Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Wo wir begraben liegen

von Tschuh
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday L Naomi Misora OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
Alle Kapitel
58 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
15.02.2022 7.053
 
AN: In diesem Kapitel wird viel geschrien. Viele, viele Ausrufezeichen. Ausrufezeichen!!! Nehmt es als Warnung, als Herausforderung, oder als freudige Ankündigung. 8D

Gott, hab ich hier lange mit dem Titel gehadert … und hundertprozentig zufrieden bin ich immer noch nicht. Aber was soll’s, dann ist er eben seltsam.

Sagt mal, Freunde … liest hier eigentlich noch irgendjemand mit? Ich hab jetzt seit einer ganzen Weile keine Rückmeldung mehr zu dieser Geschichte bekommen (nicht nur in Form von Reviews, sondern einfach allgemein) und ich weiß, dass dieses Fandom hier schon seit Jahren tot as fuck ist, aber es würde mich echt mal interessieren … hebt die Hand, wenn ihr aktiver Leser seid … oder so.



▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬



k a p i t e l   1 9
BLUT UND WASSER



Dienstag, 30. Oktober 2001  •  16.12 Uhr


Zugegeben, ein klein wenig bedenklich sah es schon aus, wie Nicole dort mit sichtlich verkrampfter Miene und zu beiden Seiten von Megans Kollegen flankiert durch die Straßen geführt wurde, aber es hätte mit Sicherheit auch schlimmer kommen können. Wenigstens hatten sie ihr keine Handschellen anlegen müssen, was bei einem Fußweg von nicht einmal drei Minuten auch wirklich etwas zu viel des Guten gewesen wäre, vor allen Dingen, da ihre Verdächtige bis auf ein paar genervte Seufzer bisher auch keinerlei Widerstand geleistet hatte. Und ehrlich gesagt war das schon mehr, als Megan sich anfangs erhofft hatte. Einsicht war schließlich der erste Schritt zur Besserung.
  Als das Vierergespann den Eingangsbereich der Polizeistation betrat, standen Morrison und Delgado gerade vorne am Empfangstresen und wandten sich verwundert zu ihnen um. Verständlich, immerhin hatten sie mit Sicherheit nicht damit gerechnet, die Gruppe bereits so schnell wiederzusehen. Kaum hatte der Chief jedoch bemerkt, um wen es sich bei der jungen Frau in ihrer Mitte handelte, riss er ungläubig die Augen auf und stürmte wie ein aufgehetzter Bulle auf sie zu.
  »Nicky?! Was machst du denn hier?« Er schüttelte den Kopf und sämtliche Verwirrtheit wurde mit einem Schlag von Ärger vertrieben. »Sag mir nicht, du hast schon wieder irgendwas angestellt … könnte mir mal bitte jemand verraten, was das Ganze hier soll?!« Die letzte Frage war offensichtlich an die Ermittler gerichtet. Nicole selbst zog nichts weiter als eine säuerliche Grimasse und schien auch keine große Lust zu haben, sich persönlich vor ihrem Vater zu rechtfertigen. Megan hätte das an ihrer Stelle vermutlich auch nicht gehabt.
  »Wir haben Nicole gerade dabei erwischt, wie sie sich unrechtmäßigen Zugang zu Agent Dunstans Pensionszimmer verschafft hat«, erklärte Richard in erschreckend kühlem Ton, während sie sich umständlich an Morrison vorbei in den Büroraum hineinschlängelten. »Wir wollen ihr lediglich ein paar Fragen stellen und hatten vor, zu diesem Zweck Ihren Verhörraum zu nutzen. Das geht doch in Ordnung, oder?«
  »Du hast was?!«, ignorierte Morrison den letzten Teil und schoss erneut zu seiner Tochter herum, die inzwischen ebenfalls einen Zahn zugelegt hatte, als könnte sie es auf einmal gar nicht mehr erwarten, endlich mit dem Verhör zu beginnen. »Sag mal, bist du eigentlich noch ganz bei Trost?! Du kannst doch nicht einfach-« Er schnitt sich selbst mit einem unverständlichen Murren das Wort ab, ehe er beschloss, stattdessen lieber Richard mit seinen Blicken zu durchbohren. »Und Sie!« Der arme Mann schien sich überhaupt nicht entscheiden zu können, wen er zuerst anschnauzen sollte. »Was fällt Ihnen ein, einfach so meine Tochter zu verhaften?! Und dann nehmen Sie sich auch noch die Frechheit heraus, dafür meinen Verhörraum in Anspruch nehmen zu wollen? Ich glaub, mich laust der Affe! Machen Sie das eigentlich mit Absicht?!«
  »Wir sagten doch bereits, dass wir Nicole auf frischer Tat ertappt haben«, versuchte jetzt auch Sam, die Wogen ein wenig zu glätten. »Uns liegt eine ganz klare Beweislage vor, die wir unmöglich ignorieren können, aber einen Grund, sich aufzuregen, gibt es momentan wirklich noch nicht-«
  »Sie kommen hier mit meiner Tochter in der Zange reinmarschiert und ich soll mich nicht aufregen?! Also, das ist ja wohl die Höhe!«
  »Wenn Sie meinem Kollegen vorhin zugehört hätten, dann würden Sie mit Sicherheit verstehen, dass es sich hierbei um einen völlig legitimen Eingriff handelt und wir lediglich-«
  »Ach so, jetzt zweifeln Sie also auch schon an meinen geistigen Fähigkeiten! Na, das wird ja immer schöner!«
  »Das ist doch bestimmt nichts weiter als ein Missverständnis«, mischte sich nun zu allem Überfluss auch noch Delgado in das Gespräch mit ein und Megan hätte am liebsten laut aufgestöhnt. »Chief, wie wäre es denn, wenn Sie die Agenten erst einmal machen lassen? So lässt die Sache sich mit Sicherheit im Handumdrehen klären und dann sind Sie am Ende ganz umsonst in die Luft-«
  Morrison unterbrach ihn mit einem warnenden Knurren. »Das war ja mal wieder klar, dass ausgerechnet du dich auf die Seite der feinen Damen und Herren schlägst, du elender Verräter!«
  »A-aber ich wollte doch nur …«
  So langsam wurde Megan die ganze Geschichte zu bunt. Mit fest aufeinandergepressten Zähnen schob sie Nicole, die von dem Gebrüll mindestens ebenso gestresst aussah, wie sie sich fühlte, in Richtung einer unscheinbar wirkenden Tür auf der rechten Seite des Bürozimmers, hinter der sich nach Morrisons eigenen Angaben der Verhörraum befand. Tatsächlich schien dieser im Eifer des Gefechtes überhaupt nicht mitzubekommen, dass die beiden Frauen gerade dabei waren, sich davonzumachen. Lediglich Richard bemerkte den Versuch und heftete sich umgehend an ihre Fersen – ob er sie tatsächlich unterstützen oder sie einfach bloß nicht mit der Verdächtigen allein lassen wollte, konnte Megan nicht sagen, aber in diesem Moment war ihr das ehrlich gesagt auch egal.
  »Hey, ich bin noch nicht fertig mit Ihnen!«, konnte sie Morrison bereits hinter sich schnaufen hören, doch bevor er es schaffte, erneut zu ihnen aufzuholen, trat Sam glücklicherweise dazwischen und machte einige beschwichtigende Gesten, während er Richard und ihr mit einem unmissverständlichen Blick deutlich machte, dass sie sich beeilen sollten. Das Letzte, was Megan in dem Durcheinander erkennen konnte, bevor die Tür hinter ihr und Nicole ins Schloss fiel, war Delgados besorgte Miene, die eindeutig ihrer Verdächtigen galt, ehe letztendlich wieder Stille einkehrte. Wenn auch wahrscheinlich nicht für lange.


