dem Gedanken ebenfalls wieder ein wenig flau im Magen wurde. Mit einem nun deutlich zurückhaltenderen Lächeln auf den Lippen kratzte Delgado sich im Nacken.
  »Ich, ähm … ich schätze, ich sollte mich wohl erst mal im Namen des Chiefs dafür entschuldigen, dass die Sache gestern so aus dem Ruder gelaufen ist. So ein Chaos hat wirklich niemand von uns beabsichtigt, das können Sie mir glauben! Stan hat eindeutig ein wenig über die Stränge geschlagen, das lässt sich wohl nicht beschönigen, aber Sie müssen auch verstehen, dass er sich riesige Sorgen um Nicky gemacht hat. Die beiden mögen sich zwar hin und wieder mal in die Wolle kriegen, aber sie bedeutet ihm wirklich alles und wenn dann auf einmal jemand ankommt und meint, sie in Untersuchungshaft stecken zu müssen, dann findet er das natürlich … nicht so toll. I-ich will sein Verhalten damit auch gar nicht rechtfertigen, verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine nur … na, Sie wissen schon.« Er blickte sich kurz um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sie belauschte, dann senkte er seine Stimme wieder etwas. »Ich glaube, es wäre wirklich besser, wenn Sie versuchen würden, dem Chief heute Abend aus dem Weg zu gehen. Er ist noch immer nicht sonderlich gut auf Sie zu sprechen und … das würde nur unnötigen Ärger geben. Bitte.«
  Richard nickte. »Selbstverständlich, das ist gar keine Frage. Wir haben ja schließlich genügend Zeit, um später ganz in Ruhe darüber zu reden.« Natürlich hatte er nicht vorgehabt, sich gleich wie ein tollwütiger Puma auf Chief Morrison zu stürzen, sobald er ihn entdeckte – was Megan betraf, war er sich da nicht so sicher –, aber wenn er ehrlich war, dann würde er die Konfrontation mit ihm fürs Erste auch lieber vermeiden. Eine angemessene Entschuldigung konnten sie wahrscheinlich noch früh genug erwarten, und Delgado hatte ja bereits seinen Teil dazu beigetragen. Dem schien die Situation auch so schon unangenehm genug zu sein, also entschloss Richard sich kurzerhand dazu, seinen Ärger herunterzuschlucken und nicht weiter auf das Thema einzugehen.
  »Was ist denn gestern passiert, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich jetzt auch Agent Misora mit gerunzelter Stirn, was Richard dazu veranlasste, einen kurzen, aber vielsagenden Blick mit Delgado auszutauschen. Auch dieser schien nicht gerade scharf darauf zu sein, die Ereignisse des gestrigen Nachmittages vor ihr auszubreiten, doch ihre Frage einfach zu ignorieren wäre vermutlich auch keine sonderlich elegante Lösung.
  »Auf dem Revier ist es zu einer kleinen Auseinandersetzung gekommen«, fasste Richard die Angelegenheit schließlich in so wenigen Worten wie möglich zusammen. »Nichts Weltbewegendes. Das kann schon mal passieren.«
  Agent Misora zog skeptisch eine Augenbraue nach oben, schien aber zu verstehen, dass die beiden jetzt nicht darüber sprechen konnten oder wollten, und hakte nicht weiter nach.
