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Wo wir begraben liegen

von Tschuh
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday L Naomi Misora OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
Alle Kapitel
58 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
15.11.2021 4.861
 
AN: Das hier ist ein Kapitel, dessen Edit wirklich erschreckend fix vorangegangen ist. Ich glaube, ich werde mit der Zeit immer schneller. Übung macht den Meister oder so?

Der erste Akt ist außerdem inzwischen komplett fertiggeschrieben, wie einige vielleicht schon auf meinem Profil gelesen haben! Eventuell könnte es demnächst also mal ein zweites Update im Monat geben … vielleicht als Weihnachtsgeschenk oder so. Mal schauen. 8D

Ach ja! Alles Gute zum zweiten Geburtstag, Prolog. :3



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k a p i t e l   1 5
SCHLAFLOS



Sam stand in einem Wald. Und obwohl er wusste, dass die hochgewachsenen Baumstämme und das wild wuchernde Strauchwerk für ihn eigentlich ein vertrauter Anblick sein sollten, hatte er das Gefühl, sich im falschen Film zu befinden. Die paar Fetzen Himmel, die er durch das dichte Blätterdach erkennen konnte, wirkten grau und trostlos, und der Wind, der die Zweige träge auf und ab wippen ließ, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Man konnte ihn zwar spüren, aber nicht hören. Es war so unnatürlich ruhig hier. Sam kniff die Augen zusammen und blinzelte ein paarmal in die verschwommene Dunkelheit hinein. Wieso war er hier? Und wo steckte Williams überhaupt? War sein Partner nicht vorhin noch bei ihm gewesen? Der Wald von Holden Creek machte keine Gefangenen. Sam war nichts weiter als ein Fremdkörper für ihn und das ließ er ihn auch deutlich spüren. Fast so, als besäße er so etwas wie ein Eigenleben …
  Ohne so richtig zu wissen warum, setzte Sam sich wieder in Bewegung. Er musste weiter. Alles um ihn herum sah gleich aus und es gab auch keinen Weg, dem er hätte folgen können. Überall lagen verrottete Blätter, hier und da ragte eine moosbewachsene Wurzel unter dem Teppich hervor, und fleischige, braune Pilze sammelten sich zu Füßen der modrigen Baumstümpfe, an denen er vorbeilief. Das Laub knisterte ohrenbetäubend laut unter seinen Stiefeln. Irgendetwas stimmte nicht. Doch egal, wie sehr er sich auch darauf zu konzentrieren versuchte, er konnte einfach nicht ausmachen, woher dieses Gefühl stammte.
  Sam wusste nicht, wie lange er bereits gewandert war, als er schließlich eine kleine Lichtung erreichte. Selbst hier war es ungewöhnlich dunkel, obwohl das dumpfe Grau des Himmels, der sich nun über ihm öffnete, ihm regelrecht in den Augen brannte. Am Rande der Wiese plätscherte ein kristallklares Bächlein vor sich hin, welches von einem Wildschwein als Trinkbrunnen genutzt wurde. Ein leises, zufriedenes Grunzen war zu vernehmen, während das Wasser, das von seiner Schnauze herabtropfte, im Nachmittagslicht verheißungsvoll vor sich hin glitzerte.
  Doch da war noch jemand anderes mit ihnen auf der Lichtung. Eine großgewachsene, ja geradezu schmerzlich vertraute Gestalt, die mit ihrer klobigen, alten Kamera immer wieder um das Tier herumschwirrte und ein Foto nach dem anderen schoss. Im ersten Moment wagte Sam es kaum, seinen Augen zu trauen. Dann trat er näher, erkannte das sandfarbene Cordjackett und das ordentlich zurückgekämmte Haar, die Brille mit den dicken, schwarzen Rändern, über die er sich als Kind immer lustig gemacht hatte, und das ebenso wissende, wie unbekümmerte Schmunzeln, das ihm so gut wie nichts aus dem Gesicht zu wischen vermocht hatte. Das … das war doch unmöglich! Wie lange war es nun her, seit er seinen Bruder zum letzten Mal gesehen hatte? Bestimmt fünf Jahre.
  »Jonah!« Sam stolperte auf dem Weg beinahe über seine eigenen Füße. Aus irgendeinem Grund fühlten seine Beine sich auf einmal wie Gummi an und sein Herz schlug wie wild. Der Angesprochene ließ sich jedoch überhaupt nicht von ihm stören. Wie immer war er viel zu sehr in seine Fotografie vertieft, da konnte man machen, was man wollte. Nicht einmal eine Bombenexplosion hätte in diesem Zustand seine Aufmerksamkeit erregen können.