  Megan hatte zwar geahnt, dass der Vernehmungsraum dieser Provinzwache nicht gerade biblische Ausmaße besitzen würde, doch die tatsächliche Enge und vor allen Dingen die mehr als bedrückende Stimmung, mit der sie sich nun konfrontiert sah, ließ ihre Laune wirklich auf den Tiefpunkt sinken. Graue, lieblos verputzte Wände, ein karger Tisch mit zwei Stühlen, von denen mindestens einer so aussah, als könnten ihm jeden Moment die Beine abbrechen, und natürlich kein einziges Fenster. Die mickrige, aber gleichzeitig auch viel zu helle Deckenbeleuchtung, die Richard vorhin beim Betreten des Raumes eingeschaltet hatte, erhellte nur mit Müh und Not die Spargarnitur in der Mitte, als wäre das hier die billigste Theaterbühne der Welt, und kein gottverdammtes Verhörzimmer! Daheim in Denver hatte sie sich mit so etwas nie herumschlagen müssen … aber Vergleiche brachten ihr im Augenblick genauso wenig wie sinnloses Herumgejammere.
  Ohne sich lang bitten zu lassen löste Nicole sich von Megans Seite und nahm auf einem der Stühle Platz, als wäre sie mit der ganzen Prozedur bereits bestens vertraut. Was vermutlich gar nicht mal so unwahrscheinlich war, schließlich hatten sie es hier noch immer mit der Tochter des hiesigen Polizeichefs zu tun. Richard setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, woraufhin Megan notgedrungen beschloss, mit verschränkten Armen neben der Tür stehenzubleiben und sich das ganze Elend erst einmal aus der Ferne anzusehen. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn ihr Kollege für den Anfang das Reden übernahm, zumindest schien er sich von allen Beteiligten bisher noch am ehesten unter Kontrolle zu haben. Wobei Megan nicht sagen konnte, ob sie seinen kühlen Kopf in diesem Fall bewundern oder einfach bloß annehmen sollte, dass er innerlich bereits tot war.
  »Also, Miss Morrison … Nicole«, begann Richard schließlich mit ruhiger Stimme, beide Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet und sein Gegenüber mit prüfenden Blicken musternd. »Jetzt wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt, um die Situation noch einmal ganz in Ruhe aus Ihrer Sicht zu schildern. Was genau haben Sie vorhin in Agent Dunstans Zimmer gesucht?«
  »Finden Sie das alles nicht ein bisschen übertrieben?«, murrte Nicole, ohne auch nur ansatzweise auf seine Frage einzugehen, und machte eine ebenso vage wie ausladende Handbewegung in seine Richtung. »Ich meine, es ist ja jetzt nicht so, als hätte ich die englischen Kronjuwelen mitgehen lassen oder so was in der Art. Und trotzdem werde ich hier behandelt wie eine Schwerverbrecherin. Gut, okay, ich hätte mich von der Gelegenheit nicht verführen lassen dürfen, das war dumm von mir und das sehe ich auch ein, aber müssen Sie deswegen wirklich gleich die Guter-Cop-Böser-Cop-Nummer auspacken? Ein bisschen lächerlich ist das schon, oder?« Sie lachte kurz und freudlos auf. »Was haben Sie jetzt vor? Wollen Sie mich in den Knast stecken?«
  Richard, der unterdessen noch immer keine Miene verzogen hatte, zuckte mit den Schultern. »Das wäre eine Möglichkeit.«
  »Da wird der Chief aber auch noch ein Wörtchen mitzureden haben.«
  Megan verdrehte die Augen. »Glauben Sie mal nicht, dass Daddy Ihnen hier so einfach aus der Patsche helfen wird. Oh nein, das dürfen Sie schön alleine ausbaden.«
  »Ich frage Sie jetzt noch einmal«, riss Richard nun wieder das Wort an sich, bevor Nicole auch nur die Gelegenheit dazu hatte, ein bissiges Kontra zu geben, Megans Kommentar dabei geflissentlich ignorierend. »Was haben Sie sich davon versprochen, in Agent Dunstans Pensionszimmer einzubrechen?«
  Inzwischen hatte Nicole sich mit trotzig vor der Brust verschränkten Armen in ihrem Stuhl zurückgelehnt und durchbohrte Richard mit einem Blick, der Megan stark an den eines aufmüpfigen Kindes erinnerte, das nach einem aus dem Ruder gelaufenen Streich ins Büro des Schuldirektors zitiert worden war.
  »Wie bereits gesagt: ich habe eine Reportage zu schreiben. Als berufene Journalistin muss ich nun mal auch bereit dazu sein, gewisse Risiken einzugehen, und ja, mir ist durchaus bewusst, dass solche Aktionen nicht immer rosig enden. Aber die Konsequenzen sind mir egal. Es geht ums Prinzip! Wenn der Schreibprozess ins Stocken gerät, ist der Autor persönlich dafür verantwortlich, ihn wieder anzukurbeln, auch wenn das bedeutet, dass er selbst Hand anlegen muss. Mein Gott, wie lange ist es jetzt her, dass überhaupt mal etwas in Holden Creek passiert ist? Ich hab keine Ahnung! Da kann ich doch nicht einfach untätig an meinem Schreibtisch hocken bleiben und Däumchen drehen!« Sie gab ein bitteres Schnauben von sich. »Hören Sie zu. Diese Reportage ist nicht nur das größte, sondern auch das mit Abstand wichtigste Projekt, an dem ich bisher gearbeitet habe. Nach all dem Schweiß, der Zeit, und dem Herzblut, das ich in diese Recherchen gesteckt habe, kann ich jetzt nicht einfach so aufhören! Das Ding muss die Verleger komplett aus den Socken hauen, es muss ein absolutes Meisterwerk werden, ansonsten werde ich höchstwahrscheinlich für den Rest meines Lebens in diesem dämlichen Kaff feststecken, und bei aller Heimatliebe, aber das werde ich mir auf gar keinen Fall antun. Diese Geschichte ist meine einzige Chance, endlich hier rauszukommen und als Journalistin ernst genommen zu werden! Und wenn ich die nicht nutze … dann würde ich mir das niemals verzeihen.«