  »Um ehrlich zu sein ist es gerade auch weniger der Chief, sondern eher Nicky, um die ich mir Gedanken mache«, fuhr Delgado fort, was Richards Hoffnung, endlich das Thema wechseln zu können, sofort wieder zunichte machte. Er wollte gerade etwas erwidern, als er die tiefen Sorgenfalten auf dem Gesicht des jungen Mannes bemerkte. Dessen Finger hatten inzwischen den Reißverschluss seiner Jacke gefunden und nestelten unruhig daran herum. »Bisher hab ich sie hier noch nirgendwo gesehen und auch, wenn ich mir durchaus vorstellen kann, dass sie nach dem ganzen Drama keine Lust mehr dazu hatte, einem von Ihnen über den Weg zu laufen, hab ich trotzdem ein ungutes Gefühl bei der Sache. Sie hat auch nicht geantwortet, als ich vorhin noch einmal bei ihr angeklopft habe.« Er schürzte die Lippen und stieß ein resigniertes Seufzen aus. »Wahrscheinlich will sie einfach nur in Ruhe gelassen werden und ich zerbreche mir gerade völlig umsonst den Kopf darüber. Ich weiß ja, wie nachtragend sie manchmal sein kann. Tut mir leid, dass ich Sie jetzt damit vollgequatscht hab, ich, äh … vergessen Sie’s einfach!«
  »Ich bin mir sicher, es ist alles in Ordnung«, versuchte Richard, ihn zu beruhigen, und gab sich Mühe, ein möglichst aufmunterndes Lächeln aufzusetzen. »An Nicoles Stelle hätte ich vermutlich auch kein allzu großes Bedürfnis danach verspürt, heute Abend zu erscheinen.«
  Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, musste er auf einmal wieder an Ryuzakis mehr als fragwürdigen Auftritt auf dem Revier denken und ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken herunter. Wäre es nicht vielleicht doch möglich, dass Nicole in der Zwischenzeit etwas zugestoßen war und sie deswegen … nein, damit durfte er gar nicht erst anfangen. Zwar war es ihm noch immer ein Rätsel, weshalb Ryuzaki etwas derart Unangebrachtes behaupten würde, aber mittlerweile war Richard sich ziemlich sicher, dass dieser seltsame Privatdetektiv nur Aufmerksamkeit suchte, ganz egal, ob sie nun positiv oder negativ ausfiel. Und sie konnten Nicole ja später immer noch einen Besuch abstatten.
  »Schauen Sie mal, wenn man vom Teufel spricht!«, unterbrach Delgado auf einmal seine Gedanken und deutete in Richtung der gegenüberliegenden Raumseite, wo neben einigen aufgeschichteten Strohballen tatsächlich Chief Morrison stand und gerade in eine rege Unterhaltung mit Miss Bradley-Chung vertieft zu sein schien. Das hieß, er versuchte, sie in besagte Unterhaltung zu verwickeln, doch mehr als ein müdes Augenrollen und das eine oder andere verkniffene Lächeln hatte die Landwirtin nicht für ihn übrig, während sie sich für Officer Shepherds Geschichten hingegen deutlich mehr zu interessieren schien. Es war wirklich ein jämmerlicher Anblick, bei dem Richard gar nicht anders konnte, als Fremdscham zu empfinden.
  Delgado seufzte überfordert. »Das kann man ja kaum mit ansehen … ich glaube, ich sollte Esther und Joanne gleich mal ein bisschen unter die Arme greifen und den Chief zum Buffet mitschleifen, sonst wird das mit den beiden ja nie was!«
  Richard nahm einen Schluck Bowle und senkte nachdenklich die Augenbrauen. Kaum hatte sie sich Officer Shepherd zugewandt, war von Miss Bradley-Chungs sonst so mürrischer Abwehrhaltung kaum noch etwas zu erkennen, ganz im Gegenteil: hin und wieder lächelte sie sogar.
  »Na ja, auf alle Fälle ist der Chief definitiv nicht ihr Typ!«
  »Hat Officer Shepherd da etwa Handschellen an ihrem Gürtel?«, bemerkte Agent Misora in diesem Moment und legte misstrauisch die Stirn in Falten. »Ich dachte, die Leute sind hier, um sich zu amüsieren …«
  »Ja … Esther ist ein bisschen eigen, was das angeht.« Delgado zuckte verlegen lächelnd mit den Schultern. »›Vorsicht ist besser als Nachsicht‹, pflegt sie in solchen Fällen immer zu sagen. Aber ich glaube, ich werde mir jetzt erst mal unseren Chief schnappen und den beiden Damen ein bisschen Zeit für sich gönnen, bevor die Sache dahinten noch eskaliert. Man sieht sich!«
  Kaum hatte der junge Polizist sich aus dem Staub gemacht, um seinen Worten Taten folgen zu lassen, gab Agent Misora ein leises, aber hörbar langgezogenes Stöhnen von sich und stellte ihren nach wie vor randvollen Becher Bowle vor sich auf dem Buffettisch ab.