  »Bleib, wo du bist, Sammy«, hörte er ihn lediglich murmeln, während er das vollkommen desinteressierte Wildschwein nicht aus den Augen ließ. »Sonst läufst du mir gleich noch vor die Linse.«
  »Hast du gar keine Angst, dass es dich angreifen könnte?«, fragte Sam, welcher das Tier indessen mit deutlich misstrauischeren Blicken musterte. Selbst wenn es im Moment noch ganz ruhig und friedlich wirkte, sollte man die kräftigen Stoßzähne und vor allen Dingen die Geschwindigkeit, die es in seiner Rage erreichen konnte, auf gar keinen Fall unterschätzen.
  Jonah lachte leise auf. »Ich glaube, das ist hier gerade wirklich unser kleinstes Problem.«
  »Was meinst du damit?«
  Statt auf die Frage zu antworten, schüttelte sein Bruder bloß den Kopf und ging einmal um das Wildschwein herum, damit er es auch von der anderen Seite fotografieren konnte. Sam folgte ihm mit angespannter Miene und einem mulmigen Gefühl in der Magengegend.
  »Wir sollten lieber wieder zurückgehen. Dad wartet garantiert schon auf uns und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch langsam weiter will.«
  »Ach was, der kann sich bestimmt noch ein paar Minütchen gedulden«, erwiderte Jonah und schraubte völlig unbeeindruckt an seinem Objektiv herum. »So eine Gelegenheit bekommt man schließlich nicht alle Tage.«
  »Wie viele Bilder brauchst du denn noch? Bitte, jetzt komm schon, ich … ich möchte auch endlich weiter. Außerdem glaube ich, dass es bald dunkel wird …«
  »Entspann dich, ich bin ja gleich so weit. Die Kinder werden nach den Ferien Augen machen!«
  Sam konnte spüren, wie seine Hände immer mehr zu zittern begannen und auch das Atmen ihm allmählich schwerer fiel. Er wollte hier nicht länger bleiben. Sie mussten weiter! Die ganze Situation behagte ihm nicht, auch wenn er noch immer nicht genau sagen konnte, woran das lag. Wieso musste Jonah bloß immer so stur sein? Das hatte ihm schon als Kind nichts als Schwierigkeiten bereitet. Es war ja beinahe schon lächerlich, wie oft sein jüngerer Bruder ihm damals aus der Klemme hatte helfen müssen.
  »Jonah, bitte.« Sams Stimme klang mittlerweile richtig heiser und die Dringlichkeit darin war nun nicht mehr zu überhören, doch der andere Mann schien davon überhaupt keine Notiz zu nehmen. Noch immer hockte er ungerührt vor seinem neuesten Kameramotiv und machte keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen. Verstand er denn nicht, dass Sam sich Sorgen machte? Er versuchte, die Hand nach Jonah auszustrecken, um nach seiner Schulter zu greifen, doch seine Arme fühlten sich an wie Blei. War das wirklich Angst, die ihn da lähmte?
  »Jetzt hetz mich doch nicht so. Das Genie braucht eben seine Zeit. Das müsstest du doch eigentlich am besten wissen, oder?« Wieder schlich sich ein Lächeln auf Jonahs Lippen, bevor er sich endlich wieder aufrichtete und die Kamera sinken ließ. »Außerdem macht es doch jetzt ohnehin keinen Unterschied mehr, ob ich mich beeile oder nicht. Schließlich ist es doch eigentlich schon längst passiert.«
  Nun sah Jonah ihm zum ersten Mal in die Augen. Er lächelte noch immer, doch in seinem Blick lag ein Ausdruck, der sich wie eine eiserne Faust um Sams Eingeweide zu schließen schien. Er kam nicht mehr dazu, Jonah zu fragen, was er damit meinte. Denn keine Sekunde später ertönte plötzlich ein Schuss aus dem Dickicht und er musste mit ansehen, wie eine Kugel die Brust seines Bruders durchbohrte und das Licht in seinen Augen erlosch, während das Wildschwein hinter ihnen seelenruhig aus dem Styx trank. Sam wollte schreien, doch es drang kein Laut aus seiner Kehle. Der Atem wurde ihm endgültig abgeschnitten, noch bevor Jonahs Körper auf dem Waldboden aufschlug.


