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Wo wir begraben liegen

von Tschuh
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteMystery, Thriller / P18 / Mix
Beyond Birthday L Naomi Misora OC (Own Character)
15.11.2019
15.09.2023
40
227.196
13
Alle Kapitel
58 Reviews
Dieses Kapitel
3 Reviews
 
15.09.2020 7.807
 
▬▬ EDIT 11.11.20: Ähm … also, wie’s aussieht, wird das Novemberupdate wohl auch ausfallen. Es tut mir wirklich leid. Das Ganze fuckt mich wahrscheinlich selber um einiges mehr ab als euch, glaubt mir, ich hätte WIRKLICH gerne ein Kapitel zum Einjährigen rausgehauen, aber jedes Mal, wenn ich den aktuellen Draft öffne, überkommt mich einfach nur Stress. Es ist nicht mal so, dass ich nicht weiß, was ich schreiben soll, das Kapitel ist ja im Prinzip schon da, die Outline ist bis ins kleinste Detail ausgefüllt, ich habe einfach nur KOLOSSAL keinen Bock, den ganzen Scheiß zu editieren … und davon einmal abgesehen bin ich momentan auch sehr stark in einem anderen Fandom involviert, das mehr oder weniger meine ungeteilte Aufmerksamkeit fordert.

Ich würde euch gerne versprechen, dass im Dezember wieder ein Kapitel kommt, aber ich kann es leider nicht. Lasst uns einfach drauf hoffen.

Falls diese mega dramatische Gammel-Entschuldigung hier überhaupt jemand liest, weil Kapiteledits ja keine Alerts auslösen … ihr seid cool. Es liegt nicht an euch. Ich krieg nur momentan hauptprojekttechnisch hart nichts auf die Kette. Tut mir leid.




EDIT 13.10.20: Leute, es tut mir so leid ... aber ich fürchte, das Oktoberupdate muss leider ausfallen. Momentan komme ich mit dem Schreiben einfach nicht hinterher. Das nächste Kapitel ist zwar angefangen, aber noch in keinster Weise fertig und in drei Tagen werde ich das mit ziemlicher Sicherheit auch nicht mehr hinbekommen. Im November sollte aber wieder alles seinen geregelten Gang gehen!



AN: Ähh, hierzu hab ich irgendwie nicht wirklich viel zu sagen. :^B (Außer dass ich gerade erst beim Draften des nächsten Kapitels bin und mich das ein biiisschen stresst … aber der Willie packt das schon irgendwie! Hoffentlich.)

Haltet am Anfang des zweiten Abschnitts nach dem Link Ausschau, ich hab mir nämlich mal wieder ein bisschen Hintergrundmusik gegönnt und irgendwie hab ich immer das Gefühl, dass man das viel zu leicht überlesen kann … ^^;



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k a p i t e l   6
VIER SIND ZWEI ZU VIEL



Freitag, 19. Oktober 2001  •  10.39 Uhr


Von außen besaß die Holden Creek Elementary School, zumindest was die Bauweise betraf, wirklich eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Rathaus, wie Richard bei seiner Ankunft feststellen musste. Tatsächlich gehörte sie sogar mit zu den größten Gebäuden, die er bisher in Holden Creek gesehen hatte. Doch für eine Bildungseinrichtung, die als Verschmelzung von Grund- und Mittelschule nicht weniger als sage und schreibe acht Klassenstufen umfasste, erschien sie dem gebürtigen Pittsburgher dennoch erschreckend beengt. Aber wahrscheinlich war das hier auf dem Land etwas ganz Normales.
  Das Sekretariat war glücklicherweise schnell gefunden und nachdem Richard sich der dort arbeitenden Dame vorgestellt und sein Anliegen erläutert hatte, bot diese ihm freundlicherweise an, ihn gleich zur Klasse von Lucy Weaver zu begleiten. Auf dem Weg zu den Musikräumen konnte er deutlich spüren, wie die Sekretärin ihm immer wieder neugierige Blicke zuwarf, doch er ignorierte sie so gut er konnte, und konzentrierte sich stattdessen auf die zahlreichen Kunstprojekte, die die Flure wie eine Art Ahnengalerie aus Makkaroni, Klebstoff und billigen Plakatfarben säumten. Es überraschte Richard nicht wirklich, dass er hier als Fremder angestarrt wurde, doch angenehmer wurde diese Tatsache dadurch leider auch nicht. Er durfte sich deswegen nicht allzu viele Gedanken machen, vermutlich würde er sich in ein paar Tagen sowieso daran gewöhnt haben. Dass er die vertraute Anonymität der Großstadt bereits jetzt wieder zu vermissen begann, konnte er jedoch nicht leugnen.
  Bevor die Sekretärin an die Tür des Klassenzimmers klopfte, bedeutete sie Richard mit einer flüchtigen Handbewegung, sich vorerst im Hintergrund zu halten und neben ihr zu warten, was dieser mit einem einsichtigen Nicken quittierte. Aus dem Raum drangen immer wieder dumpfe Paukenschläge, wildes Maraca-Geschüttel und der unverkennbare Klang einer Triangel, die mit einer solchen Leidenschaft gequält wurde, wie sie nur ein Fünftklässler aufbringen konnte, doch das Geschrammel verstummte jäh, als die Dame schließlich ihren Kopf zur Tür hereinsteckte.
  »Lucy, hast du vielleicht gerade einen Augenblick Zeit?«
  Die nahezu unnatürliche Stille, die auf diese Frage hin den Raum erfüllte, bereitete Richard tatsächlich kurz eine Gänsehaut, doch zum Glück hielt diese nicht lange an.
  »Oh, sicher, natürlich!« Misses Weavers Stimme war erstaunlich leise für die einer Musiklehrerin, besaß ansonsten jedoch einen sehr angenehmen, melodischen Klang. »Seid bitte so lieb und benehmt euch, während ich weg bin!« Diese Worte waren offensichtlich an ihre Schüler gerichtet. »Alicia, als Klassensprecherin trägst du für die nächsten paar Minuten die Verantwortung. Ich verlasse mich auf dich. Maisie und Chloe, ihr könnt schon mal die Xylophone aus dem Hinterzimmer holen. Und Brandon? Die Klanghölzer sind nicht zum Werfen gedacht!«
  Schallendes Gelächter brach in der Klasse aus, während Misses Weaver mit einem leisen Seufzen die Tür hinter sich schloss und endlich in Richards Sichtfeld trat. Sie war eine hübsche, zierlich gebaute junge Frau mit dicht geringelten, schwarzen Locken, einer altmodischen Bibliothekarinnenbrille, die an einer dünnen Kette um ihren Hals baumelte, und einem zaghaften Lächeln auf den Lippen, welches jedoch auf der Stelle gefror, als sie seinen Blick bemerkte.
  »Das ist Special Agent Williams vom FBI«, stellte die Sekretärin Richard vor, während dieser zur Bestätigung die Marke an seinem Gürtel entblößte. »Er würde sich gerne einmal mit dir unterhalten, was die … die kürzlichen Todesfälle betrifft, aber wissen Sie was?« Erneut wandte sie sich an den Ermittler. »Ich glaube, das machen Sie am besten unter sich aus.« Sie lächelte etwas gequält, nickte den beiden noch ein letztes Mal zu und machte sich dann schnurstracks auf den Weg zurück zum Schulsekretariat, sodass Richard und Misses Weaver allein vor der Klasse zurückblieben. Wieder begann sich eine unbehagliche Stille im Flur auszubreiten, doch diesmal war Richard fest entschlossen, das Schweigen noch im Keim zu ersticken.
