Wo wir begraben liegen
von Tschuh
Kurzbeschreibung
Oktober 2001: In den umliegenden Wäldern der amerikanischen Kleinstadt Holden Creek werden mehrere brutal zerstochene Leichen ohne Augen aufgefunden. Die Anwohner sind zunehmend verängstigt und die Polizei tappt im Dunkeln, doch dann schaltet sich plötzlich der Meisterdetektiv L in die Ermittlungen ein. Er schickt ein Team aus drei herausragenden FBI-Agenten nach Holden Creek, die die Mordserie genauer unter die Lupe nehmen sollen. Doch sie bleiben nicht lang allein ... || Content Warnings: Diskussion von psychischen Störungen, Charaktertod und relativ intensive Gewaltdarstellung. Wünscheäußern und Miträtseln erwünscht!
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday
L
Naomi Misora
OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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15.04.2021
4.604
AN: Hier ist der zweite Teil des kürzlich geteilten Kapitels! Und damit endet auch endlich der 19. Oktober alias der längste Tag des Universums mit sage und schreibe 35k. :-D Ja, der Tag hier hat tatsächlich im vierten Kapitel angefangen … ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat. Kleiner Funfact für zwischendurch.
Der Link in der Zeitangabe unten führt im Übrigen zu Richies Themesong, ›Honey Whiskey‹ von Nothing But Thieves. Ich mag das Lied sehr gerne und fand, dass es auch ganz gut zu diesem Kapitel hier gepasst hat. :3 (Ja, es gibt eine offizielle WWBL-Playlist … und auch eine zu jedem Hauptcharakter. Aber die sind alle noch relativ spärlich bestückt und müssten dringend mal erweitert werden. ^^; Wer weiß, vielleicht verlinke ich sie irgendwann mal am Ende des ersten Akts oder so, falls Interesse daran besteht.)
Ich kann nicht versprechen, dass nächsten Monat wieder ein Kapitel kommt, da ich momentan sehr stark daran bin, mein anderes Hauptprojekt zu beenden und das bei mir gerade Priorität hat. Bald sollte es hier aber endlich wieder regelmäßig vorangehen und das hoffentlich auch langfristig.
Nun aber viel Spaß mit dem munteren Kneipenabend! ;-D
Das Erste, was Richard auffiel, als er und seine Kollegen den Pub betraten, war die Tatsache, dass außer ihnen kaum jemand dort war – und das an einem Freitagabend. Er konnte ja verstehen, dass die Stimmung, die hier momentan herrschte, nicht unbedingt dazu einlud, am Wochenende auszugehen und sich in heiterer Gesellschaft ein paar Bierchen zu genehmigen, aber ein wenig auffällig war die Sache schon, vor allen Dingen für einen Neuankömmling wie ihn.
Newman hatte wirklich nicht übertrieben, als sie die Kneipe vorhin als ›muffig‹ beschrieben hatte, doch als wirklich störend empfand er das nicht. Im Gegenteil, es passte zum Ambiente. Gläserklirren, Thekenstaub und Folkmusik aus den Siebzigerjahren hingen wie dicke Nebelschwaden zwischen den Holzpfeilern und erfüllten den Raum mit Leben. Mittlerweile verkehrte Richard zwar nur noch selten in solchen Lokalen, was nicht zuletzt daran lag, dass sein Beruf ihm einiges abverlangte und er die wenige freie Zeit, die ihm vergönnt war, lieber für andere Dinge nutzte, doch nicht einmal er konnte leugnen, dass Tim’s Pub trotz allem einen gewissen Charme besaß. Das letzte Mal, dass er sich in solcher Gesellschaft befunden hatte, war im vergangenen Mai gewesen; ein kleiner, heruntergekommener Schuppen irgendwo am Rande von Salt Lake City, an dem er während eines Klettertrips mit Leo vorbeigekommen war und wenn er jetzt so darüber nachdachte, dann hatte er an diesem Abend wirklich ganz schön tief ins Glas geschaut …
Megan führte die Gruppe zu einem Ecktisch, der sich ganz in der Nähe der Bar befand, und verteilte die Menükarten. Das Angebot war nicht sonderlich breit gefächert, aber wenn Richard ehrlich war, dann hatte er auch nichts anderes erwartet. Hauptsache, es machte einigermaßen satt.
»Ohh, es gibt Pizzabrot …«, stellte Sam neben ihm mit beinahe ehrfürchtiger Stimme fest und leckte sich über die Lippen. »Ich glaube, ich weiß schon, was ich mir bestelle.«
»Ich auch«, fügte Richard hinzu, was zum einen damit zusammenhing, dass er keine allzu große Lust hatte, sich auch den Rest der Karte durchzulesen, und zum anderen mit seiner langjährigen Angewohnheit, jede Pizza Margherita, an die er herankam, mit der seiner Großmutter zu vergleichen, nur um am Ende festzustellen, dass Nonna Pinas Familienrezept nach wie vor ungeschlagen blieb.
»Damit das klar ist.« Megan bedachte die beiden Männer mit einem durchdringenden Blick, während sie sich nach vorne beugte und unmissverständlich ihre Knöchel knacken ließ. »Wenn Sie nicht wollen, dass ich meine Einladung spontan zurückziehe, dann ist Ananas auf der Pizza absolut tabu, verstanden? So was ist ein Verbrechen gegen die Natur und wird in meiner Gegenwart nicht geduldet!«
»Hatte ich nicht vor«, versicherte Sam ihr deutlich belustigter, als Richard in diesem Moment für angebracht hielt, während er selbst ihre Drohung geflissentlich ignorierte und sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, die Augen zu verdrehen. Ein paar Sekunden lang schien Megan tatsächlich auf seine Antwort zu warten, entschied sich dann aber glücklicherweise dazu, nicht noch weiter nachzuhaken, und widmete sich stattdessen ebenfalls der Karte.
Wenig später trat ein kräftig gebauter Mann mit Vollbart und müden Augen, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Craig Griffith handelte, an ihren Tisch, Stift und Notizblock bereits gezückt und den Mund zu einer halbherzigen Begrüßung geöffnet, als sein Blick mit einem Mal auf Megan fiel. Sofort verfinsterte sich seine Miene und Richard konnte deutlich erkennen, wie seine Kiefer aufeinandermahlten, während die junge Frau ihm im Gegenzug ihr unschuldigstes Lächeln schenkte.
»Ihre Kollegen?«, brachte Mister Griffith nach einer Weile zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und machte eine flüchtige Kopfbewegung in Richtung der beiden anderen. Allem Anschein nach war Richard nicht der Einzige, den Agent Newman in den vergangenen zwei Tagen bereits auf die Palme gebracht hatte.
»Ganz genau!«, bestätigte die Angesprochene mit zuckersüßer Stimme. »Wenn ich vorstellen darf, diese beiden liebreizenden Herren hier sind die Agents Dunstan und Williams. Dürften wir dann jetzt bestellen?«
Einen kurzen, wenn auch spürbar unangenehmen Moment lang starrte Mister Griffith sie einfach bloß an, als würde er gerade ernsthaft darüber nachdenken, alle drei in hohem Bogen auf die Straße zu werfen, dann jedoch schloss er mit einem resignierten Seufzen die Augen und nickte. »Selbstverständlich … herzlich willkommen in Tim’s Pub, was darf ich Ihnen bringen?«
Megan gab sich fürs Erste mit einem Bier zufrieden, während Sam sich ein großes Glas Bitter Lemon bestellte. Richard war gerade im Begriff, Mister Griffith nach seinem berühmt-berüchtigten hausgebrannten Whiskey zu fragen, als er sich wieder an Misses Weavers Worte erinnerte und stattdessen bloß um ein stilles Mineralwasser bat. So viel zum Thema ›Er muss sich ja nicht mit uns unterhalten, wenn ihm nicht danach ist‹ … Fortschritt hin oder her, heute war wirklich nicht sein Tag.
»Langweiler«, brummte Megan, nachdem Mister Griffith auch den Rest ihrer Bestellung aufgenommen hatte, und stützte missmutig das Kinn in die Hände. »Wenn ich ganz alleine einen hätte trinken wollen, dann wäre ich einfach zuhause geblieben …«
»Wir sind nicht hier, um uns zu amüsieren, sondern um einen Serienmörder aus dem Verkehr zu ziehen«, erinnerte Richard noch einmal und zupfte etwas zerknirscht an seinem Jackettärmel herum. Um ehrlich zu sein hätte er gegen einen Drink überhaupt nichts einzuwenden gehabt, doch bevor sich die ohnehin schon geladene Situation noch weiter in die Länge gezogen hätte, war er lieber auf Nummer sicher gegangen.