  Als Sam seine Augen aufriss, begann sämtliche Luft mit einem Mal wieder in seine Lungen zurückzuströmen und er spürte, wie seine Glieder sich schmerzhaft zusammenkrümmten. Flackernde Punkte tanzten auf seiner Netzhaut umher, der eigene Herzschlag pochte durch seinen Schädel wie ein Presslufthammer, und seine gesamte Umgebung schien sich im Kreis zu drehen. Mit zittrigen Armen stützte er sich von seiner Matratze ab und setzte sich auf, während das Zimmer um ihn herum sich zwischen den verschwommenen Schatten nur noch erahnen ließ.
  Alles versank im Chaos. Sam fing an, zu hyperventilieren und seine Hände glitten wie von selbst zu seinem Kragen hinauf, fingerten beinahe panisch daran herum, doch es geschah nichts, es funktionierte nicht, er bekam keine Luft mehr, verfluchte Scheiße noch mal, alles tat weh, seine Muskeln brannten, seine Sinne ließen ihn im Stich, und er musste sich beruhigen, verdammt noch mal, er musste sich endlich beruhigen …!
  Sam brauchte einen Moment, bis seine Atemfrequenz sich wieder einigermaßen stabilisiert und er den ersten Schock überwunden hatte. Er musste vorhin beim Aufwachen dermaßen zusammengezuckt sein, dass er mehrere Muskelkrämpfe auf einmal bekommen hatte, doch so langsam schien auch der anfängliche Schmerz wieder zu verfliegen. Dabei war das bei weitem nicht das erste Mal gewesen, dass er einen solchen Albtraum durchlebt hatte.
  Sam griff nach der Armbanduhr, die auf seinem Nachttisch lag, kniff die Augen ein wenig zusammen, und erkannte, dass es ungefähr Viertel vor eins war. Länger als eine Stunde konnte er nicht geschlafen haben und so gerädert, wie er sich gerade fühlte, würde er wahrscheinlich auch nicht allzu bald damit fortfahren. Ohne dass er so richtig darüber nachdachte, wanderte seine Hand ein weiteres Mal zum Nachtschränkchen herüber, bevor ihm wieder einfiel, dass er die Tabletten erst kürzlich in seine Reisetasche gepackt hatte. Und das aus gutem Grund.
  Aber das hier war ein Notfall! Sam würde die ganze Nacht lang wach liegen, wenn er sich nicht helfen ließ. Genau dafür waren seine Medikamente schließlich gedacht. Und sie überhaupt nicht mehr einzunehmen, obwohl er sie eigentlich dringend benötigte, war schließlich auch nicht im Sinne des Erfinders, oder?
  Mit einem frustrierten Seufzen auf den Lippen stand Sam auf und taumelte ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu, bevor ihm erneut schwindelig wurde und er sich am Bettpfosten festklammern musste. Sollte er es wirklich riskieren, wieder in sein altes Muster zurückzufallen? Er musste morgen unbedingt ausgeschlafen sein. Williams und Newman verließen sich auf ihn und die Sache mit Townsend hatte er bereits verbockt. Nur eine einzige Tablette, das würde mit Sicherheit mehr als genügen!
  Sam schüttelte den Kopf und hangelte sich mit wackligen Knien an der Wand entlang. Er musste schlafen – das war im Augenblick das Allerwichtigste. Und irgendwie würde er das schon hinbekommen. Koste es, was es wolle.



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Mittwoch, 24. Oktober 2001  •  0.52 Uhr


Richard konnte zwar nicht sagen, was genau ihn geweckt hatte, doch fest stand, dass er sich inzwischen seit fast zehn Minuten mit weitaufgerissenen Augen in seinem Bett herumwälzte und nicht mehr zur Ruhe kam. Er hatte auch schon darüber nachgedacht, sich unten in der Küche einen Tee aufzukochen oder zumindest die Akten noch einmal durchzugehen, doch diese befanden sich unglücklicherweise in Dunstans Zimmer und den wollte er um diese Uhrzeit nun wirklich nicht mehr belästigen.
  Er konnte sich zwar nicht daran erinnern, ob oder was er geträumt hatte, aber sonderlich ausgeruht fühlte er sich nach den paar Stündchen nicht. Und er war wirklich heilfroh, wenn er endlich wieder zurück nachhause und die Nacht in seinem eigenen Bett verbringen konnte.