  »Und dafür würden Sie sogar töten?«
  Der Satz hatte Megans Lippen verlassen, noch bevor sie ihn selbst hatte greifen können, doch wenn sie jetzt zuließ, dass ihre selbstbewusste Fassade zu bröckeln begann, dann konnte sie Richard auch gleich das Verhör überlassen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterhin cool zu bleiben.
  »Bitte was?«, fragte Nicole völlig entgeistert und ›Bitte was?‹ fragte auch Richards Blick, den Megan allerdings mit einem mehr als souveränen ›Vertrau mir, ich weiß genau, was ich tue‹-Blick zu erwidern wusste, und trat nun ebenfalls aus den Schatten hinaus.
  »Sie … g-glauben Sie wirklich ernsthaft, dass ich all diese Leute umgebracht habe?!«, keuchte die Angeklagte, nachdem sie ihre Fassung zumindest ansatzweise wiedergefunden zu haben schien. Megan hingegen quittierte ihre Empörung bloß mit einem unbeteiligten Schulterzucken.
  »Überraschen würde es mich nicht. Immerhin scheinen Sie ja einen ganz schönen Hass auf diese Stadt zu haben. Ich an Ihrer Stelle würde da jede Gelegenheit nutzen, um sie ordentlich bluten zu lassen. Vor allen Dingen, wenn ich nebenbei sogar noch meine Karriere in Schwung bringen kann. Der Zweck heiligt die Mittel und so weiter und so fort. Oder wie haben Sie es vorhin ausgedrückt? ›Als berufene Journalistin muss ich nun mal auch bereit dazu sein, gewisse Risiken einzugehen.‹ Ist ja gehüpft wie gesprungen.«
  »Das … d-das ist doch … Sie wollen mich verarschen, oder?!« Nicole schaffte es vor Aufregung kaum, einen vollständigen Satz herauszubringen. »Natürlich ist meine Reportage mir wichtig, das versuche ich Ihnen doch die ganze Zeit zu erklären! Und ja, Holden Creek kann mich definitiv am Arsch lecken, auch das ist richtig, aber deswegen bringe ich doch noch lange niemanden um!« Sie riss die Arme in die Luft. »Mein Gott, ich bin doch nicht geistesgestört!«
  »Und warum genau sollten wir Ihnen das glauben?« Inzwischen hatte auch Megan sich mit beiden Händen auf dem Tisch abgestützt und sich zu Nicole herübergebeugt, wodurch Richard mehr oder weniger dazu gezwungen war, ihr Platz zu machen und nun im wahrsten Sinne des Wortes in den Hintergrund gedrängt wurde. Darauf konnte sie im Augenblick jedoch keinerlei Rücksicht nehmen.
  »Die Monster, die tatsächlich hinter solchen Fassaden stecken, erkennt man nur selten auf den ersten Blick, aber das muss ich Ihnen als leidenschaftliche Kriminalreporterin ja nicht sagen. Wenn ich mich recht erinnere, dann sind Sie bisher stets eine der Ersten gewesen, die zusammen mit oder manchmal sogar noch vor der Polizei am Leichenfundort aufgekreuzt sind … ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Sie auch mir und meinen Kollegen seit unserer Ankunft permanent auf die Pelle rücken. Und so wie es aussieht, haben Sie auch kein Problem damit, sich auf eigene Faust Zugang zu den Informationen zu verschaffen, die wir Ihnen verweigern. Wenn nötig mit Gewalt. Die Opfer, die Hinterbliebenen und generell die lebensbedrohliche Gefahr, in die Sie sich hier dank Ihres kindischen Leichtsinns begeben, das alles geht Ihnen doch komplett am Arsch vorbei!«
  Das zornige Funkeln in Nicoles Augen und die Art und Weise, wie sie ihre Hände auf dem Tisch zu Fäusten ballte, brachten Megan nur noch mehr in Fahrt. Sie dachte gar nicht daran, jetzt aufzuhören.
  »Alles, was Sie interessiert, sind spektakuläre Bilder und die Frage, wie man das ganze Drama noch in eine möglichst reißerische Schlagzeile verpacken kann. Eigentlich soll ich ja hier meine Fassung wahren und mich nicht von meinen persönlichen Gefühlen verleiten lassen, aber … Menschen, nein, Aasgeier wie Sie widern mich an, Nicole.« Sie verengte die Augen zu Schlitzen, fixierte ihr starr zurückblickendes Gegenüber einen Moment lang, und richtete sich dann wieder auf, nur um aus dem Lichtkegel zurück in die Schatten zu treten, aus denen sie gekommen war. »Und mit einem Vater bei der Polizei muss man sich ja noch nicht einmal selbst darum kümmern, seine Spuren zu verwischen …«
  »Lassen Sie meinen Vater aus dem Spiel.« Nicoles Stimme war inzwischen zwar etwas ruhiger geworden, doch ihre Worte klangen dennoch wie eine Warnung. »Der hat mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun, verstanden? Es geht hier um mich und niemanden sonst!«