»Ist ja gut, wir haben’s kapiert. Sie sind ein Spießer.« Megan zog die Nase kraus und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Aber wo wir jetzt schon so hier zusammensitzen … wieso erzählen Sie nicht einfach mal ein bisschen was von sich?« Sie wandte ihren Blick in Richtung Sam, welcher beim Stichwort ›Von sich erzählen‹ natürlich sofort die Ohren spitzte. »Sie kommen aus Boston, nicht wahr? Allzu lange wohnen Sie da aber noch nicht, dafür fehlt Ihnen der Akzent … und ehrlich gesagt wirken Sie auf mich auch eher wie ein Kleinstadtjunge, wenn ich das so sagen darf.«
Der Angesprochene schmunzelte. »Da haben Sie ganz recht, Agent Newman. Der Großteil meiner Kindheit hat sich tatsächlich in der Provinz abgespielt. In Maine, um genau zu sein.«
»Was, in Maine leben tatsächlich Menschen?! Ich dachte immer, das sei nur ein Gerücht!«
»Kaum zu glauben, aber wahr!« Die Theatralik in Sams Stimme stand der seiner Gesprächspartnerin um nichts nach, und Richard begann langsam wirklich, sich zu fragen, warum die beiden sich für eine Karriere beim FBI statt beim Zirkus entschieden hatten. »Geboren wurde ich allerdings in Québec und habe dort auch die ersten paar Jahre meines Lebens verbracht. Nicht, dass das einen besonderen Unterschied gemacht hätte …«
Interessiert hob Megan die Augenbrauen und lehnte sich ein weiteres Mal nach vorn. »Sieh an, sieh an, ein Kanadier also! Wenn das so ist, was halten Sie denn davon, uns bei der Gelegenheit mal Ihre Französischkenntnisse zu demonstrieren?«
»Ein andermal vielleicht. Sie machen mich ja ganz nervös.«
»Sie können gar kein Französisch, stimmt’s?«
»Das werden Sie nie herausfinden, wenn Sie weiterhin so frech sind …«
»Na gut, dann eben nicht!« Sie schnaufte und verdrehte genervt die Augen, bevor sie sich – sehr zu dessen Unmut – wieder Richard zuwandte. »Was ist mit Ihnen, Williams? Sie sind doch sonst immer so schweigsam, wie wär’s, wenn Sie zur Abwechslung mal ein paar Possen vom Stapel lassen? Wir sind ganz Ohr!«
›Raten Sie mal, warum‹, lag ihm die Antwort auf der Zunge, doch er war auch diesmal klug genug, um sie rechtzeitig herunterzuschlucken, und zuckte stattdessen bloß mit den Schultern. »Ich fürchte, da gibt es nicht viel vom Stapel zu lassen. Ich wurde in Pittsburgh geboren und habe abgesehen von meiner Ausbildungszeit in Quantico auch nie irgendwo anders gewohnt oder gearbeitet.«
»Ach, kommen Sie, das kann doch noch nicht alles gewesen sein! Irgendetwas Spannendes müssen Sie zu bieten haben, sonst hätte L Sie ja wohl kaum für diesen Fall eingespannt, oder?«
»Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich nicht die geringste Ahnung, wieso unser Auftraggeber sich ausgerechnet für mich entschieden hat.« Es fühlte sich seltsam, ja beinahe beschämend an, den Gedanken in Worte zu kleiden, der ihm seit letztem Mittwoch fast ununterbrochen im Kopf herumspukte. »Ich würde schon behaupten, dass ich meine Arbeit gut mache, auch wenn es mit Sicherheit eine ganze Menge Agenten gibt, die für diesen Posten besser geeignet wären als ich … aber ich will mich nicht beschweren. L wird schon seine Gründe gehabt haben und ich glaube auch nicht, dass es mir zusteht, seine Autorität zu diesem Zeitpunkt bereits infrage zu stellen. Ich schätze, ich werde die Sache einfach auf mich zukommen lassen und weiterhin mein Bestes geben.«
»Also, ich will ja nicht angeben, aber …«, begann Sam in diesem Moment und kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wusste Richard auch schon, dass er ihnen in Kürze genau das Gegenteil beweisen würde. »Es gibt durchaus gewisse Instanzen, für die ich derzeit als einer der besten Profiler des Landes gelte. Und das schon seit einer ganzen Weile.« Megan entfuhr ein kläglich unterdrücktes Prusten, welches Sam jedoch gekonnt ignorierte. »Im Laufe meiner Karriere war ich bereits an der Aufklärung zahlreicher hochkomplizierter Fälle beteiligt, die mein Können massiv auf die Probe gestellt haben, aber damit möchte ich Sie heute Abend nicht langweilen.«
»Zu gütig!«, kommentierte seine Kollegin mit heiserer Stimme, wobei sie Richard einen vielsagenden Blick zuwarf, welcher diesem doch tatsächlich ein kleines Schmunzeln entlockte.
»Wie steht es denn mit Ihnen, Agent Newman?«, wandte Sam sich nun an das jüngste Mitglied der Gruppe und faltete mit erwartungsvoller Miene die Hände vor der Brust. »Ohne Ihnen jetzt zu nahe treten zu wollen, aber … Sie sind noch nicht allzu lange beim FBI tätig, habe ich recht?«
Eine tiefe, dunkle Falte grub sich zwischen Megans Augenbrauen und auch das freche Grinsen verschwand auf der Stelle. »Ich … ich bin erst seit ein paar Wochen aus der Probezeit raus«, gab sie widerwillig zu, während sie mit dem Daumen über ihre zerschlissenen Nagelbetten rieb. Nicht zu fassen, Dunstan hatte doch tatsächlich einen wunden Punkt erwischt!
»Ein Grünschnabel also! Wie drollig …«, rutschte es Sam heraus, jedoch schien er seinen Fehler bereits wenige Sekundenbruchteile später selbst zu bemerken, woraufhin er beschämt die Lippen aufeinanderpresste und hastig seinen Blick abwandte. In Megans Gesicht hingegen stieg mit einem Mal eine derartige Röte auf, dass Richard sich nicht gewundert hätte, wenn sie ihrem Kollegen im nächsten Moment einfach an die Gurgel gesprungen wäre.
»Bitte was?!«, krächzte sie entrüstet, wobei das warnende Knirschen ihrer Zähne nicht zu überhören war.
»Entschuldigen Sie, so habe ich das nicht gemeint-«
»Jetzt passen Sie mal auf, Mister Profiler, zufälligerweise gehört mein Abschluss an der Akademie noch heute zu den besten der vergangenen zehn Jahre und irgendwo muss man ja wohl anfangen, oder?! Sie sind nicht der Einzige hier, der ein paar Referenzen zu bieten hat, also entweder steigen Sie jetzt langsam mal von Ihrem hohen Ross ab oder ich schubse Sie eigenhändig von dem dämlichen Gaul runter, verstanden?!«
Bevor Megan ihre Drohung jedoch wahrmachen konnte, tauchte glücklicherweise Mister Griffith auf und brachte die Getränke. Ohne seine Gäste auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen stellte er die Gläser vor ihnen auf dem Tisch ab, schenkte ein und verschwand dann ebenso wortlos wieder hinter der Theke, um jedweder Konversation effektiv aus dem Weg zu gehen. Richard kam nicht einmal dazu, sich für sein Wasser zu bedanken, doch wenigstens schien die kurze Unterbrechung auch Megans Gemüt wieder ein wenig abgekühlt zu haben. Dafür traktierte sie Sam noch immer mit feindseligen Blicken, bevor sich ihr Ausdruck mit einem Mal veränderte und sie ganz langsam, ja beinahe genüsslich den Kopf auf die Seite legte. Ein kleines, boshaftes Lächeln, das Richard unweigerlich die Nackenhaare zu Berge stehen ließ, lag dabei auf ihren Lippen.
»Ohne Ihnen jetzt zu nahe treten zu wollen …«, imitierte sie die vorherigen Worte ihres Kollegen mit vor Häme nur so triefender Stimme. »Aber diese Narbe da an Ihrem Hals sieht ja wirklich ganz schön fies aus. Lassen Sie mich raten: Sie haben in einem Anflug von überschwänglichem Heldenmut versucht, ein verirrtes Kätzchen aus einem Baum zu retten und der Baum hat sich gewehrt …«
Je weiter sie sprach, desto mehr begann Richards Magen sich zusammenzuziehen und desto stärker wurde das Bedürfnis, einfach aufzustehen und den Tisch zu verlassen. Diese Frau musste auch wirklich immer das letzte Worte haben, koste es, was es wolle … oder sollte er sich etwa darüber freuen, dass sie sich für den heutigen Abend dazu entschlossen hatte, auf Agent Dunstan herumzuhacken statt auf ihm? Das konnte doch nicht ewig so weitergehen!