  Mit einem ebenso leisen, wie resignierten Seufzen setzte Richard sich auf, fuhr sich ein paarmal durch die Haare, und begann damit, gemächlich in seinem Zimmer auf und ab zu schleichen. Mit irgendetwas musste er sich beschäftigen, Hauptsache, er lag nicht noch länger tatenlos herum und starrte Löcher in die Decke. Wovon war er überhaupt wachgeworden? Hatte Newman schon wieder mitten in der Nacht beschlossen, ihr Zimmer umzudekorieren? Oder könnte es vielleicht Lily gewesen sein? Der Ermittler runzelte die Stirn und sein Blick glitt wie automatisch in Richtung Zimmertür. Er musste zugeben, dass ihn die Situation vor ein paar Tagen noch immer ein wenig beschäftigte und er hatte den Verdacht, dass dieses Mädchen irgendetwas vor ihm versteckte, doch gleichzeitig wusste er auch nicht so recht, wie er sie einschätzen sollte.
  Als er Misses Atkins vor einiger Zeit darauf angesprochen hatte, war ihm erzählt worden, dass Lily hin und wieder mal in der Pension übernachtete, wenn gerade ein Zimmer frei war und sie besonders viel zu tun hatte. Offenbar war es ihr auch nicht allzu lieb, die junge Frau so spät nachts noch durch die Straßen ziehen zu lassen. Ob Lily daheim Probleme hatte? Aber wieso hatte sie dann bei ihrer letzten Begegnung behauptet, auf dem Weg nachhause gewesen zu sein? Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Hätte Richard seinen Kollegen vielleicht doch von der ganzen Sache erzählen sollen? Oder maß er den simplen Launen einer Jugendlichen am Ende viel zu viel Bedeutung bei? Lily konnte nicht viel älter als zwanzig sein, und in diesem Alter war es nicht ungewöhnlich, hin und wieder mal über die Stränge zu schlagen, vor allen Dingen dann, wenn man sein gesamtes Leben in einer Kleinstadt wie dieser hier verbracht hatte – aber doch nicht, wenn in ebendieser Stadt gerade ein Serienmörder sein Unwesen trieb! Oder?
  Langsam schlenderte Richard zum Fenster herüber und rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger. Heute Nacht war es zum Glück nicht so stürmisch, doch als gemütlich würde er das Wetter deswegen noch lange nicht bezeichnen. Und obwohl er nicht davon ausging, dass dies tatsächlich der Grund für sein Wachwerden gewesen war, entschloss er sich dennoch dazu, einen kurzen Blick nach draußen zu werfen.
  Im ersten Moment glaubte er beinahe, ein Gespenst vor sich zu sehen, doch dann erkannte er die blonden Locken, die unter der Kapuze der dunkel gekleideten Gestalt hervorschauten und im dämmrigen Licht der Straßenlaterne vor sich hin schimmerten. Richard hob die Augenbrauen und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, während der Schatten wie eine streunende Katze über den Bürgersteig huschte. Diesmal verlor er keine Zeit: ohne lang zu fackeln schlüpfte er in Hose, Sweatshirt und Stiefel, schnappte sich seinen Holster mitsamt der darin verstauten Waffe, und verließ das Zimmer so leise wie möglich, um auch ja niemanden aufzuwecken. Er durfte Lily jetzt auf gar keinen Fall aus den Augen lassen. Das hier war seine Chance, ihrem seltsamen Verhalten ein für alle Mal auf den Grund zu gehen!


  Glücklicherweise war Richard schnell genug, um das Zimmermädchen gerade noch hinter einer Ecke verschwinden zu sehen und ihr somit auf den Fersen bleiben zu können. Sie hatte es offenbar ziemlich eilig, schien dabei jedoch überhaupt keine Bedenken zu haben, dass ihr eventuell jemand folgen könnte, was es Richard wiederum einfacher machte, ungesehen hinter ihr zu bleiben. Bereits nach wenigen Minuten war außerdem klar, dass nicht die Bäckerei der Harts ihr Ziel war, sondern der Wald. Aber was könnte sie um diese Uhrzeit dort wollen? Ihr musste doch bewusst sein, in welche Gefahr sie sich damit begab!
