Wo wir begraben liegen
von Tschuh
Kurzbeschreibung
Oktober 2001: In den umliegenden Wäldern der amerikanischen Kleinstadt Holden Creek werden mehrere brutal zerstochene Leichen ohne Augen aufgefunden. Die Anwohner sind zunehmend verängstigt und die Polizei tappt im Dunkeln, doch dann schaltet sich plötzlich der Meisterdetektiv L in die Ermittlungen ein. Er schickt ein Team aus drei herausragenden FBI-Agenten nach Holden Creek, die die Mordserie genauer unter die Lupe nehmen sollen. Doch sie bleiben nicht lang allein ... || Content Warnings: Diskussion von psychischen Störungen, Charaktertod und relativ intensive Gewaltdarstellung. Wünscheäußern und Miträtseln erwünscht!
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday
L
Naomi Misora
OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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15.10.2021
6.046
AN: Öhhh, zu diesem Kapitel fällt mir ehrlich gesagt nicht so viel ein. Das Draft hat sich tatsächlich auch etwas hingezogen, wobei ich aber glaube, dass das eher mit meinen Rückenschmerzen, als mit Writer’s Block zu tun hatte,,,
Na ja, Meggilein zeigt sich hier mal wieder von ihrer besten Seite. Also, von allen. Viel Vergnügen. 8D
Ach ja, und wir haben endlich die 100k geknackt! Zumindest in diesem Fanfiktion.de-Dokument hier. Hat ja auch etwas auf sich warten lassen …
Eigentlich hatte sich Megan schon ein wenig mehr von ihrem Besuch in der Uniklinik versprochen – wenn nicht sogar erhofft. Abgesehen von ein paar Ausnahmen, die zu diesem Zeitpunkt gerade im Operationssaal zugange gewesen waren und fleißig Leben gerettet hatten, waren Munroes ehemalige Kollegen erstaunlich kooperativ gewesen und die Befragung selbst hatte insgesamt keine zwei Stunden gedauert. Nur leider hatte keine ihrer Antworten ihr wirklich neue Erkenntnisse geliefert.
Am Abend seines Verschwindens vor sechs Tagen hatte Doktor Harrison Munroe sich von seiner Station verabschiedet, den Spätschichtlern eine ruhige Nacht, sowie dem Rest einen schönen Feierabend gewünscht, und sich anschließend auf den Heimweg begeben. Dem Pflegepersonal zufolge hatte es an seinem Verhalten keinerlei Auffälligkeiten gegeben, während der allmittäglichen Raucherpause hätte er wie immer seine Witzchen gerissen, und in seinem Büro hatte Megan auch nichts Verdächtiges entdecken können. Die meisten seiner Kollegen schienen sogar recht gut mit Munroe befreundet gewesen zu sein und hatten angegeben, dass sie auch nichts von irgendwelchen privaten Problemen in seinem Umfeld gewusst hätten – was sich wiederum mit dem deckte, was Megan und ihr Team bereits in Holden Creek erarbeitet hatten.
Über die angeblichen ›Neider‹, die Doktor Fowler vor kurzem gegenüber Dunstan erwähnt hatte, war ebenfalls kein Sterbenswörtchen gefallen. Ganz im Gegenteil; es war beinahe erschreckend, wie gut die Leute in diesem Krankenhaus miteinander auszukommen schienen. Nicht einmal eine heimliche Affäre mit der Nachtschwester hatte Megan bei ihren Recherchen aufdecken können! Friede, Freude, Eierkuchen. So viel kollegialer Zusammenhalt war ja beinahe schon ekelhaft.
Zum Schluss hatte sie sich sogar noch einmal nach dieser Kieferbandagentechnik erkundigt, die bei allen bisherigen Opfern angewandt worden war. Es sah ganz danach aus, als wäre dieser Vorgang auch im Klinikum eine gängige Routinemaßnahme, wenn ein Patient verstarb, und sämtliche Schwestern und Pfleger, die Megan dazu befragt hatte, konnten einen solchen Verband mit Leichtigkeit anlegen. Auch wenn das den Pool der Verdächtigen momentan nicht unbedingt erweiterte.
Mit einem lustlosen Seufzen schlug Megan die Beine übereinander und nippte an ihrem inzwischen nicht mehr ganz so heißen Kaffee. Je länger sie den labbrigen Pappbecher umklammert hielt, desto schneller schien das Material aufzuweichen, doch immerhin wärmten sich ihre steifen Finger dadurch wieder ein wenig auf. Eigentlich hatte sie sich ja in der Cafeteria eine Tasse Tee genehmigen wollen, doch die Schlange dort war so lang gewesen, dass die Geduld sie bereits in der ersten Minute verlassen und sie sich stattdessen mit der Brühe aus dem Automaten begnügt hatte. Hin und wieder musste man schließlich auch Opfer bringen können.
Die kleine Parkanlage, von der die Klinik umgeben war, machte trotz der Jahreszeit jedoch einen ausnehmend hübschen und gepflegten Eindruck. Wenn man so viel Platz zur Verfügung hatte, um spazieren zu gehen oder vor irgendwelchen übereifrigen Pflegern davonzulaufen, die einen alle paar Minuten mit ihrem Blutdruckmesser zu belästigen versuchten, dann ließ man sich hier doch gerne am offenen Herzen operieren!
Jetzt musste Megan nur noch einen kurzen Abstecher zum rechtsmedizinischen Institut gegenüber machen und sich bei einer gewissen Professor Hayes melden, um die Laborberichte von Munroes Obduktion abzuholen, und dann konnte sie guten Gewissens wieder nach Holden Creek zurückkehren – und natürlich hoffen, dass Williams und Dunstan einen ähnlich ereignislosen Tag zu verbuchen hatten. Wenigstens hatte sie heute nicht schon wieder durch den Matsch latschen und irgendeinen alten Zausel mit Eintopf beliefern müssen.
Megan stellte ihren Kaffeebecher neben sich auf der Parkbank ab, zog die inzwischen etwas eingedrückte Schachtel samt Feuerzeug aus ihrer Jackentasche, und zündete sich eine Zigarette an. Es brauchte ein paar Anläufe, bis sich hinter ihrer schützend positionierten Hand endlich ein Flämmchen bildete, das nicht sofort wieder von einer Windböe erstickt wurde. Fröstelnd hob die junge Ermittlerin ihre Schultern und vergrub das Kinn im weichen, wollenen Stoff ihres Schals. Ein wenig mehr Sonne hätte sie heute durchaus vertragen können, aber immerhin regnete es nicht. Und vielleicht hatte sie ja Glück und ihr Geburtstag kommende Woche würde ebenfalls einigermaßen trocken bleiben. Wenn sie ihren Ehrentag schon in diesem nebligen Kaff verbringen und sich die Zeit mit Special Agent Spaßbremse und dem größten Zwergenhasser der Nation vertreiben musste, dann konnte ihr das Schicksal ja wenigstens ein bisschen gutes Wetter gönnen, oder?
Das unerwartet schrille Klingeln ihres Handys riss Megan wieder aus ihren Gedanken und ließ sie so scharf einatmen, dass der Rauch sie unverzüglich zum Husten brachte. Mit grimmig zusammengekniffenen Augenbrauen kramte sie in ihren Taschen herum, bevor sie das kleine Telefon schließlich zu fassen bekam und den Anruf annehmen konnte. Einen nervigeren Klingelton hatte ihr Chef wohl nicht gefunden …
»Ähhh, ja?«
»Guten Tag, Special Agent Newman. Ich wollte mich eigentlich nur erkundigen, ob Sie mein Paket erhalten haben, aber diese Frage hat sich wohl gerade erübrigt.« L brauchte sich nicht einmal vorzustellen. Die ewig monoton dahinschwafelnde Computerstimme, mit der er sie gerade so liebevoll begrüßt hatte, würde Megan wahrscheinlich unter tausenden wiedererkennen. »Aber wo wir nun schon einmal dabei sind: wie geht es denn bisher voran?«
»Och, eigentlich ganz gut«, log die Angesprochene mit einem gequälten Lächeln. Dass sie nach fast einer Woche noch immer keinen ordentlichen Fortschritt gemacht hatten, war bereits peinlich genug, da musste sie sich nicht auch noch vor ihrem Auftraggeber erniedrigen, indem sie diese Tatsache offen zugab. »Ich befinde mich gerade am Arbeitsplatz unseres letzten Opfers und höre mich hier ein wenig um. Williams und Dunstan sind in Holden Creek geblieben.« Sie musste zwar mit aller Gewalt dagegen ankämpfen, konnte es sich jedoch glücklicherweise verkneifen, noch einen gehässigen Kommentar bezüglich ihrer Kollegen hinterherzuschleudern. Ein Hoch auf ihre Selbstbeherrschung!
»Wunderbar. Geben Sie ruhig bescheid, falls Sie irgendetwas brauchen sollten. Ich werde mich dann in Kürze noch einmal bei Ihnen melden.«
»Sagen Sie mal!«, riss Megan nun erneut das Wort an sich, bevor L auch nur darüber nachdenken konnte, sich zu verabschieden. Wenn sie ihn jetzt schon an der Strippe hatte, dann konnte er ihr ja zur Abwechslung auch mal ein wenig Rede und Antwort stehen. »Wieso haben Sie eigentlich uns nach Holden Creek geschickt, statt die Ermittlungen persönlich in die Wege zu leiten? Verstehen Sie mich nicht falsch, nichts läge mir ferner, als Ihnen vorzuschreiben, wie Sie Ihren Job zu machen haben, aber finden Sie nicht, dass das Ganze so ein wenig … umständlich ist?«
»Das mag durchaus stimmen, allerdings ist die Mordserie von Holden Creek nicht der einzige Fall, an dem ich momentan arbeite, und es gibt Angelegenheiten, die im Augenblick eher meine physische Präsenz erfordern, als diese hier. Und leider Gottes ist es mir bislang auch noch nicht möglich, an mehreren Orten gleichzeitig zu existieren, auch wenn ich diese Tatsache natürlich sehr bedauere.« Megan zog eine Grimasse. Da hatte wohl heute jemand einen Clown gefrühstückt. »Aber wie ich bereits sagte, sollten Sie noch irgendwelches Equipment, zusätzliche Informationen oder Backgroundchecks benötigen, zögern Sie bitte nicht, mich zu kontaktieren. Watari wird das mit Sicherheit liebend gern für Sie erledigen.«
»Das werden wir …«, murmelte Megan mit Blick in die Ferne, während sie noch einmal kräftig an ihrer Zigarette zog. Der Qualm, den sie daraufhin ausstieß, war bereits nach wenigen Sekunden kaum noch vor dem aschgrauen Himmel zu erkennen. »Wobei es mich aber nach wie vor brennend interessiert, warum ein so namhafter Stardetektiv wie Sie ausgerechnet in einem derart mickrigen Provinzmordfall ermittelt. So weit ich mich entsinne, übernehmen Sie doch normalerweise nur Fälle, die bereits mehr als zehn Opfer gefordert haben oder deren Gesamtschaden über eine Million Dollar beträgt.«
»Die Bezeichnung ›mickrig‹ erscheint mir in diesem Kontext doch reichlich respektlos, Special Agent Newman«, wich L ihrer Frage gekonnt aus und Megan hatte beinahe das Gefühl, zwischen all dem elektronischen Schnarren tatsächlich so etwas wie ein Schmunzeln aus seiner Stimme herauszuhören. »Schließlich geht es hier immer noch um Menschenleben. Da würde ich Sie doch bitten, ein wenig mehr Anteilnahme an den Tag zu legen und das Wesendliche nicht aus den Augen zu verlieren. Aber wenn das alles ist, was Sie wissen wollten, dann werde ich mich jetzt wieder verabschieden. Es wartet hier noch einiges an Arbeit auf mich, wie Sie sich mit Sicherheit vorstellen können. Auf Wiederhören, Agent Newman. Ich wünsche Ihnen und Ihren Kollegen auch weiterhin viel Erfolg.«
Bevor Megan noch weiter nachhaken, geschweige denn sich über diese wenig aufschlussreiche Auskunft beschweren konnte, hatte ihr Auftraggeber das Gespräch auch schon beendet. Ein unwirsches Knurren entkam ihrer Kehle, als sie die Zigarette mit deutlich mehr Gewalt, als es wahrscheinlich gebraucht hätte, auf der Sitzfläche ausdrückte und den letzten Schluck ihres mittlerweile eiskalten Kaffees austrank. Was für ein selbstgefälliges Arschloch! Wenn Megan diesem Typen jemals gegenüberstehen sollte, dann konnte der sich auf was gefasst machen … das hieß, falls er sie vorher nicht hochkantig rauswarf.