  »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Misses Weaver.« Ihr Händedruck war alles andere als fest, wirkte beinahe schwächlich, und ließ ihn unweigerlich an die Berührung einer gebrechlichen, alten Frau oder eines Schwerkranken denken. Die bloße Erinnerung reichte aus, um einen weiteren Schauer über seinen Rücken zu jagen. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so überrumpelt habe, aber ich versichere Ihnen, es wird nicht lange dauern. Wie gesagt, mein Name ist Special Agent Williams und mein Team und ich untersuchen derzeit die Mordserie, die sich hier in den vergangenen drei Monaten ereignet hat. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle? Falls Ihnen der Zeitpunkt gerade doch etwas zu ungünstig sein sollte, können wir natürlich auch gerne einen späteren Termin ausmachen, wenn Ihnen das lieber ist …«
  Hastig schüttelte Misses Weaver den Kopf. »Nein, nein, das ist überhaupt kein Problem! Ich kann Ihnen zwar nicht versprechen, dass ich auf jede Ihrer Fragen eine Antwort haben werde, aber ich werde auf alle Fälle tun, was ich kann. Bitte, fahren Sie fort!« Ein zuversichtliches Lächeln trat auf ihre Züge, doch man musste kein Experte sein, um zu erkennen, dass sie nur höflich sein wollte. Das blasse Vormittagslicht, das durch die Fenster auf ihre goldbraunen Wangen fiel, ließ die Schatten unter ihren Augen noch um einiges dunkler aussehen, als sie eigentlich sein dürften.
  »Vielen Dank, wir wissen Ihre Mithilfe wirklich sehr zu schätzen.« Richard bemühte sich, eine möglichst aufbauende Miene aufzusetzen, und kramte einen kleinen Notizblock samt Kugelschreiber aus seiner Manteltasche. »Also gut. Als Sie am vergangenen Dienstagmorgen mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit waren, haben Sie in der Nähe der Pinefield Street am Bachufer die Leiche von Doktor Harrison Munroe entdeckt, ist das korrekt?«
  Misses Weavers gesamter Oberkörper schien sich zu verkrampfen und ihr Blick war starr auf den hellgrauen Linoleumboden gerichtet, als sie kaum merklich nickte. Und es machte ihm wirklich keinen Spaß, ihr dabei zuzusehen, doch leider gehörten diese Fragen nun einmal zur Routine.
  »Ist Ihnen an diesem Morgen sonst noch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie irgendwelche verdächtigen Aktivitäten in der Nähe des Fundortes bemerkt, vielleicht Personen oder Fahrzeuge, eventuell Geräusche, die Ihnen eigenartig vorgekommen sind? Denken Sie genau nach. Jedes noch so unwichtig scheinende Detail könnte für den weiteren Verlauf unserer Ermittlungen entscheidend sein.«
  »Nein, tut mir leid.« Die Antwort kam vielleicht ein klein wenig zu schnell für Richards Geschmack, aber einen Vorwurf konnte er ihr deswegen nicht machen. »Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Ich weiß nur noch, dass es ziemlich neblig und der Weg aufgrund des Schlamms kaum passierbar war, deshalb bin ich auch extra ein wenig früher losgefahren, aber ansonsten … war alles so wie immer.«
  Richard nickte und notierte sich rasch ein paar Stichworte, während er sich den Zeugenbericht noch einmal vor Augen rief, den L ihm am Mittwochmorgen mitsamt der restlichen Fallakte zugeschickt hatte. »Bevor Sie die Polizei informiert haben, unterlagen Sie laut Ihrer ersten Aussage dem Eindruck, es handelte sich bei der Leiche um einen Passanten oder Spaziergänger, der Hilfe benötigte, weshalb Sie sich ihm zunächst genähert und versucht haben, ihn anzusprechen, richtig?«
  »Richtig.«
  »Aber er hat nicht reagiert.«
  »Nein, das hat er nicht.« Misses Weavers ohnehin schon gedämpfte Stimme hatte inzwischen hörbar zu zittern begonnen und Richard musste sich anstrengen, um ihre Worte überhaupt verstehen zu können. »Er … i-ich dachte, er wäre vielleicht gestürzt oder so etwas in der Art, er, er hat einfach nur dagesessen, als wäre er zusammengebrochen, und … und ich wollte ihm aufhelfen, aber dann habe ich gesehen, dass er …« Sie schluckte und begann unruhig an dem kleinen, goldenen Ring an ihrer linken Hand herumzufingern. »Betet.«
  »Misses Weaver …« Richard wollte die arme Frau wirklich nicht noch weiter verunsichern oder gar bedrängen, doch sämtliche Aufmunterungsversuche, die ihm auf Anhieb einfielen, kamen ihm furchtbar heuchlerisch vor und würden aus dem Mund eines Fremden vermutlich auch nicht gerade hilfreich klingen. Etwas verlegen kratzte er sich am Ohrläppchen und stützte sich stattdessen mit dem Ellenbogen auf der Fensterbank neben ihnen ab. Heute war einfach nicht sein Tag. »Haben Sie irgendeine Ahnung oder vielleicht einen Verdacht, warum die Leichen ausgerechnet in dieser Art und Weise hergerichtet worden sein könnten?«
  »Nein.«
  »Was ist mit den Rosenkränzen, die man bei den Opfern gefunden hat?« Wie automatisch wanderte Richards Blick zu dem kreuzförmigen Anhänger, der an einer ebenso filigranen Kette unter Misses Weavers hochgeschlossenem Blusenkragen hervorschaute. »Im Zeugenbericht steht zwar, dass Sie ausgesagt haben, Doktor Munroe zu Lebzeiten nur flüchtig gekannt zu haben, aber Sie haben beide derselben Kirchengemeinde angehört, nicht wahr? Hatte er vielleicht irgendwelche religiösen Bezüge, die-«
  »Es tut mir leid, aber darüber weiß ich nichts.« Der ungewöhnliche Nachdruck in ihrer Antwort, auch wenn sie längst nicht so standfest klang, wie sie wahrscheinlich beabsichtigt hatte, traf Richard so unvorbereitet, dass er überrascht die Augenbrauen zusammenzog und für einen Moment sogar vergaß, seinen Mund wieder zu schließen. Sichtlich beschämt presste Misses Weaver die Lippen aufeinander, als sie ihren Fehler bemerkte, und war gerade im Begriff, sich für ihr unwirsches Verhalten zu entschuldigen, als Richard ihr zuvorkam.