  »Das sehe ich genauso«, klinkte sich jetzt auch Richard wieder in das Gespräch mit ein, während er aus dem Augenwinkel einen eindringlichen Blick in Megans Richtung warf, doch diese hatte bereits alles gesagt, was sie hatte sagen wollen. Zumindest fürs Erste. »Darf ich vielleicht fragen, wo Sie selbst sich zu den jeweiligen Tatzeiten aufgehalten haben? In der Nacht vom zwölften auf den dreizehnten August, am Abend des siebenundzwanzigsten Septembers, und-«
  »Ich war im Büro. Beide Male. Auch vor zwei Wochen. Seit Gilberts Tod schiebe ich fast täglich Überstunden, um die fortlaufende Tragödie auch halbwegs standesgemäß dokumentieren zu können. Ganz zu schweigen von den Artikeln über irgendwelche Anglervereine oder Gartenarbeit, die ich noch zusätzlich verfassen muss, damit in dieser verdammten Zeitung überhaupt etwas abgedruckt werden kann.«
  »Und dafür gibt es Zeugen?«
  »Nicht immer. Während ich die ganze Nacht über in der Redaktion sitze, sind meine Kollegen logischerweise längst zuhause. Haben Sie eigentlich auch nur irgendein Wort von dem verstanden, was ich Ihnen gerade erzählt habe?!« Obwohl Nicole noch immer mehr als außer sich war, konnte man ihr ansehen, wie sehr die Diskussion sie bereits ausgelaugt hatte. »Sie haben doch keine Ahnung, wie es ist, hier zu leben, hier aufzuwachsen, und diese ganze beschissene Stadt und ihren ganzen beschissenen Dreck wie ein Schwamm in sich aufzusaugen, ganz egal, ob man will oder nicht … ich bin für so etwas nicht gemacht worden! Ich habe Träume, Ambitionen, ich will hinter den Horizont blicken, ich will dorthin, wo ich die Sterne berühren kann, wenn ich die Hand nach ihnen ausstrecke, verstehen Sie? Nicht jedem wird das Glück bei seiner Geburt in den Schoß gelegt. Nicht jeder kann seine Ziele widerstandslos verfolgen, ihnen einfach entgegenrennen, ohne fürchten zu müssen, dass man vom Weg abkommt oder die Brücken hinter einem plötzlich in sich zusammenbrechen. Manche Menschen müssen ein Leben lang dafür ackern, um auch nur einen Bruchteil dessen aus sich zu machen, was ihnen von Kindesbeinen an als ›das Beste‹ angepriesen wird. Dass Geduld und harte Arbeit alles sind, was man braucht, um seine Träume zu verwirklichen, ist ein Mythos – der wichtigste Faktor bei einem solchen Unterfangen ist immer noch Glück. Und das kann man nicht erzwingen. Aber wer nicht einmal bereit dazu ist, die Chancen zu ergreifen, mit denen Fortuna bereits so sparsam umgeht, der braucht sich auch nicht darüber zu beschweren, dass er nie etwas erreichen wird.«
  Megan konnte spüren, wie die Falten zwischen ihren Augenbrauen immer tiefer wurden. »Vielleicht verstehen wir davon mehr, als Sie denken.«
  »Bullshit!« Ohne Vorwarnung donnerte Nicoles Faust plötzlich auf die Tischplatte vor ihnen, und für einen Moment hatte Megan das Gefühl, der gesamte Raum würde erzittern. In den Augen der Verdächtigen hatten sich inzwischen Tränen gesammelt. »Sie wissen gar nichts! Das können Sie überhaupt nicht! Holden Creek ist ein verfluchtes Drecksloch und das wird es auch immer bleiben! Wenn Sie wüssten, was hier geschehen ist, dann … verdammte Scheiße, ich will doch einfach nur endlich hier raus …«
  »Weil Sie Angst davor haben, dass das Grab Ihrer Mutter eines Tages auch Ihres sein wird.«
  Die Stille, die ihren Worten folgte, jagte selbst Megan einen Schauer über den Rücken. Und Richard starrte sie an, als hätte sie gerade rückwärts Latein gesprochen. Wenn der es nicht hinbekam, ein halbwegs aufschlussreiches Verhör zu führen, dann brauchte er sich auch nicht zu wundern, wenn sie selbst die Zügel in die Hand nahm.
  Als nach etlichen, nahezu quälend langsam verstreichenden Sekunden endlich wieder Leben in Nicoles Körper zu fahren schien, sprang diese wie von der Tarantel gestochen auf, kippte in ihrer Rage beinahe den Tisch um, und machte einen großen Schritt auf Megan zu. Bevor sie ihr jedoch tatsächlich an die Gurgel gehen konnte, war Richard bereits zwischen die beiden getreten und begann damit, auf die wütende Reporterin einzureden, dass eine Schlägerei ihnen jetzt überhaupt nichts nützen und die Situation im Gegenteil nur noch weiter verschlimmern würde. Megan hörte ihm nicht zu. Das Blut, das in ihren Ohren rauschte, verschluckte jedes zweite seiner Worte. Ihre Hände hatten sich inzwischen ebenfalls zu Fäusten geballt, jederzeit bereit dazu, sich gegen eine mögliche Angreiferin zu wehren, auch wenn sie wusste, dass es dazu nur im äußersten Notfall kommen durfte. Es war einfach bloß ein Reflex, der schwierig zu unterdrücken war. Immerhin konnte ihr jetzt niemand mehr vorwerfen, dass sie es nicht versucht hatte.



▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬



Dienstag, 30. Oktober 2001  •  16.57 Uhr


Als die beiden Ermittler den Verhörraum verließen, fiel Megan die ungesunde Blässe, die sich inzwischen auf dem Gesicht ihres Partners ausgebreitet hatte, erst richtig auf, ebenso wie die Müdigkeit in seinen Augen. Sie selbst sah wahrscheinlich nicht viel besser aus. Dabei war das gerade eben nichts als eine einfache Verdächtigenbefragung gewesen, eine Routineaufgabe, die in ihrem Berufsalltag gang und gäbe war, und von denen sie bereits massenweise hinter sich gebracht hatte. Normalerweise dürfte sie sich von so etwas doch nicht so schnell auslaugen lassen! Aber inzwischen hatte Megan auch begriffen, dass in dieser Stadt einiges anders lief, als sie es gewohnt war. In welcher Form auch immer.
  Kaum hatten Richard und sie wieder einen Fuß in das Büro gesetzt, sprang Chief Morrison, der bis gerade eben noch unruhig vor sich hin grummelnd an einem der Schreibtische gesessen hatte, plötzlich auf und lief ihnen entgegen. »Das wird aber auch langsam mal Zeit, dass Sie sich wieder blicken lassen! Ich will überhaupt nicht wissen, was Sie beide da drinnen mit der armen Nicky veranstaltet haben, also sparen Sie sich den Atem und kommen Sie gleich zum Punkt. Was haben Sie jetzt mit meiner Tochter vor?«
  Megan warf einen kurzen Blick an dem brodelnden Polizisten vorbei zu Sam, dessen halb erschöpfte, halb entschuldigende Miene ziemlich deutlich machte, dass er alles in seiner Macht Stehende versucht hatte, um Morrison wieder einigermaßen auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Auch wenn es nicht danach aussah, als hätten seine Mühen sich gelohnt. Neben ihm hockte Delgado, der nicht weniger zerknirscht wirkte, sich aber zumindest dazu entschieden hatte, in seinem Frust nicht das gesamte Revier zusammenzuschreien, was Megan ihm im Augenblick wirklich hoch anrechnete.
  »Wir haben beschlossen, Nicole vorerst in Untersuchungshaft zu nehmen, bis wir die Sache überprüft haben und uns sicher sein können, dass von ihr keine Gefahr ausgeht«, erklärte Richard in nach wie vor erstaunlich gefasstem Ton, von dem Megan wirklich gerne wüsste, wie er ihn zustande brachte. Sie selbst musste sich noch immer zusammenreißen, um nicht einfach nach dem nächstbesten Schreibtischstuhl zu greifen und damit wie ein wild gewordener Gorilla um sich zu schlagen. »Alles Weitere kommt ganz auf Ihre Zusammenarbeit-«
  »Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, steuerte Morrison natürlich sofort dagegen und stocherte drohend mit dem Zeigefinger in Richtung ihres Kollegen. »Dazu haben Sie nicht das Recht! Das hier ist mein Revier und ich allein entscheide, wer in meinem Zuständigkeitsbereich verhaftet wird und wer nicht, haben Sie das verstanden?!«
  »So kommen wir hier zu keinem Ergebnis …« Richard rieb sich mit gequälter Miene die Schläfen. »Was halten Sie davon, wenn wir an dieser Stelle einfach einen Schritt zurücktreten und L die Angelegenheit regeln lassen? Der wird mit Sicherheit einen weitaus objektiveren Blick auf die Situation werfen können, lassen Sie mich nur schnell einen Anruf tätigen und-«
  Morrison schnaubte verächtlich. »Von mir aus können Sie auch den Gouverneur von Kalifornien anrufen, das ist mir scheißegal, aber meine Tochter wird auf diesem Revier nicht verhaftet, und dabei bleibe ich!« Sein Schnurrbart zitterte unheilvoll, während er die Arme in die Luft riss und Delgado mit seinem aufgebrachten Herumgefuchtel beinahe eine Ohrfeige verpasste. »Meinen Sie, ich merke nicht, was Sie hier für ein Spielchen spielen? Sie wollen doch bloß nicht zugeben, dass Sie es nicht hinbekommen, einen ordentlichen Verdächtigen zu finden und zeigen jetzt willkürlich mit dem Finger auf Leute! Wen wollen Sie als nächstes einsperren, mich vielleicht? Oder die alte Misses Atkins?!« Nun wandte er sich direkt an Megan, deren Kiefer sich unweigerlich anspannte. »Wie war das noch mal? Wenn man selbst zu beschränkt ist, um mit so einer Situation fertigzuwerden, dann sollte man das Feld vielleicht besser denjenigen überlassen, die auch was davon verstehen.«
  Megan konnte spüren, wie ihre Hände sich erneut zu Fäusten ballten und ihre Nägel sich immer tiefer in ihre Handflächen gruben. Was glaubte dieser sture, alte Sack eigentlich, wer er war?! Bevor L sich dazu erbarmt hatte, sie vorbeizuschicken, hatte der doch selbst nichts auf die Reihe bekommen! Sie wollte gerade den Mund öffnen, um dem Arschloch ein saftiges Kontra vor den Latz zu knallen, als Sam ihr zuvorkam.
  »Ich weiß wirklich nicht, ob es sich lohnen würde, weiter mit Ihnen zu diskutieren, wenn Sie jetzt auch noch anfangen, beleidigend zu werden«, ermahnte er den Chief in einem ähnlichen Tonfall wie Richard zuvor, doch es war nicht schwer, zu erkennen, dass auch er mittlerweile Mühe hatte, die Nerven zu bewahren.
  »Um ehrlich zu sein denke ich auch, dass es eine ziemlich drastische Maßnahme ist, Nicky gleich einbuchten zu wollen«, gab nun sogar Delgado seinen Senf dazu, wobei er seinem Vorgesetzten einen nahezu flehenden Blick zuwarf, doch dieser ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken.
  »Gib dir keine Mühe. Die Lackaffen da drüben machen doch eh, wozu sie Lust haben, da können wir uns so lange querstellen, wie wir wollen. Aber nicht mit mir, Freundchen, hören Sie? Ich lasse mir das nicht länger bieten!«
  In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Verhörraum plötzlich ein zweites Mal und Nicole trat mit verklärter Miene aus der Dunkelheit hervor, als wäre sie gerade aus einem ziemlich unbequemen Nickerchen gerissen worden, obwohl Megan und ihr Partner sie vorhin dazu angewiesen hatten, drinnen zu warten. Keine Sekunde später wurde sie auch schon von ihrem Vater belagert, der sie so fest bei den Schultern packte, dass sie prompt ein paar Schritte zurüchwich. Sofort redeten mehrere Leute gleichzeitig auf sie ein.
  »Nicky!«, keuchte Morrison beinahe atemlos. »Bist du in Ordnung? Die haben dich doch nicht etwa angefasst, oder?! Ohne einen Anwalt musst du hier kein Sterbenswörtchen sagen, ich hoffe, das ist dir klar!«
  »Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, wieder zurückzugehen«, ratterte Richard unterdessen seinen Text herunter. »Sie befinden sich aktuell in Untersuchungshaft und da können wir Ihnen leider nicht gestatten, das Polizeirevier zu verlassen.«
  »Mein Gott, siehst du blass aus!«, kam es wiederum von Delgado. »Ich hol dir erst mal ein Glas Wasser, ja? Oder willst du vielleicht lieber einen Kaffee? Ich könnte dir auch einen-«
  »Haltet alle die Klappe!«, schrie die junge Frau völlig außer sich und presste sich beide Hände gegen die Schläfen. »Ich will einfach nur nachhause, okay?! Verdammte Scheiße, wer soll das denn aushalten, wie ihr hier alle rumschreit, das ist ja schlimmer als im Zirkus!«