»So viel zu unserem Tag«, beendete Sam seine Berichterstattung, nachdem er Newman über sämtliche Vorkommnisse des heutigen Nachmittages aufgeklärt hatte – natürlich mit besonderem Fokus auf Rue Ryuzaki –, und lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Dieser war deutlich anzusehen, wie sehr sie sich gerade darüber ärgerte, nicht mit ihnen gekommen zu sein, doch Sam musste zugeben, dass sie wirklich einiges daran setzte, dennoch eine einigermaßen desinteressierte Miene beizubehalten.
Das lauschige, kleine Eckchen ganz in der Nähe der Bar war inzwischen fast schon zu so etwas wie ihrem Stammtisch geworden, wenn sie sich nach dem Essen doch noch einmal dazu entschlossen, den Abend in Tim’s Pub ausklingen zu lassen. Unter der Woche war es hier sogar noch leerer als sonst, doch immerhin bedeutete das auch, dass der Billardtisch die meiste Zeit über frei war. Ryuzaki selbst, der vorhin noch behauptet hatte, hier in der Kneipe ein Zimmer bezogen zu haben, hatte Sam bisher jedoch nirgendwo entdecken können. Aber vielleicht war das auch ganz gut so. Er hatte nämlich das dumpfe Gefühl, dass sie diesem sonderbaren Privatdetektiv in Zukunft noch oft genug über den Weg laufen würden.
»Von meiner Seite aus gibt es leider nicht viel Neues zu erzählen«, gestand Newman etwas zerknirscht, nachdem sie sich einen großen Schluck von ihrem Bier genehmigt und anschließend die Arme vor der Brust verschränkt hatte. »Die Laborberichte haben Sie ja bereits gelesen. Alles wie gehabt.«
»Immerhin haben wir damit die offizielle Bestätigung, dass Munroe ebenfalls an einer Überdosis Thiopental gestorben ist«, versuchte Williams der Situation zumindest noch irgendetwas Positives abzugewinnen. »Bisher ist das ja lediglich eine Vermutung gewesen.«
»Ja, und was bringt uns das? Gar nichts.« Megan bedachte ihr fast leeres Glas mit einem missmutigen Blick, während ihre Finger ungehalten auf der Tischplatte herumtrommelten. »Alle Spuren, die wir bisher gefunden haben, verlaufen sich im Sand. Und neue Erkenntnisse kommen auch nicht dazu! So langsam fängt das wirklich an, mich zu nerven. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Mittlerweile bin ich mir fast sicher, dass L in Wirklichkeit mehr über diesen Fall weiß, als er uns gegenüber zugeben will. Ich meine, warum, glauben Sie, würde er sich sonst mit so einem dahergelaufenen Kleinstadtkiller rumschlagen, wo er doch ansonsten viel größere Fische an Land zieht? International vernetzte Terroristengruppen, Menschenhändler in politischen Führungspositionen und all so ein Zeug. Das kann doch kein Zufall sein! Irgendwas verschweigt der Typ uns. Wie soll man denn unter solchen Bedingungen bitte vernünftig arbeiten?!«
Sam runzelte die Stirn und knispelte nachdenklich mit dem Fingernagel an seiner Serviette herum. Eigentlich hatte seine Kollegin gar nicht so unrecht. Auch wenn der große L natürlich für seine Geheimniskrämerei bekannt war, schien es ihm nicht viel Sinn zu haben, in einem Mordfall zu ermitteln, bei dem einem die Hälfte der Informationen unterschlagen wurde. Aber was sollten sie tun? Ihren Auftraggeber um ein wenig mehr Klarheit bitten, vermutlich. Das war bloß leichter gesagt, als getan. Schließlich sprachen sie hier von einem der brillantesten und zugleich auch einflussreichsten Verbrecherjäger der modernen Zeitgeschichte, der mit nichts weiter als einem müden Fingerzeig ganze Institutionen umherdirigieren konnte. Das war irgendwo schon ein wenig beängstigend. Mit so jemandem legte man sich nicht einfach so an – und vor allen Dingen stellte man keine Forderungen.
»Wie wäre es, wenn wir uns die Wohnungen der Opfer noch einmal etwas genauer ansehen?«, schlug Richard in diesem Moment einen Themenwechsel vor. Den tiefen Falten, die sich inzwischen auch auf seiner Stirn gebildet hatten, nach zu urteilen hatte er wohl gerade einen ähnlichen Gedankengang verfolgt.
»Ich glaube nicht, dass das etwas bringen würde«, erwiderte Sam wenig hoffnungsvoll. »Nachdem die Tode der ersten beiden Opfer nun schon so lange her sind, bezweifle ich ehrlich gesagt, dass wir jetzt noch irgendetwas Brauchbares finden würden. Laut Akte ist Gilberts Wohnung außerdem längst ausgeräumt worden und steht seitdem leer. Selbst wenn sich dort tatsächlich noch irgendwelche versteckten Fingerabdrücke befunden hätten, sind diese wohl spätestens bei der Reinigung endgültig beseitigt worden. Und was die Griffiths betrifft …« Er senkte seine Stimme etwas. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mister Griffith es begrüßen würde, wenn wir uns jetzt zu allem Überfluss auch noch durch seinen privaten Wohnbereich wühlen würden.«
»Ach was, ich dachte, das sei Ihr Spezialgebiet!«, feixte Megan herausfordernd, doch bevor Sam zu einer schlagfertigen Antwort ansetzen konnte, schwang mit einem Mal die Tür auf und niemand Geringeres als Miss Misora betrat die Kneipe. Von ihren Zimmernachbarn schien sie allerdings überhaupt keine Notiz zu nehmen, was bei den dämmrigen Lichtverhältnissen wohl kein Wunder war, und steuerte zielsicher auf die Bar zu, wo sie auch gleich mit dessen Besitzer ins Gespräch kam. Dies war anscheinend nicht ihr erster Besuch in Tim’s Pub.
»Hier hängt die also den ganzen Tag über rum. Hätte ich mir ja auch eigentlich denken können …«, murmelte Newman, während sie jede von Miss Misoras Bewegungen mit Argusaugen verfolgte. Auch Richard hatte sich inzwischen zu ihr umgewandt.
»Wieso fragen wir sie nicht, ob sie sich zu uns setzen möchte? Das ist doch mit Sicherheit um einiges angenehmer, als den Abend ganz allein an der Bar zu verbringen.«
Megan blinzelte verständnislos. »Schon mal daran gedacht, dass die Dame vielleicht ihre Ruhe haben will? Ich an ihrer Stelle würde bei meinem Feierabendbier jedenfalls nicht von so einem Lackaffen wie Ihnen belästigt werden wollen.«
»Sie würde ich auch garantiert nicht an der Bar ansprechen, das können Sie mir glauben.«
»Ach, so ist das also!« Ein unheilschwangeres Grinsen erschien auf Megans Zügen und Sam schwante bereits Übles. »Sie sind verknallt! Das erklärt auch, warum Ihnen neulich fast der Unterkiefer abgefallen ist, als Sie Miss Misora zum ersten Mal gesehen haben. Dunkelhaarige Lederjackenträgerinnen haben’s Ihnen also angetan, höchst interessant …«
Die leichte Röte, die sich nun auf Williams’ Wangen auszubreiten begann, war nicht zu übersehen, auch wenn Sam im Augenblick eher das Gefühl hatte, dass sie von Wut, statt von tatsächlicher Verliebtheit herrührte. »Das ist ja mal wieder typisch, dass ausgerechnet Ihnen so etwas als Erstes in den Sinn kommt. Dass man Menschen auch einfach bloß sympathisch finden kann, scheint Ihnen ja ein vollkommen fremdes Konzept zu sein.«
»Aha, ›sympathisch‹, so nennt man das also da, wo Sie herkommen … das ist ja wirklich herzallerliebst. Ich würde mir an Ihrer Stelle aber keine allzu großen Hoffnungen machen. Die gute Frau spielt offensichtlich in einer völlig anderen Liga als Sie. Mit so einem Erbsenzähler wird die sich nicht mal im Traum einlassen. Was gucken Sie mich denn jetzt so an? Ich versuche hier nur, Ihnen die Blamage Ihres Lebens zu ersparen!«
Sam entkam ein leises Seufzen, während er sein Augenmerk ebenfalls wieder in Richtung Misora wandern ließ. Wenn er ehrlich war, dann kümmerte es ihn nicht besonders, ob Williams sie nun zu ihrem Tisch herüberbat oder nicht, schließlich hatte sie bisher tatsächlich ganz umgänglich gewirkt, aber irgendetwas an ihr machte ihn nach wie vor stutzig. Vielleicht war es die Tatsache, dass der Serienmörder, der gerade in dieser Stadt sein Unwesen trieb, sie anscheinend so wenig zu tangieren schien. Auf alle Fälle wäre es wahrscheinlich keine schlechte Idee, sie vorerst eine Weile im Auge zu behalten.
»Miss Misora!«, hörte Sam seinen Kollegen schließlich rufen, während Newman, deren Sticheleien offenbar nicht ausgereicht hatten, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, eine genervte Grimasse verzog und wieder auf ihrem Sitzplatz zusammensank. Die Angesprochene, die es sich inzwischen auf einem der Barhocker bequem gemacht hatte, hob irritiert den Kopf und spähte nun ebenfalls zu ihnen herüber.
»Möchten Sie sich vielleicht zu uns setzen?«, fuhr Richard ein klein wenig zu laut für Sams Geschmack fort und das ungewohnt warme Lächeln, das mittlerweile auf seinen Zügen erschienen war, befremdete ihn aus irgendeinem Grund nur noch mehr. So heiter und aufgeschlossen kannte er seinen Partner gar nicht.