Erst als er sich endlich zu Sam umwandte, dessen Hand inzwischen wie von selbst zu seinem halbgeöffneten Hemdkragen gewandert war, entdeckte auch Richard die Narbe, die Megan soeben angesprochen hatte und tatsächlich musste er zugeben, dass sie ihm bisher noch kein einziges Mal aufgefallen war. Es war eine schmale, waagerechte Linie, die sich nur knapp unter seinem Kehlkopf befand und aussah, als wäre sie durch einen raschen, aber gezielten Messerschnitt verursacht worden. Richard musste unwillkürlich schlucken. Der Farbe nach zu urteilen konnte die Verletzung noch keine zehn Monate alt sein. Das erklärte zumindest, warum sein Kollege es vermied, sein Hemd bis oben hin zuzuknöpfen …
Einen Moment lang herrschte eisernes Schweigen zwischen den drei Ermittlern, doch Sams überraschend entspannter Miene nach zu urteilen schien Megans Frage ihn weder verletzt, noch anderweitig unangenehm berührt zu haben. Seelenruhig hob er das Glas an seine Lippen und trank einen großzügigen Schluck von seiner Limonade.
»Nicht ganz«, entgegnete er schließlich mit einem fast schon beiläufigen Schulterzucken. »Einer meiner Einsätze dieses Jahr ist ein wenig … wie soll ich sagen? Aus dem Ruder gelaufen? Man hat versucht, mich umzubringen. Keine besonders angenehme Erfahrung, muss ich gestehen, aber wie Sie sehen können, habe ich sie weitestgehend heil überstanden.«
Megan zog eine Grimasse, als hätte sie soeben auf eine besonders reife Zitrone gebissen. Dass auch sie eigentlich mit einer anderen Reaktion gerechnet hatte, war ihr deutlich anzusehen, doch das bedeutete nicht, dass sie das Spielchen nicht noch ein wenig weiter treiben konnte. Ein langgezogenes Seufzen entkam ihrer Kehle.
»Mein Gott, jetzt machen Sie’s nicht spannender als es ist und rücken Sie schon raus mit der Sprache …«
Auf diese Aufforderung schien Sam nur gewartet zu haben. Zum zweiten Mal an diesem Abend blitzte ein vorfreudiges Funkeln in seinen Augen auf, während Richard die Arme vor der Brust verschränkte, sich zurücklehnte und es nun langsam doch ein wenig zu bereuen begann, dass er sich vorhin keinen Whiskey bestellt hatte.
»Letzten Frühling war ich an einer Razzia beteiligt, im Zuge derer das bis dato einflussreichste Drogensyndikat Bostons, das Coronado-Kartell, zerschlagen wurde. Davon werden Sie mit Sicherheit gehört haben. Irgendwie hat deren Anführer es geschafft, seine Identität über Jahre hinweg geheim zu halten; nicht einmal die Mitglieder des Kartells, die wir in dieser Zeit festnehmen konnten, wussten, wer er war – oder kamen unter diversen mysteriösen Umständen ums Leben, bevor sie uns darüber in Kenntnis setzen konnten. Ich und mein Team waren diesem Mann schon eine ganze Weile auf den Fersen und hatten vor kurzem einen entscheidenden Durchbruch bei unseren Ermittlungen erzielt, der uns dabei helfen sollte, dem Ring mitsamt seines geheimnisvollen Fädenziehers ein für alle Mal den Garaus zu machen. Es war eine unwahrscheinlich nervenaufreibende Aktion, aber schließlich schafften wir es tatsächlich, die Gruppe zu überraschen. Es kam zu einem Schusswechsel, bei dem ich einen der Männer tödlich verletzte, nachdem dieser das Feuer auf mich eröffnet hatte.« Sam presste die Lippen aufeinander, während seine Augenbrauen allmählich immer tiefer sanken. »Kurz darauf wurde ich aus dem Hinterhalt überwältigt und konnte spüren, wie mir ein Messer an die Kehle gehalten wurde. Später erfuhr ich, dass es der Bruder des getöteten Kartellmitgliedes gewesen war, der mich in diesem Moment in seiner Gewalt hatte.« Wieder schluckte er. »Und vermutlich hätte er seine Rache auch bekommen, wenn meine Kollegen nicht so rasch zur Stelle gewesen wären, um die Situation zu entschärfen. Der Mann hatte zu diesem Zeitpunkt offensichtlich keine Angst mehr vor dem Tod, weshalb er seinen Plan trotz mehrfacher Warnung dennoch in die Tat umsetzte. Es hat sich angefühlt, als würde ich an meinem eigenen Atem ersticken. Nichts, was ich irgendjemandem an den Hals wünschen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes … nun ja, jedenfalls schaffte es mein Team am Ende dennoch, den Verantwortlichen außer Gefecht zu setzen und ihn festzunehmen, während mein Partner sich um mich kümmerte und dafür sorgte, dass ich rechtzeitig in ein Krankenhaus gebracht wurde. Ohne die bemerkenswerte Reaktionsfähigkeit und Geistesgegenwart meiner Kollegen hätte ich diesen Angriff mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überlebt.«
Die vermeintliche Unbekümmertheit, mit der Dunstan über diesen Vorfall sprach, schien nicht nur Richard zu irritieren, wie dieser nach einem kurzen Blick in Richtung Newman feststellte. Doch der Profiler erzählte einfach munter weiter, während er nebenbei an seinem Getränk nippte, als würde er gerade von seinem letzten Sonntagsspaziergang berichten.
»Seitdem bin ich theoretisch vom Dienst beurlaubt. Das heißt, zu Anfang habe ich noch versucht, wenigstens ein paar Büroarbeiten mitzunehmen, aber mein Vorgesetzter war der Meinung, ich müsse mich von dem ganzen Trubel erst einmal eine Weile erholen, weshalb ich ehrlich gesagt ganz froh darüber bin, von L mit diesem Fall betraut worden zu sein. Ich habe nämlich langsam wirklich begonnen, mich in meinem stillen Kämmerlein ein wenig zu langweilen.« Ein selbstzufriedenes Lächeln schlich sich auf seine Züge, dicht gefolgt von einem nahezu frivolen Zwinkern, welches Richard jedoch bloß mit einem nüchternen Blick quittierte. Der Name ›Coronado‹ kam ihm tatsächlich bekannt vor, was es leider umso beeindruckender machte, nun mit jemandem am Tisch zu sitzen, der an der Auflösung dieses Kartells beteiligt gewesen war. Auch wenn es ihn mit Sicherheit noch mehr beeindruckt hätte, wenn Dunstan nicht so ein furchtbarer Schaumschläger wäre.
Der Rest der Wartezeit verstrich größtenteils ohne Worte, da nicht einmal Megan es für nötig zu halten schien, die Geschichte allzu ausgiebig zu kommentieren, wobei Richard sich allerdings nicht ganz sicher war, ob er die unangenehme Stille ihren Sticheleien vorziehen sollte oder nicht.
»Dafür, dass hier ansonsten nur noch vier weitere Tische besetzt sind, lässt der Typ sich aber ganz schön viel Zeit«, war ihr letzter Versuch, die Stimmung noch einmal zu heben, bevor Mister Griffith sich tatsächlich wieder bei ihnen blicken ließ und ihre Bestellungen servierte. Die Portionen waren ein wenig kleiner, als Richard sich erhofft hatte, doch mittlerweile war er einfach bloß froh, wenn er heute Abend überhaupt noch etwas zwischen die Zähne bekam. Und obwohl sein Margheritabrot wirklich hervorragend gewürzt war und einen überraschend knusprigen Rand besaß, blieb Großmutters Variante wie erwartet auch diesmal auf Platz eins.
Das Abendessen verlief ebenso schweigend, auch wenn Richard den Verdacht hatte, dass Sam bewusst nicht darauf eingegangen war, als seine Kollegin ihm in einem vermeintlich unaufmerksamen Moment ein Scheibchen Peperoni vom Teller stibitzt hatte. Insgesamt waren die Pizzabrote schnell verspeist und Richard hoffte inständig, dass Megan den Pubbesitzer bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit endlich zu ihrem Tisch herüberwinken würde, doch im Moment schien sie daran wirklich überhaupt kein Interesse zu haben.
»So, die Herren«, erhob sie schließlich erneut das Wort, warf einen verschwörerischen Blick in die Runde, und ließ ihre Finger mit demonstrativer Gelassenheit in ihre Tasche gleiten. Ihm schwante Übles. »Was halten Sie beide denn zum Abschluss des Abends von einer freundlichen Runde Poker?«
Flink wie ein Revolverheld zur Mittagsstunde zog Megan eine abgegriffene Pappschachtel aus ihrem Jackett hervor, aus der die Karten nur so hervorquollen, und legte sie in die Mitte des Tisches, während sie sich mit der anderen Hand genüsslich eine Zigarette zwischen die Lippen schob.
Richard bekam gerade noch so mit, wie Sam irgendeine Bemerkung von sich gab, die sein Gegenüber anscheinend ungeheuer komisch fand, doch der Rest der Konversation verwandelte sich schon bald in ein fernes Murmeln, das sich irgendwo weit weg von seinem Bewusstsein abspielte. Seine Augen waren wie in Trance auf die Schachtel fixiert, die ausgeblichene Kreuzdame in ihrem blau-weißen Rahmen, die ihn mit ihrem süffisanten Schlafzimmerblick drangsalierte, völlig gleichgültig und dann doch wieder verführend, nein, gehässig, und er konnte spüren, wie seine Hände zu zittern begannen und seine Schultern sich verkrampften, die Hitze, die wie ein Tsunami über ihn hinwegschwemmte und der Schweiß auf seiner Stirn …
Nein. Nein, das würde ganz sicher nicht passieren! Richard hatte das alles hinter sich. Er musste nicht der Höflichkeit halber mitspielen, er musste sich keine dummen Sprüche anhören, und vor allen Dingen musste er sich vor niemandem rechtfertigen – schon gar nicht vor Agent Newman! Es gab überhaupt keinen Grund, sich zu schämen. Richard spielte nicht und damit war die Sache erledigt. Punkt, aus, Ende. Es war vollkommen egal, ob er gerade doch wieder eine Glücksträhne haben könnte, und dass er es niemals herausfinden würde, wenn er es nicht versuchte, es spielte keine Rolle, es war egal, es war verdammt noch mal egal …
»Obwohl, wissen Sie was? Ich glaube, ich hab da noch eine viel bessere Idee!«
Es war Megans Stimme, die ihn mit einem Mal wieder aus seinen Gedanken riss, und ihre Hand, die den Blickkontakt zwischen ihm und der Kreuzdame endgültig kappte, indem sie das Päckchen erneut in ihrer Tasche verschwinden ließ.
»Wie wär’s stattdessen mit einer kleinen Partie Pool, um den Wettbewerbsgeist noch ein wenig mehr anzustacheln? Die Drinks gehen natürlich wieder auf mich! Sie beide jämmerlich verlieren zu sehen, ist mir die paar Dollar mehr als wert.«
Manchmal war es wirklich erstaunlich, wie schnell die Zeit vergehen konnte, wenn man sich amüsierte. Und obwohl Richard sich selbst nicht unbedingt als Billardass bezeichnen würde, hatte er in der vergangenen Runde dennoch die eine oder andere Kugel versenken können. Jedenfalls hatte er sich besser geschlagen als Sam, der trotz minutenlanger Winkelausrechnungen und schier endloser Anekdoten über die Erforderlichkeit der perfekten Stoßkraft eine vernichtende Niederlage hatte einstecken müssen – und das nachdem er beim Versuch, ein besonders heikles Manöver zu vollführen, beinahe den Stoffbezug des Tisches eingerissen hätte, woraufhin Megan vor lauter Lachen ihren nächsten Anstoß in den Sand gesetzt hatte. Nichtsdestotrotz hatte sie die beiden Männer in Grund und Boden gespielt, was bedeutete, dass sie ihnen diesen Sieg in Zukunft garantiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase reiben würde. Aber wenigstens hatte Richard auf diese Weise der Pokersituation aus dem Weg gehen können.
Bei Nacht herrschte in Holden Creek eine völlig andere Atmosphäre als in den frühen Morgenstunden. Nahezu alles, was nicht vom matten, gelblichen Licht der Straßenlaternen erfasst wurde, lag in vollkommener Schwärze, die ihn wie ein schwerer, samtener Schleier umgab. Einzig der Wald, der sich irgendwo hinter den Mauern versteckte wie ein Raubtier im hohen Gras, wirkte zu dieser Tageszeit erschreckend … lebendig. Auch wenn bis auf das leise Klackern seiner Absätze auf dem Kopfsteinpflaster, das in der Stille seltsam verloren klang, kaum etwas zu hören war.
Richard kniff die Augenbrauen zusammen und rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit einem Mal fühlte er sich unheimlich erschöpft, und das, obwohl er heute eigentlich nur von einem Ort zum anderen gelaufen war und anschließend ein paar Akten durchgeblättert hatte. Vielleicht war es ganz gut gewesen, dass er sich vorhin bloß ein Mineralwasser bestellt hatte, ansonsten hätte er morgen früh wahrscheinlich tierische Kopfschmerzen gehabt. Apropos … seinen Vater hatte Richard bisher auch noch nicht zurückgerufen. Leo würde ihm eine ellenlange Predigt halten, wenn er davon erfuhr, dass sein Freund die Sache noch immer vor sich herschob … von seinem alten Herrn einmal ganz zu schweigen. Eigentlich hatte er doch momentan ohnehin keine Zeit für so etwas, oder? Schließlich arbeitete er gerade an einem unheimlich verzwickten Fall, der seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderte. Natürlich war er nicht gerade froh darüber, dass er deswegen vermutlich die Geburtstagsfeier seiner Mutter versäumen würde, aber es war ja nicht so, als hätte er sich freiwillig dafür gemeldet. Richards Familie wusste, wie viel sein Beruf ihm bedeutete und dass Ls Nachricht ihn ausgerechnet jetzt erreicht hatte, war purer Zufall gewesen. Er konnte nichts dafür. Es war nicht seine Schuld. Und das Gespräch mit seinem Vater musste nun wohl oder übel warten.
Ein leises Rascheln ließ Richard ein weiteres Mal aus seinen Gedanken hochschrecken. Sam und Megan waren bereits um die nächste Ecke gebogen, während er abrupt stehenblieb und eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern fixierte, die sich außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaternen befand. Hatte sich dort gerade irgendetwas bewegt? Gut möglich, schließlich waren Waschbären und streunende Katzen auch im Pazifischen Nordwesten keine Seltenheit. Richard musste schlucken, als er sich vorstellte, dass Nathan Gilbert womöglich genau dasselbe gedacht hatte, als er in der Nacht seines Todes auf dem Heimweg gewesen war.
»Hey, ist das nicht unser Zimmermädchen?«, drang Megans Stimme plötzlich an seine Ohren und sorgte dafür, dass Richard sich endlich von der finsteren Gasse losreißen und zu den anderen beiden aufschließen konnte. Tatsächlich, die auffallend nervös wirkende Gestalt mit den wuscheligen, blonden Haaren, die gerade aus der Richtung des Wayside Inn gehuscht kam und irgendwo zwischen dem Schreibwarengeschäft gegenüber und den dahinterliegenden Schatten verschwand, besaß eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit Lily.
»Ganz schön spät, um jetzt erst Feierabend zu machen. Vor allen Dingen, wenn die Pension derzeit nur drei Gäste beherbergt …«, murmelte Sam stirnrunzelnd und blickte dem Mädchen noch eine Weile hinterher. Megan hingegen zuckte lediglich mit den Schultern.
»Vielleicht hat sie uns allen noch ein Stück Schokolade aufs Kopfkissen gelegt«, mutmaßte sie grinsend. »Jetzt kommen Sie aber mal in die Hufe, ich will noch ein paar Stündchen schlafen, bevor wir uns morgen früh wieder mit diesem Augenausquetscher rumschlagen müssen!«
Sam stieß ein leises Seufzen aus. »Sie waren doch diejenige, die auf diese Billardrunde bestanden hat …«
»Und Sie waren derjenige, der nach seinem erbärmlichen Versagen in der ersten Runde unbedingt ’ne Revanche wollte! Die Sie im Übrigen haushoch verloren haben. Schon wieder. Ich dachte, ich erwähn’s vorsichtshalber noch mal, nur falls es Ihnen entfallen sein sollte.«
»Oh, mein Fehler. Ich dachte, Sie hätten inzwischen mitbekommen, dass ich Sie die ganze Zeit über mit Absicht habe gewinnen lassen.«
Die Angesprochene lachte freudlos auf, während Richards Schritte sich unweigerlich beschleunigten, je weiter die Gruppe sich dem Wayside Inn näherte. Die zuvor bereits erwähnten paar Stündchen Schlaf kämen ihm mittlerweile nämlich ebenfalls sehr gelegen.
»Also, ich finde es ja wirklich drollig, wie Sie sich nach dieser katastrophalen Niederlage selbst aufzumuntern versuchen. Aber Kopf hoch, Agent Dunstan, so schlimm ist das doch gar nicht! Es gibt mit Sicherheit auch irgendetwas, was Sie gut können.«
Der Link in der Zeitangabe unten führt im Übrigen zu Richies Themesong, ›Honey Whiskey‹ von Nothing But Thieves. Ich mag das Lied sehr gerne und fand, dass es auch ganz gut zu diesem Kapitel hier gepasst hat. :3 (Ja, es gibt eine offizielle WWBL-Playlist … und auch eine zu jedem Hauptcharakter. Aber die sind alle noch relativ spärlich bestückt und müssten dringend mal erweitert werden. ^^; Wer weiß, vielleicht verlinke ich sie irgendwann mal am Ende des ersten Akts oder so, falls Interesse daran besteht.)
Ich kann nicht versprechen, dass nächsten Monat wieder ein Kapitel kommt, da ich momentan sehr stark daran bin, mein anderes Hauptprojekt zu beenden und das bei mir gerade Priorität hat. Bald sollte es hier aber endlich wieder regelmäßig vorangehen und das hoffentlich auch langfristig.
Nun aber viel Spaß mit dem munteren Kneipenabend! ;-D
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k a p i t e l 9
SCHWARZE ACHT
SCHWARZE ACHT
Das Erste, was Richard auffiel, als er und seine Kollegen den Pub betraten, war die Tatsache, dass außer ihnen kaum jemand dort war – und das an einem Freitagabend. Er konnte ja verstehen, dass die Stimmung, die hier momentan herrschte, nicht unbedingt dazu einlud, am Wochenende auszugehen und sich in heiterer Gesellschaft ein paar Bierchen zu genehmigen, aber ein wenig auffällig war die Sache schon, vor allen Dingen für einen Neuankömmling wie ihn.
Newman hatte wirklich nicht übertrieben, als sie die Kneipe vorhin als ›muffig‹ beschrieben hatte, doch als wirklich störend empfand er das nicht. Im Gegenteil, es passte zum Ambiente. Gläserklirren, Thekenstaub und Folkmusik aus den Siebzigerjahren hingen wie dicke Nebelschwaden zwischen den Holzpfeilern und erfüllten den Raum mit Leben. Mittlerweile verkehrte Richard zwar nur noch selten in solchen Lokalen, was nicht zuletzt daran lag, dass sein Beruf ihm einiges abverlangte und er die wenige freie Zeit, die ihm vergönnt war, lieber für andere Dinge nutzte, doch nicht einmal er konnte leugnen, dass Tim’s Pub trotz allem einen gewissen Charme besaß. Das letzte Mal, dass er sich in solcher Gesellschaft befunden hatte, war im vergangenen Mai gewesen; ein kleiner, heruntergekommener Schuppen irgendwo am Rande von Salt Lake City, an dem er während eines Klettertrips mit Leo vorbeigekommen war und wenn er jetzt so darüber nachdachte, dann hatte er an diesem Abend wirklich ganz schön tief ins Glas geschaut …
Megan führte die Gruppe zu einem Ecktisch, der sich ganz in der Nähe der Bar befand, und verteilte die Menükarten. Das Angebot war nicht sonderlich breit gefächert, aber wenn Richard ehrlich war, dann hatte er auch nichts anderes erwartet. Hauptsache, es machte einigermaßen satt.
»Ohh, es gibt Pizzabrot …«, stellte Sam neben ihm mit beinahe ehrfürchtiger Stimme fest und leckte sich über die Lippen. »Ich glaube, ich weiß schon, was ich mir bestelle.«
»Ich auch«, fügte Richard hinzu, was zum einen damit zusammenhing, dass er keine allzu große Lust hatte, sich auch den Rest der Karte durchzulesen, und zum anderen mit seiner langjährigen Angewohnheit, jede Pizza Margherita, an die er herankam, mit der seiner Großmutter zu vergleichen, nur um am Ende festzustellen, dass Nonna Pinas Familienrezept nach wie vor ungeschlagen blieb.
»Damit das klar ist.« Megan bedachte die beiden Männer mit einem durchdringenden Blick, während sie sich nach vorne beugte und unmissverständlich ihre Knöchel knacken ließ. »Wenn Sie nicht wollen, dass ich meine Einladung spontan zurückziehe, dann ist Ananas auf der Pizza absolut tabu, verstanden? So was ist ein Verbrechen gegen die Natur und wird in meiner Gegenwart nicht geduldet!«
»Hatte ich nicht vor«, versicherte Sam ihr deutlich belustigter, als Richard in diesem Moment für angebracht hielt, während er selbst ihre Drohung geflissentlich ignorierte und sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, die Augen zu verdrehen. Ein paar Sekunden lang schien Megan tatsächlich auf seine Antwort zu warten, entschied sich dann aber glücklicherweise dazu, nicht noch weiter nachzuhaken, und widmete sich stattdessen ebenfalls der Karte.
Wenig später trat ein kräftig gebauter Mann mit Vollbart und müden Augen, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Craig Griffith handelte, an ihren Tisch, Stift und Notizblock bereits gezückt und den Mund zu einer halbherzigen Begrüßung geöffnet, als sein Blick mit einem Mal auf Megan fiel. Sofort verfinsterte sich seine Miene und Richard konnte deutlich erkennen, wie seine Kiefer aufeinandermahlten, während die junge Frau ihm im Gegenzug ihr unschuldigstes Lächeln schenkte.
»Ihre Kollegen?«, brachte Mister Griffith nach einer Weile zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und machte eine flüchtige Kopfbewegung in Richtung der beiden anderen. Allem Anschein nach war Richard nicht der Einzige, den Agent Newman in den vergangenen zwei Tagen bereits auf die Palme gebracht hatte.
»Ganz genau!«, bestätigte die Angesprochene mit zuckersüßer Stimme. »Wenn ich vorstellen darf, diese beiden liebreizenden Herren hier sind die Agents Dunstan und Williams. Dürften wir dann jetzt bestellen?«
Einen kurzen, wenn auch spürbar unangenehmen Moment lang starrte Mister Griffith sie einfach bloß an, als würde er gerade ernsthaft darüber nachdenken, alle drei in hohem Bogen auf die Straße zu werfen, dann jedoch schloss er mit einem resignierten Seufzen die Augen und nickte. »Selbstverständlich … herzlich willkommen in Tim’s Pub, was darf ich Ihnen bringen?«
Megan gab sich fürs Erste mit einem Bier zufrieden, während Sam sich ein großes Glas Bitter Lemon bestellte. Richard war gerade im Begriff, Mister Griffith nach seinem berühmt-berüchtigten hausgebrannten Whiskey zu fragen, als er sich wieder an Misses Weavers Worte erinnerte und stattdessen bloß um ein stilles Mineralwasser bat. So viel zum Thema ›Er muss sich ja nicht mit uns unterhalten, wenn ihm nicht danach ist‹ … Fortschritt hin oder her, heute war wirklich nicht sein Tag.
»Langweiler«, brummte Megan, nachdem Mister Griffith auch den Rest ihrer Bestellung aufgenommen hatte, und stützte missmutig das Kinn in die Hände. »Wenn ich ganz alleine einen hätte trinken wollen, dann wäre ich einfach zuhause geblieben …«
»Wir sind nicht hier, um uns zu amüsieren, sondern um einen Serienmörder aus dem Verkehr zu ziehen«, erinnerte Richard noch einmal und zupfte etwas zerknirscht an seinem Jackettärmel herum. Um ehrlich zu sein hätte er gegen einen Drink überhaupt nichts einzuwenden gehabt, doch bevor sich die ohnehin schon geladene Situation noch weiter in die Länge gezogen hätte, war er lieber auf Nummer sicher gegangen.
»Ist ja gut, wir haben’s kapiert. Sie sind ein Spießer.« Megan zog die Nase kraus und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Aber wo wir jetzt schon so hier zusammensitzen … wieso erzählen Sie nicht einfach mal ein bisschen was von sich?« Sie wandte ihren Blick in Richtung Sam, welcher beim Stichwort ›Von sich erzählen‹ natürlich sofort die Ohren spitzte. »Sie kommen aus Boston, nicht wahr? Allzu lange wohnen Sie da aber noch nicht, dafür fehlt Ihnen der Akzent … und ehrlich gesagt wirken Sie auf mich auch eher wie ein Kleinstadtjunge, wenn ich das so sagen darf.«
Der Angesprochene schmunzelte. »Da haben Sie ganz recht, Agent Newman. Der Großteil meiner Kindheit hat sich tatsächlich in der Provinz abgespielt. In Maine, um genau zu sein.«
»Was, in Maine leben tatsächlich Menschen?! Ich dachte immer, das sei nur ein Gerücht!«
»Kaum zu glauben, aber wahr!« Die Theatralik in Sams Stimme stand der seiner Gesprächspartnerin um nichts nach, und Richard begann langsam wirklich, sich zu fragen, warum die beiden sich für eine Karriere beim FBI statt beim Zirkus entschieden hatten. »Geboren wurde ich allerdings in Québec und habe dort auch die ersten paar Jahre meines Lebens verbracht. Nicht, dass das einen besonderen Unterschied gemacht hätte …«
Interessiert hob Megan die Augenbrauen und lehnte sich ein weiteres Mal nach vorn. »Sieh an, sieh an, ein Kanadier also! Wenn das so ist, was halten Sie denn davon, uns bei der Gelegenheit mal Ihre Französischkenntnisse zu demonstrieren?«
»Ein andermal vielleicht. Sie machen mich ja ganz nervös.«
»Sie können gar kein Französisch, stimmt’s?«
»Das werden Sie nie herausfinden, wenn Sie weiterhin so frech sind …«
»Na gut, dann eben nicht!« Sie schnaufte und verdrehte genervt die Augen, bevor sie sich – sehr zu dessen Unmut – wieder Richard zuwandte. »Was ist mit Ihnen, Williams? Sie sind doch sonst immer so schweigsam, wie wär’s, wenn Sie zur Abwechslung mal ein paar Possen vom Stapel lassen? Wir sind ganz Ohr!«
›Raten Sie mal, warum‹, lag ihm die Antwort auf der Zunge, doch er war auch diesmal klug genug, um sie rechtzeitig herunterzuschlucken, und zuckte stattdessen bloß mit den Schultern. »Ich fürchte, da gibt es nicht viel vom Stapel zu lassen. Ich wurde in Pittsburgh geboren und habe abgesehen von meiner Ausbildungszeit in Quantico auch nie irgendwo anders gewohnt oder gearbeitet.«
»Ach, kommen Sie, das kann doch noch nicht alles gewesen sein! Irgendetwas Spannendes müssen Sie zu bieten haben, sonst hätte L Sie ja wohl kaum für diesen Fall eingespannt, oder?«
»Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich nicht die geringste Ahnung, wieso unser Auftraggeber sich ausgerechnet für mich entschieden hat.« Es fühlte sich seltsam, ja beinahe beschämend an, den Gedanken in Worte zu kleiden, der ihm seit letztem Mittwoch fast ununterbrochen im Kopf herumspukte. »Ich würde schon behaupten, dass ich meine Arbeit gut mache, auch wenn es mit Sicherheit eine ganze Menge Agenten gibt, die für diesen Posten besser geeignet wären als ich … aber ich will mich nicht beschweren. L wird schon seine Gründe gehabt haben und ich glaube auch nicht, dass es mir zusteht, seine Autorität zu diesem Zeitpunkt bereits infrage zu stellen. Ich schätze, ich werde die Sache einfach auf mich zukommen lassen und weiterhin mein Bestes geben.«
»Also, ich will ja nicht angeben, aber …«, begann Sam in diesem Moment und kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wusste Richard auch schon, dass er ihnen in Kürze genau das Gegenteil beweisen würde. »Es gibt durchaus gewisse Instanzen, für die ich derzeit als einer der besten Profiler des Landes gelte. Und das schon seit einer ganzen Weile.« Megan entfuhr ein kläglich unterdrücktes Prusten, welches Sam jedoch gekonnt ignorierte. »Im Laufe meiner Karriere war ich bereits an der Aufklärung zahlreicher hochkomplizierter Fälle beteiligt, die mein Können massiv auf die Probe gestellt haben, aber damit möchte ich Sie heute Abend nicht langweilen.«
»Zu gütig!«, kommentierte seine Kollegin mit heiserer Stimme, wobei sie Richard einen vielsagenden Blick zuwarf, welcher diesem doch tatsächlich ein kleines Schmunzeln entlockte.
»Wie steht es denn mit Ihnen, Agent Newman?«, wandte Sam sich nun an das jüngste Mitglied der Gruppe und faltete mit erwartungsvoller Miene die Hände vor der Brust. »Ohne Ihnen jetzt zu nahe treten zu wollen, aber … Sie sind noch nicht allzu lange beim FBI tätig, habe ich recht?«
Eine tiefe, dunkle Falte grub sich zwischen Megans Augenbrauen und auch das freche Grinsen verschwand auf der Stelle. »Ich … ich bin erst seit ein paar Wochen aus der Probezeit raus«, gab sie widerwillig zu, während sie mit dem Daumen über ihre zerschlissenen Nagelbetten rieb. Nicht zu fassen, Dunstan hatte doch tatsächlich einen wunden Punkt erwischt!
»Ein Grünschnabel also! Wie drollig …«, rutschte es Sam heraus, jedoch schien er seinen Fehler bereits wenige Sekundenbruchteile später selbst zu bemerken, woraufhin er beschämt die Lippen aufeinanderpresste und hastig seinen Blick abwandte. In Megans Gesicht hingegen stieg mit einem Mal eine derartige Röte auf, dass Richard sich nicht gewundert hätte, wenn sie ihrem Kollegen im nächsten Moment einfach an die Gurgel gesprungen wäre.
»Bitte was?!«, krächzte sie entrüstet, wobei das warnende Knirschen ihrer Zähne nicht zu überhören war.
»Entschuldigen Sie, so habe ich das nicht gemeint-«
»Jetzt passen Sie mal auf, Mister Profiler, zufälligerweise gehört mein Abschluss an der Akademie noch heute zu den besten der vergangenen zehn Jahre und irgendwo muss man ja wohl anfangen, oder?! Sie sind nicht der Einzige hier, der ein paar Referenzen zu bieten hat, also entweder steigen Sie jetzt langsam mal von Ihrem hohen Ross ab oder ich schubse Sie eigenhändig von dem dämlichen Gaul runter, verstanden?!«
Bevor Megan ihre Drohung jedoch wahrmachen konnte, tauchte glücklicherweise Mister Griffith auf und brachte die Getränke. Ohne seine Gäste auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen stellte er die Gläser vor ihnen auf dem Tisch ab, schenkte ein und verschwand dann ebenso wortlos wieder hinter der Theke, um jedweder Konversation effektiv aus dem Weg zu gehen. Richard kam nicht einmal dazu, sich für sein Wasser zu bedanken, doch wenigstens schien die kurze Unterbrechung auch Megans Gemüt wieder ein wenig abgekühlt zu haben. Dafür traktierte sie Sam noch immer mit feindseligen Blicken, bevor sich ihr Ausdruck mit einem Mal veränderte und sie ganz langsam, ja beinahe genüsslich den Kopf auf die Seite legte. Ein kleines, boshaftes Lächeln, das Richard unweigerlich die Nackenhaare zu Berge stehen ließ, lag dabei auf ihren Lippen.
»Ohne Ihnen jetzt zu nahe treten zu wollen …«, imitierte sie die vorherigen Worte ihres Kollegen mit vor Häme nur so triefender Stimme. »Aber diese Narbe da an Ihrem Hals sieht ja wirklich ganz schön fies aus. Lassen Sie mich raten: Sie haben in einem Anflug von überschwänglichem Heldenmut versucht, ein verirrtes Kätzchen aus einem Baum zu retten und der Baum hat sich gewehrt …«
Je weiter sie sprach, desto mehr begann Richards Magen sich zusammenzuziehen und desto stärker wurde das Bedürfnis, einfach aufzustehen und den Tisch zu verlassen. Diese Frau musste auch wirklich immer das letzte Worte haben, koste es, was es wolle … oder sollte er sich etwa darüber freuen, dass sie sich für den heutigen Abend dazu entschlossen hatte, auf Agent Dunstan herumzuhacken statt auf ihm? Das konnte doch nicht ewig so weitergehen!
Erst als er sich endlich zu Sam umwandte, dessen Hand inzwischen wie von selbst zu seinem halbgeöffneten Hemdkragen gewandert war, entdeckte auch Richard die Narbe, die Megan soeben angesprochen hatte und tatsächlich musste er zugeben, dass sie ihm bisher noch kein einziges Mal aufgefallen war. Es war eine schmale, waagerechte Linie, die sich nur knapp unter seinem Kehlkopf befand und aussah, als wäre sie durch einen raschen, aber gezielten Messerschnitt verursacht worden. Richard musste unwillkürlich schlucken. Der Farbe nach zu urteilen konnte die Verletzung noch keine zehn Monate alt sein. Das erklärte zumindest, warum sein Kollege es vermied, sein Hemd bis oben hin zuzuknöpfen …
Einen Moment lang herrschte eisernes Schweigen zwischen den drei Ermittlern, doch Sams überraschend entspannter Miene nach zu urteilen schien Megans Frage ihn weder verletzt, noch anderweitig unangenehm berührt zu haben. Seelenruhig hob er das Glas an seine Lippen und trank einen großzügigen Schluck von seiner Limonade.
»Nicht ganz«, entgegnete er schließlich mit einem fast schon beiläufigen Schulterzucken. »Einer meiner Einsätze dieses Jahr ist ein wenig … wie soll ich sagen? Aus dem Ruder gelaufen? Man hat versucht, mich umzubringen. Keine besonders angenehme Erfahrung, muss ich gestehen, aber wie Sie sehen können, habe ich sie weitestgehend heil überstanden.«
Megan zog eine Grimasse, als hätte sie soeben auf eine besonders reife Zitrone gebissen. Dass auch sie eigentlich mit einer anderen Reaktion gerechnet hatte, war ihr deutlich anzusehen, doch das bedeutete nicht, dass sie das Spielchen nicht noch ein wenig weiter treiben konnte. Ein langgezogenes Seufzen entkam ihrer Kehle.
»Mein Gott, jetzt machen Sie’s nicht spannender als es ist und rücken Sie schon raus mit der Sprache …«
Auf diese Aufforderung schien Sam nur gewartet zu haben. Zum zweiten Mal an diesem Abend blitzte ein vorfreudiges Funkeln in seinen Augen auf, während Richard die Arme vor der Brust verschränkte, sich zurücklehnte und es nun langsam doch ein wenig zu bereuen begann, dass er sich vorhin keinen Whiskey bestellt hatte.
»Letzten Frühling war ich an einer Razzia beteiligt, im Zuge derer das bis dato einflussreichste Drogensyndikat Bostons, das Coronado-Kartell, zerschlagen wurde. Davon werden Sie mit Sicherheit gehört haben. Irgendwie hat deren Anführer es geschafft, seine Identität über Jahre hinweg geheim zu halten; nicht einmal die Mitglieder des Kartells, die wir in dieser Zeit festnehmen konnten, wussten, wer er war – oder kamen unter diversen mysteriösen Umständen ums Leben, bevor sie uns darüber in Kenntnis setzen konnten. Ich und mein Team waren diesem Mann schon eine ganze Weile auf den Fersen und hatten vor kurzem einen entscheidenden Durchbruch bei unseren Ermittlungen erzielt, der uns dabei helfen sollte, dem Ring mitsamt seines geheimnisvollen Fädenziehers ein für alle Mal den Garaus zu machen. Es war eine unwahrscheinlich nervenaufreibende Aktion, aber schließlich schafften wir es tatsächlich, die Gruppe zu überraschen. Es kam zu einem Schusswechsel, bei dem ich einen der Männer tödlich verletzte, nachdem dieser das Feuer auf mich eröffnet hatte.« Sam presste die Lippen aufeinander, während seine Augenbrauen allmählich immer tiefer sanken. »Kurz darauf wurde ich aus dem Hinterhalt überwältigt und konnte spüren, wie mir ein Messer an die Kehle gehalten wurde. Später erfuhr ich, dass es der Bruder des getöteten Kartellmitgliedes gewesen war, der mich in diesem Moment in seiner Gewalt hatte.« Wieder schluckte er. »Und vermutlich hätte er seine Rache auch bekommen, wenn meine Kollegen nicht so rasch zur Stelle gewesen wären, um die Situation zu entschärfen. Der Mann hatte zu diesem Zeitpunkt offensichtlich keine Angst mehr vor dem Tod, weshalb er seinen Plan trotz mehrfacher Warnung dennoch in die Tat umsetzte. Es hat sich angefühlt, als würde ich an meinem eigenen Atem ersticken. Nichts, was ich irgendjemandem an den Hals wünschen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes … nun ja, jedenfalls schaffte es mein Team am Ende dennoch, den Verantwortlichen außer Gefecht zu setzen und ihn festzunehmen, während mein Partner sich um mich kümmerte und dafür sorgte, dass ich rechtzeitig in ein Krankenhaus gebracht wurde. Ohne die bemerkenswerte Reaktionsfähigkeit und Geistesgegenwart meiner Kollegen hätte ich diesen Angriff mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überlebt.«
Die vermeintliche Unbekümmertheit, mit der Dunstan über diesen Vorfall sprach, schien nicht nur Richard zu irritieren, wie dieser nach einem kurzen Blick in Richtung Newman feststellte. Doch der Profiler erzählte einfach munter weiter, während er nebenbei an seinem Getränk nippte, als würde er gerade von seinem letzten Sonntagsspaziergang berichten.
»Seitdem bin ich theoretisch vom Dienst beurlaubt. Das heißt, zu Anfang habe ich noch versucht, wenigstens ein paar Büroarbeiten mitzunehmen, aber mein Vorgesetzter war der Meinung, ich müsse mich von dem ganzen Trubel erst einmal eine Weile erholen, weshalb ich ehrlich gesagt ganz froh darüber bin, von L mit diesem Fall betraut worden zu sein. Ich habe nämlich langsam wirklich begonnen, mich in meinem stillen Kämmerlein ein wenig zu langweilen.« Ein selbstzufriedenes Lächeln schlich sich auf seine Züge, dicht gefolgt von einem nahezu frivolen Zwinkern, welches Richard jedoch bloß mit einem nüchternen Blick quittierte. Der Name ›Coronado‹ kam ihm tatsächlich bekannt vor, was es leider umso beeindruckender machte, nun mit jemandem am Tisch zu sitzen, der an der Auflösung dieses Kartells beteiligt gewesen war. Auch wenn es ihn mit Sicherheit noch mehr beeindruckt hätte, wenn Dunstan nicht so ein furchtbarer Schaumschläger wäre.
Der Rest der Wartezeit verstrich größtenteils ohne Worte, da nicht einmal Megan es für nötig zu halten schien, die Geschichte allzu ausgiebig zu kommentieren, wobei Richard sich allerdings nicht ganz sicher war, ob er die unangenehme Stille ihren Sticheleien vorziehen sollte oder nicht.
»Dafür, dass hier ansonsten nur noch vier weitere Tische besetzt sind, lässt der Typ sich aber ganz schön viel Zeit«, war ihr letzter Versuch, die Stimmung noch einmal zu heben, bevor Mister Griffith sich tatsächlich wieder bei ihnen blicken ließ und ihre Bestellungen servierte. Die Portionen waren ein wenig kleiner, als Richard sich erhofft hatte, doch mittlerweile war er einfach bloß froh, wenn er heute Abend überhaupt noch etwas zwischen die Zähne bekam. Und obwohl sein Margheritabrot wirklich hervorragend gewürzt war und einen überraschend knusprigen Rand besaß, blieb Großmutters Variante wie erwartet auch diesmal auf Platz eins.
Das Abendessen verlief ebenso schweigend, auch wenn Richard den Verdacht hatte, dass Sam bewusst nicht darauf eingegangen war, als seine Kollegin ihm in einem vermeintlich unaufmerksamen Moment ein Scheibchen Peperoni vom Teller stibitzt hatte. Insgesamt waren die Pizzabrote schnell verspeist und Richard hoffte inständig, dass Megan den Pubbesitzer bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit endlich zu ihrem Tisch herüberwinken würde, doch im Moment schien sie daran wirklich überhaupt kein Interesse zu haben.
»So, die Herren«, erhob sie schließlich erneut das Wort, warf einen verschwörerischen Blick in die Runde, und ließ ihre Finger mit demonstrativer Gelassenheit in ihre Tasche gleiten. Ihm schwante Übles. »Was halten Sie beide denn zum Abschluss des Abends von einer freundlichen Runde Poker?«
Flink wie ein Revolverheld zur Mittagsstunde zog Megan eine abgegriffene Pappschachtel aus ihrem Jackett hervor, aus der die Karten nur so hervorquollen, und legte sie in die Mitte des Tisches, während sie sich mit der anderen Hand genüsslich eine Zigarette zwischen die Lippen schob.
Richard bekam gerade noch so mit, wie Sam irgendeine Bemerkung von sich gab, die sein Gegenüber anscheinend ungeheuer komisch fand, doch der Rest der Konversation verwandelte sich schon bald in ein fernes Murmeln, das sich irgendwo weit weg von seinem Bewusstsein abspielte. Seine Augen waren wie in Trance auf die Schachtel fixiert, die ausgeblichene Kreuzdame in ihrem blau-weißen Rahmen, die ihn mit ihrem süffisanten Schlafzimmerblick drangsalierte, völlig gleichgültig und dann doch wieder verführend, nein, gehässig, und er konnte spüren, wie seine Hände zu zittern begannen und seine Schultern sich verkrampften, die Hitze, die wie ein Tsunami über ihn hinwegschwemmte und der Schweiß auf seiner Stirn …
Nein. Nein, das würde ganz sicher nicht passieren! Richard hatte das alles hinter sich. Er musste nicht der Höflichkeit halber mitspielen, er musste sich keine dummen Sprüche anhören, und vor allen Dingen musste er sich vor niemandem rechtfertigen – schon gar nicht vor Agent Newman! Es gab überhaupt keinen Grund, sich zu schämen. Richard spielte nicht und damit war die Sache erledigt. Punkt, aus, Ende. Es war vollkommen egal, ob er gerade doch wieder eine Glücksträhne haben könnte, und dass er es niemals herausfinden würde, wenn er es nicht versuchte, es spielte keine Rolle, es war egal, es war verdammt noch mal egal …
»Obwohl, wissen Sie was? Ich glaube, ich hab da noch eine viel bessere Idee!«
Es war Megans Stimme, die ihn mit einem Mal wieder aus seinen Gedanken riss, und ihre Hand, die den Blickkontakt zwischen ihm und der Kreuzdame endgültig kappte, indem sie das Päckchen erneut in ihrer Tasche verschwinden ließ.
»Wie wär’s stattdessen mit einer kleinen Partie Pool, um den Wettbewerbsgeist noch ein wenig mehr anzustacheln? Die Drinks gehen natürlich wieder auf mich! Sie beide jämmerlich verlieren zu sehen, ist mir die paar Dollar mehr als wert.«
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Freitag, 19. Oktober 2001 • 23.32 Uhr
Manchmal war es wirklich erstaunlich, wie schnell die Zeit vergehen konnte, wenn man sich amüsierte. Und obwohl Richard sich selbst nicht unbedingt als Billardass bezeichnen würde, hatte er in der vergangenen Runde dennoch die eine oder andere Kugel versenken können. Jedenfalls hatte er sich besser geschlagen als Sam, der trotz minutenlanger Winkelausrechnungen und schier endloser Anekdoten über die Erforderlichkeit der perfekten Stoßkraft eine vernichtende Niederlage hatte einstecken müssen – und das nachdem er beim Versuch, ein besonders heikles Manöver zu vollführen, beinahe den Stoffbezug des Tisches eingerissen hätte, woraufhin Megan vor lauter Lachen ihren nächsten Anstoß in den Sand gesetzt hatte. Nichtsdestotrotz hatte sie die beiden Männer in Grund und Boden gespielt, was bedeutete, dass sie ihnen diesen Sieg in Zukunft garantiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase reiben würde. Aber wenigstens hatte Richard auf diese Weise der Pokersituation aus dem Weg gehen können.
Bei Nacht herrschte in Holden Creek eine völlig andere Atmosphäre als in den frühen Morgenstunden. Nahezu alles, was nicht vom matten, gelblichen Licht der Straßenlaternen erfasst wurde, lag in vollkommener Schwärze, die ihn wie ein schwerer, samtener Schleier umgab. Einzig der Wald, der sich irgendwo hinter den Mauern versteckte wie ein Raubtier im hohen Gras, wirkte zu dieser Tageszeit erschreckend … lebendig. Auch wenn bis auf das leise Klackern seiner Absätze auf dem Kopfsteinpflaster, das in der Stille seltsam verloren klang, kaum etwas zu hören war.
Richard kniff die Augenbrauen zusammen und rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit einem Mal fühlte er sich unheimlich erschöpft, und das, obwohl er heute eigentlich nur von einem Ort zum anderen gelaufen war und anschließend ein paar Akten durchgeblättert hatte. Vielleicht war es ganz gut gewesen, dass er sich vorhin bloß ein Mineralwasser bestellt hatte, ansonsten hätte er morgen früh wahrscheinlich tierische Kopfschmerzen gehabt. Apropos … seinen Vater hatte Richard bisher auch noch nicht zurückgerufen. Leo würde ihm eine ellenlange Predigt halten, wenn er davon erfuhr, dass sein Freund die Sache noch immer vor sich herschob … von seinem alten Herrn einmal ganz zu schweigen. Eigentlich hatte er doch momentan ohnehin keine Zeit für so etwas, oder? Schließlich arbeitete er gerade an einem unheimlich verzwickten Fall, der seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderte. Natürlich war er nicht gerade froh darüber, dass er deswegen vermutlich die Geburtstagsfeier seiner Mutter versäumen würde, aber es war ja nicht so, als hätte er sich freiwillig dafür gemeldet. Richards Familie wusste, wie viel sein Beruf ihm bedeutete und dass Ls Nachricht ihn ausgerechnet jetzt erreicht hatte, war purer Zufall gewesen. Er konnte nichts dafür. Es war nicht seine Schuld. Und das Gespräch mit seinem Vater musste nun wohl oder übel warten.
Ein leises Rascheln ließ Richard ein weiteres Mal aus seinen Gedanken hochschrecken. Sam und Megan waren bereits um die nächste Ecke gebogen, während er abrupt stehenblieb und eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern fixierte, die sich außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaternen befand. Hatte sich dort gerade irgendetwas bewegt? Gut möglich, schließlich waren Waschbären und streunende Katzen auch im Pazifischen Nordwesten keine Seltenheit. Richard musste schlucken, als er sich vorstellte, dass Nathan Gilbert womöglich genau dasselbe gedacht hatte, als er in der Nacht seines Todes auf dem Heimweg gewesen war.
»Hey, ist das nicht unser Zimmermädchen?«, drang Megans Stimme plötzlich an seine Ohren und sorgte dafür, dass Richard sich endlich von der finsteren Gasse losreißen und zu den anderen beiden aufschließen konnte. Tatsächlich, die auffallend nervös wirkende Gestalt mit den wuscheligen, blonden Haaren, die gerade aus der Richtung des Wayside Inn gehuscht kam und irgendwo zwischen dem Schreibwarengeschäft gegenüber und den dahinterliegenden Schatten verschwand, besaß eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit Lily.
»Ganz schön spät, um jetzt erst Feierabend zu machen. Vor allen Dingen, wenn die Pension derzeit nur drei Gäste beherbergt …«, murmelte Sam stirnrunzelnd und blickte dem Mädchen noch eine Weile hinterher. Megan hingegen zuckte lediglich mit den Schultern.
»Vielleicht hat sie uns allen noch ein Stück Schokolade aufs Kopfkissen gelegt«, mutmaßte sie grinsend. »Jetzt kommen Sie aber mal in die Hufe, ich will noch ein paar Stündchen schlafen, bevor wir uns morgen früh wieder mit diesem Augenausquetscher rumschlagen müssen!«
Sam stieß ein leises Seufzen aus. »Sie waren doch diejenige, die auf diese Billardrunde bestanden hat …«
»Und Sie waren derjenige, der nach seinem erbärmlichen Versagen in der ersten Runde unbedingt ’ne Revanche wollte! Die Sie im Übrigen haushoch verloren haben. Schon wieder. Ich dachte, ich erwähn’s vorsichtshalber noch mal, nur falls es Ihnen entfallen sein sollte.«
»Oh, mein Fehler. Ich dachte, Sie hätten inzwischen mitbekommen, dass ich Sie die ganze Zeit über mit Absicht habe gewinnen lassen.«
Die Angesprochene lachte freudlos auf, während Richards Schritte sich unweigerlich beschleunigten, je weiter die Gruppe sich dem Wayside Inn näherte. Die zuvor bereits erwähnten paar Stündchen Schlaf kämen ihm mittlerweile nämlich ebenfalls sehr gelegen.
»Also, ich finde es ja wirklich drollig, wie Sie sich nach dieser katastrophalen Niederlage selbst aufzumuntern versuchen. Aber Kopf hoch, Agent Dunstan, so schlimm ist das doch gar nicht! Es gibt mit Sicherheit auch irgendetwas, was Sie gut können.«
♫ nothing but thieves · honey whiskey