  Als wäre dies das Stichwort gewesen, drang von der anderen Seite des Raumes auf einmal ein ohrenbetäubendes Knistern zu ihnen herüber, woraufhin die Köpfe sämtlicher Beteiligten wie ferngesteuert in die entsprechende Richtung schossen. Und so langsam begann Megan sich wirklich zu fragen, wieso sie sich überhaupt noch über irgendetwas wunderte.
  Niemand Geringeres als Rue Ryuzaki hatte sich unbemerkt ins Büro geschlichen, während sie alle damit beschäftigt gewesen waren, sich gegenseitig die Augen auszukratzen, die eine Hand lässig in seiner Jackentasche vergraben, während er mit der anderen geräuschvoll in einer Papiertüte herumkramte, die auf einem der Schreibtische lag. Nach kurzem Suchen zog er schließlich einen Donut daraus hervor – alles andere wäre ja auch wirklich albern gewesen –, leckte sich wie ein hungriges Raubtier über die Lippen, und biss mit einem herzhaften Schmatzen hinein. In den Donut, den er gerade auf einem fremden Schreibtisch liegen gefunden hatte. Diese Tatsache musste man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Der Kerl war wirklich … etwas ganz Besonderes.
  »Ohh, Marmeladenfüllung!«, zwitscherte er mit vollem Mund in die Stille hinein, die sich mittlerweile im Raum ausgebreitet hatte, nachdem die versammelte Mannschaft viel zu geplättet von seinem Auftritt gewesen war, um mit ihrem Streit fortzufahren. Und als Ryuzaki endlich beschloss, sich ihnen ebenfalls zuzuwenden, waren auf seinem mit Teig- und Zuckerkrümeln verklebten Gesicht nichts als süße Unschuld und erschreckend ehrliche Verständnislosigkeit zu lesen.
  »Hallöchen, die Herrschaften! Komme ich etwa ungelegen?«
  Eine einzige, unendlich zäh scheinende Sekunde lang herrschte betroffenes Schweigen, dann riss Nicole sich mit einem Mal aus dem Griff ihres Vaters los und stürmte an der gesamten Gruppe vorbei aus dem Gebäude. Delgado zögerte keinen Moment, bevor er ihr mit einem verzweifelten »Warte!« hinterherhastete, während sowohl Richard, als auch Sam noch immer zu verdattert schienen, um sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu bewegen. Es war Morrison, dessen wütender Aufschrei ihren Trancezustand letztendlich durchbrach und der seinen Hut mit einer unbeherrschten Bewegung vor sich auf den Boden pfefferte.
  »Jetzt reicht’s mir aber endgültig! Raus! Sie alle vier, und zwar auf der Stelle!«
  Das Gesicht des Chiefs hatte mittlerweile mehr Ähnlichkeit mit einer überreifen Chilischote, als vermutlich gesund für ihn war, und ehrlich gesagt hätte es Megan auch nicht gewundert, wenn er sie gleich allesamt am Kragen gepackt und eigenhändig hinaus auf die Straße geworfen hätte. Da trat sie vorsichtshalber lieber einen Schritt zurück.
  Ryuzaki hingegen schien sich von dem tobenden Morrison nicht im Geringsten bedroht zu fühlen. »Also, eigentlich bin ich ja hergekommen, weil ich Ihnen eine Nachricht überbringen wollte …«
  »Ihre Nachricht können Sie sich sonst wo hinstecken! Machen Sie gefälligst, dass Sie Land gewinnen!« Der Arm, mit dem der Chief auf die Tür zeigte, hatte inzwischen sichtbar zu beben begonnen. »So langsam hab ich die Schnauze endgültig voll davon, wie Sie sich hier benehmen, als würde Ihnen die ganze Welt gehören, und Sie …« Nun wandte er sich wieder direkt an Ryuzaki, der nach wie vor nicht den blassesten Schimmer zu haben schien, was hier gerade vor sich ging. »Sie komischer Heiliger können sich erst mal das Grinsen von der Backe putzen, kapiert?! Wenn ich jemanden brauche, der permanent im Weg rumsteht und sich ungefragt an meinem Mittagessen bedient, dann frage ich McCarthy, dafür brauche ich Sie nicht! Mir ist vollkommen egal, was Sie wollen, warum Sie hier sind, und wer Ihr mysteriöser Auftraggeber ist, wenn Sie Ihre Nase hier unbedingt auch noch mit reinstecken wollen, dann machen Sie das gefälligst woanders und gehen Sie mir damit nicht auf den Sack, haben Sie das verstanden?!«
  Der Privatdetektiv jedoch hatte noch immer keine Miene verzogen. »Mit Verlaub, guter Mann, aber ich fürchte, diese Konversation duldet keinen Aufschub.«
  »Dann haben Sie eben Pech gehabt! Morgen ist auch noch ein Tag.«
  »Morgen wird es bereits zu spät sein, Chief.«
  Das Geräusch, das Morrison daraufhin von sich gab, erinnerte an eine Mischung aus Stöhnen, einem erschreckend animalischen Knurren und dem Pfeifen eines Teekessels.
  »Mein Gott, dann machen Sie’s wenigstens kurz!«
  Das schale, ungewohnt distanzierte Lächeln wich auch jetzt nicht von Ryuzakis Lippen, doch die Schatten, die sich inzwischen in den Ausdruck gemischt hatten, jagten Megan einen regelrechten Schauer über den Rücken. Und die großzügigen Marmeladenreste, die noch immer an seinen Mundwinkeln klebten, machten das Gesamtbild ehrlich gesagt nicht viel einladender.
  »Ich bedauere zutiefst, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber ich fürchte, Nicole Morrison wird den morgigen Tag nicht mehr erleben.«
  Megan blinzelte irritiert. Die Trockenheit, die sich auf einmal in ihrer Kehle auszubreiten begann, vermischte sich auf unangenehme Weise mit dem bitteren Geschmack auf ihrer Zunge, während Ryuzakis Worte wie Pistolenschüsse von ihren Schädelwänden widerhallten. Sollte das gerade etwa eine Drohung gewesen sein? Ein Blick in Richards und Sams ebenso schockierte Gesichter reichte aus, um sie davon zu überzeugen, dass sie sich nicht verhört hatte. Und Morrison …
  Während Megan noch darüber nachdachte, wie sie am besten auf die ganze Situation reagieren sollte, war der Chief bereits an ihr vorbeigezischt, packte Ryuzaki mit beiden Händen am Kragen, und stieß ihn derart gewaltsam von sich, dass dieser mehrere Meter zurücktaumelte und beinahe zu Boden stürzte.
  »Raus! Raus hier, sofort, oder ich jage Ihnen eine gottverdammte Kugel durch den Kopf, haben Sie das verstanden?! Raus!«
  Diesmal schien die Botschaft tatsächlich bei dem Privatdetektiv angekommen zu sein, denn er schnappte noch ein paarmal nach Luft und nickte hastig, bevor er schließlich die Beine in die Hand nahm und ohne ein weiteres Wort des Abschieds durch die Tür nach draußen stolperte.
  Megan konnte spüren, wie jemand sie am Ärmel zupfte, und als sie aufblicke, sah sie Sam vor sich, der ihr mit einer flüchtigen Kopfbewegung in dieselbe Richtung zu verstehen gab, dass es auch für sie langsam Zeit wurde, sich zurückzuziehen. Morrison hatte indessen wieder damit begonnen, sich lautstark die Seele aus dem Leib zu fluchen, doch Megan hörte ihm schon gar nicht mehr zu. Je eher sie von diesem Choleriker Abstand gewann, desto besser. Auch wenn das bedeutete, dass sie den heutigen Tag wohl mit einer weiteren Niederlage abschließen musste.



▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬



Dienstag, 30. Oktober 2001  •  17.28 Uhr


»Wir hätten uns vorhin besser durchsetzen müssen.« Mit deutlich weniger Elan, als sie eigentlich hatte aufbringen wollen, schlug Megan ihre Faust gegen die Bettkante, während sie einen großen Schluck aus der Flasche Bier in ihrer anderen Hand nahm, die sie sich zuvor aus Misses Atkins’ Vorratskammer genehmigt hatte. Ihrer Meinung nach war dies das Mindeste, was sie sich nach diesem Tag verdient hatte.
  Mittlerweile saßen Megan und ihre beiden Kollegen wieder in Sams Zimmer, wobei sie selbst es sich kurzerhand vor dem Bett auf dem Teppich bequem gemacht hatte, und versuchten angestrengt, den heutigen Nachmittag einigermaßen zu verdauen. Wenn sie ehrlich war, dann könnte Megan sich jetzt wahrscheinlich ohne Probleme aufs Ohr hauen und für den Rest der Woche durchschlafen. Dabei war es noch nicht einmal Zeit fürs Abendessen!
  »Es war ein Fehler, Nicole einfach so mir nichts, dir nichts da rausmarschieren zu lassen«, fuhr sie mit etwas matterer Stimme fort, nachdem Richard nicht mehr als ein müdes Schulterzucken und Sam bloß ein unschlüssiges Stirnrunzeln für ihre Worte übriggehabt hatten. »Ich meine, es ist ja nicht so, als hätten wir in irgendeiner Form überreagiert. Die Tussi ist bei uns eingebrochen, verdammt noch mal! Wer weiß, ob die überhaupt die Wahrheit gesagt hat, als sie meinte, sie hätte hier nichts gefunden … selbst wenn in der Tasche nichts gewesen ist, vielleicht hat sie sich ja was in den BH gesteckt oder so … wäre zumindest mein erster Instinkt gewesen, wenn’s plötzlich an der Tür rüttelt … ach, keine Ahnung.« Sie schüttelte mutlos den Kopf, sodass die langen, rotblonden Locken ihr wie ein Mopp ins Gesicht peitschten. »Morrison können wir jetzt wohl endgültig vergessen. Der dämliche Hornochse scheint ja komplett den Verstand verloren zu haben! So viel zum Thema Befangenheit … man, ich kann nicht glauben, dass wir uns tatsächlich von dem haben unterbuttern lassen! Wie peinlich ist das denn bitte?!«
  »Das mag ja alles stimmen, aber ich bin immer noch der Meinung, dass du Nicole nicht hättest provozieren dürfen«, meldete sich jetzt auch Richard endlich zu Wort. Und er klang mindestens genauso müde, wie sie sich gerade fühlte. »Die Sache mit ihrer Mutter zu erwähnen wäre wirklich nicht nötig gewesen. Und von der Taktlosigkeit deines Kommentars einmal ganz abgesehen, hat er uns im Endeffekt auch keinerlei brauchbare Informationen geliefert. Alles, was wir jetzt davon haben, ist die Ungnade der Familie Morrison.«
  »Ach, aber dein lächerlicher Eiertanz vorhin hätte funktioniert oder wie? Das glaubst du doch wohl selber nicht. Ohne mein Eingreifen hätten wir noch bis nächstes Jahr da gesessen! Oder zumindest so lange, bis Sheriff Pornobalken irgendwann die Tür eingerannt hätte.«
  »Ich meine ja nur, dass wir dieses Verhör mit Sicherheit auch etwas diplomatischer hätten angehen können.« Er seufzte und rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger. »Aber ich fürchte, das ist jetzt sowieso egal … vielleicht sollten wir wirklich noch einmal mit L über die ganze Sache reden. Auch wenn Chief Morrison ziemlich deutlich gemacht hat, was er von dem Vorschlag hält, glaube ich nicht, dass er es wagen würde, noch einmal so aus der Haut zu fahren, wenn L sich tatsächlich persönlich mit ihm auseinandersetzen würde.«
  Megan schnaubte verächtlich. »Und vor dem störrischen, alten Schreihals zu Kreuze kriechen, indem wir offen zugeben, dass er die ganze Zeit über recht hatte und wir einfach nur zu blöd sind, um alleine mit unseren Problemen klarzukommen? Vergiss es!«
  »Ich bin mir zwar auch nicht ganz sicher, ob Megans Herangehensweise die richtige war, aber was Morrison betrifft, muss ich ihr leider zustimmen«, traute sich auch Sam nun endlich, seinen Senf dazuzugeben, und Megan zog eine Grimasse.
  »Was heißt denn hier ›leider‹?«
  »Wir hätten wirklich etwas mehr Autorität walten lassen müssen. Denn so sind seine Vorwürfe vielleicht gar nicht mal so unbegründet. Es hat keinen Sinn, weiter um den heißen Brei herumzureden, wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen: so kommen wir nicht voran. Und dieser Fakt wird mit jedem Tag auffälliger. Daran müssen wir dringend etwas ändern.«
  »Geniale Schlussfolgerung, Sherlock Holmes. Und was schlägst du da vor, wenn ich fragen darf?«
  »Wir könnten zuerst einmal versuchen, das ganze Problem etwas objektiver zu betrachten. Wo genau liegen überhaupt unsere Schwächen? Zeigen wir vielleicht nicht genügend Eigeninitiative oder ist es eher so, dass wir keine klare Richtung vor uns sehen? Haben wir uns eventuell mehr von der Zusammenarbeit mit L versprochen, als im Endeffekt realistisch war? Oder ist es der nötige Druck, der uns fehlt?«
  Richard gab einen weiteren Laut der Resignation von sich und sank immer tiefer in den Schreibtischstuhl hinein, auf den er sich vorhin hatte fallen lassen. »Ich gebe es ja nur ungern zu, aber … so langsam bekomme ich das Gefühl, dass wir der Sache vielleicht doch nicht gewachsen sind.«
  Megan hatte ihren Mund bereits geöffnet, um zu protestieren, als ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass sie nicht einmal wirklich etwas dagegen einzuwenden hatte. Es half niemandem, wenn sie weiterhin nur blind auf der Stelle herumtanzten und so taten, als hätten sie alles im Griff, obwohl sie in Wahrheit nur wertvolle Zeit vergeudeten. Aber andererseits konnten sie auch nicht einfach so das Feld räumen! Es musste doch irgendetwas geben, was sie bisher noch nicht versucht hatten, ein heimliches Ass im Ärmel, das die ganze Zeit über nur auf seinen Einsatz gewartet hatte … niemand war dazu in der Lage, drei verdammte Morde zu begehen, ohne dabei auch nur den Hauch einer Spur zu hinterlassen!