  »Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube, ich mache mich langsam auch wieder auf den Rückweg.«
  »So früh schon?«, entfuhr es Richard ungläubig, noch bevor er so richtig über seine Wortwahl hatte nachdenken können. »Ich meine … fühlen Sie sich nicht gut? Wir können mit Sicherheit irgendwo eine Kopfschmerztablette und ein ruhiges Plätzchen für Sie auftreiben, wenn es nur das ist …«
  Agent Misora schüttelte den Kopf. Jetzt, wo er genauer hinsah, wirkte sie tatsächlich eher erschöpft, als wirklich kränklich. Anscheinend hatte sie letzte Nacht nicht sonderlich viel Schlaf abbekommen. »Das ist nicht das Problem. Es ist nur so, dass ich morgen Mittag wieder zurück nach L.A. fahre und bisher habe ich das Packen ziemlich konsequent vor mir hergeschoben, wenn ich ehrlich bin.« Wieder seufzte sie. »Es war von Anfang an ein Fehler, mit hierherzukommen. Tut mir leid, falls ich Ihnen damit die Stimmung verdorben habe, das war wirklich nicht meine Absicht. Ich schätze, ich habe mich mit der Zeit wohl einfach ein wenig verkalkuliert …«
  »Ach was, Sie haben mir doch nicht die Stimmung verdorben! So etwas kann jedem mal passieren.« Richard senkte die Augenbrauen und zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »Soll ich Sie vielleicht zurück zur Pension begleiten? Mittlerweile ist es ja schon ziemlich dunkel geworden und die Straßen sind um diese Zeit wahrscheinlich so gut wie leer …«
  Das angespannte Lächeln, das sich nun auf Agent Misoras Zügen ausbreitete, ließ ihn sich augenblicklich wünschen, er könnte seine Worte wieder zurücknehmen. »Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, aber ich glaube, das schaffe ich auch allein. Eine gestandene FBI-Agentin, auch wenn sie noch nicht allzu lange im Geschäft ist, kriegt so schnell nichts unter.« Sie rieb sich demonstrativ über die Fingerknöchel. »Außerdem beherrsche ich Capoeira.«
  Richard war drauf und dran, ihr zu widersprechen und dennoch darauf zu bestehen, mit ihr kommen zu dürfen, doch er behielt seine Bedenken für sich. Agent Misora hatte recht. Sie mochte vielleicht eine junge Frau sein, aber diese Tatsache machte sie noch lange nicht schutz- oder gar hilflos. Die Person vor ihm hatte dieselbe knochenharte Ausbildung abgeschlossen, durch die auch er sich gekämpft hatte, und das offenbar mit Erfolg, sonst wäre sie jetzt nicht hier. Eine Welle von Scham überkam ihn, als ihm dieser Gedankengang bewusst wurde und er presste unweigerlich die Lippen aufeinander.
  »Na gut, wie Sie meinen«, antwortete er schließlich, nachdem er den Großteil seiner Zweifel heruntergeschluckt hatte. »Dann wünsche ich Ihnen noch einen sicheren Heimweg und hoffe, dass Sie all Ihre Koffer gepackt bekommen. Wir werden uns ja wahrscheinlich morgen früh noch einmal sehen, oder?«
  »Garantiert. Machen Sie’s gut!«
  Richard nickte ihr noch einmal zum Abschied zu, bevor Agent Misora ebenfalls das Feld räumte, und ihn allein am Buffettisch zurückließ. Vielleicht wurde es ja auch für ihn langsam Zeit, sich irgendwo dazuzugesellen und ein wenig Konversation zu betreiben. Wenigstens lief er dabei heute nicht Gefahr, dass sich irgendjemand von seiner viel zu strengen Krawatte eingeschüchtert fühlte.



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Mittwoch, 31. Oktober 2001  •  19.36 Uhr


Zu ihrer Überraschung hatte Megan feststellen müssen, dass der Kürbispunsch, den sie hier ausschenkten, bei weitem nicht so ekelhaft schmeckte, wie er sich anhörte. Ganz im Gegenteil, sie konnte sich sogar durchaus vorstellen, sich nachher noch einen zweiten Becher davon zu genehmigen. Verdursten würde sie hier also schon mal nicht.
