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10 Jahre

Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P12 / Gen
Bonifazius Dottor Massimo OC (Own Character) Scipio
21.10.2019
21.10.2019
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10 Jahre


Fabio Massimo rutschte nicht unruhig auf seinem Stuhl herum. Er klopfte nicht mit den Fingern auf den Tisch, seine Augenlieder zuckten nicht und seine Füße standen beide gerade auf dem Boden. Dass er aufgeregt – ja sogar nervös – war, sah ihm niemand der anwesenden Gäste an. Auch dem Kellner, der gerade den Cappuccino vor ihm auf dem Tisch platzierte, konnte er kinderleicht den selbstbewussten, ernsten Dottor Massimo vorspielen, der in ganz Venedig bekannt war. Vermutlich war es eine große Ehre für das gesamte Café, dass der Dottore es mit seiner Anwesenheit beehrte. Wahrscheinlich wurde bereits der Inhaber informiert und befand sich auf dem Weg zum Café, um Dottor Massimo persönlich zu begrüßen und auch dieser würde nicht bemerken, wie sehr Fabio Massimo innerlich zitterte.
10 Jahre. 10 Jahre war es her, seit er seinen Sohn zum letzten Mal gesehen hatte. 10 Jahre. Fabio konnte sich nicht mehr an die letzte Begegnung mit Scipio erinnern. Er hatte es oft genug versucht. Sein Sohn war Mitten in der Nacht verschwunden. Hatten sie sich beim Abendessen gesehen? Nein, Fabio hatte meistens in seinem Büro zu Abend gegessen und Scipio … vermutlich mit dem Kindermädchen? Nein, das hatte er schon vor seinem Verschwinden entlassen.
Fabio zuckte fast zusammen, als die Tür des Cafés sich öffnete. Es waren zwei Touristinnen, die aus den überfüllten Gassen in das Café flohen. Er wandte den Blick wieder ab. Nippte kurz an seinem Cappuccino.
10 Jahre waren eine lange Zeit. Der einzige Lebensbeweis, den er über all die Jahre von seinem Sohn erhalten hatte, waren Postkarten. Kurze Nachrichten – oft nicht mehr als zwei Zeilen – die nicht sonderlich viel preisgaben, und auf die er nicht antworten konnte. Die Postkarten wurden in aller Welt gestempelt – es war unmöglich sie zurückzuverfolgen. Fabio hatte es versucht.
Die Tür öffnete sich erneut und Fabio warf der eintretenden Person einen Blick zu. Gerade wollte er sich wieder abwenden, da es nicht Scipios Gesicht war, was ihm entgegenblickte, doch etwas an dem Mann ließ ihn stocken. Er sah aus wie … er selbst. Einige Jahre jünger aber … Fabio war als blicke er in einen Spiegel … oder eher auf ein altes Foto. Natürlich sah Scipio nicht mehr so aus wie mit 14, aber der Mann vor ihm wirkte deutlich älter als 24. Aber was wusste er schon? Fabio hatte seinen Sohn seit 10 Jahren nicht gesehen. Wie hatte er glauben können, dass Scipio …
Der Mann – Scipio – trat ins Café und sein Blick fiel gleich auf Fabio. Dieser spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, als schwarze Augen ihn musterten, die eindeutig seinem verschwundenen Sohn gehörten.
Fabio musste sich beherrschen, damit seine Gesichtszüge ihm nicht entglitten, als sein Sohn mit einem etwas gezwungen wirkenden Lächeln auf ihn zutrat und ihm die Hand bot.
„Vater“, sagte Scipio und nickte Fabio kurz zu.
„Scipio“, entgegnete dieser und lächelte verkrampft.
„Ist lange her.“ Scipio trug sein Haar noch immer lang, wenn auch nicht mehr zu einem Zopf gebunden wie früher. Es war pechschwarz. Er trug einen dunklen Anzug über einem weißen Hemd ohne Krawatte. „Wie geht es dir?“
Fabio hatte nicht damit gerechnet, dass er derjenige sein würde, der heute Fragen beantwortete, aber er beschloss die Frage als freundliche Gesprächseröffnung zu deuten. Normalerweise war er es, der die Gesprächsführung übernahm, aber das hier … das hier war etwas Anderes.
„Bei mir hat sich in den letzten Jahren nicht sehr viel verändert. Von der Wirtschaftskrise vor einigen Jahren sind meine Unternehmen zum Großteil verschont geblieben. Ich habe einiges in Immobilien investiert. Das AirBnB Geschäft boomt in Venedig. Und ich überlege etwas Geld in Kreuzfahrtschiffen anzulegen. Der Markt scheint eine Zukunft zu haben.“ Scipio nickte wissend. Er sah ihn an, als hätte er genau diese Worte erwartet und schien doch irgendwie … enttäuscht. Vielleicht redete er zu viel. Zu viel von sich. Er beschloss Scipio das Ruder zu übergeben. Der war schließlich das Mysterium.