  »Aber wisst ihr was?« Sam klatschte mit einem Mal so laut in die Hände, dass Megan aus ihren Gedanken gerissen tatsächlich kurz zusammenzuckte. »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir uns für heute erst einmal ausruhen und das ganze Theater für ein paar Stunden sacken lassen. Schließlich ist niemandem damit geholfen, wenn wir in diesem Zustand versuchen, uns zu irgendwelchen revolutionären Durchbrüchen zu zwingen. Ich denke, es wäre eine gute Idee, uns gleich nach dem Abendessen schlafen zu legen, damit wir zumindest für das Halloween-Fest morgen einigermaßen ausgeruht sind.«
  »Bitte was?!« Um ein Haar hätte Megan ihren letzten Schluck Bier in hohem Bogen über den Teppich und direkt in Sams Gesicht gespuckt. »Das ist gerade nicht dein Ernst, oder? Willst du wirklich noch immer auf dieses dämliche Straßenfest, nach allem, was heute passiert ist? Meine Fresse, wie lange sollen wir denn noch hier rumtrödeln?! Meinst du, der Killer nimmt sich zur Abwechslung mal ’nen Tag frei, nur weil Halloween ist? An seiner Stelle würde ich da erst recht auf die Pirsch gehen und Leuten die Augen ausstechen wollen!«
  Sam jedoch schien sich von ihrem Ärger überhaupt nicht aus der Fassung bringen zu lassen. »Aber denk doch mal nach: fast jeder aus der Stadt wird dort sein, zumindest wenn man den Einheimischen Glauben schenken will. Es gibt Musik und Getränke und je weiter der Abend voranschreitet, desto gesprächiger werden auch die Leute. Das wäre die perfekte Gelegenheit, um vielleicht noch einmal die eine oder andere Frage zu stellen, die man im nüchternen Zustand doch eher ungern beantwortet. Und wer schon ein oder zwei Gläschen Kürbispunsch intus hat, der legt für gewöhnlich auch nicht mehr allzu viel Wert darauf, sich eine glaubhafte Lüge auszudenken, wenn er einer Konfrontation aus dem Weg gehen will – vertrau mir, ich spreche da aus Erfahrung. Diesen Umstand sollten wir auf alle Fälle ausnutzen und uns zumindest für ein paar Stunden unter die Leute mischen. Wir müssen uns ja nicht die ganze Nacht auf der Farm herumtreiben.«
  »Die Idee ist gar nicht so schlecht«, war es ausgerechnet Richard, der seinem Kollegen beipflichtete. »Auch wenn wir natürlich trotzdem darauf achten sollten, dass wir uns dabei nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Oder allzu tief ins Glas schauen … wir dürfen über die ganzen Feierlichkeiten nicht vergessen, dass wir hier noch immer einen Job zu erledigen haben. Außerdem wäre es wahrscheinlich wirklich eher kontraproduktiv, wenn wir nach all den mehr als deutlichen Einladungen nicht dort erscheinen würden.«
  Megans erster Instinkt war es noch immer, den Männern zu widersprechen und sich tierisch über diesen dämlichen Vorschlag aufzuregen, doch ganz egal, wie gerne sie ihm auch nachgeben wollte, gegen die Müdigkeit kam heute Abend nicht einmal das nimmersatte Bedürfnis, ihren beiden Lieblingskollegen eins reinzuwürgen, an. Und was sollten sie auch stattdessen tun, wenn alle anderen feiern waren? Die leeren Häuser nach versteckten Folterkammern absuchen? Das würde garantiert länger als einen Abend dauern.
  »Na gut, meinetwegen«, gab sie sich letztendlich mit zerknirschter Miene geschlagen. »Aber wenn wir in einem Monat immer noch hier sitzen, dann mach ich ganz allein euch dafür verantwortlich.«
  »Eine Sache beschäftigt mich aber nach wie vor«, murmelte Richard mit gerunzelter Stirn, während Sam einfach bloß erleichtert darüber schien, einer längeren Diskussion aus dem Weg gegangen zu sein. »Was sollte das vorhin mit Ryuzaki auf der Wache? Wie kommt er dazu, einfach so zu behaupten, dass Nicole Morrison heute Nacht sterben wird? Der wird doch wohl mitbekommen haben, dass der Chief gerade kurz vorm Explodieren war. Und selbst wenn er es nicht gewesen wäre, mit so etwas macht man doch keine Scherze …«
  »Als ob irgendetwas, was dieser Typ bisher von sich gegeben hat, auch nur einen Hauch von Sinn ergeben hätte«, murrte Megan, während sie sich langsam vom Fußboden erhob und dabei ein paar Staubflusen von ihren Hosenbeinen klopfte. »Keine Ahnung, was der damit bezwecken wollte, aber ganz ehrlich? Mittlerweile hab ich wirklich die Schnauze voll davon, mir den Kopf über diesen komischen Vogel zu zerbrechen. Und um ihn danach zu fragen, ist es jetzt sowieso zu spät. Der kann sich inzwischen weiß Gott wo herumtreiben.«
  »Aber sollten wir nicht trotzdem auf Nummer sicher gehen? Was, wenn Nicole in dieser Zeit tatsächlich etwas zustößt? Und Ryuzaki im schlimmsten Fall auch noch irgendwie darin involviert ist?«
  »Halte ich für sehr unwahrscheinlich. Der Kerl ist doch selbst erst seit ein paar Wochen hier. Warum sollte er einfach so jemanden umbringen und es dann auch noch vorher ankündigen?«
  Richard seufzte. »Vermutlich hast du recht. Ich werde mich vor dem Essen auf alle Fälle noch ein wenig hinlegen.«
  »Dito!«
  Er stand auf und begab sich zusammen mit Megan in Richtung Zimmertür. Es wäre zwar durchaus möglich, dass sie vor morgen früh nicht mehr aus ihrem Nickerchen erwachte, aber heute war sie ausnahmsweise mal bereit dazu, dieses Risiko einzugehen. Und vielleicht wäre das ja auch gar nicht so schlimm. Dann konnte sie später beim Frühstück wenigstens richtig zulangen.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast