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Wo wir begraben liegen

von Tschuh
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday L Naomi Misora OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
Alle Kapitel
58 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
15.01.2021 6.659
 
AN: Überraschung! :-D Damit habt ihr nicht gerechnet, was?! Ja, ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin. 8D Das Kapitel ist sogar noch richtig druckfrisch, ich hab es erst vor ein paar Tagen fertig geschrieben (mit dem Draft vom September … ganz großes Kino, Willie. Du bist der Beste).

Ich würde zwar gerne versprechen, dass es nächsten Monat endlich normal weitergeht, da ich das Gefühl habe, jetzt tatsächlich wieder etwas in den Rhythmus zurückzukommen, aber es kann auch passieren, dass ich mich vorerst ein bisschen mehr auf mein anderes Hauptprojekt, Another Incident, konzentriere, da bei diesem nur noch vier Kapitel ausstehen und ich den Oschi langsam wirklich beenden will … außerdem würde ich mir jetzt gerne wieder einen Kapitelpuffer anlegen (im Idealfall für beide Geschichten) und ja. Ihr wisst, so was kann dauern. Also kann es auch sein, dass erst im März wieder ein Kapitel kommt. Aber ihr dürft dennoch Hoffnung haben! :-D

Ihr habt mittlerweile wahrscheinlich schon wieder die Hälfte vergessen … sorry noch mal wegen des ungewollten Hiatus. ^^;

Ich hoffe, ihr hattet alle einen guten Rutsch und seid halbwegs gesund geblieben! WWBL nähert sich auch schon seinem ersten Jahrestag … ho boy. (^:



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k a p i t e l   7
SOLIDARITÄT



Freitag, 19. Oktober 2001  •  11.04 Uhr


Ein helles Läuten über der Eingangstür kündigte Sams Eintreffen an, kaum dass dieser den ersten Schritt in die Apotheke gewagt hatte. Durch die dicht beieinanderstehenden, zum Teil deckenhohen Glasschränke, die die Wände säumten und bis oben hin mit kleinen, braunen Fläschchen, Tablettenverpackungen und Pillendöschen vollgestopft waren, wirkte der Laden um einiges beengter, als es von außen den Anschein hatte. Der Tresen am anderen Ende des Raumes war aus demselben dunklen Holz wie die Schränke gefertigt und die Vorderseite noch zusätzlich mit einem edlen Kassettenmuster verziert worden. Eine alte, angelaufene Messingwaage, die inzwischen vermutlich nur noch zu Dekorationszwecken diente, glänzte matt im goldgelben Licht der Deckenlampen und Sam hätte sich ehrlich gesagt nicht gewundert, wenn er hier neben Hustensaft und Rheumasalbe auch ein paar Molchaugen oder zerriebene Alraunenwurzeln bekommen hätte.
  Hinter besagtem Tresen stand jedoch wider Erwarten kein silberbärtiger Hexenmeister mit Hakennase und Spitzhut, sondern eine hochgewachsene Frau, deren große, dunkle Augen und tiefe Lachfältchen ihr einen ausnehmend warmen und herzlichen Ausdruck verliehen.
  »Einen wunderschönen guten Morgen, Sir! Was kann ich für Sie tun?«, hieß sie Sam mit einem einladenden Lächeln willkommen, während dieser näher an den Tresen herantrat und seinen Dienstausweis aus der Manteltasche hervorkramte. Die Geste fühlte sich erschreckend unvertraut an, wie ihm gerade bewusst wurde. Als würde er ein Instrument aufheben, das er seit Jahren nicht mehr gespielt hatte und an dessen Handhabung er sich nur noch dunkel erinnern konnte. Dabei war es kaum einen Monat her, seit er vom Dienst suspendiert worden war und seine Marke vorläufig hatte abgeben müssen.
  »Das kann ich Ihnen sagen, Ma’am. Mein Name ist Special Agent Dunstan, FBI, und ich untersuche derzeit die Mordfälle, die sich jüngst hier in der Gegend ereignet haben. Wären Sie eventuell gewillt, mir diesbezüglich ein paar Fragen zu beantworten?«
  Die unbekümmerte Miene der Apothekerin verblasste sofort, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte, und machte stattdessen einer nahezu erdrückenden Betroffenheit Platz, die eine ebenso tiefe Sorgenfalte zwischen ihren Brauen entstehen ließ.
  »Oh.« Das Unbehagen in ihrer Stimme war nicht zu überhören, auch wenn sie sich sichtlich Mühe gab, es zu kaschieren. »Natürlich, das … das ist gar kein Problem. Fragen Sie einfach drauflos!« Hastig streckte sie ihren Arm über den Tresen aus und schüttelte Sam die Hand. Sie besaß einen warmen, verhältnismäßig zaghaften, wenn nicht sogar schüchternen Händedruck, der sich ein klein wenig familiärer anfühlte, als er vermutlich sollte. Der typische Gestus einer Person, die nicht nur privat viel Wert auf persönliche Nähe legte, sondern auch dazu neigte, diese Haltung auf ihr berufliches Umfeld zu übertragen. Altruistisch, aber anhänglich. »Adelaide Beckett, freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Agent Dunstan! Wie genau kann ich Ihnen denn behilflich sein?«
  »Also, Misses Beckett, Sie haben doch sicherlich-«
  »Miss«, korrigierte die Angesprochene ihn etwas kleinlaut und Sams Blick wanderte wie automatisch in Richtung ihrer linken Hand. Wie unangenehm …
  »Ach so, bitte entschuldigen Sie.« Etwas zerknirscht zwang er seine Mundwinkel nach oben und räusperte sich, bevor er noch einmal von vorne begann. »Miss Beckett, als Apothekerin hatten Sie doch mit Sicherheit schon das eine oder andere Mal mit Doktor Harrison Munroe zu tun, nicht wahr?«
  Seine Gesprächspartnerin nickte. »Das hatte ich in der Tat, ja. Ich pflege im Allgemeinen einen sehr engen Kontakt zur Universitätsklinik, schließlich wohnen hier in Holden Creek ja auch einige ihrer Patienten, die sich bei mir regelmäßig ihre Medikamente abholen müssen. Harrison und ich waren … gute Bekannte, würde ich behaupten.« Offensichtlich, wenn sie ihn sogar beim Vornamen nannte. »Wir haben auch außerhalb der Arbeit hin und wieder ein paar Worte gewechselt, aber sonderlich tiefgreifend ist diese Beziehung nicht gewesen. Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, dass er auf einmal nicht mehr da ist …« Miss Beckett schluckte und fingerte angespannt am Saum ihres Strickpullovers herum. Sams Augen folgten der Bewegung mit regem Interesse.
  »Kannten Sie beide sich schon länger?«
  »Oh ja, eine ganze Weile. Seit ich vor elf Jahren hierhergezogen bin, um genau zu sein. Ich hatte gerade mein Studium beendet und war nach Holden Creek gekommen, um die städtische Apotheke zu übernehmen, nachdem der alte Besitzer seinen Ruhestand angekündigt hatte.« Ein weiteres Lächeln trat auf ihre Lippen, während sie mit dem Ärmel ein paar Staubkrümel vom Tresen wischte. »Ich bin selbst in einer Kleinstadt groß geworden und ich schätze … es hat mich nach all den Jahren wohl einfach wieder hinaus in die Stille gezogen.«
  »Ja, das kann ich verstehen.« Sam musste unwillkürlich schmunzeln, als er an die idyllischen Vorgärten und die verschlungenen Wanderwege von Jackman zurückdachte; das kleine Wäldchen gleich hinter ihrem Haus, in dem er so oft mit seinem Bruder Verstecken gespielt und unzählige Sommerabende zusammen mit Eric in ihrem geheimen Clubhaus aus abgebrochenen Ästen, alten Sperrholzplatten und mottenzerfressenen Picknickdecken verbracht hatte. »Wie sieht es denn mit dem Rest von Doktor Munroes Bekanntenkreis aus? Hat es dort in letzter Zeit irgendwelche Spannungen gegeben? Oder könnten Sie sich eventuell vorstellen, dass einer seiner Kollegen ihm seinen Erfolg nicht gegönnt hat?«
  »Nun ja, sein Handwerk hat Harrison wirklich beherrscht wie kein Zweiter, und dessen war er sich auch bewusst, da ist es wohl nicht verwunderlich, dass er auch den einen oder anderen Neider hatte. Zumindest hat ihn das anscheinend nicht sonderlich gestört. Wie genau sich das geäußert hat, kann ich Ihnen aber leider nicht sagen, fürchte ich. So heiß ist mein Draht zu den Kollegen im Klinikum dann wohl doch nicht.«
  Sam nickte einsichtig und nahm sich vor, der Uniklinik von Pinefield bei Gelegenheit selbst mal einen Besuch abzustatten. Womöglich würden sich ja sogar Williams oder Newman dazu überreden lassen, ihn zu begleiten. Und wenn er ehrlich war, dann war er schon ein wenig neugierig darauf, ob es in einem prestigeträchtigen Krankenhaus wie diesem tatsächlich ähnlich bombastisch zuging wie in einer dieser furchtbar nervenaufreibenden Arztserien aus dem Abendprogramm.
  In diesem Moment erklang das Glöckchen über der Tür ein weiteres Mal, dicht gefolgt von einer ihm unbekannten Stimme. »Morgen, Addie, tut mir leid, dass ich so spät dran bin, hast du schon die- oh!«
  Als Sam sich umwandte, sah er eine schlanke, drahtig gebaute Frau mittleren Alters vor sich, deren kastanienbraunes und an den Seiten schon leicht angegrautes Haar zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt war, und die ihn mindestens ebenso überrascht musterte wie er sie. Der weiße Kittel, den die Dame unter ihrem Mantel trug, sprach außerdem dafür, dass es sich bei ihr um eine Ärztin handelte. Wenn man vom Teufel sprach …
  »Huch, guten Tag.« Hastig strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, während sie ebenfalls auf den Tresen zuschritt, Sam dabei allerdings keine Sekunde aus den Augen lassend. »Ich hoffe, ich störe nicht?«
  »Aber keineswegs!«, beruhigte dieser sie mit einem entwaffnenden Lächeln und streckte auch ihr unverzüglich seine Hand entgegen. »Special Agent Dunstan vom FBI, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
  »Doktor Phyllis Fowler, die Freude ist ganz meinerseits!« Ein angenehm fester Händedruck, kurz und kernig, deutlich geschäftiger als der von Miss Beckett, und sehr charakteristisch für einen Menschen, der viel zu tun hatte und sich nur ungern eine Pause erlaubte. »Also, wenn du gerade beschäftigt bist, Adelaide, dann kann ich auch gerne später wiederkommen-«
  »Ich glaube, das ist gar nicht nötig!«, kam Miss Beckett Sam zuvor, als dieser gerade etwas ähnliches sagen wollte. »Im Gegenteil, falls du gerade einen Moment Zeit hast, könntest du dem Herrn vielleicht sogar behilflich sein. Weißt du, Special Agent Dunstan ist wegen der Serienmorde hier und … ich meine, du hast Harrison ja etwas besser gekannt als ich … vielleicht, falls es dir nicht allzu viel ausmacht, könntest du ja eventuell …« Sie verzog das Gesicht und presste die Lippen aufeinander, dann schüttelte sie den Kopf und senkte beschämt ihren Blick. »Entschuldige, das war etwas taktlos von mir … du hast ja momentan mit Sicherheit genug zu tun.«
  Obwohl Doktor Fowlers Miene sich merklich verdüstert hatte, als der Name des Chirurgen gefallen war, machte sie nicht den Eindruck, als wollte sie der Unterhaltung aus dem Weg gehen. »Ach was, mach dir deswegen mal keinen Kopf. Die paar Minuten werde ich wohl noch aufbringen können, vor allen Dingen, wenn es um Harrison geht.« Sam runzelte unweigerlich die Stirn. Munroe schien ja wirklich mit einer ganzen Menge Leute per Du gewesen zu sein. Doktor Fowler richtete ihr Revers und wandte sich dann wieder ihm zu.
  »Also, dann schießen Sie mal los, Special Agent.«
  Sam räusperte sich erneut und schob die Hände in seine Manteltaschen. »Mich interessiert zurzeit in erster Linie Doktor Munroes soziales Umfeld, speziell seine beruflichen Kontakte und seine Familiensituation. Haben Sie beide miteinander gearbeitet?«
  »Zum Teil schon, ja. Ich bin so etwas wie die Dorfärztin hier, könnte man sagen.« Ein schiefes Lächeln erschien auf den Lippen Doktor Fowlers. »Bevor er den Posten an der Uniklinik angenommen hat, war Harrison ein paar Monate lang als Assistenzarzt bei mir in der Praxis tätig. Ein ziemlicher Karrieresprung, ich weiß, aber das Ganze war auch eigentlich eher eine vorübergehende Notlösung. Die Details erspare ich Ihnen da lieber. Ich würde aber schon sagen, dass wir gute Freunde waren. Harrison hat meine Arbeit immer sehr geschätzt und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mit seinem Tod ist der Welt nicht nur ein großartiger Arzt, sondern auch ein sehr fleißiger und liebenswürdiger Mensch abhandengekommen …«
  Wieder nickte Sam, diesmal allerdings ein wenig zügiger. »Nur um das noch einmal festzuhalten, Doktor Munroe war weder verheiratet, noch hatte er Kinder, richtig? Und geschieden war er auch nicht?«
  »Nein. So viel ich weiß war Harrison überzeugter Junggeselle«, bestätigte Doktor Fowler. »Abgesehen davon hatte er aber auch keinen allzu engen Kontakt zu seiner übrigen Verwandtschaft. Seine Mutter lebt irgendwo im Süden und sein Vater ist vor ein paar Jahren verstorben, das müsste etwa Sechsundneunzig oder Siebenundneunzig gewesen sein, da bin ich mir nicht mehr so sicher … vielleicht war es auch Achtundneunzig?« Sie warf Miss Beckett einen fragenden Blick zu, doch diese zuckte bloß mit den Schultern.
  »So um den Dreh rum.«
  »Na ja, jedenfalls ist Harrison nie wirklich ein Familienmensch gewesen. Er war eher die Sorte Mann, der mit seiner Arbeit verheiratet war, wenn Sie wissen, was ich meine.«
  Sam zog eine Augenbraue nach oben, doch bevor er sich näher dazu äußern konnte, fuhr die Ärztin bereits fort.
  »Wie gesagt, ich habe Harrison auch als Freund sehr geschätzt, und verstehen Sie mich nicht falsch, er war ein guter Mann, aber sein Ego … nun ja, sagen wir mal, er hat wirklich ein ausgesprochen gesundes Selbstbewusstsein besessen. Wer so ein begabter Mediziner und dazu auch noch derart charmant und gutaussehend ist, der weiß diese Vorteile in der Regel auch zu nutzen … vor ein paar Jahren hatte ich sogar mal eine Verabredung mit ihm, und ich will nicht behaupten, dass er sich keine Mühe gegeben hat, ganz im Gegenteil, das Essen war vorzüglich und auch der Wein hat sicherlich ein Vermögen gekostet, aber ich habe im Laufe des Abends schnell gemerkt, dass dieser Mann nichts für mich ist, ich bin ja bei den ganzen Studienanekdoten kaum zu Wort gekommen!«
  »Das klingt … anstrengend.« Sam rang sich zu einem etwas gequälten Lächeln durch und konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie auch Miss Beckett sich langsam wieder aufrichtete.
  »Ich bin gleich zurück«, murmelte sie so leise, dass selbst Sam zugeben musste, dass er sie wahrscheinlich einfach überhört hätte, wenn er nicht gerade sowieso in ihre Richtung geblickt hätte, und verschwand im Hinterzimmer der Apotheke. Doktor Fowler seufzte und massierte sich niedergeschlagen den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger.
  »Ich kann mir wirklich beim besten Willen nicht vorstellen, wer dem armen Harrison so etwas Furchtbares antun würde … ich meine, natürlich gab es hier und da auch ein paar Leute, mit denen er nicht so gut zurechtgekommen ist, aber nur weil man jemanden etwas unsympathisch findet, begeht man doch nicht gleich einen Mord, oder?«
  »Sie werden lachen, Doktor, aber es wurden schon Menschen aus deutlich unwesentlicheren Gründen ermordet«, gab Sam mit einem müden Schulterzucken zu bedenken. Doktor Fowler zog eine bittere Grimasse.
  »Gibt es denn schon irgendwelche Hinweise, in welcher Beziehung die Taten zueinander stehen? Ich meine, Harrison wäre jetzt nicht unbedingt die erste Person gewesen, die ich mit den Griffiths in Verbindung gebracht hätte, wenn ich ehrlich sein darf … ich schätze, deswegen hat sein Tod mich auch so …« Sie presste die Lippen aufeinander und schien nach Worten zu ringen. »Schockiert? Womit ich nicht sagen will, dass Danas und Mister Gilberts Tode mich nicht schockiert haben, ich meine bloß-«
  »Keine Sorge, ich verstehe das. Vielen Menschen fällt es schwer, ihre Gefühle in einer derartigen Situation angemessen auszudrücken, insbesondere dann, wenn sie dem Opfer selbst nahegestanden haben. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, das ist bei weitem nicht das erste Mal, dass ich so etwas miterlebe.« Sam bemühte sich um eine möglichst aufmunternde Miene. »Was die Hinweise betrifft, ich fürchte, dazu kann ich Ihnen im Augenblick noch nicht allzu viel sagen. Mein Team und ich sind erst seit kurzem hier, aber seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um den Fall so bald wie möglich aufzuklären und den Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.«
  Kaum hatte er seinen Satz beendet, öffnete sich die Hinterzimmertür erneut und Miss Beckett trat hervor, in den Armen einen schwer aussehenden Karton tragend, der großzügig mit Paketband umwickelt worden war und auf dessen Seiten die Aufschrift ›VORSICHT, GLAS‹ prangte. Das leise Klirren, das jeden ihrer Schritte begleitete, unterstrich diese Warnung nur.
  »So, das sollte vorerst ausreichen«, meinte die Apothekerin, als sie um den Tresen herumging, um Doktor Fowler die Ware zu überreichen. »Soll ich dir beim Tragen helfen?«
  »Nein, lass nur, ich schaff das schon alleine! Die paar Meter bis zum Fahrradständer werde ich ja wohl noch auf mich nehmen können.«
  Miss Beckett schmunzelte. »Na gut, wie du meinst. Aber renk dir nichts aus!«
  »So alt bin ich nun auch wieder nicht!« Ein Ächzen entfuhr Doktor Fowler, als die andere Frau ihr das Paket in die Hand drückte, und Sam konnte sehen, wie ihr gesamter Körper unter dem Gewicht zusammensackte, auch wenn sie ihr Bestes gab, um sich nichts davon anmerken zu lassen. »Also, vielen Dank noch mal, wir sehen uns dann morgen früh. Und Ihnen auch einen schönen Tag, Special Agent! Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen!«
  »Das konnten Sie in der Tat, Doktor. Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe-«
  »Nein, nein, alles in bester Ordnung!«, schnaufte diese, während sie die Eingangstür mit dem Fuß aufstemmte und gleichzeitig mit der Schulter dagegendrückte. »Machen Sie’s gut!«, waren ihre letzten Worte, bevor das Klingeln ein weiteres Mal ertönte und Sam und Miss Beckett allein in der Apotheke zurückblieben. Die darauffolgende Stille war beinahe schon etwas unangenehm.
  Der Ermittler war kurz davor, sich ebenfalls für heute zu verabschieden, als ihm doch noch etwas einfiel. »Nun, Miss Beckett … eine Frage hätte ich da noch an Sie. Was wissen Sie über Thiopental?«
  Die Angesprochene legte die Stirn in Falten und schürzte nachdenklich die Lippen. »Wenn ich mich nicht irre, dann handelt es sich dabei um ein Narkotikum aus der Klasse der Barbiturate. Findet unter anderem in der Anästhesie Verwendung, und in einigen Staaten auch bei gesetzlichen Hinrichtungen, als Vorbereitung auf die tödliche Injektion. Wieso … fragen Sie?«
  »Die Opfer wurden höchstwahrscheinlich mithilfe dieses Medikaments getötet.« Miss Beckett sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und Sam überkam sofort das Bedürfnis, weiter ins Detail zu gehen, doch er riss sich am Riemen. »Haben Sie zufällig eine Ahnung, wo man ein solches Mittel als einigermaßen unbedarfter Normalbürger auftreiben könnte?«
  »Also, für irgendeine dahergelaufene Privatperson ohne entsprechende Beziehungen in diesem Bereich dürfte es ausgesprochen schwierig werden, an so etwas wie Thiopental heranzukommen, da bin ich mir ziemlich sicher.« Erneut begannen ihre Finger unbemerkt in Richtung ihres Ärmels zu wandern. »Wahrscheinlich kann Ihnen die Belegschaft der Universitätsklinik da eher weiterhelfen als ich. Diese Situation ist ja schon etwas spezieller. Ich weiß nicht, ob sie dort Thiopental bei der Narkose verwenden, aber … an Ihrer Stelle würde ich mich da einfach mal ein wenig umhören. Auch was Harrison selbst betrifft.«
  »Das werde ich, vielen Dank.« Ihre Antwort bestätigte Sam nur noch mehr in seinem Vorhaben, Munroes Arbeitsplatz in den kommenden paar Tagen etwas gründlicher zu durchleuchten. Er nickte Miss Beckett zum Abschied zu, straffte die Schultern und machte sich abermals zum Aufbruch bereit, als sein Blick wie zufällig an einem der Regale hinter dem Tresen hängenblieb. Die auffallend dunkelblaue Tablettenverpackung, die jahrelang auf seinem Nachtschränkchen gelegen hatte, drängte sich förmlich in sein Sichtfeld, provokant, ja nahezu bohrend, als wollte sie ihn verhöhnen. Ein ständiger Begleiter in der nach wie vor schwersten Zeit seines Lebens und darüber hinaus – bis die pflanzliche Wirkung des freiverkäuflichen Medikaments irgendwann nicht mehr ausgereicht und sein Arzt ihm ein neues verschrieben hatte. Unweigerlich biss Sam die Zähne aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Weswegen war er überhaupt hierhergekommen? Nur um ein nettes Gespräch mit der Apothekerin zu führen? Wie von selbst verschwanden seine Finger erneut in seinem Mantel und umschlossen den zerknitterten Papierschnipsel darin wie eine Schraubzwinge.
  »Bevor ich mich wieder auf den Weg mache … es gäbe da vielleicht doch noch etwas, was Sie für mich tun könnten.« Je tiefer seine Nägel sich in die verschwitzten Handflächen gruben, desto mehr wuchs seine Resignation. Einmal ausgesprochen, konnte er die Frage nicht mehr zurücknehmen. »Nur für den Fall, dass Sie gerade etwas davon auf Lager haben …« Deutlich hektischer, als er eigentlich vorgehabt hatte, legte er den Zettel vor sich auf dem Tresen ab. »Es eilt nicht wirklich, ich dachte nur … ich dachte, fragen kostet ja nichts, richtig?«
  Miss Beckett überflog den Inhalt ein paarmal, nickte langsam und hob anschließend erneut ihren Blick. Ein unerwartet sanftmütiger Ausdruck, der von eindeutigem Verständnis sprach, lag in ihren Augen. »Schlafprobleme, hm? Das kenne ich nur zu gut …« Sie seufzte und schob das Stück Papier wieder zu ihm zurück. »Ohne gültiges Rezept kann ich aber leider nichts für Sie tun, fürchte ich. Was ich Ihnen allerdings anbieten könnte, ist, dass Sie kurz zu Phyllis in die Praxis rübergehen und sich dort ein neues Rezept ausstellen lassen. Die ist hier gleich um die Ecke und ich bin mir sicher, dass Phyllis Ihnen da gerne behilflich sein wird, wenn Sie ihr das Problem schildern. Das ist zwar ein bisschen umständlich, aber normalerweise dürfte das keine Viertelstunde in Anspruch nehmen.«
  Sam rümpfte die Nase und ließ den Zettel schweren Herzens wieder in seiner Tasche verschwinden. So viel zu seiner unfassbar genialen Idee, sich ›für den Fall der Fälle‹ ein Notfallrezept von seinem Hausarzt mitgeben zu lassen. »Das verstehe ich natürlich.« Er schluckte seinen Unmut notgedrungen herunter und zwang sich erneut ein Lächeln auf. »Ich werde über Ihr Angebot nachdenken.«



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Freitag, 19. Oktober 2001  •  11.18 Uhr


Megan war sich noch immer nicht ganz sicher, ob es nun der widerliche Muff in Tim’s Pub oder das mehr als unbequeme Gespräch mit Craig Griffith gewesen war, das dafür gesorgt hatte, dass ihr so dermaßen der Schädel dröhnte, doch im Grunde genommen war das auch egal. Hauptsache, sie war endlich wieder draußen an der frischen Luft. Das Wetter schien inzwischen ebenfalls etwas milder geworden zu sein, sodass ihr wenigstens nicht mehr bei jedem Schritt die Haare ins Gesicht flogen.
  Auch wenn sie es nicht gerne tat, musste Megan leider zugeben, dass diese Unterhaltung längst nicht so aufschlussreich gewesen war, wie sie sich erhofft hatte. Dabei war sie sich anfangs so sicher gewesen! Mister Griffith stellte das perfekte Bindeglied zwischen den ersten beiden Opfern dar, und sein temperamentvolles Auftreten machte ihn noch zusätzlich verdächtig – wer kannte ihn nicht, den jähzornigen Ehemann, dem im Eifer des Gefechts die Hand ausrutschte und der sich anschließend mit den tollsten Vertuschungsaktionen aus der Affäre zu ziehen versuchte? –, aber war das nicht alles ein klein wenig zu weit hergeholt? Im Endeffekt konnte er auch einfach bloß von der Situation überfordert gewesen sein und die Schnauze voll davon gehabt haben, ständig von allen Seiten beschuldigt zu werden. Wenn sie ehrlich war, dann hätte sie wahrscheinlich genauso reagiert. Und momentan blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass Williams und Dunstan bei ihrem Befragungsrundgang mehr Glück gehabt hatten als sie.
  Während Megan so in Gedanken versunken war, die Hände in den Jackentaschen vergraben und den Blick grübelnd auf den Bürgersteig gerichtet, bemerkte sie nicht, wie jemand direkt vor ihr mit zügigen Schritten um die Häuserecke bog und prallte prompt mit der Person zusammen. Glücklicherweise konnten sich beide auf den Beinen halten und auch die bis zum Rand gefüllten Einkaufstüten ihres Kollisionspartners schienen, zumindest augenscheinlich, keinen Schaden genommen zu haben, doch leider machte das die Situation nicht weniger unangenehm.
  »Können Sie nicht besser aufpassen?!«, fuhr der kleine, grimmig dreinschauende Mann sie sichtlich gereizt an, während er hektisch an seinem Pelzkragen herumzupfte, als hätte sie ihn gerade am Schlafittchen gepackt und im hohen Bogen über die Straße geschleudert, statt aus Versehen mit ihm zusammenzustoßen. Und ehrlich gesagt spielte sie im Augenblick tatsächlich mit dem Gedanken, das auch noch auszuprobieren.
  »Witzig, ich wollte Sie gerade dasselbe fragen«, knurrte Megan zwischen ihren Zähnen hervor. »Vielleicht rasen Sie beim nächsten Mal nicht mit so einem Affenzahn um die Kurve, es hat nämlich seine Gründe, warum man dabei normalerweise sein Tempo drosselt, das gilt nicht nur fürs Autofahren …«
  »Und vielleicht nutzen Sie beim nächsten Mal einfach Ihre Augen und fassen sich zuerst an die eigene Nase, bevor Sie anfangen, unhöflich zu werden!«
  Megan war kurz davor, diesem unverschämten Kotzbrocken eine verbale Abreibung zu verpassen, die sich gewaschen hatte, als sie sich mit einem Mal wieder an Mister Griffiths Abschiedsworte erinnerte. Der Kerl war bisher der Einzige, den sie an diesem Vormittag mit Einkaufstaschen in der Stadt hatte herumstromern sehen …
  »Sagen Sie mal … Sie sind nicht zufällig Glenn Townsend?«
  Die Verwunderung, ja beinahe Bestürzung in seinen Augen, sowie die Art und Weise, wie seine Züge sich verhärteten, kaum dass sie den Namen ausgesprochen hatte, reichte Megan als Antwort völlig aus. Und sie versuchte gar nicht erst, das selbstzufriedene Feixen auf ihrem eigenen Gesicht zu verbergen.
  »W-wer will das wissen?«
  »Special Agent Newman vom FBI.« Megan ließ sich jede einzelne Silbe auf der Zunge zergehen, als wäre sie eine belgische Nougatpraline, und zog mindestens ebenso genüsslich ihre Dienstmarke aus der Tasche, um grinsend damit vor seiner Nase herumzuwedeln. »Ich hab schon so einiges über Sie gehört, Mister Townsend. Ihr Ruf eilt Ihnen, äh … voraus.« Wenn der Zufall es heute schon so gut mit ihr meinte, dann konnte sie sich die Situation ja wenigstens zunutze machen und nebenbei auch ein paar Nachforschungen anstellen, ob dieser Townsend wirklich so schräg war, wie alle behaupteten. Bisher machte er jedenfalls einen überraschend sozialtauglichen Eindruck und auch sein Erscheinungsbild war nicht unbedingt das, was Megan sich unter einem einsiedlerischen Sonderling vorstellte, der jeglichen Kontakt zur Außenwelt mied und einen geheimen Folterkeller unter seiner Veranda versteckte. Aber der Schein konnte ja bekanntlich trügen. »Stimmt es, dass Sie derjenige waren, der im vergangenen August die erste Leiche gefunden hat?«
  »Ja«, bestätigte er knapp und klemmte sich umständlich eine seiner Tüten unter den Arm. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss weiter, zuhause wartet nämlich noch einiges an Arbeit auf mich-«
  Er war gerade im Begriff, sich an Megan vorbeizudrängeln, als diese einen großen Schritt zur Seite trat und ihm so den Weg versperrte. »Tatsächlich? Was machen Sie denn so beruflich, wenn ich fragen darf?«
  Townsend ließ die Schultern sinken und stöhnte hörbar auf, doch Megan kümmerte das nicht im Geringsten. Der konnte so viel Theater machen, wie er wollte, am Ende blieb ihm ja sowieso nichts anderes übrig, als sich mit ihr zu unterhalten.
  »Ich bin Schriftsteller. Ich schreibe Horrorromane«, erklärte er widerwillig, dem Bürgersteig über ihre Schulter hinweg einen nahezu sehnsüchtigen Blick zuwerfend. »Und wenn ich mich nicht bald wieder an meine Schreibmaschine setze, dann war’s das für heute mit der Inspiration und mein Flow ist endgültig ruiniert. Wenn Sie also so freundlich wären-«
  »Oh, das klingt aber interessant!« Megan dachte überhaupt nicht daran, ihn vorbeizulassen, und ein geradezu wölfisches Grinsen trat nun auf ihre Lippen, während sie unschuldig die Arme hinter dem Rücken verschränkte. Spätestens seit einer ihrer Collegeprofessoren damals den gesamten Kurs dazu verdonnert hatte, seinen unfassbar einschläfernden Roman über einen – wer hätte es gedacht? – hochintelligenten, schwer sensiblen und furchtbar missverstandenen Ethikprofessor zu lesen, der alle paar Kapitel mit einer neuen sexy Studentin voller dunkler Geheimnisse im Bett landete, hatte sie von dieser Zunft ein ziemlich klares Bild. »Ich hab gehört, Sie sind erst vor kurzem hierhergezogen und hausen irgendwo da drüben auf der anderen Seite des Baches?« Sie machte eine vage Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. »Muss ja unheimlich idyllisch sein, so mitten im Nirgendwo … friedlich, ungestört und niemand hört einen schreien … also, rein theoretisch.«
  Mister Townsend kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Sagen Sie mal, wollen Sie damit irgendetwas andeuten?«
  »Was, nein, so etwas würde mir im Traum nicht einfallen!« Megan hob die Hände wie zur Kapitulation. »Also, was sagten Sie, wie lange wohnen Sie schon hier?«
  »Ich muss mir diese Anschuldigungen nicht anhören.«
  »Ach, jetzt seien Sie doch kein Frosch, Townsend. Ich wollte doch nur etwas leichte Konversation betreiben!«
  Megan konnte das Knirschen seiner Zähne förmlich hören. »Ein knappes Dreivierteljahr. Und wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle zur Seite gehen, rufe ich die Polizei.«
  Die Worte ›Ich bin die Polizei‹ lagen Megan auf der Zungenspitze, doch glücklicherweise hatte sie genügend Selbstbeherrschung, um sie fürs Erste wieder herunterzuschlucken und gab stattdessen mit einer großzügigen Handgeste den Weg frei.
  »Dann will ich Sie natürlich nicht weiter aufhalten.« Ihre Stimme klang zuckersüß. »Wir können dieses Pläuschchen ja auch gerne ein andermal weiterführen. Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich in den kommenden Tagen mal mit meinen Kollegen bei Ihnen vorbeischneie, oder?«
  »Wenn es sein muss!« Und mit dieser Verabschiedung schlängelte er sich endgültig an der Ermittlerin vorbei und suchte im wahrsten Sinne des Wortes das Weite. Megan blickte ihm noch einen Moment lang hinterher, bis er letztendlich hinter der nächsten Mauerecke verschwand, und schüttelte mit einem leisen Seufzen den Kopf. War sie vielleicht doch etwas zu aufdringlich gewesen? Unsinn, Townsend hatte sich das selbst zuzuschreiben, wenn er sie wegen eines kleinen Missgeschickes gleich so anschnauzte. Da musste er sich nicht wundern, wenn sie ein bisschen ungemütlich wurde. Und wer weiß, vielleicht inspirierte ihn diese Begegnung ja sogar dazu, sie als Bösewicht in seinem nächsten Roman zu verewigen.



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Freitag, 19. Oktober 2001  •  11.25 Uhr


Als sie heute Morgen auf dem Weg zur Leichenhalle gewesen waren, hatte die Kirche, die sich gleich neben dem Friedhof befand, noch in dichtem Nebel gelegen, doch leider musste Richard zugeben, dass er sich trotz des klareren Wetters noch immer nicht sehr viel wohler hier fühlte. Ohne das nahezu gespenstisch anmutende Dämmerlicht, das die gesamte Umgebung zum Glühen brachte, wirkten die ausgeblichene Verkleidung im Kolonialstil und das spitz zulaufende Glockentürmchen, das wie eine Nadel in den Himmel ragte, zumindest nicht mehr allzu bedrohlich. Das flaue Gefühl in seinem Magen jedoch blieb, als er die schwere, hölzerne Doppelflügeltür letztendlich aufdrückte und das Gotteshaus betrat.
  Drinnen war es verhältnismäßig dunkel und kühl, und jeder einzelne seiner Schritte hallte unheimlich von den Wänden wider. Es kam ihm beinahe so vor, als würde die Akustik sogar das Rasseln seiner Atemzüge verstärken, doch das bildete er sich wahrscheinlich nur ein.
  Ganz so, wie man es an einem Freitagvormittag erwarten würde, war die Kirche leer. Links und rechts von ihm waren ein paar schmale Sitzbänke aufgereiht, deren Polsterbezüge teilweise schon etwas zerschlissen aussahen, und vorne stand der Altar, schwer und wuchtig wie ein Felsbrocken, um den man das ganze Konstrukt herumgebaut hatte, weil man ihn nicht aus dem Weg bekam.
  Schon als Kind hatten alte Kirchen wie diese irgendwie bedrückend auf ihn gewirkt, auch wenn er nie wirklich hatte festmachen können, woran das lag. Vielleicht waren es die hohen Decken, die er nicht einmal mit ausgestreckten Armen hatte berühren können, während er auf Papas Schultern gesessen hatte, vielleicht die dröhnende Stimme des Pastors, deren ewig monotoner Singsang ihn an so manchem Weihnachtsabend bis nachhause verfolgt hatte, aber vielleicht waren es auch einfach bloß die Erinnerungen, die er damit verband. Das leise, blecherne Schluchzen seiner Mutter und die festgefrorene Miene seines Vaters, der seltsam betäubende Druck einer fremden Hand auf seiner Schulter, und all die mitleidigen Blicke, die sich wie rostige Nägel unter seine Haut bohrten.
  »Mein herzliches Beileid, Mister Williams.«
  Immer und immer wieder hagelten die Worte auf ihn ein, so lange, bis sie ihm irgendwann in den Ohren klingelten. Bis sie nicht einmal mehr klangen wie richtige Worte. Das fortwährende Summen, das ihn wie ein aufgebrachter Wespenschwarm umgab, wurde immer unerträglicher, mit jeder weiteren Stimme, die dazukam.
  »Mein herzliches Beileid, Misses Williams.«
  Und dabei wollte er doch einfach nur in Ruhe gelassen werden, sich zuhause in seinem Bett verkriechen und die ganze Sache vergessen, als wäre es nichts als ein furchtbarer Albtraum, aus dem er jeden Moment-
  »Kann ich Ihnen helfen?«
  Augenblicklich fuhr Richard herum – wann würde das endlich aufhören? – und stellte fest, dass es der Pfarrer von gestern war, der vor ihm stand und ihn mit einem gutmütigen Lächeln bedachte. Das dumpfe, gräuliche Licht, das durch die schmalen Fenster in den Raum fiel, ließ sein Gesicht noch um einiges blasser wirken als bei ihrem letzten Treffen, während seine kantige Silhouette sich unten mit den Schatten vermischte.
  »Ah, Sie sind es.« Der Pastor nickte gemächlich, als er Richard wiedererkannte, noch bevor dieser überhaupt die Gelegenheit dazu hatte, seine Frage zu beantworten. »Sind Sie gestern wohlbehalten beim Rathaus angekommen?«
  Richard schluckte den Kloß, der sich zuvor unbemerkt in seiner Kehle gebildet hatte, grimmig herunter und straffte die Schultern. »Ja, das bin ich tatsächlich. Vielen Dank noch einmal für Ihre Hilfe.« Es gefiel ihm nicht, wie laut und unangenehm schneidend seine eigene Stimme von den hölzernen Deckenbalken widerhallte, während die seines Gegenübers beinahe schon einem Flüstern gleichkam. »Ich fürchte allerdings, dass ich Ihre wertvolle Zeit heute ein zweites Mal in Anspruch nehmen werden muss. Mein Name ist Special Agent Williams vom FBI und es gibt da ein paar Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie … sind doch Mister Thomas Cameron, richtig?«
  Der Pastor hob die Augenbrauen und gab ein einsichtiges Brummen von sich. »Selbstverständlich, ich werde tun, was ich kann. Aber nennen Sie mich ruhig Father Thomas, alles andere klingt so förmlich.«
  Richard rümpfte ungerührt die Nase, räusperte sich und kramte ein weiteres Mal Kugelschreiber und Notizblock aus seiner Manteltasche. »Also schön. Wie würden Sie einem Außenstehenden wie mir denn spontan Ihre Gemeinde beschreiben? Soweit ich mitbekommen habe, ist Holden Creek ja zum Großteil katholisch geprägt. Würden Sie die Gesamtatmosphäre als eher konservativ einschätzen?«
  Father Thomas runzelte die Stirn und schien einen Moment lang über diese Frage nachdenken zu müssen. »Nun, ›konservativ‹ ist eigentlich nicht das Wort, das ich verwenden würde … ich bin mittlerweile seit fast zehn Jahren Pastor von Holden Creek und habe mich bisher immer dafür eingesetzt, das Weltbild unserer Gemeinde auch im modernen und integrativen Sinne zu formen, dabei unzeitgemäße Gepflogenheiten nach und nach auszuräumen und den christlichen Glauben auf diese Weise auch für junge Menschen wieder attraktiv zu machen. Wissen Sie, an Gott zu glauben und mein eigenes Denken und Handeln nach den Lehren von Jesus Christus auszurichten, bedeutet für mich nicht, dass ich mich selbst in den Mittelpunkt stellen muss, sondern vor allen Dingen auch ein offenes Ohr für meine Mitmenschen zu haben. Wir können so viel voneinander lernen, wenn wir es nur einmal wagen, über den Tellerrand hinauszublicken! Und dazu gehört auch, dass wir all die unterschiedlichen Interpretationen und Sichtweisen auf diese Lehren berücksichtigen und uns nicht vor der Weisheit unserer Nachbarn verschließen. Ohne generationsübergreifenden, sowie kulturellen Austausch ist unsere Gesellschaft schlicht und ergreifend zum Aussterben verurteilt. Sowohl unsere moralischen, als auch unsere materiellen Wertevorstellungen haben sich im Laufe der vergangenen zweitausend Jahre grundlegend verändert, natürlich kann man da nicht mehr erwarten, dass die Bibel einen akkuraten Leitfaden für den modernen Christen darstellt. Eine alleinerziehende Mutter, der ihre beruflichen Ambitionen ebenso wichtig sind wie ihre Familie, ein Mann, der mit einem anderen Mann zusammenlebt, all diese Dinge sind für mich Meilensteine gesellschaftlicher Vielfalt, ein weiterer Beweis dafür, wie zuträglich Selbstverwirklichung für unser Seelenheil ist, und kein niederträchtiger Verrat an Gottes Wort. Dass ich mit dieser Ansicht in der katholischen Kirche auf einsamem Posten kämpfe, ist mir durchaus bewusst. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die kritische Auseinandersetzung mit unserem Glauben ein fundamentaler Bestandteil unserer Beziehung zu Gott sein sollte. Und dabei sind regelmäßige Kommunikation und gegenseitiges Verständnis für die Bedürfnisse des anderen ebenso wichtig wie unter uns Menschen.«
  Auch wenn es ihm wirklich gewaltig missfiel, musste Richard zugeben, dass Father Thomas’ Worte nicht nur erschreckend einleuchtend klangen, sondern ihm sogar in gewisser Weise imponierten. Er selbst konnte vom Starrsinn einiger Katholiken ein Liedchen singen und diejenigen, die sich innerhalb der Gruppe gegen ebendiesen aussprachen, konnten sich in der Regel nicht lange in ihrer Position halten. Das war unter anderem auch der Grund dafür gewesen, dass er sich mittlerweile von diesem Glauben distanziert hatte, obwohl er selbst katholisch getauft worden war. ›Ein Mann, der mit einem anderen Mann zusammenlebt …‹ Es gehörte schon einiges an Entschlossenheit und Mumm dazu, als Pastor eine solche Einstellung zu vertreten und sich auch tatsächlich dafür einzusetzen.
  »Das ist ja alles schön und gut, aber wie hat die Gemeinde denn auf Ihre … ich nenne es mal fast schon revolutionären Standpunkte reagiert? Ich gehe davon aus, dass insbesondere die älteren Bürger von Holden Creek nicht unbedingt Feuer und Flamme für derart unkonventionelle Perspektiven gewesen sind, oder liege ich da falsch? Gibt es unter den Gläubigen hier irgendjemanden, den Sie als auffällig oder vielleicht sogar … fanatisch beschreiben würden?«
  »Nein, das würde ich nicht sagen. Natürlich gibt es ein paar Einzelfälle, die nach wie vor lieber an ihren alten Weltbildern festhalten wollen, aber man kann es schließlich nicht jedem recht machen. Damit muss man sich auch als Pastor arrangieren können. Vor allem Misses Rogers lässt selten eine Gelegenheit aus, um mich daran zu erinnern, wie sehr sie den alten Father Clive vermisst und wie viel besser ihr die Gottesdienste früher gefallen haben, aber darüber hinaus kann ich mich eigentlich nicht beklagen. Die meisten Menschen hier in Holden Creek haben ein gutes Herz und sind erstaunlich weltoffen, wie ich damals feststellen durfte. Das ist in einer derart abgeschiedenen Kleinstadt wie dieser nicht selbstverständlich. Und wenn ich ehrlich bin … dann würde ich meine Gemeinde auch für nichts auf der Welt wieder hergeben.«
  Richard nickte, während er sich weiterhin die wichtigsten Stichpunkte notierte und runzelte nachdenklich die Stirn. »Sagen Sie, Mister … Father Thomas, Sie werden sicher inzwischen mitbekommen haben, dass hinter den Morden, die hier in den vergangenen Monaten verübt wurden, sehr wahrscheinlich eine religiöse Motivation steht. Mir ist bewusst, dass das mit Sicherheit kein einfaches Thema für Sie ist, aber haben Sie irgendeine Vorstellung davon, welche Hintergründe dabei eine Rolle spielen könnten? Besonders die Rosenkränze, die wir jeweils in dreifacher Ausführung bei den Opfern gefunden haben, werfen derzeit noch Fragen auf.«
  Ein dunkler Schatten legte sich über das sonst so sanftmütige Gesicht des Pastors, kaum dass Richard die Worte ausgesprochen hatte, und seine Lippen formten sich zu einem schmalen, zusammengepressten Strich.
  »Wer auch immer das getan hat, könnte vom christlichen Glaubensgrundsatz nicht weiter entfernt sein.« Die unerwartete Kälte, die mit einem Mal in seine Stimme getreten war, ließ Richard buchstäblich die Nackenhaare zu Berge stehen. »Ich halte diese Verbrechen für zutiefst abscheulich und eine derartige Perversion des Glaubens für ebenso abstoßend, wie tragisch. Es schockiert mich nach wie vor, dass es tatsächlich Menschen gibt, die davon überzeugt sind, solche Gräueltaten könnten auch nur ansatzweise im Sinne Gottes sein.« Er schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch, bevor er weitersprach. »Und was die Rosenkränze betrifft … ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht viel weiterhelfen, Agent Williams. Ich wage es ja nicht einmal, mir vorzustellen, was im Kopf eines derart kranken Menschen vor sich geht, geschweige denn welchen Sinn er in einem solchen Aufwand sieht.« Nun legte auch er die Stirn in Falten. »Das Einzige, was ich mir vorstellen könnte, wäre … womöglich hat die Anzahl der Rosenkränze irgendetwas mit der heiligen Dreifaltigkeit zu tun? Vielleicht sollen sie ja so etwas wie eine Grabbeigabe darstellen. Aber das ist nur Spekulation, denn wie bereits erwähnt werden diese Symboliken von jedem Gläubigen anders interpretiert, auch wenn dieses spezielle Exemplar die Botschaft unseres Herrn nun wirklich vollkommen verfehlt hat … tut mir leid, ich fürchte, das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.«
  »Sie haben getan, was Sie konnten«, versicherte Richard ihm mit einem beschwichtigenden Nicken und notierte sich auch diese Antwort. »Wir sind dankbar für jeden möglichen Hinweis, gerade bei einem so rätselhaften Fall wie diesem.«
  Auch wenn er mittlerweile das Gefühl hatte, Father Thomas anfangs zu Unrecht verurteilt zu haben, bedeutete das noch lange nicht, dass er ihm traute. Aber eventuell lag das auch einfach nur daran, dass er ein Geistlicher war. Oder an seiner ungewöhnlich eindrucksvollen Statur. Nicht genug damit, dass Richard die ganze Zeit über im wahrsten Sinne des Wortes zu ihm aufsehen musste, für jemanden, dessen Beruf eigentlich nur darin bestand, feierliche Gesänge anzustimmen und Gottes Wort zu verkünden, besaß Father Thomas wirklich erstaunlich breite Schultern. Doch dass er diesen durchtrainierten Bizeps dazu gebrauchte, um Leichen zu schleppen und wahllos auf sie einzustechen, war nun wirklich etwas an den Haaren herbeigezogen. Zumindest, wenn man die derzeitige Beweislage betrachtete. Außerdem hatte Father Thomas bisher hervorragend kooperiert. Und so lange es nichts gab, woran er diese Behauptungen festmachen konnte, waren sie ohnehin nichts weiter als Vorurteile.
  »Ich … ich denke, das sollte es vorerst gewesen sein.« Richard räusperte sich ein paarmal, um den Kopf wieder freizubekommen und seinen Blick endlich von den muskulösen Oberarmen seines Gegenübers zu lösen. »Vielen Dank für das Gespräch, Father Thomas. Ich werde mich bei Ihnen melden, falls ich noch weitere Fragen haben sollte. Fürs Erste will ich Sie aber nicht weiter stören.«
  »Aber nicht doch, ich bin froh, wenn ich Ihnen eine Hilfe sein konnte.«
  Richard verstaute seinen Kugelschreiber erneut in der Innentasche seines Mantels und fuhr sich durch die Haare. »Also, dann … wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.« Er hatte sich bereits wieder auf den Weg Richtung Tür gemacht, als die Stimme des Pfarrers ein letztes Mal an seine Ohren drang und ihm aus unerfindlichen Gründen einen Schauer über den Rücken jagte.
  »Das wünsche ich Ihnen auch, Agent Williams. Und mögen Sie Gottes Wege auch in Zukunft nicht aus den Augen verlieren.«
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