Miss Misora zögerte noch einen Moment, bevor sie letztendlich aufstand, sich ihre Jacke über den Arm warf und tatsächlich zu ihnen herübergeschlendert kam. »Ist das denn auch in Ordnung für Sie? Ich möchte Sie wirklich nicht stören.« Kurz glitt ihr Blick zu Megan herüber, deren Unzufriedenheit inzwischen nicht mehr zu übersehen war, doch zu Sams Überraschung winkte diese bloß ab.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, grummelte sie in halb bissigem, halb resigniertem Ton, was Miss Misora nicht sonderlich zu beschwichtigen schien, doch glücklicherweise war Richard auch diesmal wieder zur Stelle, um die Situation zu deeskalieren.
»Wir würden uns wirklich freuen, wenn Sie uns ein wenig Gesellschaft leisten würden«, beteuerte er noch einmal und gestikulierte in Richtung des Stuhls, der neben ihm stand, und auf dem Miss Misora auch gleich darauf Platz nahm. Sie machte noch immer einen etwas unangenehm berührten, wenn nicht sogar versteiften Eindruck, doch das konnte Sam in diesem Moment durchaus nachvollziehen. Womöglich hatte Williams mit seinem Versuch, ihre leicht missglückte erste Begegnung vor ein paar Tagen wiedergutzumachen, ja doch ein wenig übertrieben.
»Misses Atkins hat erzählt, dass Sie heute wandern gehen wollten«, plapperte sein Kollege auch schon munter weiter, kaum dass die junge Frau ihre Jacke über die Rückenlehne gehängt und die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt hatte. »Bei dem Wetter ist das mit Sicherheit ganz schön anstrengend gewesen. Machen Sie so etwas öfter?«
Miss Misora legte den Kopf auf die Seite und schürzte die Lippen. »Ach, es ging eigentlich. Sich hier und da mal ein wenig herauszufordern kann schließlich nie schaden.« Sie lächelte flüchtig. »Um ehrlich zu sein komme ich nur selten dazu, die Natur zu bewundern, weshalb ich normalerweise auch jede Gelegenheit nutze, um mir die Beine zu vertreten.«
»Das verstehe ich. Ein kleiner Abstecher ins Grüne kann manchmal wahre Wunder wirken.«
»Absolut! Tatsächlich habe ich während meines Roadtrips auch schon ein paarmal gecampt. Glücklicherweise ist es momentan nicht überall so nass wie hier. Aber eigentlich bin ich, was effektive Fortbewegung betrifft, eher ein Motorradfan. Auch wenn der Verkehr in L.A. wirklich nichts für schwache Nerven ist …«
Richard lachte auf. »Ja, da sind Sie so ein Wetter natürlich nicht gewohnt. Kommen Sie auch gebürtig aus Kalifornien?«
»Nein, ich bin erst nach meinem Schulabschluss in die Staaten gezogen. Wobei ich aber glaube, dass man Tokio und Los Angeles nicht wirklich auf dieselbe Stufe stellen kann. Auf den ersten Blick mögen diese ganzen Großstädte vielleicht alle gleich aussehen, aber der Rhythmus ihres Herzschlages klingt überall anders.«
»Wohl gesprochen.« Ein einsichtiges Nicken. »Pittsburgh ist da keine Ausnahme. Und wie gesagt, uns Stadtkindern kann es ja sicher auch nicht schaden, hin und wieder mal etwas anderes zu sehen.«
»Fahren Sie auch gerne campen?«
»Ab und zu ja, aber vor allem klettere ich in meiner Freizeit viel. Mein bester Freund und ich nehmen uns mehrmals im Jahr ein paar Tage Zeit für solche Ausflüge und ich muss schon sagen, da kommt man auf Dauer ganz schön herum! Die Alpen besitzen wirklich ein paar atemberaubende Aussichtspunkte und haben Sie schon mal einen Sonnenuntergang auf dem One Tree Hill in Neuseeland miterlebt? So etwas vergisst man nicht so schnell wieder.«
»Das klingt aber aufregend! Klettern war ich bisher noch nie, aber vielleicht sollte ich mich diesbezüglich mal schlau machen.«
»Glauben Sie, wir sollten die beiden lieber allein lassen, oder …?«, konnte Sam seine Kollegin neben sich flüstern hören, während sie das Gespräch vor ihnen weiterhin mit desinteressierten Blicken verfolgte. Es war wirklich erstaunlich, wie schnell Miss Misora innerhalb dieser kurzen Zeit aufgetaut war – genauso wie Williams. Bei ihrem ersten gemeinsamen Pubbesuch hatten Megan und er ihm noch jede Kleinigkeit aus der Nase ziehen müssen und jetzt plauderte er auf einmal ganz unbeschwert aus dem Nähkästchen, als hätte er nie etwas anderes getan. Sam senkte die Augenbrauen und biss die Zähne aufeinander. So unausstehlich konnten sie doch eigentlich gar nicht sein. Oder?
»Darf ich vielleicht fragen, was Sie beruflich machen?«, interessierte sich Richard auf einmal, woraufhin Miss Misoras Züge sich augenblicklich verhärteten und auch Sam unweigerlich die Stirn runzelte. Aus irgendeinem Grund schien ihr dieses Thema nicht zu behagen. Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber dann noch einmal anders, und biss sich stattdessen auf die Unterlippe.
»Das wäre dann wohl mein Stichwort … ich glaube, es gibt da etwas, was ich Ihnen beichten muss.« Miss Misora verzog das Gesicht zu einer Grimasse, wobei diese allerdings eher verschämt, als wirklich schuldbewusst wirkte. Sam und Megan tauschten argwöhnische Blicke aus, während Richard bloß fragend den Kopf auf die Seite legte. »Und zwar ist Misses Atkins vor ein paar Tagen ein kleines Detail herausgerutscht, was den wahren Grund Ihres Aufenthaltes hier betrifft. Ich habe ihr zwar eigentlich versprochen, Ihnen nichts davon zu erzählen, aber …« Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Um es kurz zu machen: ich weiß, dass Sie drei vom FBI sind.«
Sam entkam ein erleichtertes Aufatmen, noch bevor er darüber nachdenken konnte, es zurückzuhalten, doch Miss Misora schien davon glücklicherweise nichts bemerkt zu haben. So lange diese tratschfreudige alte Dame zumindest die Sache mit L für sich behalten hatte, gab es noch keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Miss Misora war mit ihrem Geständnis allerdings noch nicht fertig.
»Tja, und da dachte ich mir, es wäre nur fair, wenn ich … ach, sehen Sie doch einfach selbst.« Sie zog etwas aus ihrer Jackentasche und legte es vor ihnen auf dem Tisch ab. Es war eine FBI-Dienstmarke. Sorgfältig auf Hochglanz poliert und mit auffallend wenigen Gebrauchsspuren, wie Sam bei näherer Betrachtung feststellte. ›Special Agent Naomi Misora‹ stand auf dem dazugehörigen Ausweis geschrieben, direkt neben dem Portrait der Besitzerin. Auch seinen Kollegen stand die Verblüffung deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Also, das ist ja wirklich ein kurioser Zufall!«, bemerkte Williams amüsiert.
»Allerdings«, fügte Newman deutlich weniger belustigt und mit einem misstrauischen Seitenblick in Richtung der Angesprochenen hinzu, welchen diese jedoch ungerührt zu erwidern wusste. Richard hingegen ignorierte ihren Kommentar wie immer geflissentlich.
»Dann sind Sie also auch aus beruflichen Gründen hier. Wegen der Serienmorde, nehme ich an?«
»Oh nein, davon habe ich bis vor ein paar Tagen tatsächlich nichts gewusst.« Agent Misora kratzte sich etwas verlegen hinterm Ohr und verstaute die Dienstmarke wieder in ihrer Tasche. »Ich war vorletzte Woche auf einer Tagung in Washington und habe dort relativ spontan beschlossen, mir für den Rückweg ein paar Tage freizunehmen und diese zu nutzen, um die Gegend etwas besser kennenzulernen. Dabei habe ich dann durch Zufall von den Ereignissen hier in Holden Creek erfahren und … nun ja, ich schätze, ich konnte das nicht einfach so an mir vorüberziehen lassen. Offiziell ermitteln darf ich ohne die Erlaubnis meines Vorgesetzten zwar nicht, aber ich dachte mir, es könnte bestimmt nicht schaden, mir die ganze Sache mal etwas genauer anzusehen.«
»Bitte entschuldigen Sie meine Voreiligkeit, da sind wohl wieder einmal die Pferde mit mir durchgegangen!«
Ryuzakis Worte hallten wie fernes Gelächter in Sams Gedanken wider und ließen ihn unweigerlich die Lippen aufeinanderpressen.
»Außerdem werde ich ja ohnehin nicht lange bleiben können. Irgendwann muss ich schließlich auch wieder zurück an die Arbeit.« Agent Misora hob den Kopf und ließ ihren Blick durch die Runde schweifen. Das Misstrauen, das Megan und er ihr entgegenbrachten, war ihr offensichtlich nicht entgangen, und Sam bekam auch langsam das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, doch er wusste nicht so recht, was. Sollte er weiter nachbohren? Mehr Beweise verlangen? Beweise wofür? Immerhin hatte sie ihnen gerade eben sogar ihre Dienstmarke gezeigt. »Aber wenn Sie den Fall bereits übernommen haben, muss ich mir ja keine Sorgen machen. Und falls Sie zwischendurch ein wenig Verstärkung benötigen sollten, biete ich natürlich auch gerne meine Hilfe an!«
»Nein danke, das schaffen wir schon allein«, brummte Newman mit finsterer Entschlossenheit, woraufhin Agent Misoras Schultern sofort wieder ein Stück heruntersackten. Jetzt tat sie Sam irgendwie doch ein wenig leid.
»Aber trotzdem danke für das Angebot«, fügte er deswegen mit einem versöhnlichen Lächeln hinzu.
»Sagen Sie mal, wie lange sind Sie eigentlich schon beim FBI tätig?«, war es letztendlich Megan, die ihm das Nachhaken abnahm, und musterte die andere Frau mit einem eindringlichen Blick, bevor sie ein weiteres Mal ihr Glas zur Hand nahm. »Ohne Ihnen jetzt zu nahe treten zu wollen … aber allzu viele Dienstjahre können Sie ja noch nicht auf dem Buckel haben, wenn ich mir Sie so ansehe.«
»Ja, das könnte man so sagen.« Allmählich schien es auch Agent Misora zunehmend schwerer zu fallen, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten, aber noch schlug sie sich wacker. »Um ehrlich zu sein ist meine Probezeit erst seit einem knappen Monat vorbei.«
Richard und Sam hoben anerkennend die Augenbrauen, während Megan sich an ihrem letzten Rest Bier verschluckte und prompt einen Hustenanfall bekam. Der Profiler klopfte ihr ein paarmal vorsichtig auf den Rücken, und versuchte vergeblich, den kleinen Anflug von Schadenfreude zu verbergen, der sich gerade auf seinen Zügen auszubreiten begann. Sollte er einfach die Klappe halten und weiter still in sich hineinschmunzeln? Vermutlich. Aber andererseits …
»Dann sind Sie ja genauso ein Grünschnabel wie unsere liebe Special Agent Newman hier!«
Aus Williams’ Richtung erklang ein eher unglücklich als Räuspern getarntes Prusten, als Newmans Kopf mit einem Mal nach oben schoss und ihre vor Wut funkelnden Augen Sam regelrecht aufspießten. Just in diesem Moment tauchte auch Mister Griffith wieder an ihrem Tisch auf und stellte ein Glas helles Bier vor Agent Misora ab. Doch bevor er sich wieder aus dem Staub machen und die vier mit ihren Problemen alleinlassen konnte, ließ Megan plötzlich ihre flache Hand auf die Tischplatte knallen und die versammelte Mannschaft damit heftig zusammenzucken.