  »In Ordnung, dann machen wir einfach weiter«, beschloss er mit dem aufmunterndsten Lächeln, das er sich abringen konnte, und warf einen erneuten Blick auf seine Notizen. Sofort verfinsterte sich seine Miene wieder, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. »Dana Griffith … war eine Kollegin von Ihnen?«
  Misses Weavers Augenlider flatterten für eine Sekunde und ihre Mundwinkel zuckten sichtbar auf, als sie den Namen hörte, doch diesmal hob sie tatsächlich den Kopf. Seinen Blick mied sie jedoch weiterhin. »Seit knapp drei Jahren, ja. Aber für mich war sie ehrlich gesagt mehr als nur eine Kollegin. Dana gehört … hat zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben gehört. Sie war eine sehr enge Freundin von mir.«
  »Welche Fächer hat sie denn hier unterrichtet?«
  »Geschichte und Mathematik in der Mittelstufe. Dieses Jahr hatte sie aber auch ein paar Grundschulklassen. Bei uns an der Schule herrscht schon seit Jahren Lehrermangel, wir springen alle hin und wieder füreinander ein. Unser Beruf fordert deutlich mehr Flexibilität und Hingabe, als den meisten Menschen bewusst ist.«
  »Das glaube ich. Wie gehen denn die Kinder damit um?«
  Misses Weaver gab ein angespanntes Seufzen von sich und wandte den Kopf in Richtung Fenster. Trotz des riesigen Klettergerüstes und der quietschbunten Mauerbilder wirkte der Schulhof karg und trostlos, und bis auf ein paar Krähen, die zwischen den herabgefallenen Blättern im Sandkasten herumscharrten, war weit und breit kein Lebenszeichen zu erkennen.
  »Die meisten haben es erstaunlich gut aufgenommen, muss ich gestehen. Zwar haben besonders die Jüngeren anfangs Probleme gehabt, sich wirklich mit der Endgültigkeit des Todes auseinanderzusetzen, und haben immer wieder gefragt, wann Misses Griffith denn nun zurück zur Schule kommt, aber im Allgemeinen sind Kinder sehr viel sensibler und intelligenter, als die meisten Erwachsenen ihnen zugestehen wollen.« Ein leichter Hauch von Stolz schien in diesem Moment in ihren Worten mitzuschwingen, der auch Richard nicht verborgen blieb. »Die Mutter eines Jungen, der in Danas Geschichtskurs war, arbeitet als Floristin und hat für die Trauerfeier einen wunderschönen Blumenkranz bereitgestellt. Die Zweit- und Drittklässler haben gesungen und eine unheimlich begabte Künstlerin aus dem achten Jahrgang hat ein Porträt von Dana angefertigt, unter dem fast die gesamte Schule unterschrieben hat! Ich habe noch nie so viele Menschen auf einer Beerdigung gesehen wie an diesem Tag. Und sie alle haben für meine Dana geweint …« Hastig tupfte Misses Weaver sich mit einem Stofftaschentuch über die Wange, noch bevor die erste Träne ihr Kinn erreichen konnte.
  »Mein aufrichtiges Beileid.« Richard hasste diese inhaltslose Floskel wie die Pest und seine Zunge brannte von dem bitteren Geschmack, den sie darauf hinterließ, doch gar nichts zu sagen erschien ihm unter diesen Umständen auch irgendwie nicht richtig. »Und trotz alldem arbeiten Sie schon wieder? Das ist wirklich bewundernswert.«
  Ein schwaches Lächeln huschte über Misses Weavers Gesicht, als sie die restlichen Tränen tapfer herunterschluckte. »Wie gesagt, die Schule ist im Augenblick auf jeden Lehrer angewiesen. Und seit letztem Monat geht hier wirklich alles drunter und drüber, da konnte ich meine Kollegen ja nicht einfach so im Stich lassen. Die Kinder brauchen jemanden, der ihnen Mut zuspricht und ihnen dabei hilft, so gut es geht mit der Situation umzugehen. Der ihnen zeigt, dass es okay ist, wenn sie traurig, wütend oder vielleicht auch einfach nur verwirrt sind. Als Erwachsene ist es unsere Pflicht, immer ein offenes Ohr für unsere Jüngsten zu haben und ihnen stets das Gefühl zu geben, dass sie jemanden haben, auf den sie sich verlassen können. Oder denken Sie nicht?«
  »Selbstverständlich, da haben Sie vollkommen recht.« Richard räusperte sich, um etwas Zeit zu schinden, während er mit der Spitze des Kugelschreibers unruhig auf seinem Notizblock herumzutrommeln begann. »Also, Misses Weaver … wie würden Sie denn Ihre Beziehung zu Mister Griffith beschreiben?«
  Die Lehrerin schloss für einen Moment die Augen und massierte sich den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger. »Craig und ich sind … Freunde. Wir kannten uns schon lange, bevor Dana überhaupt hierhergezogen ist. Er war auch derjenige, der uns damals einander vorgestellt hat. Wir …« Sie stockte erneut. »Der Verlust von Nathan und Dana hat ihn vollkommen aus der Bahn geworfen, der Arme ist seitdem kaum wiederzuerkennen. Ich glaube, es gibt niemanden in Holden Creek, den diese schrecklichen Ereignisse so schwer getroffen haben wie ihn.«
  Misses Weaver presste sich das Taschentuch auf die Lider und musste ein paarmal tief Luft holen, um sich wieder einigermaßen zu fangen. Richard schwieg beklommen und ließ ihr die Zeit. Officer Shepherd hatte an diesem Morgen erwähnt, dass Nathan Gilbert und Craig Griffith nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch eng miteinander befreundet gewesen waren – genauso wie Lucy Weaver und Dana Griffith. Das konnte doch kein Zufall sein! Irgendetwas musste es zwischen diesen vieren geben, was ihm Aufschluss oder zumindest einen kleinen Hinweis auf den Täter liefern könnte, und das galt es nun herauszufinden.
  »Craig und Nathan waren seit ihrer Schulzeit nahezu unzertrennlich, und das trotz ihres Altersunterschiedes«, fuhr Misses Weaver fort und riss Richard damit wieder aus seinen Gedanken. »Die beiden haben einiges zusammen durchgemacht und mit Dana hat Nathan sich auch immer wunderbar verstanden. Auf ihrer Hochzeit letztes Jahr war er sogar Trauzeuge.« Es dauerte nicht lang, bis in ihren Augenwinkeln erneut Tränen aufzuglitzern begannen, auch wenn sie diesmal etwas gefasster wirkte. »Ich mache mir solche Sorgen um Craig … es ist einfach ein furchtbares Gefühl, ihn so leiden zu sehen. Ich wünschte, es gäbe etwas, was ich für ihn tun könnte …«
  Richards Brust zog sich ein Stück zusammen, als sein Blick zum zweiten Mal auf den Ring an ihrem Finger fiel. Normalerweise bemühte er sich sehr darum, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, doch selbst er konnte nicht leugnen, dass die derzeitige Situation gewisse Vermutungen zuließ, die … er runzelte die Stirn und räusperte sich erneut, konnte das Unbehagen diesmal jedoch nicht vollständig aus seiner Stimme verbannen.
  »Misses Weaver, ich frage Sie das wirklich nur sehr ungern, aber … hatten Craig Griffith und Sie jemals ein Verhältnis miteinander?«
  Die Miene der Angesprochenen entgleiste auf der Stelle und ein kurzes, heiseres Ächzen drang aus ihrer Kehle, während die Emotionen, die in diesem Moment über ihre Züge flackerten, von Fassungslosigkeit über Verzweiflung bis hin zu tiefer Bestürzung und maßloser Enttäuschung reichten – und wenn Richard sich nicht vollkommen irrte, dann hatte er gerade vielleicht sogar einen Hauch von Zorn in ihren Augen aufblitzen sehen.
  »Ist … ist das Ihr Ernst?!«, keuchte Misses Weaver entsetzt und das Zittern ihrer Lippen sorgte dafür, dass ihre Worte eher wie ein hysterisches Wimmern als wie ein Vorwurf klangen.
  »Hören Sie, es liegt wirklich nicht in meiner Absicht, Sie zu kränken, aber ich muss leider alle Möglichkeiten in Betracht ziehen-«
  »So etwas würde ich Dana niemals antun!« Wie von selbst wanderte ihre rechte Hand erneut herüber zu ihrem Ring. »Ich habe selbst einen Mann, den ich von ganzem Herzen liebe, und ich käme nie im Leben auf die Idee, ihn zu betrügen, schon gar nicht mit dem trauernden Witwer meiner besten Freundin! Wie können Sie es wagen, mir etwas Derartiges zu unterstellen?!«
  »Misses Weaver, bitte beruhigen Sie sich. Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen-«
  »Das will ich auch hoffen!« Mit jedem weiteren Wort wich die Aufregung ein klein wenig mehr aus ihrer Stimme, ihre Atmung begann sich wieder zu normalisieren und sie wischte sich rasch ein paar weitere Tränen aus dem Gesicht, bevor sie ihre Fassung langsam wieder zurückzugewinnen schien. Und auch wenn sich alles in ihm gegen diesen Gedanken sträubte, musste Richard zugeben, dass er sich in diesem Moment wahrscheinlich deutlich besser gefühlt hätte, wenn Dunstan oder Newman an seiner Seite gewesen wären.
  »Bitte … bitte entschuldigen Sie meinen Gefühlsausbruch, ich …« Sie schniefte und wich abermals seinen Blicken aus. »Ich wollte Sie nicht so anschreien, wirklich-«
  »Alles in Ordnung, machen Sie sich deswegen keine Gedanken.« Richard sah ein, dass es vorerst wohl keinen Zweck hatte, das Thema weiterzuverfolgen. Wenn er sich tatsächlich näher mit dieser Möglichkeit befassen wollte, dann musste er wohl oder übel zuerst ein paar Beweise für eine eventuelle Affäre zusammentragen – auch wenn Misses Weavers Empörung einen durchaus ehrlichen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Jedenfalls schien ihr die Sache um einiges unangenehmer zu sein als ihm.
  »Vor zwei Wochen«, begann sie plötzlich erneut, und auch wenn ihre Stimme noch immer ein wenig zitterte, klang sie mittlerweile eher erschöpft als alles andere. »Hat Craig sich … er hat versucht, sich umzubringen. Seit Nathans Tod ist es zwar häufiger vorgekommen, dass er zur Flasche gegriffen hat, um seiner Trauer Herr zu werden, aber so weit ist er bisher noch nie gegangen. Wenn ich mich damals nicht dazu entschlossen hätte, nach dem Rechten zu sehen, wenn ich ihn nur ein paar Minuten später gefunden hätte, dann wäre er jetzt …« Sie rang sichtbar nach Worten. »Soweit ich weiß, hat er seinen Whiskey seit dem Krankenhausaufenthalt zwar nicht mehr angerührt, aber … können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist, einem so starken und lebensfrohen Menschen dabei zusehen zu müssen, wie er Stück für Stück zerbricht, ohne auch nur das Geringste dagegen unternehmen zu können? Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so hilflos gefühlt …«
  »Das … das tut mir leid.« Richard presste die Lippen aufeinander und nahm sich trotz Misses Atkins’ Empfehlung vor, bei seinem nächsten Besuch in Tim’s Pub vielleicht lieber doch keinen hausgebrannten Whiskey zu bestellen.
  Ein leises Zischen aus Richtung des Klassenzimmers erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit, woraufhin er sich wie automatisch zur Quelle des Geräusches umwandte. Im Türspalt standen zwei Mädchen, eines mit Sommersprossen und eines mit Brille, die neugierig die Köpfe in den Flur hinausgestreckt hatten und augenblicklich zu Salzsäulen erstarrten, als ihnen bewusst wurde, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Auch Misses Weaver hatte die heimlichen Zuhörerinnen inzwischen bemerkt und fuhr sich noch ein letztes Mal mit dem Ärmel übers Gesicht, bevor sie von einer auf die andere Sekunde plötzlich eine derart sorglose Miene aufsetzte, dass Richard nicht umhin kam, sich zu fragen, ob sie wohl auch den Theaterkurs unterrichtete. Es dauerte einen Moment, bis er auf die Idee kam, ihrem Beispiel zu folgen.
  »Ihr dürft ruhig rauskommen, wenn ihr möchtet«, ermutigte er die Kinder mit dem harmlosesten Lächeln, das er zustande brachte, auch wenn er irgendwie das Gefühl hatte, damit genau das Gegenteil zu erreichen. Die beiden tauschten ein paar skeptische Blicke aus und beratschlagten sich kurz hinter vorgehaltener Hand, doch Misses Weavers aufmunterndes Zunicken schien sie letztendlich davon zu überzeugen, dass von dem seltsamen, fremden Mann im Anzug keine Gefahr ausging und sie seiner Aufforderung bedenkenlos folgen konnten. Hinter ihnen konnte Richard nun auch den Rest der Klasse ausmachen, welcher jedoch sofort wieder zu seinen Plätzen zurückhuschte, sobald die ersten realisierten, dass man sie ebenfalls entdeckt hatte.
  »Sind Sie Polizist?«, fragte das Mädchen mit den Sommersprossen ihn ganz unverblümt, nachdem sie und ihre Freundin gute zwei Meter vor ihnen stehengeblieben waren, als fürchteten sie, er könnte wie ein hungriges Krokodil nach ihnen schnappen, falls sie ihm zu nahe kamen.
  »Ja, das bin ich.«
  »Hat Misses Weaver was verbrochen?«
  Richard lachte, doch als er den eindringlichen Blick der jungen Frau auf sich spürte, blieb ihm der Laut regelrecht im Halse stecken und verwandelte sich stattdessen in ein angestrengtes Räuspern. »Nein«, erwiderte er hastig. »Keine Sorge, ich bin nicht hier, um irgendjemanden zu verhaften. Ich hab eurer Lehrerin nur ein paar Fragen gestellt. Ihr bekommt sie gleich wieder zurück, versprochen.«
  »Hab ich vorhin nicht gesagt, ihr sollt euch benehmen?« Misses Weavers Worte klangen zwar tadelnd, aber bei weitem nicht streng genug, um die beiden wirklich einzuschüchtern. Und nun traute sich auch das andere Mädchen, das sich bisher größtenteils hinter ihrer Klassenkameradin versteckt hatte, endlich zu Wort.
  »D-das Schlagzeug steht vor dem Regal mit den Xylophonen und, ähm … wir … wir sind nicht drangekommen und … w-wir wollten auch nichts kaputt machen …«
  Misses Weaver stieß ein leises Seufzen aus, dann lächelte sie erneut. »Schon gut, ich komme gleich.« Sie warf Richard einen fragenden Blick zu, doch dieser nickte bloß.
  »Wir sind hier fertig«, bestätigte er und verstaute sowohl Notizblock, als auch Kugelschreiber wieder in seiner Tasche. »Falls Ihnen im Nachhinein doch noch etwas einfallen sollte, melden Sie sich einfach wie gewohnt auf dem Revier. Vielen Dank für Ihre Zeit und bitte entschuldigen Sie noch einmal die Störung.«
  »Haben Sie auch eine Pistole?«, sprudelte es mit einem Mal aus dem Sommersprossenmädchen hervor, während sie wie gebannt auf Richards Holster starrte, oder zumindest den Teil davon, der unter seinem Mantel noch zu erkennen war. Misses Weaver riss die Augen auf und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
  »Maisie!«, ermahnte sie die Fünftklässlerin, diesmal in deutlich harscherem Ton, doch Richard schüttelte nur den Kopf.
  »Schon gut, die Frage höre ich öfter«, beruhigte er sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen, dann wandte er sich wieder den Kindern zu. »Und ja, eine Pistole habe ich tatsächlich.«
  »Haben Sie schon mal auf jemanden geschossen?«, wollte nun auch das andere Mädchen wissen.
  »Haben Sie schon mal jemanden umgebracht?«, hakte Maisie daraufhin noch aufgeregter nach, doch bevor Richard auch nur über eine Antwort nachdenken konnte, machte Misses Weaver einen großen Schritt nach vorn und scheuchte die Schülerinnen mit einer forschen Handbewegung wieder in Richtung Tür.
  »Also, jetzt reicht es aber! Ihr geht sofort zu den anderen zurück oder ihr bekommt heute Nachmittag Extraaufgaben!«
  Das ließen die beiden sich natürlich nicht zweimal sagen und machten sich ohne ein weiteres Wort zu verlieren wieder auf den Weg zum Klassenraum. Und kaum hatte sich die Tür hinter ihnen erneut geschlossen, kniff Misses Weaver gequält die Augen zusammen und fuhr sich erschöpft mit dem Handrücken über die Stirn.
  »Bitte entschuldigen Sie das gerade eben, Maisie und Chloe können manchmal ziemlich … direkt sein.«
  Wieder musste Richard lachen, auch wenn es diesmal ein klein wenig zurückhaltender klang. »Wie gesagt, ich bin so etwas gewöhnt. Und eine gesunde Neugier ist in dem Alter doch etwas ganz Normales, oder nicht?«
  »So lange es nur dabei bleibt …« Misses Weaver schüttelte den Kopf und zupfte ihre Strickjacke zurecht. »Wie auch immer. Wenn Sie sich noch einmal näher über die Kirchengemeinde von Holden Creek informieren wollen, dann würde ich Ihnen empfehlen, sich an Father Thomas zu wenden. Der wird Ihnen da mit Sicherheit eher weiterhelfen können als ich.« Sie faltete ihr Stofftaschentuch wieder ordentlich zusammen und ließ es in ihrer Rocktasche verschwinden. »Und außerdem kennt er die meisten Leute hier wahrscheinlich besser als sie sich selbst.«
  Richard nickte, doch sein Magen fühlte sich an, als hätte gerade jemand ein Kilo Wackersteine darin abgeladen. Der Name kam ihm zwar nicht bekannt vor, doch irgendwie hatte er trotzdem das Gefühl, dass er diesem Father Thomas hier schon einmal begegnet war …



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Freitag, 19. Oktober 2001  •  10.47 Uhr


Obwohl Misses Atkins ihnen gestern erzählt hatte, dass Tim’s Pub unter der Woche erst abends öffnete, schwang die schwere, alte Holztür dennoch mit einem hörbaren Ächzen auf, als Megan die Klinke herunterdrückte. Im ersten Moment kam ihr diese Tatsache zwar etwas suspekt vor, dann jedoch erinnerte sie sich wieder daran, dass in Holden Creek nur gefühlt zwei Personen pro Quadratkilometer lebten und Türenabschließen in einem Kaff wie diesem wahrscheinlich nicht unbedingt zu den höchsten Prioritäten der Einwohner gehörte – nicht einmal dann, wenn hier gerade ein Serienmörder umging. Aus Erfahrung wusste sie leider, dass alte Gewohnheiten sich nur schwer wieder ablegen ließen und einen alteingesessenen Hillbilly davon überzeugen zu wollen, zu seiner eigenen Sicherheit seine Türen zu verriegeln, weil er ansonsten Gefahr lief, entführt, zerstochen und in Olivenöl eingelegt zu werden, war die Mühe in den meisten Fällen einfach nicht wert.
  In der Kneipe war es ziemlich dunkel und auch ein klein wenig beengt, doch der vertraute Duft von Eichenholz, Zigarrenrauch und staubigen, alten Whiskeyfässern schaffte es dennoch, Megan ein kleines, verschmitztes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Das spärliche Licht, das durch die Fenster fiel, reichte gerade so aus, um die klobigen Umrisse der Tische, Bänke und Barhocker halbwegs erahnen zu lassen. Ähnlich wie im Wayside Inn hingen auch hier überall diverse Jagdtrophäen an den Wänden, genauso wie ein paar Landschaftsgemälde, bunte Sporttrikots und eine kleine Galerie aus maßlos überbelichteten und stümperhaft angeordneten Fotokollagen, die vermutlich irgendwelche hiesige Z-Prominenz zusammen mit dem stolzen Pubbesitzer an der Bar stehend zeigten.
  Die schummrige, leicht verwegene Kneipenatmosphäre erinnerte Megan ein wenig an Johnny’s Bar, ein kleines Lokal in ihrer Heimatstadt, in dem sie früher oft während der Sommerferien gekellnert hatte, um sich den einen oder anderen Dollar dazuzuverdienen. Und als sie dann auch noch den Billardtisch und die zerfledderte, alte Dartscheibe in der Ecke erblickte, machte ihr Herz einen regelrechten Sprung in ihrer Brust. Ihren ersten Freund hatte sie damals kennengelernt, als sie ihm bei einer geselligen Runde Poolbillard mit einem ihrer phänomenalen Partytricks beinahe ein blaues Auge verpasst hätte. Ein warmes Kribbeln begann sich zwischen ihren Rippen auszubreiten, als sie an sein verdattertes Gesicht zurückdachte, nachdem sie Blair aus Panik ihren Queue in die Hand gedrückt und mit zuckersüßer Unschuldsmiene ein Liedchen vor sich hin gepfiffen hatte, während die anderen Mitspieler bereits vor Lachen unter dem Tisch gelegen hatten.
  Gedankenverloren fuhr sie mit den Fingerspitzen über den ausgefransten, grünen Stoffbezug. Das ganze Ding sah ziemlich ramponiert aus, aber vielleicht konnte man das ja auch irgendwie zu seinem Vorteil nutzen. Es musste schon eine halbe Ewigkeit her sein, seit Megan zum letzten Mal Billard gespielt hatte … ob sie wohl noch immer diesen furchtbar schwierigen Neunzig-Grad-Winkel-Stoß beherrschte? Vielleicht sollte sie Williams und Dunstan bei Gelegenheit mal zu einer kleinen Partie Pool einladen …
  »Kann ich Ihnen helfen?«
  Megan wandte sich um und ihre Augen folgten der Stimme, die sie soeben aus ihren Gedanken gerissen hatte. Hinter der Bar konnte sie einen Mann erkennen, der vorhin definitiv noch nicht dort gestanden hatte und sie nun misstrauisch anblickte. Er war groß, breitschultrig und besaß langes, dunkelblondes Haar, das er zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Der dichte Vollbart und das karierte Hemd, das er trug, verliehen ihm das unverkennbare Aussehen eines typisch amerikanischen Holzfällers, der statt Müsli wahrscheinlich Sägespäne zum Frühstück aß und sich in seiner Freizeit auch schon mal mit einem ausgewachsenen Grizzlybären prügelte. Nicht unbedingt ihr Typ, aber keineswegs unansehnlich.