  Während die Ermittlerin etwas abseits des Hofplatzes durchs feuchte Gras schlenderte und das immer noch rege Treiben mit wachsamen Augen beobachtete, erblickte sie am Eingang des Maislabyrinthes die wohlbekannte und auffallend kompakte Pelzkragensilhouette von Glenn Townsend. Dieser schien gerade eine lebensgroße Vogelscheuche mit zerrissener Kleidung und riesigem Strohhut zu betrachten, die aussah, als wäre sie von irgendeinem Bastler aus rostigen Drähten, alten Leinensäcken und Pappmaché zusammengezimmert worden. In der Hand hielt er ein kleines, zerfleddertes Notizbuch, dessen Seiten er währenddessen mit hochkonzentrierter Miene vollkritzelte.
  Megan legte die Stirn in Falten und schürzte nachdenklich die Lippen. Wahrscheinlich sollte sie den Typen einfach in Ruhe lassen und froh darüber sein, dass L die Sache mit den Zwergen so mühelos hatte regeln können. Aber es war so verlockend! Und bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte, sich abzuwenden und stattdessen vor ihrer eigenen Tür zu kehren, war sie auch schon auf dem Weg zu Townsend und konnte förmlich spüren, wie sich ein schelmisches Grinsen auf ihren Zügen auszubreiten begann.
  »Wenn Sie nicht langsam mal anfangen, mit den anderen Leuten zu reden, statt den künstlerischen Mehrwert der Halloween-Dekorationen zu analysieren, werden die nie aufhören, Sie für einen menschenfressenden Hinterwäldler zu halten.«
  Townsend zuckte sichtbar zusammen, als er ihre Stimme hörte, und fuhr augenblicklich zu ihr herum. Sein Gesicht sah aus, als wäre er gerade barfuss auf eine Nacktschnecke getreten.
  »Dass Sie sich überhaupt noch trauen, mich anzusprechen«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, doch Megan zuckte bloß unberührt mit den Schultern.
  »Ich wollte nur ein bisschen Konversation machen, nichts weiter. Schließlich sind wir doch alle hier, um uns zu amüsieren, oder etwa nicht?« Sie schenkte ihm ein herausforderndes Zwinkern und trank einen langen, ausgiebigen Schluck von ihrem Kürbispunsch. Townsend schien zwar noch immer nicht sonderlich begeistert von ihrer Anwesenheit zu sein, scheuchte sie aber auch nicht mit Klauen und Zähnen davon, weshalb sie sich nicht dazu aufgefordert fühlte, seine Seite wieder zu verlassen.
  »Nicht, dass Sie auf falsche Gedanken kommen, ich bin lediglich wegen des Apfelkuchens hier«, fuhr er immer noch murrend fort. »Und wegen Mister Griffiths Whiskey. Außerdem dachte ich mir, dass sich das Ambiente mit Sicherheit wunderbar dafür eignen würde, um ein wenig Inspiration für meinen aktuellen Roman zu schöpfen. Der spielt nämlich ebenfalls an Halloween, müssen Sie wissen.«
  »Ach wirklich …«
  »Dieses Festival ist der perfekte Schauplatz für eine Szene, die ich demnächst zu schreiben plane«, schwadronierte der Schriftsteller weiter, während er aufgeregt mit der Rückseite seines Kugelschreibers auf den vollgekrakelten Seiten herumklopfte, und sein Groll Megan gegenüber schien auf einmal wie weggeblasen. »Da wollte ich mir natürlich schon mal ein paar Stichworte und Satzfragmente notieren, damit ich sie später nicht vergesse. Ich würde Ihnen ja gerne mehr erzählen, aber wenn ich jetzt schon die ganze Handlung herausposaune, wird mein Verleger mir wahrscheinlich das Fell über die Ohren ziehen … ich kann nur so viel sagen: es geht um eine junge Notfallsanitäterin, die mithilfe einer Freundin versucht, den tragischen Tod ihres Bruders aufzuklären, der sich vor vielen Jahren an Halloween ereignete, und-«
  »Das klingt ja alles total aufregend, aber ich glaube, ich hab noch was auf dem Herd«, versuchte Megan sich eher halbherzig aus der Situation herauszureden und machte bereits ein paar Schritte rückwärts, während sie mit beiden Händen in Richtung Hofplatz gestikulierte. »Wird bestimmt ein absoluter Knüller, ich werd’s mir auf jeden Fall kaufen, wenn’s draußen ist, viel Glück beim Ideenfinden, man sieht sich!«
  Bevor Townsend auch nur über eine Erwiderung nachdenken konnte, war sie bereits außer Hörweite und floh auf dem schnellsten Weg zurück zur Scheune, in der Hoffnung, dort zumindest ihren Punsch auffüllen zu können, bevor der Kerl noch seinen kompletten Roman vor ihr ausbreitete.