»Tun Sie mir ’nen Gefallen und bringen Sie mir ’nen Whiskey. Ich brauch was zur Beruhigung, damit ich hier nicht gleich alles auseinandernehme.«
Der Pubbesitzer schluckte einmal schwer, nickte dann jedoch bloß und verschwand umgehend wieder hinter der Bar, während in Sam allmählich doch ein paar Zweifel aufzukeimen begannen, ob es das gerade wirklich wert gewesen war. Newmans gesamten heiligen Zorn auf sich zu ziehen, war mit Sicherheit nicht seine beste Idee gewesen, aber nun war es ohnehin zu spät, um sich deswegen Vorwürfe zu machen. Zumindest Agent Misora dürfte spätestens jetzt begriffen haben, welch fragwürdige Bekanntschaften sie sich da gerade angelacht hatte.
Mit einem herzhaften Gähnen streckte Sam die Arme über dem Kopf aus, als er durch die Badtür zurück in sein Zimmer trat, und konnte sofort spüren, wie ein wohliger Schauer seine Glieder durchdrang. Er war vorhin bereits ein wenig schläfrig gewesen, als sie den Entschluss gefasst hatten, im Pub noch ein Gläschen trinken zu gehen, hatte sich seinen Kollegen zuliebe jedoch nichts anmerken lassen und war trotzdem mitgekommen. Dafür wurden ihm die Konsequenzen dieser Entscheidung nun umso stärker bewusst.
Sam wollte gerade die Bettdecke zurückschlagen und sich endlich hinlegen, als sein Blick wie zufällig in Richtung Nachttisch glitt und an der kleinen, flachen Pappschachtel hängenblieb, die er sich vor kurzem in der Apotheke geholt hatte. Es war für ihn immer mit einem gewissen Risiko verbunden, ohne medikamentöse Hilfe einschlafen zu wollen. Und je mehr er sich darauf zu konzentrieren versuchte, desto schwieriger wurde es. Man rollte sich von einer Seite auf die andere, ohne dabei auch nur in eine ansatzweise komfortable Position zu geraten, und fing auf einmal damit an, sich über alles Mögliche Gedanken zu machen, während jedes noch so dezente Heizungsgurgeln einem plötzlich vorkam wie ein Platzregenschauer.
Nur weil man müde war, bedeutete das noch lange nicht, dass man schnell einschlafen konnte. Und jetzt hatte Sam sich die Tabletten schon einmal besorgt … mit einem frisch ausgestellten Rezept von Doktor Fowler. Sollte er dann nicht auch Gebrauch von ihnen machen? Genau dafür waren sie schließlich da. Und er musste es ja auch nicht gleich übertreiben. Eine Pille reichte vollkommen aus. Bis diese zu wirken begann, dauerte es normalerweise eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten. Dann wäre es halb zwölf. Das hieß, er konnte noch ungefähr sechseinhalb Stunden schlafen. Warum also nicht auf Nummer sicher gehen?
Sam holte tief Luft und schüttelte den Kopf, als er bemerkte, dass er die ganze Zeit über seine Kiefer aufeinandergepresst und unweigerlich mit den Zähnen geknirscht hatte. So durfte er gar nicht erst anfangen! Er sollte wenigstens versuchen, heute Nacht noch einmal ohne Medikamente auszukommen. Im Notfall konnte er ja später immer noch eine Tablette einnehmen. Entschieden griff Sam nach der Packung, ging zu seinem Schreibtisch herüber, und verstaute die Schachtel ganz unten in seiner Reisetasche, um auch ja nicht in Versuchung zu kommen.
Zufrieden mit seinem Entschluss machte er es sich auf dem Bett bequem, schüttelte das Kopfkissen auf, um es hinter seinem Rücken zu positionieren, und nahm das Buch zur Hand, das er am gestrigen Abend zu lesen begonnen hatte. Einen Roman hatte er während seines Aufenthaltes in Holden Creek bereits beendet, und wenn er dieses Tempo beibehielt, dann würde er sich wahrscheinlich schon sehr bald Nachschub besorgen müssen. Die hiesige Buchhandlung hatte mit Sicherheit noch ein paar von Townsends Werken auf Lager und wenn er den armen Mann schon um seinen Wochenendverdienst brachte, dann war das wohl das Mindeste, was er als Entschädigung für ihn tun konnte.
Doch es waren nicht bloß die Gartenzwerge, die ihm nach wie vor im Kopf herumspukten … nein, auch der heutige Tag war wirklich in jeder nur erdenklichen Hinsicht bizarr gewesen. Eine derart extreme Reaktion hatte Sam schon lange nicht mehr auf schlechte Luft gezeigt und dabei kam es eigentlich relativ häufig vor, dass er seit dem Vorfall bei der Razzia unter Atemnot litt. Andererseits konnte er sich aber auch nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal eine dermaßen – und man möge ihm diese Ausdrucksweise verzeihen – ranzige Schimmelhütte betreten hatte. Den nächsten Botengang konnte Agent Newman auf alle Fälle gern für ihn übernehmen.
Was Sam im Augenblick jedoch am meisten Kopfzerbrechen bereitete, war dieser Rue Ryuzaki. Während seiner Laufbahn als FBI-Ermittler war er zwar durchaus schon dem einen oder anderen Privatdetektiv begegnet und hatte mitbekommen, dass diese Zunft sich in der Regel durch ihre Exzentrik auszeichnete, aber so etwas hatte er wirklich noch nie erlebt. Wie eine Küchenschabe war dieser Mann plötzlich auf ihn zugekrabbelt gekommen! Und Sam hätte beinahe auf ihn geschossen. Einen solchen Fehler durfte er sich auf gar keinen Fall erlauben. Vor allen Dingen dann nicht, wenn er unter dem Kommando von L agierte.
Und noch etwas machte ihn stutzig, wenn er jetzt so darüber nachdachte: Ryuzaki hatte ganz offensichtlich Zweifel gehabt, als Sam ihm gegenüber erwähnt hatte, dass Williams und er bei der Polizei arbeiteten. Wieso hatte er also nicht nach ihren Dienstmarken gefragt? Selbst Agent Misora hatte sich im Laufe des Abends noch einmal vergewissern wollen und sie gebeten, sich auszuweisen. Schließlich konnte so etwas jeder behaupten. Dieser Ryuzaki war einfach so … undurchsichtig. Und das, obwohl Sam seine Menschenkenntnis normalerweise als überdurchschnittlich gut, wenn nicht sogar hervorragend bezeichnen würde, schließlich waren Verhaltensanalysen ein grundlegender Bestandteil seines Berufes. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er den Kerl einschätzen sollte, und das beunruhigte ihn immens, auch wenn er das nur ungern zugab.
Und apropos Agent Misora … mit der mussten sie sich ja auch erst einmal arrangieren. Zumindest Richard schien sich blendend mit ihr verstanden zu haben, und das, nachdem sie nicht einmal fünf Minuten miteinander verbracht hatten. Sam musste schon zugeben, dass er ein wenig enttäuscht davon war, wie leichtsinnig sein Kollege sich dieser Frau anvertraut hatte. So ein Verhalten sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Sam wurde einfach das Gefühl nicht los, dass sie sich vor Agent Misora in Acht nehmen sollten. Wie hoch war schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass sich genau zu diesem Zeitpunkt noch eine weitere FBI-Agentin nach Holden Creek aufgemacht hatte, und das auch noch völlig unabhängig von ihnen?
Mit einem ebenso leisen, wie resignierten Seufzen legte Sam sein Buch zur Seite, und griff stattdessen nach dem Handy, das neben seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch lag. Wahrscheinlich sollten sie L über die ganze Sache informieren. Irgendwie reizte es ihn ja schon, endlich auch einmal persönlich mit ihrem Auftraggeber in Kontakt zu treten. Nur zur Sicherheit. Und für jemanden wie L, der weltweit Zugriff auf alle nur erdenklichen Datenbanken hatte, sollte so ein kleiner Backgroundcheck ja wohl kein Problem darstellen.
Mit unruhigen Fingern und trockener Kehle wählte Sam die eingespeicherte Nummer aus und hielt sich das Telefon ans Ohr. Eigentlich gab es doch überhaupt keinen Grund, so aufgeregt zu sein. Immerhin war es der Meisterdetektiv selbst gewesen, der ihn für diesen Fall mit ins Boot geholt hatte. Das durfte er nicht vergessen.
»Special Agent Dunstan«, wurde Sam von einer wenig enthusiastisch klingenden Computerstimme begrüßt, noch bevor er selbst das Wort hatte ergreifen können. Nun begann sein Herz doch ein wenig schneller zu schlagen. »Was für eine Freude, von Ihnen zu hören. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Sam überlegte einen Moment, wie er es formulieren sollte. »Ich … also, wir hätten da ein kleines Anliegen an Sie.«
»Und das wäre?«
»Uns ist hier vor kurzem eine Frau begegnet, die behauptet, ebenfalls zum FBI zu gehören. Ihr Name ist Naomi Misora …« Sam tat sein Möglichstes, um die Situation so ausführlich wie möglich zu schildern, ohne dabei allzu misstrauisch oder gar wahnhaft zu klingen. Das Letzte, was er wollte, war L das Gefühl zu geben, dass sie mit einer solchen Situation nicht allein fertigwurden, doch dieser schien seine Bedenken durchaus ernst zu nehmen.
»Agent Dunstan, ich denke, es war die richtige Entscheidung, Agent Misoras Hilfe vorerst abzulehnen«, meinte er schließlich, nachdem Sam ihm alles Wichtige erklärt hatte. »In Ihrer Position ist ein gesunder Argwohn mit Sicherheit nicht fehl am Platz, von daher halte ich Ihre Reaktion für mehr als gerechtfertigt. Ich werde die Identität der Dame überprüfen lassen und mich in Kürze wieder bei Ihnen melden. Bis dahin machen Sie am besten so weiter wie zuvor. Ich sehe zu diesem Zeitpunkt jedenfalls keinen Grund, extremere Maßnahmen zu ergreifen.«
»Das werden wir.«
»Wunderbar. Dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Abend, Agent Dunstan. Auf Wiederhören.«
»Wiederhören.«
Kaum hatte Sam den Anruf beendet, fiel es ihm mit einem Mal siedend heiß wieder ein: er hätte bei der Gelegenheit auch gleich Ryuzaki erwähnen sollen! Und die Sache mit Townsend … daran hatte er natürlich überhaupt nicht gedacht. Na, ganz große Klasse. So viel zum Thema Müdigkeit. Sam legte das Handy erneut beiseite, setzte seine Lesebrille ab, und rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger. Nun ja, wenn es eine Sache gab, die er aus dieser Schuppengeschichte gelernt hatte, dann war das wahrscheinlich, dass ›exzentrisch‹ noch nicht gleich ›Serienmörder‹ bedeuten musste. So einen Fehler wie vor ein paar Tagen wollte er wirklich nicht noch einmal begehen. Und außerdem hatte Ryuzaki bisher ja auch noch keine wirklichen Anstalten gemacht, ihnen irgendwie in die Quere zu kommen. Vorerst sollte es ausreichen, wenn sie hin und wieder mal ein Auge auf ihn hatten.