  Als sie den Waldrand erreicht hatten, blieb Lily auf einmal stehen und begann in der Vordertasche ihres Sweatshirts herumzukramen. Richard blieb indessen hinter einer Mauer verborgen und nutzte die Gelegenheit, um einen Moment lang zu verschnaufen. Es war verdammt kalt heute Nacht und er bereute es bereits, seinen Mantel in der Pension zurückgelassen zu haben, doch daran hatte er in der Eile natürlich nicht mehr gedacht. Wenn sie sich jetzt tatsächlich durch das Unterholz kämpfen würden, dann musste er enorm vorsichtig sein. Nicht nur, was seine Schritte betraf. In der Dunkelheit konnte einem wer weiß was über den Weg laufen und da er sich mit der Umgebung auch nicht sonderlich gut auskannte, war es absolut möglich, dass er Lily aus den Augen verlieren und sich schlicht und ergreifend verlaufen würde. Das musste er um jeden Preis verhindern. Richard war jetzt schon so weit gekommen, da sollte er es nach Möglichkeit auch zu Ende bringen und wenigstens sicherstellen, dass dem Mädchen nichts geschah. Dieses hatte in der Zwischenzeit endlich ihre Taschenlampe zu fassen bekommen, schaltete sie ein und schwenkte den gelblich flackernden Strahl in Richtung Dickicht, bevor sie letztendlich eintrat – genauso wie Richard, der wenig später ebenfalls von der Finsternis verschluckt wurde.
  So langsam musste der Ermittler zugeben, dass der Wald von Holden Creek bei Nacht noch um einiges unheimlicher, wenn nicht sogar bedrohlicher wirkte, als bei Tag. Trotz des schwachen Taschenlampenscheins, der ihm wie ein Irrlicht den Weg zu weisen versuchte, konnte er seine Umgebung kaum erkennen, und von sämtlichen Seiten schien ihn nichts als erdrückende Schwärze zu umhüllen. Ab und zu huschte ein Schatten zwischen den Bäumen umher, Zweige raschelten im Gebüsch, und irgendwo in der Ferne schrie eine Eule. Der Himmel über ihnen war beinahe ebenso leer wie der Rest seines Sichtfeldes, weder Mond, noch Sterne waren hinter der finsteren Wolkendecke auszumachen. Richard hatte das Gefühl, buchstäblich von der Atmosphäre zusammengepresst zu werden, als wäre sie etwas Physisches, was nach ihm greifen und ihm die Kehle zudrücken könnte, wenn er sich nicht schnell genug aus ihren gierigen Fingern wand.
  »Es ist doch allgemein bekannt, dass die Wälder hier vor Monstern und anderen paranormalen Kreaturen nur so wimmeln. Was sonst, glauben Sie, ist mit Misses Griffith und dem Doktor passiert?«
  Mit starrer Miene und fest aufeinandergebissenen Zähnen versuchte er, Maisies Worte wieder aus seinen Gedanken zu vertreiben und sich stattdessen auf das Licht von Lilys Taschenlampe zu konzentrieren. So zielsicher, wie sie sich bewegte, war das vermutlich nicht das erste Mal, dass sie diesen Weg zurücklegte. Vielleicht hätte Richard seine Kollegen doch wecken und ihnen bescheid geben sollen … nein, das hätte viel zu lange gedauert. Bis er den beiden alles erklärt hätte, wäre Lily längst über alle Berge gewesen. Richard wusste, dass es eine leichtsinnige Entscheidung gewesen war, ganz allein die Verfolgung aufzunehmen, doch nun war es ohnehin zu spät, um sich deswegen Vorwürfe zu machen. Ihm blieb nur noch zu hoffen, dass sein Bauchgefühl ihn auch diesmal nicht getäuscht hatte.
  Richard war gerade bewusst geworden, dass sie sich ganz in der Nähe der Brücke befinden mussten, über die man von Südwesten aus nach Holden Creek gelangte, als vor ihnen auf einmal eine Schotterstraße sichtbar wurde, an deren Rand Lily endlich zum Stehen kam. Ihr Verfolger tat es ihr gleich, wenn auch in sicherer Entfernung zu ihr, und ging hinter einem Baumstamm in Deckung, vor dem praktischerweise ein paar Sträucher wuchsen. Das stachlige Gestrüpp blieb an seinen Hosenbeinen hängen und bohrte sich hier und da sogar durch den Stoff, doch das durfte Richard jetzt nicht kümmern. In der Dunkelheit konnte er Lilys Gesichtsausdruck nicht erkennen, auch wenn ihre Taschenlampe noch immer auf den Boden vor ihr gerichtet war, doch sie schien auf irgendetwas zu warten – oder auf irgendjemanden.