  Megan hatte sich gerade eine Handvoll Kräuterkäsewürfel vom Buffet genehmigt, als sie an einem der Tische, die abseits der Strohballen aufgestellt worden waren, Misses Atkins stehen und sich mit den dort sitzenden Dorffestbesuchern unterhalten sah. Zu ihren Füßen lag ein großer, unheimlich wuschelig aussehender Hund, den der ganze Rummel um ihn herum nicht im Geringsten zu tangieren schien, während er auf einem Stück Seil herumkaute. Megans Füße bewegten sich ganz von allein in Richtung des niedlichen Vierbeiners, doch auf halbem Wege wurde sie auch von Misses Atkins entdeckt, welche sie mit einem überschwänglichen Glucksen zu sich herüberwinkte.
  »Huhu, Miss Newman, kommen Sie her, kommen Sie her!«, flötete die Pensionsbesitzerin vergnügt und klopfte ihr überraschend kräftig auf die Schulter, kaum dass sie ihren Tisch erreicht hatte. »Ich würde Sie furchtbar gern ein paar Leuten vorstellen, schauen Sie mal! Lawrence Foster kennen Sie ja schon, nicht wahr?« Sie deutete auf den bärtigen Herrn mit dem verschmitzten Lächeln und den warmen, dunklen Augen, der ihnen in der vergangenen Woche Ls Paket überbracht hatte. »Hier haben wir seine Frau Louise, die nebenbei bemerkt den besten Kamillentee in ganz Holden Creek kocht.« Eine kleine, pausbäckige Dame mit hochgestecktem Haar, die eine noch fülligere Statur besaß als Misses Atkins, blinzelte verlegen unter ihrer Brille hervor.
  »Du schmeichelst mir zu sehr, Martha. Mit den richtigen Zutaten bekommt doch jeder eine Tasse Tee hin …«
  »Keine falsche Bescheidenheit!«, erwiderte die Angesprochene sofort und hob tadelnd ihren Zeigefinger. »Ohne das nötige Know-how machen selbst die aromatischsten Blätter nichts her. Ach ja …« Sie wandte sich wieder an Megan. »Und das dahinten ist der alte Dale Sawyer. Vielleicht haben Ihre Kollegen ja schon einmal von ihm erzählt.«
  Der Mann, auf den Misses Atkins nun zeigte, sah mit seiner bleichen, stellenweise geröteten Haut und den strähnigen, weißen Haaren neben Lawrence’ und Louise’ erdbraunem Teint beinahe aus wie ein Gespenst. Mit gebeugtem Rücken und hochgezogenen Schultern hockte er ganz hinten auf der Bank und knabberte an einem Grillspieß herum, dessen Überreste zu großen Teilen in seinem Bart hängen blieben und ihn ein wenig so aussehen ließen wie einen Neandertaler, der gerade kurz vorm Verhungern war. Ein ausgesprochen reizender Zeitgenosse …
  »Es hat mich eine halbe Ewigkeit gekostet, ihn zu überreden, heute Abend ebenfalls zu erscheinen, aber wie Sie sehen können, haben meine Mühen sich gelohnt«, flüsterte Misses Atkins ihr deutlich lauter, als sie vermutlich beabsichtigt hatte, ins Ohr, und so langsam begann Megan klarzuwerden, dass auch sie wohl schon den einen oder anderen Schluck Kürbispunsch zu sich genommen hatte. Ein gequältes Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus, als der beißende Atem der alten Dame ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ und ihre Vermutung bestätigte: Craig Griffiths Whiskey. Ganz eindeutig.