Sam schaltete die Nachttischlampe aus, drehte sich auf die Seite, und zog die Bettdecke über seine Schultern. Womöglich würde es ja diesmal tatsächlich genügen, wenn er einfach die Augen schloss und versuchte, das Chaos in seinem Innern so konsequent wie möglich zu ignorieren. Wie sagte man doch immer so schön? Die Hoffnung schläft zuletzt.
Na ja, Meggilein zeigt sich hier mal wieder von ihrer besten Seite. Also, von allen. Viel Vergnügen. 8D
Ach ja, und wir haben endlich die 100k geknackt! Zumindest in diesem Fanfiktion.de-Dokument hier. Hat ja auch etwas auf sich warten lassen …
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k a p i t e l 1 4
DER GRÜNSCHNABEL
DER GRÜNSCHNABEL
Dienstag, 23. Oktober 2001 • 15.31 Uhr
Eigentlich hatte sich Megan schon ein wenig mehr von ihrem Besuch in der Uniklinik versprochen – wenn nicht sogar erhofft. Abgesehen von ein paar Ausnahmen, die zu diesem Zeitpunkt gerade im Operationssaal zugange gewesen waren und fleißig Leben gerettet hatten, waren Munroes ehemalige Kollegen erstaunlich kooperativ gewesen und die Befragung selbst hatte insgesamt keine zwei Stunden gedauert. Nur leider hatte keine ihrer Antworten ihr wirklich neue Erkenntnisse geliefert.
Am Abend seines Verschwindens vor sechs Tagen hatte Doktor Harrison Munroe sich von seiner Station verabschiedet, den Spätschichtlern eine ruhige Nacht, sowie dem Rest einen schönen Feierabend gewünscht, und sich anschließend auf den Heimweg begeben. Dem Pflegepersonal zufolge hatte es an seinem Verhalten keinerlei Auffälligkeiten gegeben, während der allmittäglichen Raucherpause hätte er wie immer seine Witzchen gerissen, und in seinem Büro hatte Megan auch nichts Verdächtiges entdecken können. Die meisten seiner Kollegen schienen sogar recht gut mit Munroe befreundet gewesen zu sein und hatten angegeben, dass sie auch nichts von irgendwelchen privaten Problemen in seinem Umfeld gewusst hätten – was sich wiederum mit dem deckte, was Megan und ihr Team bereits in Holden Creek erarbeitet hatten.
Über die angeblichen ›Neider‹, die Doktor Fowler vor kurzem gegenüber Dunstan erwähnt hatte, war ebenfalls kein Sterbenswörtchen gefallen. Ganz im Gegenteil; es war beinahe erschreckend, wie gut die Leute in diesem Krankenhaus miteinander auszukommen schienen. Nicht einmal eine heimliche Affäre mit der Nachtschwester hatte Megan bei ihren Recherchen aufdecken können! Friede, Freude, Eierkuchen. So viel kollegialer Zusammenhalt war ja beinahe schon ekelhaft.
Zum Schluss hatte sie sich sogar noch einmal nach dieser Kieferbandagentechnik erkundigt, die bei allen bisherigen Opfern angewandt worden war. Es sah ganz danach aus, als wäre dieser Vorgang auch im Klinikum eine gängige Routinemaßnahme, wenn ein Patient verstarb, und sämtliche Schwestern und Pfleger, die Megan dazu befragt hatte, konnten einen solchen Verband mit Leichtigkeit anlegen. Auch wenn das den Pool der Verdächtigen momentan nicht unbedingt erweiterte.
Mit einem lustlosen Seufzen schlug Megan die Beine übereinander und nippte an ihrem inzwischen nicht mehr ganz so heißen Kaffee. Je länger sie den labbrigen Pappbecher umklammert hielt, desto schneller schien das Material aufzuweichen, doch immerhin wärmten sich ihre steifen Finger dadurch wieder ein wenig auf. Eigentlich hatte sie sich ja in der Cafeteria eine Tasse Tee genehmigen wollen, doch die Schlange dort war so lang gewesen, dass die Geduld sie bereits in der ersten Minute verlassen und sie sich stattdessen mit der Brühe aus dem Automaten begnügt hatte. Hin und wieder musste man schließlich auch Opfer bringen können.
Die kleine Parkanlage, von der die Klinik umgeben war, machte trotz der Jahreszeit jedoch einen ausnehmend hübschen und gepflegten Eindruck. Wenn man so viel Platz zur Verfügung hatte, um spazieren zu gehen oder vor irgendwelchen übereifrigen Pflegern davonzulaufen, die einen alle paar Minuten mit ihrem Blutdruckmesser zu belästigen versuchten, dann ließ man sich hier doch gerne am offenen Herzen operieren!
Jetzt musste Megan nur noch einen kurzen Abstecher zum rechtsmedizinischen Institut gegenüber machen und sich bei einer gewissen Professor Hayes melden, um die Laborberichte von Munroes Obduktion abzuholen, und dann konnte sie guten Gewissens wieder nach Holden Creek zurückkehren – und natürlich hoffen, dass Williams und Dunstan einen ähnlich ereignislosen Tag zu verbuchen hatten. Wenigstens hatte sie heute nicht schon wieder durch den Matsch latschen und irgendeinen alten Zausel mit Eintopf beliefern müssen.
Megan stellte ihren Kaffeebecher neben sich auf der Parkbank ab, zog die inzwischen etwas eingedrückte Schachtel samt Feuerzeug aus ihrer Jackentasche, und zündete sich eine Zigarette an. Es brauchte ein paar Anläufe, bis sich hinter ihrer schützend positionierten Hand endlich ein Flämmchen bildete, das nicht sofort wieder von einer Windböe erstickt wurde. Fröstelnd hob die junge Ermittlerin ihre Schultern und vergrub das Kinn im weichen, wollenen Stoff ihres Schals. Ein wenig mehr Sonne hätte sie heute durchaus vertragen können, aber immerhin regnete es nicht. Und vielleicht hatte sie ja Glück und ihr Geburtstag kommende Woche würde ebenfalls einigermaßen trocken bleiben. Wenn sie ihren Ehrentag schon in diesem nebligen Kaff verbringen und sich die Zeit mit Special Agent Spaßbremse und dem größten Zwergenhasser der Nation vertreiben musste, dann konnte ihr das Schicksal ja wenigstens ein bisschen gutes Wetter gönnen, oder?
Das unerwartet schrille Klingeln ihres Handys riss Megan wieder aus ihren Gedanken und ließ sie so scharf einatmen, dass der Rauch sie unverzüglich zum Husten brachte. Mit grimmig zusammengekniffenen Augenbrauen kramte sie in ihren Taschen herum, bevor sie das kleine Telefon schließlich zu fassen bekam und den Anruf annehmen konnte. Einen nervigeren Klingelton hatte ihr Chef wohl nicht gefunden …
»Ähhh, ja?«
»Guten Tag, Special Agent Newman. Ich wollte mich eigentlich nur erkundigen, ob Sie mein Paket erhalten haben, aber diese Frage hat sich wohl gerade erübrigt.« L brauchte sich nicht einmal vorzustellen. Die ewig monoton dahinschwafelnde Computerstimme, mit der er sie gerade so liebevoll begrüßt hatte, würde Megan wahrscheinlich unter tausenden wiedererkennen. »Aber wo wir nun schon einmal dabei sind: wie geht es denn bisher voran?«
»Och, eigentlich ganz gut«, log die Angesprochene mit einem gequälten Lächeln. Dass sie nach fast einer Woche noch immer keinen ordentlichen Fortschritt gemacht hatten, war bereits peinlich genug, da musste sie sich nicht auch noch vor ihrem Auftraggeber erniedrigen, indem sie diese Tatsache offen zugab. »Ich befinde mich gerade am Arbeitsplatz unseres letzten Opfers und höre mich hier ein wenig um. Williams und Dunstan sind in Holden Creek geblieben.« Sie musste zwar mit aller Gewalt dagegen ankämpfen, konnte es sich jedoch glücklicherweise verkneifen, noch einen gehässigen Kommentar bezüglich ihrer Kollegen hinterherzuschleudern. Ein Hoch auf ihre Selbstbeherrschung!
»Wunderbar. Geben Sie ruhig bescheid, falls Sie irgendetwas brauchen sollten. Ich werde mich dann in Kürze noch einmal bei Ihnen melden.«
»Sagen Sie mal!«, riss Megan nun erneut das Wort an sich, bevor L auch nur darüber nachdenken konnte, sich zu verabschieden. Wenn sie ihn jetzt schon an der Strippe hatte, dann konnte er ihr ja zur Abwechslung auch mal ein wenig Rede und Antwort stehen. »Wieso haben Sie eigentlich uns nach Holden Creek geschickt, statt die Ermittlungen persönlich in die Wege zu leiten? Verstehen Sie mich nicht falsch, nichts läge mir ferner, als Ihnen vorzuschreiben, wie Sie Ihren Job zu machen haben, aber finden Sie nicht, dass das Ganze so ein wenig … umständlich ist?«
»Das mag durchaus stimmen, allerdings ist die Mordserie von Holden Creek nicht der einzige Fall, an dem ich momentan arbeite, und es gibt Angelegenheiten, die im Augenblick eher meine physische Präsenz erfordern, als diese hier. Und leider Gottes ist es mir bislang auch noch nicht möglich, an mehreren Orten gleichzeitig zu existieren, auch wenn ich diese Tatsache natürlich sehr bedauere.« Megan zog eine Grimasse. Da hatte wohl heute jemand einen Clown gefrühstückt. »Aber wie ich bereits sagte, sollten Sie noch irgendwelches Equipment, zusätzliche Informationen oder Backgroundchecks benötigen, zögern Sie bitte nicht, mich zu kontaktieren. Watari wird das mit Sicherheit liebend gern für Sie erledigen.«
»Das werden wir …«, murmelte Megan mit Blick in die Ferne, während sie noch einmal kräftig an ihrer Zigarette zog. Der Qualm, den sie daraufhin ausstieß, war bereits nach wenigen Sekunden kaum noch vor dem aschgrauen Himmel zu erkennen. »Wobei es mich aber nach wie vor brennend interessiert, warum ein so namhafter Stardetektiv wie Sie ausgerechnet in einem derart mickrigen Provinzmordfall ermittelt. So weit ich mich entsinne, übernehmen Sie doch normalerweise nur Fälle, die bereits mehr als zehn Opfer gefordert haben oder deren Gesamtschaden über eine Million Dollar beträgt.«
»Die Bezeichnung ›mickrig‹ erscheint mir in diesem Kontext doch reichlich respektlos, Special Agent Newman«, wich L ihrer Frage gekonnt aus und Megan hatte beinahe das Gefühl, zwischen all dem elektronischen Schnarren tatsächlich so etwas wie ein Schmunzeln aus seiner Stimme herauszuhören. »Schließlich geht es hier immer noch um Menschenleben. Da würde ich Sie doch bitten, ein wenig mehr Anteilnahme an den Tag zu legen und das Wesendliche nicht aus den Augen zu verlieren. Aber wenn das alles ist, was Sie wissen wollten, dann werde ich mich jetzt wieder verabschieden. Es wartet hier noch einiges an Arbeit auf mich, wie Sie sich mit Sicherheit vorstellen können. Auf Wiederhören, Agent Newman. Ich wünsche Ihnen und Ihren Kollegen auch weiterhin viel Erfolg.«
Bevor Megan noch weiter nachhaken, geschweige denn sich über diese wenig aufschlussreiche Auskunft beschweren konnte, hatte ihr Auftraggeber das Gespräch auch schon beendet. Ein unwirsches Knurren entkam ihrer Kehle, als sie die Zigarette mit deutlich mehr Gewalt, als es wahrscheinlich gebraucht hätte, auf der Sitzfläche ausdrückte und den letzten Schluck ihres mittlerweile eiskalten Kaffees austrank. Was für ein selbstgefälliges Arschloch! Wenn Megan diesem Typen jemals gegenüberstehen sollte, dann konnte der sich auf was gefasst machen … das hieß, falls er sie vorher nicht hochkantig rauswarf.
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Dienstag, 23. Oktober 2001 • 21.38 Uhr
»So viel zu unserem Tag«, beendete Sam seine Berichterstattung, nachdem er Newman über sämtliche Vorkommnisse des heutigen Nachmittages aufgeklärt hatte – natürlich mit besonderem Fokus auf Rue Ryuzaki –, und lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Dieser war deutlich anzusehen, wie sehr sie sich gerade darüber ärgerte, nicht mit ihnen gekommen zu sein, doch Sam musste zugeben, dass sie wirklich einiges daran setzte, dennoch eine einigermaßen desinteressierte Miene beizubehalten.
Das lauschige, kleine Eckchen ganz in der Nähe der Bar war inzwischen fast schon zu so etwas wie ihrem Stammtisch geworden, wenn sie sich nach dem Essen doch noch einmal dazu entschlossen, den Abend in Tim’s Pub ausklingen zu lassen. Unter der Woche war es hier sogar noch leerer als sonst, doch immerhin bedeutete das auch, dass der Billardtisch die meiste Zeit über frei war. Ryuzaki selbst, der vorhin noch behauptet hatte, hier in der Kneipe ein Zimmer bezogen zu haben, hatte Sam bisher jedoch nirgendwo entdecken können. Aber vielleicht war das auch ganz gut so. Er hatte nämlich das dumpfe Gefühl, dass sie diesem sonderbaren Privatdetektiv in Zukunft noch oft genug über den Weg laufen würden.
»Von meiner Seite aus gibt es leider nicht viel Neues zu erzählen«, gestand Newman etwas zerknirscht, nachdem sie sich einen großen Schluck von ihrem Bier genehmigt und anschließend die Arme vor der Brust verschränkt hatte. »Die Laborberichte haben Sie ja bereits gelesen. Alles wie gehabt.«
»Immerhin haben wir damit die offizielle Bestätigung, dass Munroe ebenfalls an einer Überdosis Thiopental gestorben ist«, versuchte Williams der Situation zumindest noch irgendetwas Positives abzugewinnen. »Bisher ist das ja lediglich eine Vermutung gewesen.«
»Ja, und was bringt uns das? Gar nichts.« Megan bedachte ihr fast leeres Glas mit einem missmutigen Blick, während ihre Finger ungehalten auf der Tischplatte herumtrommelten. »Alle Spuren, die wir bisher gefunden haben, verlaufen sich im Sand. Und neue Erkenntnisse kommen auch nicht dazu! So langsam fängt das wirklich an, mich zu nerven. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Mittlerweile bin ich mir fast sicher, dass L in Wirklichkeit mehr über diesen Fall weiß, als er uns gegenüber zugeben will. Ich meine, warum, glauben Sie, würde er sich sonst mit so einem dahergelaufenen Kleinstadtkiller rumschlagen, wo er doch ansonsten viel größere Fische an Land zieht? International vernetzte Terroristengruppen, Menschenhändler in politischen Führungspositionen und all so ein Zeug. Das kann doch kein Zufall sein! Irgendwas verschweigt der Typ uns. Wie soll man denn unter solchen Bedingungen bitte vernünftig arbeiten?!«
Sam runzelte die Stirn und knispelte nachdenklich mit dem Fingernagel an seiner Serviette herum. Eigentlich hatte seine Kollegin gar nicht so unrecht. Auch wenn der große L natürlich für seine Geheimniskrämerei bekannt war, schien es ihm nicht viel Sinn zu haben, in einem Mordfall zu ermitteln, bei dem einem die Hälfte der Informationen unterschlagen wurde. Aber was sollten sie tun? Ihren Auftraggeber um ein wenig mehr Klarheit bitten, vermutlich. Das war bloß leichter gesagt, als getan. Schließlich sprachen sie hier von einem der brillantesten und zugleich auch einflussreichsten Verbrecherjäger der modernen Zeitgeschichte, der mit nichts weiter als einem müden Fingerzeig ganze Institutionen umherdirigieren konnte. Das war irgendwo schon ein wenig beängstigend. Mit so jemandem legte man sich nicht einfach so an – und vor allen Dingen stellte man keine Forderungen.
»Wie wäre es, wenn wir uns die Wohnungen der Opfer noch einmal etwas genauer ansehen?«, schlug Richard in diesem Moment einen Themenwechsel vor. Den tiefen Falten, die sich inzwischen auch auf seiner Stirn gebildet hatten, nach zu urteilen hatte er wohl gerade einen ähnlichen Gedankengang verfolgt.
»Ich glaube nicht, dass das etwas bringen würde«, erwiderte Sam wenig hoffnungsvoll. »Nachdem die Tode der ersten beiden Opfer nun schon so lange her sind, bezweifle ich ehrlich gesagt, dass wir jetzt noch irgendetwas Brauchbares finden würden. Laut Akte ist Gilberts Wohnung außerdem längst ausgeräumt worden und steht seitdem leer. Selbst wenn sich dort tatsächlich noch irgendwelche versteckten Fingerabdrücke befunden hätten, sind diese wohl spätestens bei der Reinigung endgültig beseitigt worden. Und was die Griffiths betrifft …« Er senkte seine Stimme etwas. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mister Griffith es begrüßen würde, wenn wir uns jetzt zu allem Überfluss auch noch durch seinen privaten Wohnbereich wühlen würden.«
»Ach was, ich dachte, das sei Ihr Spezialgebiet!«, feixte Megan herausfordernd, doch bevor Sam zu einer schlagfertigen Antwort ansetzen konnte, schwang mit einem Mal die Tür auf und niemand Geringeres als Miss Misora betrat die Kneipe. Von ihren Zimmernachbarn schien sie allerdings überhaupt keine Notiz zu nehmen, was bei den dämmrigen Lichtverhältnissen wohl kein Wunder war, und steuerte zielsicher auf die Bar zu, wo sie auch gleich mit dessen Besitzer ins Gespräch kam. Dies war anscheinend nicht ihr erster Besuch in Tim’s Pub.
»Hier hängt die also den ganzen Tag über rum. Hätte ich mir ja auch eigentlich denken können …«, murmelte Newman, während sie jede von Miss Misoras Bewegungen mit Argusaugen verfolgte. Auch Richard hatte sich inzwischen zu ihr umgewandt.
»Wieso fragen wir sie nicht, ob sie sich zu uns setzen möchte? Das ist doch mit Sicherheit um einiges angenehmer, als den Abend ganz allein an der Bar zu verbringen.«
Megan blinzelte verständnislos. »Schon mal daran gedacht, dass die Dame vielleicht ihre Ruhe haben will? Ich an ihrer Stelle würde bei meinem Feierabendbier jedenfalls nicht von so einem Lackaffen wie Ihnen belästigt werden wollen.«
»Sie würde ich auch garantiert nicht an der Bar ansprechen, das können Sie mir glauben.«
»Ach, so ist das also!« Ein unheilschwangeres Grinsen erschien auf Megans Zügen und Sam schwante bereits Übles. »Sie sind verknallt! Das erklärt auch, warum Ihnen neulich fast der Unterkiefer abgefallen ist, als Sie Miss Misora zum ersten Mal gesehen haben. Dunkelhaarige Lederjackenträgerinnen haben’s Ihnen also angetan, höchst interessant …«
Die leichte Röte, die sich nun auf Williams’ Wangen auszubreiten begann, war nicht zu übersehen, auch wenn Sam im Augenblick eher das Gefühl hatte, dass sie von Wut, statt von tatsächlicher Verliebtheit herrührte. »Das ist ja mal wieder typisch, dass ausgerechnet Ihnen so etwas als Erstes in den Sinn kommt. Dass man Menschen auch einfach bloß sympathisch finden kann, scheint Ihnen ja ein vollkommen fremdes Konzept zu sein.«
»Aha, ›sympathisch‹, so nennt man das also da, wo Sie herkommen … das ist ja wirklich herzallerliebst. Ich würde mir an Ihrer Stelle aber keine allzu großen Hoffnungen machen. Die gute Frau spielt offensichtlich in einer völlig anderen Liga als Sie. Mit so einem Erbsenzähler wird die sich nicht mal im Traum einlassen. Was gucken Sie mich denn jetzt so an? Ich versuche hier nur, Ihnen die Blamage Ihres Lebens zu ersparen!«
Sam entkam ein leises Seufzen, während er sein Augenmerk ebenfalls wieder in Richtung Misora wandern ließ. Wenn er ehrlich war, dann kümmerte es ihn nicht besonders, ob Williams sie nun zu ihrem Tisch herüberbat oder nicht, schließlich hatte sie bisher tatsächlich ganz umgänglich gewirkt, aber irgendetwas an ihr machte ihn nach wie vor stutzig. Vielleicht war es die Tatsache, dass der Serienmörder, der gerade in dieser Stadt sein Unwesen trieb, sie anscheinend so wenig zu tangieren schien. Auf alle Fälle wäre es wahrscheinlich keine schlechte Idee, sie vorerst eine Weile im Auge zu behalten.
»Miss Misora!«, hörte Sam seinen Kollegen schließlich rufen, während Newman, deren Sticheleien offenbar nicht ausgereicht hatten, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen, eine genervte Grimasse verzog und wieder auf ihrem Sitzplatz zusammensank. Die Angesprochene, die es sich inzwischen auf einem der Barhocker bequem gemacht hatte, hob irritiert den Kopf und spähte nun ebenfalls zu ihnen herüber.
»Möchten Sie sich vielleicht zu uns setzen?«, fuhr Richard ein klein wenig zu laut für Sams Geschmack fort und das ungewohnt warme Lächeln, das mittlerweile auf seinen Zügen erschienen war, befremdete ihn aus irgendeinem Grund nur noch mehr. So heiter und aufgeschlossen kannte er seinen Partner gar nicht.
Miss Misora zögerte noch einen Moment, bevor sie letztendlich aufstand, sich ihre Jacke über den Arm warf und tatsächlich zu ihnen herübergeschlendert kam. »Ist das denn auch in Ordnung für Sie? Ich möchte Sie wirklich nicht stören.« Kurz glitt ihr Blick zu Megan herüber, deren Unzufriedenheit inzwischen nicht mehr zu übersehen war, doch zu Sams Überraschung winkte diese bloß ab.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, grummelte sie in halb bissigem, halb resigniertem Ton, was Miss Misora nicht sonderlich zu beschwichtigen schien, doch glücklicherweise war Richard auch diesmal wieder zur Stelle, um die Situation zu deeskalieren.
»Wir würden uns wirklich freuen, wenn Sie uns ein wenig Gesellschaft leisten würden«, beteuerte er noch einmal und gestikulierte in Richtung des Stuhls, der neben ihm stand, und auf dem Miss Misora auch gleich darauf Platz nahm. Sie machte noch immer einen etwas unangenehm berührten, wenn nicht sogar versteiften Eindruck, doch das konnte Sam in diesem Moment durchaus nachvollziehen. Womöglich hatte Williams mit seinem Versuch, ihre leicht missglückte erste Begegnung vor ein paar Tagen wiedergutzumachen, ja doch ein wenig übertrieben.
»Misses Atkins hat erzählt, dass Sie heute wandern gehen wollten«, plapperte sein Kollege auch schon munter weiter, kaum dass die junge Frau ihre Jacke über die Rückenlehne gehängt und die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt hatte. »Bei dem Wetter ist das mit Sicherheit ganz schön anstrengend gewesen. Machen Sie so etwas öfter?«
Miss Misora legte den Kopf auf die Seite und schürzte die Lippen. »Ach, es ging eigentlich. Sich hier und da mal ein wenig herauszufordern kann schließlich nie schaden.« Sie lächelte flüchtig. »Um ehrlich zu sein komme ich nur selten dazu, die Natur zu bewundern, weshalb ich normalerweise auch jede Gelegenheit nutze, um mir die Beine zu vertreten.«
»Das verstehe ich. Ein kleiner Abstecher ins Grüne kann manchmal wahre Wunder wirken.«
»Absolut! Tatsächlich habe ich während meines Roadtrips auch schon ein paarmal gecampt. Glücklicherweise ist es momentan nicht überall so nass wie hier. Aber eigentlich bin ich, was effektive Fortbewegung betrifft, eher ein Motorradfan. Auch wenn der Verkehr in L.A. wirklich nichts für schwache Nerven ist …«
Richard lachte auf. »Ja, da sind Sie so ein Wetter natürlich nicht gewohnt. Kommen Sie auch gebürtig aus Kalifornien?«
»Nein, ich bin erst nach meinem Schulabschluss in die Staaten gezogen. Wobei ich aber glaube, dass man Tokio und Los Angeles nicht wirklich auf dieselbe Stufe stellen kann. Auf den ersten Blick mögen diese ganzen Großstädte vielleicht alle gleich aussehen, aber der Rhythmus ihres Herzschlages klingt überall anders.«
»Wohl gesprochen.« Ein einsichtiges Nicken. »Pittsburgh ist da keine Ausnahme. Und wie gesagt, uns Stadtkindern kann es ja sicher auch nicht schaden, hin und wieder mal etwas anderes zu sehen.«
»Fahren Sie auch gerne campen?«
»Ab und zu ja, aber vor allem klettere ich in meiner Freizeit viel. Mein bester Freund und ich nehmen uns mehrmals im Jahr ein paar Tage Zeit für solche Ausflüge und ich muss schon sagen, da kommt man auf Dauer ganz schön herum! Die Alpen besitzen wirklich ein paar atemberaubende Aussichtspunkte und haben Sie schon mal einen Sonnenuntergang auf dem One Tree Hill in Neuseeland miterlebt? So etwas vergisst man nicht so schnell wieder.«
»Das klingt aber aufregend! Klettern war ich bisher noch nie, aber vielleicht sollte ich mich diesbezüglich mal schlau machen.«
»Glauben Sie, wir sollten die beiden lieber allein lassen, oder …?«, konnte Sam seine Kollegin neben sich flüstern hören, während sie das Gespräch vor ihnen weiterhin mit desinteressierten Blicken verfolgte. Es war wirklich erstaunlich, wie schnell Miss Misora innerhalb dieser kurzen Zeit aufgetaut war – genauso wie Williams. Bei ihrem ersten gemeinsamen Pubbesuch hatten Megan und er ihm noch jede Kleinigkeit aus der Nase ziehen müssen und jetzt plauderte er auf einmal ganz unbeschwert aus dem Nähkästchen, als hätte er nie etwas anderes getan. Sam senkte die Augenbrauen und biss die Zähne aufeinander. So unausstehlich konnten sie doch eigentlich gar nicht sein. Oder?
»Darf ich vielleicht fragen, was Sie beruflich machen?«, interessierte sich Richard auf einmal, woraufhin Miss Misoras Züge sich augenblicklich verhärteten und auch Sam unweigerlich die Stirn runzelte. Aus irgendeinem Grund schien ihr dieses Thema nicht zu behagen. Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber dann noch einmal anders, und biss sich stattdessen auf die Unterlippe.
»Das wäre dann wohl mein Stichwort … ich glaube, es gibt da etwas, was ich Ihnen beichten muss.« Miss Misora verzog das Gesicht zu einer Grimasse, wobei diese allerdings eher verschämt, als wirklich schuldbewusst wirkte. Sam und Megan tauschten argwöhnische Blicke aus, während Richard bloß fragend den Kopf auf die Seite legte. »Und zwar ist Misses Atkins vor ein paar Tagen ein kleines Detail herausgerutscht, was den wahren Grund Ihres Aufenthaltes hier betrifft. Ich habe ihr zwar eigentlich versprochen, Ihnen nichts davon zu erzählen, aber …« Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Um es kurz zu machen: ich weiß, dass Sie drei vom FBI sind.«
Sam entkam ein erleichtertes Aufatmen, noch bevor er darüber nachdenken konnte, es zurückzuhalten, doch Miss Misora schien davon glücklicherweise nichts bemerkt zu haben. So lange diese tratschfreudige alte Dame zumindest die Sache mit L für sich behalten hatte, gab es noch keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Miss Misora war mit ihrem Geständnis allerdings noch nicht fertig.
»Tja, und da dachte ich mir, es wäre nur fair, wenn ich … ach, sehen Sie doch einfach selbst.« Sie zog etwas aus ihrer Jackentasche und legte es vor ihnen auf dem Tisch ab. Es war eine FBI-Dienstmarke. Sorgfältig auf Hochglanz poliert und mit auffallend wenigen Gebrauchsspuren, wie Sam bei näherer Betrachtung feststellte. ›Special Agent Naomi Misora‹ stand auf dem dazugehörigen Ausweis geschrieben, direkt neben dem Portrait der Besitzerin. Auch seinen Kollegen stand die Verblüffung deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Also, das ist ja wirklich ein kurioser Zufall!«, bemerkte Williams amüsiert.
»Allerdings«, fügte Newman deutlich weniger belustigt und mit einem misstrauischen Seitenblick in Richtung der Angesprochenen hinzu, welchen diese jedoch ungerührt zu erwidern wusste. Richard hingegen ignorierte ihren Kommentar wie immer geflissentlich.
»Dann sind Sie also auch aus beruflichen Gründen hier. Wegen der Serienmorde, nehme ich an?«
»Oh nein, davon habe ich bis vor ein paar Tagen tatsächlich nichts gewusst.« Agent Misora kratzte sich etwas verlegen hinterm Ohr und verstaute die Dienstmarke wieder in ihrer Tasche. »Ich war vorletzte Woche auf einer Tagung in Washington und habe dort relativ spontan beschlossen, mir für den Rückweg ein paar Tage freizunehmen und diese zu nutzen, um die Gegend etwas besser kennenzulernen. Dabei habe ich dann durch Zufall von den Ereignissen hier in Holden Creek erfahren und … nun ja, ich schätze, ich konnte das nicht einfach so an mir vorüberziehen lassen. Offiziell ermitteln darf ich ohne die Erlaubnis meines Vorgesetzten zwar nicht, aber ich dachte mir, es könnte bestimmt nicht schaden, mir die ganze Sache mal etwas genauer anzusehen.«
»Bitte entschuldigen Sie meine Voreiligkeit, da sind wohl wieder einmal die Pferde mit mir durchgegangen!«
Ryuzakis Worte hallten wie fernes Gelächter in Sams Gedanken wider und ließen ihn unweigerlich die Lippen aufeinanderpressen.
»Außerdem werde ich ja ohnehin nicht lange bleiben können. Irgendwann muss ich schließlich auch wieder zurück an die Arbeit.« Agent Misora hob den Kopf und ließ ihren Blick durch die Runde schweifen. Das Misstrauen, das Megan und er ihr entgegenbrachten, war ihr offensichtlich nicht entgangen, und Sam bekam auch langsam das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, doch er wusste nicht so recht, was. Sollte er weiter nachbohren? Mehr Beweise verlangen? Beweise wofür? Immerhin hatte sie ihnen gerade eben sogar ihre Dienstmarke gezeigt. »Aber wenn Sie den Fall bereits übernommen haben, muss ich mir ja keine Sorgen machen. Und falls Sie zwischendurch ein wenig Verstärkung benötigen sollten, biete ich natürlich auch gerne meine Hilfe an!«
»Nein danke, das schaffen wir schon allein«, brummte Newman mit finsterer Entschlossenheit, woraufhin Agent Misoras Schultern sofort wieder ein Stück heruntersackten. Jetzt tat sie Sam irgendwie doch ein wenig leid.
»Aber trotzdem danke für das Angebot«, fügte er deswegen mit einem versöhnlichen Lächeln hinzu.
»Sagen Sie mal, wie lange sind Sie eigentlich schon beim FBI tätig?«, war es letztendlich Megan, die ihm das Nachhaken abnahm, und musterte die andere Frau mit einem eindringlichen Blick, bevor sie ein weiteres Mal ihr Glas zur Hand nahm. »Ohne Ihnen jetzt zu nahe treten zu wollen … aber allzu viele Dienstjahre können Sie ja noch nicht auf dem Buckel haben, wenn ich mir Sie so ansehe.«
»Ja, das könnte man so sagen.« Allmählich schien es auch Agent Misora zunehmend schwerer zu fallen, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten, aber noch schlug sie sich wacker. »Um ehrlich zu sein ist meine Probezeit erst seit einem knappen Monat vorbei.«
Richard und Sam hoben anerkennend die Augenbrauen, während Megan sich an ihrem letzten Rest Bier verschluckte und prompt einen Hustenanfall bekam. Der Profiler klopfte ihr ein paarmal vorsichtig auf den Rücken, und versuchte vergeblich, den kleinen Anflug von Schadenfreude zu verbergen, der sich gerade auf seinen Zügen auszubreiten begann. Sollte er einfach die Klappe halten und weiter still in sich hineinschmunzeln? Vermutlich. Aber andererseits …
»Dann sind Sie ja genauso ein Grünschnabel wie unsere liebe Special Agent Newman hier!«
Aus Williams’ Richtung erklang ein eher unglücklich als Räuspern getarntes Prusten, als Newmans Kopf mit einem Mal nach oben schoss und ihre vor Wut funkelnden Augen Sam regelrecht aufspießten. Just in diesem Moment tauchte auch Mister Griffith wieder an ihrem Tisch auf und stellte ein Glas helles Bier vor Agent Misora ab. Doch bevor er sich wieder aus dem Staub machen und die vier mit ihren Problemen alleinlassen konnte, ließ Megan plötzlich ihre flache Hand auf die Tischplatte knallen und die versammelte Mannschaft damit heftig zusammenzucken.
»Tun Sie mir ’nen Gefallen und bringen Sie mir ’nen Whiskey. Ich brauch was zur Beruhigung, damit ich hier nicht gleich alles auseinandernehme.«
Der Pubbesitzer schluckte einmal schwer, nickte dann jedoch bloß und verschwand umgehend wieder hinter der Bar, während in Sam allmählich doch ein paar Zweifel aufzukeimen begannen, ob es das gerade wirklich wert gewesen war. Newmans gesamten heiligen Zorn auf sich zu ziehen, war mit Sicherheit nicht seine beste Idee gewesen, aber nun war es ohnehin zu spät, um sich deswegen Vorwürfe zu machen. Zumindest Agent Misora dürfte spätestens jetzt begriffen haben, welch fragwürdige Bekanntschaften sie sich da gerade angelacht hatte.
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Dienstag, 23. Oktober 2001 • 23.15 Uhr
Mit einem herzhaften Gähnen streckte Sam die Arme über dem Kopf aus, als er durch die Badtür zurück in sein Zimmer trat, und konnte sofort spüren, wie ein wohliger Schauer seine Glieder durchdrang. Er war vorhin bereits ein wenig schläfrig gewesen, als sie den Entschluss gefasst hatten, im Pub noch ein Gläschen trinken zu gehen, hatte sich seinen Kollegen zuliebe jedoch nichts anmerken lassen und war trotzdem mitgekommen. Dafür wurden ihm die Konsequenzen dieser Entscheidung nun umso stärker bewusst.
Sam wollte gerade die Bettdecke zurückschlagen und sich endlich hinlegen, als sein Blick wie zufällig in Richtung Nachttisch glitt und an der kleinen, flachen Pappschachtel hängenblieb, die er sich vor kurzem in der Apotheke geholt hatte. Es war für ihn immer mit einem gewissen Risiko verbunden, ohne medikamentöse Hilfe einschlafen zu wollen. Und je mehr er sich darauf zu konzentrieren versuchte, desto schwieriger wurde es. Man rollte sich von einer Seite auf die andere, ohne dabei auch nur in eine ansatzweise komfortable Position zu geraten, und fing auf einmal damit an, sich über alles Mögliche Gedanken zu machen, während jedes noch so dezente Heizungsgurgeln einem plötzlich vorkam wie ein Platzregenschauer.
Nur weil man müde war, bedeutete das noch lange nicht, dass man schnell einschlafen konnte. Und jetzt hatte Sam sich die Tabletten schon einmal besorgt … mit einem frisch ausgestellten Rezept von Doktor Fowler. Sollte er dann nicht auch Gebrauch von ihnen machen? Genau dafür waren sie schließlich da. Und er musste es ja auch nicht gleich übertreiben. Eine Pille reichte vollkommen aus. Bis diese zu wirken begann, dauerte es normalerweise eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten. Dann wäre es halb zwölf. Das hieß, er konnte noch ungefähr sechseinhalb Stunden schlafen. Warum also nicht auf Nummer sicher gehen?
Sam holte tief Luft und schüttelte den Kopf, als er bemerkte, dass er die ganze Zeit über seine Kiefer aufeinandergepresst und unweigerlich mit den Zähnen geknirscht hatte. So durfte er gar nicht erst anfangen! Er sollte wenigstens versuchen, heute Nacht noch einmal ohne Medikamente auszukommen. Im Notfall konnte er ja später immer noch eine Tablette einnehmen. Entschieden griff Sam nach der Packung, ging zu seinem Schreibtisch herüber, und verstaute die Schachtel ganz unten in seiner Reisetasche, um auch ja nicht in Versuchung zu kommen.
Zufrieden mit seinem Entschluss machte er es sich auf dem Bett bequem, schüttelte das Kopfkissen auf, um es hinter seinem Rücken zu positionieren, und nahm das Buch zur Hand, das er am gestrigen Abend zu lesen begonnen hatte. Einen Roman hatte er während seines Aufenthaltes in Holden Creek bereits beendet, und wenn er dieses Tempo beibehielt, dann würde er sich wahrscheinlich schon sehr bald Nachschub besorgen müssen. Die hiesige Buchhandlung hatte mit Sicherheit noch ein paar von Townsends Werken auf Lager und wenn er den armen Mann schon um seinen Wochenendverdienst brachte, dann war das wohl das Mindeste, was er als Entschädigung für ihn tun konnte.
Doch es waren nicht bloß die Gartenzwerge, die ihm nach wie vor im Kopf herumspukten … nein, auch der heutige Tag war wirklich in jeder nur erdenklichen Hinsicht bizarr gewesen. Eine derart extreme Reaktion hatte Sam schon lange nicht mehr auf schlechte Luft gezeigt und dabei kam es eigentlich relativ häufig vor, dass er seit dem Vorfall bei der Razzia unter Atemnot litt. Andererseits konnte er sich aber auch nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal eine dermaßen – und man möge ihm diese Ausdrucksweise verzeihen – ranzige Schimmelhütte betreten hatte. Den nächsten Botengang konnte Agent Newman auf alle Fälle gern für ihn übernehmen.
Was Sam im Augenblick jedoch am meisten Kopfzerbrechen bereitete, war dieser Rue Ryuzaki. Während seiner Laufbahn als FBI-Ermittler war er zwar durchaus schon dem einen oder anderen Privatdetektiv begegnet und hatte mitbekommen, dass diese Zunft sich in der Regel durch ihre Exzentrik auszeichnete, aber so etwas hatte er wirklich noch nie erlebt. Wie eine Küchenschabe war dieser Mann plötzlich auf ihn zugekrabbelt gekommen! Und Sam hätte beinahe auf ihn geschossen. Einen solchen Fehler durfte er sich auf gar keinen Fall erlauben. Vor allen Dingen dann nicht, wenn er unter dem Kommando von L agierte.
Und noch etwas machte ihn stutzig, wenn er jetzt so darüber nachdachte: Ryuzaki hatte ganz offensichtlich Zweifel gehabt, als Sam ihm gegenüber erwähnt hatte, dass Williams und er bei der Polizei arbeiteten. Wieso hatte er also nicht nach ihren Dienstmarken gefragt? Selbst Agent Misora hatte sich im Laufe des Abends noch einmal vergewissern wollen und sie gebeten, sich auszuweisen. Schließlich konnte so etwas jeder behaupten. Dieser Ryuzaki war einfach so … undurchsichtig. Und das, obwohl Sam seine Menschenkenntnis normalerweise als überdurchschnittlich gut, wenn nicht sogar hervorragend bezeichnen würde, schließlich waren Verhaltensanalysen ein grundlegender Bestandteil seines Berufes. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er den Kerl einschätzen sollte, und das beunruhigte ihn immens, auch wenn er das nur ungern zugab.
Und apropos Agent Misora … mit der mussten sie sich ja auch erst einmal arrangieren. Zumindest Richard schien sich blendend mit ihr verstanden zu haben, und das, nachdem sie nicht einmal fünf Minuten miteinander verbracht hatten. Sam musste schon zugeben, dass er ein wenig enttäuscht davon war, wie leichtsinnig sein Kollege sich dieser Frau anvertraut hatte. So ein Verhalten sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Sam wurde einfach das Gefühl nicht los, dass sie sich vor Agent Misora in Acht nehmen sollten. Wie hoch war schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass sich genau zu diesem Zeitpunkt noch eine weitere FBI-Agentin nach Holden Creek aufgemacht hatte, und das auch noch völlig unabhängig von ihnen?
Mit einem ebenso leisen, wie resignierten Seufzen legte Sam sein Buch zur Seite, und griff stattdessen nach dem Handy, das neben seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch lag. Wahrscheinlich sollten sie L über die ganze Sache informieren. Irgendwie reizte es ihn ja schon, endlich auch einmal persönlich mit ihrem Auftraggeber in Kontakt zu treten. Nur zur Sicherheit. Und für jemanden wie L, der weltweit Zugriff auf alle nur erdenklichen Datenbanken hatte, sollte so ein kleiner Backgroundcheck ja wohl kein Problem darstellen.
Mit unruhigen Fingern und trockener Kehle wählte Sam die eingespeicherte Nummer aus und hielt sich das Telefon ans Ohr. Eigentlich gab es doch überhaupt keinen Grund, so aufgeregt zu sein. Immerhin war es der Meisterdetektiv selbst gewesen, der ihn für diesen Fall mit ins Boot geholt hatte. Das durfte er nicht vergessen.
»Special Agent Dunstan«, wurde Sam von einer wenig enthusiastisch klingenden Computerstimme begrüßt, noch bevor er selbst das Wort hatte ergreifen können. Nun begann sein Herz doch ein wenig schneller zu schlagen. »Was für eine Freude, von Ihnen zu hören. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Sam überlegte einen Moment, wie er es formulieren sollte. »Ich … also, wir hätten da ein kleines Anliegen an Sie.«
»Und das wäre?«
»Uns ist hier vor kurzem eine Frau begegnet, die behauptet, ebenfalls zum FBI zu gehören. Ihr Name ist Naomi Misora …« Sam tat sein Möglichstes, um die Situation so ausführlich wie möglich zu schildern, ohne dabei allzu misstrauisch oder gar wahnhaft zu klingen. Das Letzte, was er wollte, war L das Gefühl zu geben, dass sie mit einer solchen Situation nicht allein fertigwurden, doch dieser schien seine Bedenken durchaus ernst zu nehmen.
»Agent Dunstan, ich denke, es war die richtige Entscheidung, Agent Misoras Hilfe vorerst abzulehnen«, meinte er schließlich, nachdem Sam ihm alles Wichtige erklärt hatte. »In Ihrer Position ist ein gesunder Argwohn mit Sicherheit nicht fehl am Platz, von daher halte ich Ihre Reaktion für mehr als gerechtfertigt. Ich werde die Identität der Dame überprüfen lassen und mich in Kürze wieder bei Ihnen melden. Bis dahin machen Sie am besten so weiter wie zuvor. Ich sehe zu diesem Zeitpunkt jedenfalls keinen Grund, extremere Maßnahmen zu ergreifen.«
»Das werden wir.«
»Wunderbar. Dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Abend, Agent Dunstan. Auf Wiederhören.«
»Wiederhören.«
Kaum hatte Sam den Anruf beendet, fiel es ihm mit einem Mal siedend heiß wieder ein: er hätte bei der Gelegenheit auch gleich Ryuzaki erwähnen sollen! Und die Sache mit Townsend … daran hatte er natürlich überhaupt nicht gedacht. Na, ganz große Klasse. So viel zum Thema Müdigkeit. Sam legte das Handy erneut beiseite, setzte seine Lesebrille ab, und rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger. Nun ja, wenn es eine Sache gab, die er aus dieser Schuppengeschichte gelernt hatte, dann war das wahrscheinlich, dass ›exzentrisch‹ noch nicht gleich ›Serienmörder‹ bedeuten musste. So einen Fehler wie vor ein paar Tagen wollte er wirklich nicht noch einmal begehen. Und außerdem hatte Ryuzaki bisher ja auch noch keine wirklichen Anstalten gemacht, ihnen irgendwie in die Quere zu kommen. Vorerst sollte es ausreichen, wenn sie hin und wieder mal ein Auge auf ihn hatten.
Sam schaltete die Nachttischlampe aus, drehte sich auf die Seite, und zog die Bettdecke über seine Schultern. Womöglich würde es ja diesmal tatsächlich genügen, wenn er einfach die Augen schloss und versuchte, das Chaos in seinem Innern so konsequent wie möglich zu ignorieren. Wie sagte man doch immer so schön? Die Hoffnung schläft zuletzt.