  Eine ganze Weile lang hockte Richard einfach nur reglos in seinem Versteck, beide Ärmel über die steif gefrorenen Finger gezogen, und die junge Frau am Wegesrand durch den silbrigen Dunst beobachtend, der bei jedem Atemzug aus seinen Nasenlöchern emporstieg. Allmählich begann er es tatsächlich zu bereuen, ganz allein hierhergekommen zu sein. Newman würde ihn diese Dummheit nie wieder vergessen lassen, wenn er morgen früh dazu gezwungen war, ihr und Dunstan zu erklären, wo er sich diesen furchtbaren Schnupfen geholt hatte. Und außerdem begann die grauenvolle Stille, die in diesem Wald herrschte, ihn langsam wirklich wahnsinnig zu machen. Vielleicht sollte er seine Deckung einfach aufgeben und Lily direkt konfrontieren … bevor sie die ganze Nacht hier herumstanden, wäre das vielleicht gar keine so schlechte Idee.
  Richard wollte gerade aus seinem Versteck hervortreten und sie auf sich aufmerksam machen, als er aus der Ferne Motorengeräusche hörte. Rasch ging er wieder in die Hocke, um nicht vom Scheinwerferlicht erfasst zu werden, das wenig später zwischen den Bäumen sichtbar wurde. Auch Lily schien ihren Besuch bemerkt zu haben und schaltete nun endgültig ihre Taschenlampe aus.
  Nach und nach verwandelte sich der Lärm in einen großen, dunkel lackierten Geländewagen, der letztendlich vor dem aufgeregt von einem auf den anderen Fuß tretenden Mädchen zum Stehen kam. Richard verengte die Augen zu Schlitzen und versuchte, einen genaueren Blick auf die schlammige Schotterstraße zu erhaschen. Diese Reifenspuren … ob das dieselben waren, die sie hinter Doktor Munroes Haus gefunden hatten? Wenn er jetzt so darüber nachdachte, dann müssten sie sich eigentlich ganz in der Nähe seines Grundstückes befinden. Und wenn dieser Wagen tatsächlich öfter hier vorbeifuhr, dann könnte er gerade womöglich eine entscheidende Entdeckung gemacht haben!
  Richard konnte hören, wie sich die Fahrertür auf der anderen Seite des Wagens öffnete, sah von seiner Position aus jedoch nicht, wer ausstieg. Trotz der Kälte begannen seine Hände allmählich zu schwitzen und auch sein Puls wurde von Minute zu Minute unruhiger. Noch hatte er nicht die geringste Ahnung, wie gefährlich dieser Fremde war – sowohl für ihn, als auch für Lily.
  Er versuchte, sich zu konzentrieren, um das Gespräch besser belauschen zu können, als die beiden auf einmal wieder zum Vorschein kamen und zielsicher in Richtung Kofferraum schlichen. Der Fahrer des Wagens war ein wenig größer und schmaler gebaut als seine Begleiterin, trug unter seiner Jacke jedoch einen ebenso schwarzen Kapuzenpullover, der sein Gesicht in völlige Dunkelheit tauchte. Lily wirkte währenddessen nicht im Mindesten eingeschüchtert oder gar verängstigt, ganz im Gegenteil, sie hatte den anderen sogar beim Ärmel gepackt und zog ihn sanft, aber bestimmt hinter sich her. Auch wenn das natürlich noch nichts heißen musste. Der Fahrer öffnete den Kofferraum und die beiden verschwanden erneut aus Richards Sichtfeld, ihre Worte noch immer zu gedämpft, um den Inhalt der Konversation erfassen zu können.
  So ging das hier nicht weiter. Er musste eingreifen. Richard atmete noch einmal tief durch, umfasste mit der linken Hand den Griff seiner Waffe, und trat aus den Schatten.
  »Polizei. Darf ich vielleicht fragen, was Sie hier machen?«
  Seine Stimme war klar und schnitt wie ein frisch geschärftes Messer durch die Stille der Nacht, während die beiden Verdächtigen vor Schreck einen Satz nach hinten machten und hektisch herumfuhren.
  Richard konnte gerade noch das völlig entgeisterte Gesicht eines jungen Mannes erkennen, der reflexartig die Arme nach oben riss, bevor Lily sich beinahe instinktiv vor ihn stellte, als fürchtete sie, er könnte jeden Moment auf sie schießen. Ein paar schier endlos scheinende Sekunden lang standen die drei sich bloß wie vom Donner gerührt gegenüber, bevor mit einem Mal wieder Leben in die Jugendlichen zu fahren schien und sie ohne Punkt und Komma draufloszustammeln begannen.