  »Davon gehe ich aus!« Megan strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um von ihrer Überraschung abzulenken, und warf einen kurzen Blick auf ihre vollgekritzelte Handfläche. »Sie sind nicht zufällig Craig Griffith?«
  Der Mann zog eine Augenbraue nach oben und musterte sie eingehend. »Der bin ich in der Tat. Und Sie sind?«
  Mit ein paar raschen Schritten trat Megan an die Bar heran, zückte ihren Ausweis und schnippte ihn mit einer lässigen Handbewegung vor sich auf die Theke wie einen Geldschein, mit dem sie der imaginären Kneipengesellschaft großzügigerweise ein paar Drinks zu spendieren gedachte. »Special Agent Newman vom FBI, ich bin wegen der Mordserie hier. Würde es Ihnen vielleicht etwas ausmachen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
  Nun, da sie Mister Griffith aus der Nähe betrachten konnte, fielen ihr auch die leicht rötlichen Schatten unter seinen Lidern auf, die trotz der Dunkelheit, die noch immer im Pub herrschte, in einer beinahe beunruhigenden Art und Weise aus seinem müden Gesicht hervorzustechen schienen. Er machte tatsächlich einen etwas kränklichen Eindruck, aber wenn sie darüber nachdachte, was er in den letzten paar Monaten durchlebt hatte, dann war das auch eigentlich kein Wunder.
  Mister Griffith zog eine säuerliche Grimasse und beugte sich tief über Megans Ausweis, als wollte er dessen Echtheit mit bloßem Auge überprüfen, dann wanderte sein Blick wieder zurück zu der Besitzerin. Wirklich begeistert schien er von ihrem Besuch jedenfalls nicht zu sein.
  »Wenn Sie wegen der Brennerei hier sind, dafür hab ich ’ne Lizenz-«
  »Mich interessieren nur die Morde, alles andere können Sie gerne mit dem Ordnungsamt ausdiskutieren.«
  Ein paar Sekunden lang starrte Mister Griffith sie einfach bloß mit einem nahezu undefinierbaren Blick an, bevor er schließlich nickte.
  »Na schön, wenn’s unbedingt sein muss«, willigte er mit einem Seufzen ein und nahm sich ein feuchtes Handtuch aus der Spüle, mit dem er gleich darauf zum prallgefüllten Flaschenregal herübertrat. Megan nahm indessen auf einem der Barhocker Platz und steckte den Ausweis wieder zurück in ihre Jackentasche, wobei ihre Finger zufällig die zerkratzte Oberfläche ihres Feuerzeuges streiften und sich beinahe wie automatisch darum schlossen.
  »Also gut, erste Frage: stört es Sie, wenn ich rauche?«
  »Tun Sie sich keinen Zwang an.« Mit einer halbherzigen Kopfbewegung deutete Mister Griffith in Richtung des Aschenbechers, der etwas mehr als eine Armlänge von ihr entfernt auf der Theke stand. Und mit ein wenig Hingabe und Körpereinsatz schaffte sie es nach einer Weile auch, ihn weitestgehend unbeschadet zu ihrem Platz herüberzumanövrieren, ganz ohne extra aufstehen zu müssen, bevor sie endlich Feuerzeug und Pappschachtel hervorkramte und sich eine Zigarette anzündete.
  Vorbei an der silbrig schimmernden Rauchwolke, die wenig später zwischen ihren Lippen hervortrat, ließ Megan ihren Blick ein weiteres Mal durch den Innenraum der Kneipe schweifen. Mister Griffith hatte inzwischen die Messinglampen über der Bar eingeschaltet, deren warmes Licht von den staubigen Flaschen im Regal hinter ihm reflektiert wurde. Irgendwie hatte die Atmosphäre tatsächlich etwas von einem zwielichtigen, alten Wildwest-Saloon. Und Megan erwischte sich sogar kurz dabei, wie sie überlegte, ob sie sich demnächst mal nach einem Paar Cowboystiefel umsehen sollte.
  »Sagen Sie mal … wer genau ist eigentlich dieser Tim?«
  Mister Griffith stieß ein leises Schnauben aus, wobei sich Megan jedoch nicht ganz sicher war, ob es eher genervt klingen oder doch so etwas wie den Ansatz eines Lachens darstellen sollte. »Es gibt keinen Tim«, erklärte er ungerührt. »›Tim’s Pub‹ ist nur eine Abkürzung für ›The Timberman’s Pub‹, aber so nennt den Laden inzwischen eigentlich kaum noch jemand. Ursprünglich hat er mal einem alteingesessenen Iren hier aus der Gegend gehört, aber nachdem der Ende der Sechzigerjahre gestorben ist, hat mein Vater den Pub übernommen und jetzt gehört er mir. Holden Creek wurde irgendwann im späten neunzehnten Jahrhundert als Holzfällersiedlung gegründet und ich nehme an, dass daher auch der Name kommt. Wahrscheinlich haben die Leute damals einfach ’nen Ort gebraucht, an dem sie sich nach getaner Arbeit ein Bierchen genehmigen und gemütlich zusammensitzen konnten.« Er nahm eine der Flaschen in die Hand, fuhr mit dem Lappen ein paarmal über das Etikett und stellte sie dann wieder an ihren Platz zurück. »Irgendwo da draußen müsste noch immer das alte Sägewerk stehen, aber ich glaube, das ist mittlerweile schon seit gut zwanzig Jahren nicht mehr in Betrieb.«
  Megan hatte das Kinn auf ihrem Handballen abgestützt und schnippte ein wenig Glut in den Aschenbecher vor sich. »Leben Sie hier schon lange?«
  »Seit meiner Geburt.«
  »Und Ihre Frau?«
  Mister Griffith hielt kurz inne und Megan presste unweigerlich die Lippen aufeinander. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn ein wenig behutsamer an das Thema heranzuführen, doch wie es aussah, hatte ihre Ungeduld ihr da wieder einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht.
  »Dana ist erst vor drei Jahren hierhergezogen.« Ein seltsam trockener Unterton hatte sich plötzlich in seine Stimme gemischt und wenn Megan es nicht besser wüsste, dann hätte sie beinahe geschworen, dass sein Bart gerade um mindestens drei Nuancen grauer geworden war. »Eines Tages war sie einfach da. Ist wie selbstverständlich da vorne durch die Tür spaziert, hat sich einen Whiskey on the rocks bestellt und mit ’nem Fünfzig-Dollar-Schein bezahlt. Dann hat sie sich dafür entschuldigt, dass sie kein Kleingeld dabei hatte, und gemeint, ich könnte den Rest behalten, wenn ich ihr meinen Namen und mein Lieblingsgetränk verrate.« Er schüttelte wehmütig den Kopf. »Damals hab ich noch nicht gewusst, wie sehr Dana mein Leben verändern würde, aber … ich glaube, ich hatte zu dem Zeitpunkt schon so eine Ahnung. Sie war einfach etwas ganz Besonderes. Das wird Ihnen jeder bestätigen, der sie gekannt hat.«
  Megan nickte einsichtig. »Was hat Ihre Frau denn ausgerechnet nach Holden Creek geführt, wenn ich fragen darf?«
  »Sie war gerade auf einem Roadtrip durch die USA und ist eigentlich nur durch Zufall hier vorbeigekommen. Dana war jung damals, gerade mal einundzwanzig, spontan, ungezügelt, und hat ständig mit dem Kopf in den Wolken gehangen. Sie ist schon immer ein Freigeist gewesen, der sich von niemandem etwas vorschreiben lassen wollte, und am Anfang unserer Beziehung hätte ich niemals gedacht, dass sie so schnell sesshaft werden würde. Aber so war sie nun mal: immer für eine Überraschung gut. Ich glaube, sie hat einfach nach ihrem Platz in der Welt gesucht, nach einem Ort, den sie ›Zuhause‹ nennen konnte … wahrscheinlich ist es auch das gewesen, was mich damals so an ihr fasziniert hat. Seit ich denken kann, hab ich nie etwas anderes gesehen als Holden Creek. Wenn ich mit Dana zusammen war, hat es sich angefühlt, als wären wir überall und nirgends zuhause. Ich war noch nie so glücklich wie an dem Abend, an dem sie mir gesagt hat, dass sie hierbleiben will. Mit mir. Zumindest für den Moment. Wir hatten vor, irgendwann eine Weltreise zu machen …« Seine Stimme begann zu bröckeln, doch er bemerkte es rechtzeitig und schluckte den Rest seiner Worte eisern herunter.
  »Was ist mit Mister Gilbert? Ich hab gehört, Sie beide standen sich sehr nah.«
  Der Blick, mit dem Mister Griffith sie nun bedachte, gab Megan das Gefühl, als würde sie ihn gerade mit einem Baseballschläger verprügeln, statt sich einfach bloß mit ihm zu unterhalten. Sie zog noch einmal kräftig an ihrer Zigarette, bis sie den Hustenreiz in ihrer Kehle aufsteigen spüren konnte, schaffte es jedoch in letzter Sekunde, ihn noch einmal zu unterdrücken.
  »Nathan war mein bester Freund. Und ich hätte ihn in dieser Nacht nicht alleine nachhause gehen lassen dürfen.«
  Es dauerte einen Moment, bis Megan begriff, dass sie keine umfassendere Erklärung bekommen würde, wenn sie ihre Fragen nicht etwas präziser formulierte.
  »Er hat hier gearbeitet?«
  »Gekellnert und manchmal als Barkeeper ausgeholfen, ja. Zumindest so lange, bis er wieder bereit dazu war, selbst zurück in den Sattel zu steigen.«
  »Was meinen Sie damit?«
  Mister Griffith seufzte und rieb sich die Augen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Als er mit der Schule fertig war, ist er nach New York gegangen, um eine Ausbildung zum Koch zu machen. Er hat immer davon geträumt, irgendwann sein eigenes Lokal zu eröffnen, aber dafür musste er natürlich erst mal ein bisschen Berufserfahrung sammeln. Na ja, um es so kurz wie möglich zu machen: daraus ist nichts geworden. Sein Chef war wohl ein ziemliches Arschloch und hat Nathan nach sechs Monaten Schikane schließlich wegen irgendeiner Lappalie rausgeworfen, woraufhin seine damalige Freundin ihn mit Sack und Pack vor die Tür gesetzt hat. Also ist ihm nichts anderes übriggeblieben, als wieder nach Holden Creek zurückzugehen. Deswegen hab ich ihm den Job angeboten. So läuft das hier bei uns. Wenn jemand Hilfe braucht, dann sind wir für ihn da.« Ein flüchtiges Lächeln schien für einen Moment seine Mundwinkel zu umspielen, doch so schnell, wie es gekommen war, so schnell war es auch schon wieder verschwunden. »Nathan hätte echt das Zeug dazu gehabt. Zum Gastronomen, mein ich. Er hätte einfach nur ein kleines bisschen länger durchhalten müssen … wenn er sich nicht so schnell hätte unterkriegen lassen und einfach in New York geblieben wäre, dann …«
  ›Dann wäre er jetzt vielleicht noch am Leben.‹ Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft wie der Qualm von Megans Zigarette, schwer wie Blei und mit einem widerlich äschernen Nachgeschmack, auch ohne dass er sie aussprechen musste.
  »Sie sagten vorhin, Sie hätten Mister Gilbert an dem Abend nicht allein nachhause gehen lassen dürfen. Wann genau haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
  »Das hab ich dem Chief schon gesagt.«
  Megan zog eine Grimasse und hob beinahe herausfordernd die Augenbrauen. »Sehe ich für Sie etwa aus wie Chief Morrison?«
  Für den Bruchteil einer Sekunde schien der Pubbesitzer sie mit seinen Augen regelrecht zu durchbohren, und auch wenn sie – widerwillig – zugeben musste, dass sein Blick ihr tatsächlich einen kleinen Schauer über den Rücken jagte, ließ sie sich davon keineswegs einschüchtern. Und dass sich ihre Hartnäckigkeit auch dieses Mal auszahlte, bewies Mister Griffiths darauffolgende Antwort, auch wenn der geladene Unterton in seiner Stimme nicht zu überhören war.
  »In der Nacht vom zwölften auf den dreizehnten August, kurz nachdem seine Schicht zu Ende war. Das muss so ungefähr zwischen zwölf und halb eins gewesen sein. Nathan und ich haben uns noch verabschiedet und dann ist er gegangen. Reicht Ihnen das?«
  »Und Ihre Frau?«
  »Was ist mit meiner Frau?«
  »Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
  Mister Griffith atmete hörbar ein und wieder aus. »Müssen wir das jetzt wirklich noch mal durchkauen? Haben Sie keine Zeugenberichte, in denen Sie so was nachgucken können?«
  »Im Moment hab ich den betreffenden Zeugen direkt hier vor mir stehen, das ist sogar noch besser.«
  Es folgte eine weitere Pause, in der Mister Griffith offensichtlich mit der Frage rang, ob er Megan einfach in hohem Bogen aus der Kneipe werfen oder ihre Dreistigkeit geflissentlich ignorieren sollte und auch dieses Mal traf er glücklicherweise die richtige Entscheidung. »Am Morgen des siebenundzwanzigsten Septembers, kurz bevor sie die Wohnung verlassen hat. Ich lag zu der Zeit noch im Bett, weil ich den Pub erst nachmittags geöffnet hab. Nachdem sie sich von mir verabschiedet hat, bin ich wieder eingeschlafen. Lucy meinte, dass Dana wie jeden Donnerstag um Viertel nach zwei den Heimweg angetreten hat, aber sie ist nie hier angekommen. Was wollen Sie noch hören?« Er schnaubte laut auf und warf den Kopf in den Nacken wie ein wütender Stier. »Dass der Abschied an diesem Morgen unser letzter Kuss gewesen ist? Dass ich zu müde war, um ihr noch ein allerletztes Mal zu sagen, dass ich sie liebe? Dass ich manchmal noch immer ihre Stimme hören kann, wenn ich die Augen schließe und alles um mich herum still ist?!«
  Megan konnte das Flackern der Glut noch immer auf ihrer Netzhaut spüren, nachdem sie den Zigarettenstummel auf dem Boden des Aschenbechers ausgedrückt und ihn anschließend von sich weggeschoben hatte, als hätte sie sich spontan dazu entschieden, ab sofort aktive Nichtraucherin zu werden.
  »Yepp, was dieses Thema betrifft, war das vorerst alles, danke.«
  Zu behaupten, dass sie Mister Griffith und seiner Situation gegenüber kein Mitleid empfand, wäre definitiv eine Lüge gewesen, aber was sollte sie machen? Megan war Bundesagentin, keine Therapeutin. Und außerdem war sie hier, um einen Serienmörder zu schnappen. L verließ sich auf sie und sie wollte ihren Auftraggeber auf gar keinen Fall enttäuschen. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass diese Aufgabe kein Zuckerschlecken werden würde, und wenn sie ehrlich war, dann hatte andere Leute trösten und ihnen gut zuzureden auch noch nie wirklich zu ihren Stärken gehört, doch das bedeutete ja nicht, dass sie einfach so auf den Gefühlen dieses Mannes herumtrampeln musste. Ob er auch tatsächlich der trauernde Witwer war, für den er sich ausgab, oder sich in Wahrheit ein skrupelloser Killer hinter dieser Fassade verbarg, spielte in dieser Hinsicht keine Rolle. ›Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils‹ und ›Im Zweifel für den Angeklagten‹ – das waren die Grundsätze, auf denen ihr Rechtssystem basierte. Zumindest in einer idealen Welt. Und eigentlich war sie ja auch wegen etwas ganz anderem hier. Erneut warf Megan einen Blick auf ihre linke Handfläche.
  »Eine allerletzte Frage, Mister Griffith.«
  Der Pubbesitzer, der gerade dabei war, seinen Wischlappen auszuwringen, stellte mit einer müden Handbewegung den Wasserhahn aus und stützte sich mit beiden Unterarmen auf dem Spülbeckenrand ab. »Und die wäre …«
  »Wären Sie so freundlich und würden noch ein letztes Mal für mich wiederholen, was genau Sie in der Nacht zwischen dem zwölften und dem dreizehnten August getrieben haben? Sie wissen schon, fürs Protokoll.«
  Mister Griffiths Finger krallten sich in das nasse Handtuch. »Ich war zuhause. In meinem Bett«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und die scharfe Betonung, mit der er jedes einzelne seiner Worte versah, ließ es so klingen, als müsste er sich ernsthaft zusammenreißen, um nicht jeden Moment die Beherrschung zu verlieren. »Ich war zuhause, in meinem Bett, und hab mir mit meiner Frau zusammen ›Angriff der Killertomaten‹ angesehen, bis sie ungefähr bei der Hälfte des Films eingedöst ist, woraufhin ich mich ebenfalls schlafen gelegt hab. Bis um acht Uhr mein Wecker geklingelt hat. Und nein, es gibt dafür keine Zeugen. Denn ich war zuhause. Im Bett. Mit meiner Frau.«
  »Wie steht’s mit dem Nachmittag des siebenundzwanzigsten Septembers?«, hakte Megan nach und schlug ungeduldig die Beine übereinander. »Tut mir leid, aber ich muss Sie das leider fragen.«
  »Ich war hier im Pub und hab Inventur gemacht. Allein. Keine Zeugen.« Ein gequältes Aufstöhnen entwich seiner Kehle, als er sich mit den immer noch spülnassen Händen die Haare aus dem Gesicht strich, und ihr erneut seinen Blick zuwandte. Der Vorwurf darin war unmissverständlich. »Hören Sie zu, ich weiß selber, wie fadenscheinig meine Alibis klingen, ich weiß, dass die Umstände nicht gerade für mich sprechen, und ich weiß, dass Sie mich verdächtigen und dass es Sie einen Scheißdreck interessiert, dass ich gerade die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren hab-«
  »Das gehört alles zur Routine, nichts weiter«, korrigierte Megan ihn so beiläufig wie möglich, doch Mister Griffith hörte ihr gar nicht zu.
  »Sagen Sie mal, macht Ihnen das eigentlich Spaß?!« Wütend pfefferte er den Lappen in die Spüle und fuhr herum. »Haben Sie auch nur die geringste Ahnung davon, wie oft ich mir dieses halbgare Geschwätz von wegen ›Routine‹ und ›Nur fürs Protokoll‹ in den letzten zwei Monaten schon anhören musste?! Wo haben Sie denn bitteschön Ihre Polizeiausbildung gemacht, auf dem Schlachthof?!« Er schüttelte den Kopf und gab ein bitteres Schnauben von sich. »Wenn Sie sich wirklich so sicher sind, dass ich meine Frau umgebracht hab, wieso nehmen Sie mich dann nicht einfach fest, statt mich alle paar Wochen aufs Neue mit Ihren ›Fragen‹ zu belästigen?!«
  »Niemand will Sie festnehmen, Mister Griffith«, beharrte Megan trocken und rutschte langsam von ihrem Barhocker herunter. Es war nicht so, dass sie ihm seine Frustration über die bisherige Handhabung dieses Falls nicht abkaufte, ganz im Gegenteil, sie hatte ja selbst gesehen, mit wie wenig Struktur und Sachverständnis Morrison und sein Team an die Sache herangingen – aber genau deswegen war sie ja hier. Obwohl sie noch nicht lange beim FBI arbeitete, hatte Megan die Masche des am Boden zerstörten Ehegatten inzwischen schon oft genug fruchten sehen, um zu wissen, dass Intuition allein noch lange keinen guten Ermittler ausmachte. Und Fehler durfte sie sich hier einfach nicht erlauben, auch wenn das bedeutete, dass ihre Empathie hin und wieder mal auf der Strecke bleiben musste.
  »Ach nein?« Ein kurzes, freudloses Auflachen erfüllte den Raum und hallte unangenehm hohl zwischen den Holzpfeilern wider, von denen die ebenso schmalen Deckenbalken getragen wurden. »Na, dann bin ich ja beruhigt!« Seine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. »Wissen Sie was, Special Agent? Wenn Sie zur Abwechslung mal jemanden behelligen wollen, bei dem es sich auch lohnt, dann würde ich an Ihrer Stelle mal bei Glenn Townsend vorbeischauen. Es gibt nicht viele Leute, denen ich zutrauen würde, dass sie jemanden kidnappen und ihm die Augen ausstechen könnten, aber der Typ gehört definitiv dazu.« Er machte eine vage Handbewegung in Richtung Eingang. »Wenn Sie Glück haben, erwischen Sie ihn vielleicht noch in der Stadt, freitagvormittags erledigt er nämlich für gewöhnlich immer seine Wocheneinkäufe.«
  Interessiert hob Megan die Augenbrauen und vergrub die Hände in ihren Jackentaschen. »Wenn das so ist, dann werd ich wohl mal nach dem guten Mann Ausschau halten. Vielen Dank für den Tipp.«
  Sie stand bereits vor der Tür und war gerade dabei, die Klinke herunterzudrücken, als sie noch ein letztes Mal innehielt. Die warme, abgestandene Luft, die im Pub herrschte, hatte sich unbemerkt wie ein Schraubstock um ihren Schädel gespannt und nicht nur das immer lästiger werdende Pochen hinter ihrer Stirn drängte sie dazu, endlich weiterzuziehen, doch die Worte lagen ihr auf der Zunge. Megan schloss die Augen und presste mit einem leisen Seufzen die Lippen aufeinander.
  »Keine Sorge, wir werden das Schwein schon drankriegen. Darauf können Sie sich verlassen.«




♫   fleetwood mac  ·  the chain
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