  »Um Himmels Willen, ich habe ja völlig die Zeit vergessen!«, japste Misses Atkins mit einem Mal und presste sich wehmütig die Hand auf die Brust. »Die Jury wollte eigentlich nur fünf Minuten Pause machen und jetzt hab ich mich doch tatsächlich schon wieder verquatscht! Tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss euch einmal mehr euch selbst überlassen. Macht es gut und übertreibt es nicht mit dem-« Ein nahezu lächerlich perfekt abgepasster Schluckauf unterbrach sie. »Mit dem Punsch, wollte ich sagen. Bis später, meine Lieben!«
  Nachdem Misses Atkins von dannen gezogen war, ließ auch Megan sich auf der Bank neben den drei älteren Herrschaften nieder und stellte ihren Becher vor sich auf dem Tisch ab. Der Hund hob indessen kurz seinen Kopf, als er bemerkte, dass sich ein neues Paar Beine zu ihnen gesellt hatte, verlor jedoch relativ schnell das Interesse daran und widmete sich erneut seinem Spielzeug.
  Wenn sie sich hier in dieser Gesellschaft so umsah, dann konnte Megan nicht anders, als sich zu fragen, wie es der alten Misses McQuire wohl gerade gehen mochte. Vermutlich hatte sie ihren Fernseher wieder einmal auf die höchste Lautstärke eingestellt, damit er das ständige Klingeln irgendwelcher nach Süßigkeiten bettelnden Kinder an ihrer Haustür übertönte. Eventuell dachte sie sogar darüber nach, ihnen die Schüssel mit den Bonbons einfach über den Schädel zu ziehen und sie fluchend von ihrer Veranda zu jagen, doch dafür müsste sie sich ja aus ihrem Sessel bequemen … bei dem Gedanken musste Megan unweigerlich schmunzeln. Früher hatte sie nie wie ihre Freundin werden wollen, so garstig und verspießt, wie diese sich stets gegeben hatte, aber heute wusste sie es besser. Ohne die gute Lizzie und ihre nimmermüden Versuche, ihr nach diesem Vorfall am Kiosk Manieren beizubringen, hätte sie wahrscheinlich nie einen derartigen Ehrgeiz entwickelt. Dabei war das bei weitem nicht das erste Mal gewesen, dass Megans Liebe für Gummibärchen – gepaart mit ihrem chronischen Taschengelddefizit – sie in Schwierigkeiten gebracht hatte …
  Megan schob die rührseligen Erinnerungen beiseite und ließ ihren Blick stattdessen wieder durch die Menge schweifen. Inzwischen war die Scheune ganz schön voll geworden, was durchaus Sinn ergab, wenn man die klirrenden Spätherbsttemperaturen draußen bedachte. In der Mitte des Raumes, abseits von Buffet und Sitzplätzen, tanzten ein paar Leute ausgelassen zur Musik, unter anderem auch Lucy Weaver und Craig Griffith. Die beiden sahen … erstaunlich glücklich aus. Große Schritte, rhythmische Bewegungen, und die Schweißtropfen, die auf ihren strahlenden Gesichtern glänzten, konnte Megan selbst von ihrem Platz aus erkennen. Wenn sie so darüber nachdachte, dann war dies tatsächlich das erste Mal, dass sie den Pubbesitzer lächeln sah – und es war auch das erste Mal, dass er in ihrer Gegenwart überhaupt ein anderes Gefühl als bittere Resignation oder Wut ausdrückte. Mit einem Mal wirkte er wie ein völlig anderer Mensch.
  »Schön, wie die beiden sich amüsieren, oder?«, konnte Megan Misses Foster neben sich schwärmen hören und wandte sich zu ihr um. »Ich hab meine kleine Lucy schon lange nicht mehr so tanzen sehen. Von Craig einmal ganz zu schweigen. Schon bevor Dana gestorben ist, hatte ich den Eindruck, dass sie ein wenig stiller geworden war, aber seit sie ihre beste Freundin verloren hat, scheint kaum noch Leben in ihr zu stecken. Es bricht mir jedes Mal das Herz, auch nur darüber nachdenken zu müssen … Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr es mich freut, die zwei wieder derart aufblühen zu sehen.«
  »Da haben Sie recht.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über Megans Züge, als sie sich erneut der Tanzfläche zuwandte. Wahrscheinlich sollte sie versuchen, Misses Foster dazu zu bringen, ihr ein wenig mehr über ihre Tochter zu erzählen, doch wie sollte sie das anstellen, ohne das Ganze schon wieder wie ein Verhör klingen zu lassen? Dass Feingefühl nicht unbedingt ihre Stärke war, wusste sie selbst, aber in der Praxis half diese Erkenntnis ihr leider auch nicht weiter. »Stehen die beiden sich sehr nah?« Nicht unbedingt die eleganteste Art und Weise, um das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken, aber immerhin ein Anfang.
  »Sie sind gute Freunde«, entgegnete Misses Foster ihr immer noch lächelnd, doch der Schatten, der sich nach dieser Frage über ihren Zügen ausgebreitet hatte, war nicht zu übersehen. »Besonders in den letzten Monaten haben sie viel Zeit miteinander verbracht, was hier leider Gottes auch schon für ein paar unappetitliche Gerüchte gesorgt hat.« Die alte Dame zog eine säuerliche Grimasse. »Ethan ist aufgrund seines Berufes nur selten zuhause und Lucy ist von Natur aus eine sehr anhängliche Person, die sich schnell einsam fühlt. Das ist keine gute Mischung, wie Sie sich sicherlich vorstellen können. Und was Craig betrifft … zu seinem aktuellen Gemütszustand muss ich hoffentlich nichts sagen. Er soll vor einiger Zeit sogar versucht haben, sich umzubringen … und einigen Leuten hier fällt nichts Besseres ein, als den beiden eine Affäre zu unterstellen! Was natürlich ausgemachter Unsinn ist. Lucy würde Ethan nie betrügen, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Sie können sich nicht vorstellen, wie diese Vorwürfe an ihr nagen, und das, obwohl sie es im Augenblick nun wirklich schwer genug hat …«
  »Wenn man viel zusammen durchgemacht hat, dann steht man sich nach einer gewissen Zeit eben auch sehr nah«, fügte Mister Foster ebenfalls hinzu und beugte sich etwas näher zu den beiden Frauen herüber. »Leute, die sich aus so was immer gleich eine Liebesaffäre zusammenreimen müssen, bemitleide ich eher, muss ich gestehen. Die haben nämlich offensichtlich keine Ahnung, wie es ist, einen Freund zu haben, auf den man sich in jeder Lebenslage verlassen kann. Nur weil eine Frau und ein Mann sich gut verstehen und beide um eine geliebte Person trauern, müssen die doch nicht gleich miteinander ins Bett gehen, oder?«
  »Das kommt doch alles nur wieder von dieser alten Tratschtante Dawn Rogers!«, murrte Misses Foster und schürzte angewidert die Lippen. »Eine unmögliche Frau ist das, steckt ihre Nase in jede Angelegenheit, die sie nichts angeht, und hat nichts Besseres zu tun, als Unsinn über mein Mädchen zu verbreiten! Kein Wunder, dass die kleine Chloe so viel Zeit bei den Harts verbringt, hätte ich so eine Mutter, würde ich es in dem Haus auch keine Minute länger als nötig aushalten.«
  Megan runzelte die Stirn, stützte das Kinn in die Hände, und wandte ihren Blick zurück in Richtung der Tanzenden, während die beiden Senioren neben ihr sich weiter lautstark über ihre Nachbarn aufregten. In diesem Punkt musste sie Mister Foster recht geben. Es konnte wirklich verdammt ätzend sein, immer gleich für ein Paar gehalten zu werden oder irgendwelche Hintergedanken unterstellt zu bekommen, nur weil man mit seinen männlichen Freunden mal etwas körperlicher wurde oder am lautesten über ihre Witze lachte. Aber selbst wenn Weaver und Griffith tatsächlich eine Affäre miteinander führten oder geführt hatten, musste das ja noch lange nicht bedeuten, dass sie Dana Griffith oder einen der anderen beiden ermordet hatten. Mittlerweile tat es ihr schon fast wieder leid, die zwei so scharf im Verdacht gehabt zu haben, vor allen Dingen, nachdem sie Misses Weavers eigene Mutter so über sie hatte sprechen hören, aber ganz aus dem Schneider waren sie deswegen noch nicht. Zumindest nicht, so lange es keine eindeutigen Gegenbeweise gab.
  Vorerst würde Megan ihre Aussichtsposition jedoch nutzen, um die Feiernden weiterhin zu beobachten – und sich bei Gelegenheit vielleicht sogar noch einen dritten Becher Kürbispunsch zu holen.
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