  »Bitte nicht schießen!«
  »Wir haben nichts gemacht!«
  »Wir sind beide volljährig, wir dürfen hier sein!«
  Richard blinzelte ein paarmal angestrengt vor sich hin und ließ die Hand, die er an seinen Holster gelegt hatte, wieder sinken. Davon, dass die zwei keine unmittelbare Gefahr darstellten, konnte er zu diesem Zeitpunkt wohl guten Gewissens ausgehen. Trotzdem kam er ein paar Schritte näher, das Paar dabei nicht aus den Augen lassend.
  »Ganz ruhig, ich werde auf niemanden schießen.« Leider wusste Richard, wie bitter notwendig dieser Satz war, selbst wenn er aus seiner Perspektive meist eher albern klang als alles andere. Derjenige mit der Waffe in der Hand hatte schließlich immer gut reden. »Aber es interessiert mich wirklich, was Sie beide um diese Uhrzeit hier draußen zu suchen haben. Besonders Sie, Miss Hart.«
  Die Angesprochene schluckte und versank immer tiefer in ihrem viel zu großen Kapuzenpullover, während ihr Begleiter sie ungläubig zu mustern begann.
  »Sie sind mir gefolgt«, stellte sie fest.
  »Ich halte es für ausgesprochen leichtsinnig von Ihnen, sich nachts allein im Wald herumzutreiben, nachdem hier im vergangenen halben Jahr bereits drei Menschen ermordet wurden. Also, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«
  »Wir … also …« Lily druckste herum, die Hände nervös ineinanderwringend, während sie seinen Blicken demonstrativ auswich. »Reese und ich, wir … wir sind zusammen.« Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte den Kopf in Richtung ihres Freundes, wie um sich zu vergewissern, ob es auch für ihn in Ordnung war, wenn sie jetzt einfach so damit herausrückte. Dieser schien jedoch keinerlei Einwände zu haben und zuckte lediglich mit den Schultern.
  »Und das jetzt schon seit ein paar Monaten. Meine Mom weiß allerdings nichts davon. Eigentlich weiß bisher niemand etwas davon … deshalb treffen wir uns auch immer nur heimlich. Reese fährt den ganzen Weg von Pinefield bis hierher, zu unserem geheimen Treffpunkt, um mich abzuholen. Und dann, na ja …« Sie hielt einen Moment lang inne und Richard meinte, einen leicht rosafarbenen Schimmer auf ihren sommersprossenbedeckten Wangen ausmachen zu können. »Dann fahren wir eben ein bisschen raus, verbringen Zeit miteinander, sehen uns die Sterne an und all so was. Wir wollen nicht, dass irgendjemand von unserer Beziehung erfährt, weil … na ja, meine Mom macht sich auch so schon genügend Sorgen um mich. Sie ist ’ne richtige Helikoptermutti und ich weiß ja, dass sie es nur gut mit mir meint, aber wenn sie herausfinden würde, dass ich einen Freund habe und es dann auch noch wage, hin und wieder mit ihm auszugehen, würde sie komplett ausflippen! Seit der Sache mit Mister Gilbert ist sie total paranoid geworden und würde meine Schwester und mich am liebsten den ganzen Tag über im Haus einsperren. Und wie gesagt, mir ist klar, dass sie uns nur beschützen will, aber …« Lily stieß ein frustriertes Seufzen aus und ließ die Schultern hängen. »Ich will einfach keine Fernbeziehung, okay? Irgendwann will ich meinen Freund auch mal treffen dürfen, ohne Angst haben zu müssen, dass sie mir die ganze Zeit hinterherspioniert! Und im Augenblick geht das nun mal nicht anders.«
  »Ach.« Wirklich schlagfertig klang diese Antwort nicht, aber etwas Intelligenteres fiel Richard im Moment leider auch nicht ein. Zum einen war es zwar beruhigend, zu hören, dass es sich hier lediglich um ein internes Familienproblem handelte, das sich mit ein wenig gutem Willen sicher im Nu aus der Welt schaffen ließ, doch auf der anderen Seite bedeutete das auch, dass er sich die ganze Mühe umsonst gemacht hatte. Morgen früh würde er mit Sicherheit kaum aus den Federn kommen und das alles bloß wegen ein paar verliebter Teenager, die etwas Zeit für sich haben wollten …
  Wenn er ehrlich war, dann kam Richard die Situation jedoch wesentlich bekannter vor, als ihm lieb war. Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er seine erste Freundin zum Abendessen mit seinen Eltern eingeladen hatte. So aufgeregt wie damals war er schon lange nicht mehr gewesen, und das, obwohl er eigentlich überhaupt keinen Grund dazu gehabt hatte. Seine Mutter hatte Gabriella auf Anhieb ins Herz geschlossen und ihm gegenüber immer wieder verlauten lassen, was für eine liebenswerte junge Dame er doch da an seiner Seite hatte. Von seinem ersten Freund hingegen … wussten sie bis heute nichts. Auch ihre Treffen hatten beinahe ausschließlich bei Nacht stattgefunden, obwohl Marco nicht einmal drei Straßen weiter gewohnt hatte. Dafür hatte ihre Beziehung dank der ganzen Heimlichtuerei aber auch keine zwei Wochen gehalten. Zumindest hatte er sich lange Zeit eingeredet, dass es daran gelegen hatte.
  Richard seufzte und fuhr sich durch das von Schlaf und Kälte noch immer etwas zerzauste Haar. »Also gut … dann will ich Ihnen mal nicht weiter auf den Pelz rücken. Aber ich würde Ihnen wirklich dringend raten, diese nächtlichen Treffen in Zukunft zu unterlassen. Ich kann ja verstehen, dass Sie beide Sehnsucht nacheinander haben, aber so lange hier noch wegen mehrfachen Mordes ermittelt wird, müssen Sie auf alle Fälle eine andere Lösung finden. Sie können von Glück reden, dass ich der Einzige bin, der Ihnen heute Nacht hier draußen begegnet ist.«
  Die beiden Jugendlichen wirkten zwar nicht sonderlich angetan von seiner Gardinenpredigt, schienen ihren Fehler jedoch einzusehen.
  »Tut mir leid, dass ich Sie vorhin erschreckt habe. Aber Miss Hart, wenn ich Ihnen noch einen Rat mit auf den Weg geben dürfte?« Nun wandte er sich direkt an Lily, welche sofort unter seinen Blicken zusammenschrumpfte. »An Ihrer Stelle würde ich Ihrer Mutter einfach die Wahrheit sagen. Sie ist ja schließlich auch mal jung gewesen. Glauben Sie mir, Erwachsene verstehen solche Situationen oft besser, als man anfangs glauben mag. Und außerdem scheint Ihr Reese ja auch ein ganz anständiger Kerl zu sein.« Der Angesprochene nickte so eifrig, dass Richard beinahe geschmunzelt hätte, wäre er im Augenblick nicht so müde gewesen. »Sie können Ihre Familiensituation mit Sicherheit besser einschätzen als ich, aber denken Sie zumindest einmal darüber nach. Schaden kann es bestimmt nicht.«
  »Ich, äh … ich werd’s versuchen«, versprach Lily mit einem angespannten Lächeln auf den Lippen, während ihre Hand wie von selbst zu der ihres Freundes herunterwanderte, der noch immer ein wenig zusammengekauert hinter ihr stand und schweigend vor sich hin fröstelte. »Ich denke, wir sollten jetzt gehen … oder?«
  Reese zuckte mit den Schultern. »Ich kann dich ja noch schnell zuhause absetzen und dann …« Seine Stimme wurde noch leiser, als sie ohnehin schon war. »Dann fahr ich auch wieder heim, schätze ich mal.«
  »Das wird wahrscheinlich das Beste sein«, stimmte auch Richard den beiden zu.
  »Sollen wir Sie vielleicht ein Stück mitnehmen?«
  »Danke, aber ich finde schon allein zurück. Gute Nacht und viel Glück Ihnen beiden noch.«
  »Äh … Ihnen auch.«
  Kaum hatten sich die Wege der drei wieder getrennt, begann Richard es bereits zu bereuen, Reese’ Angebot ausgeschlagen zu haben, doch je müder er wurde, desto mehr ließ seine Fähigkeit, sinnvolle Entscheidungen zu treffen, nach, zumindest war das die einzige logische Erklärung, die ihm dazu in den Sinn kam. Trotz der bitteren Kälte fielen ihm langsam, aber sicher die Augen zu, was es nicht unbedingt einfacher machte, den Rückweg zu finden, doch wenigstens konnte er diesmal der Straße folgen und musste nicht noch einmal durch das finstere Dickicht stolpern. Es käme wirklich einem mittleren Wunder gleich, wenn er heute Nacht noch ein Auge zubekommen würde … aber zumindest war das Mysterium des umtriebigen Zimmermädchens nun endlich gelöst. Und er hatte morgen beim Frühstück auf alle Fälle etwas zu erzählen.
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