„Was ist mit dir? Wie verdienst du dir deinen Lebensunterhalt?“
Scipio zog kurz die Augenbrauen hoch, bevor er antwortete: „Mir geht es gut. Danke der Nachfrage. Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben. Ich habe Familie und Freunde, die ich liebe und die mich lieben.“
Scipio wich seiner Frage nach dem Beruf also aus. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Gut, dass er sich auf diesen Fall vorbereitet hatte. Fabio würde seinen Sohn nicht im Regen stehen lassen. Auch, wenn dieser bereits vor Jahren von Zuhause fortgelaufen war. Wenn sich herumsprach, dass der verlorene Sohn von Dottor Massimo nach Venedig zurückgekehrt war, aber nun als Kellner oder Liftboy arbeiten musste … Hier im Café hatte man sie bestimmt schon entdeckt und Scipio sah ihm wirklich sehr ähnlich.
„Scipio, jetzt wo wir wieder in Kontakt stehen, würde ich dich gerne in meine Geschäfte einbeziehen. Wie du weißt, habe ich keine anderen Erben und ich würde das Geld ungern in fremde Hände geben. Ich weiß, dass du mit alldem keinerlei Erfahrung hast, aber ich würde dich langsam einarbeiten. Ich würde dich auch gerne wieder in mein Testament aufnehmen, denn ich verzeihe dir. Ich verzeihe dir, dass du weggelaufen bist.“
Scipio warf ihm einen langen Blick zu, den Fabio unmöglich deuten konnte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie selbstbewusst sein Sohn wirkte. Wie aufrecht er da saß und wie mühelos er dem Blick seines Vaters begegnete – das war früher anders gewesen. Scipio winkte dem Kellner mit einem freundlichen Lächeln ab, als dieser seine Bestellung entgegennehmen wollte. Dann wandte er sich wieder seinem Vater zu und das Lächeln verschwand.
„Da gibt es wohl ein Missverständnis“, sagte er langsam. „Ich bin nicht daran interessiert wieder Teil der Familie oder der Unternehmen Massimo zu werden. Ich möchte bitte aus allen Unterlagen gestrichen werden, in denen mein Name noch vorkommt. Und an deiner Vergebung bin ich erst recht nicht interessiert. Dieses Treffen findet statt, weil ich dir vor 10 Jahren in einer Postkarte geschrieben habe, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereit wäre, dich wiederzusehen. Es bedeutet jedoch nicht, dass ich wieder Teil deines Lebens werde. Wenn du nach einer Möglichkeit suchst, deinem vielen Geld eine Bedeutung zu geben: Freunde von mir gründen gerade ein neues soziales Projekt für Straßenkinder und sind noch auf der Suche nach Immobilien überall in der Stadt für Büroräume sowie Obdachloseneinrichtungen für Minderjährige.“
Fabio fiel nichts Besseres ein, als seinen Sohn entsetzt anzustarren. Scipio beachtete ihn jedoch nicht weiter. Er hatte sich Richtung Tür gedreht und winkte einem blonden Teenager zu, der gerade – einen Kinderwagen vor sich herschiebend – das Café betrat. Der Junge musste ungefähr so alt sein wie Scipio gewesen war, als Fabio ihn zuletzt zu Gesicht bekommen hatte.
„Bo“, grüßte Scipio den Teenager, stand auf und drückte ihn kurz an sich. ‚Bo‘ lächelte Scipio an und deutete auf das etwa zweijährige Kind im Kinderwagen, das Fabio erst jetzt bemerkte. Das rabenschwarze Haar des Kindes wurde zum Großteil durch eine kleine Cappy mit dem Schriftzug „F.B.I.“ verdeckt. „Er ist gerade eingeschlafen.“ Fabio sah, dass Scipio das Lächeln erwiderte. Sein Sohn nahm dem kleinen, schlafenden Jungen die Cappy ab, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und besorgte dann einen Stuhl für den Teenager.
„Witzig oder?“, fragte Bo und deutete auf die Cappy, die Scipio auf dem Tisch platziert hatte. Scipio grinste ihn an. „Ben war bestimmt begeistert. Bo, du erinnerst dich an meinen Vater?“ Bos Augen weiteten sich bei Scipios Worten und auch Fabio sah seinen Sohn erstaunt an. Bo musste etwa 15 sein. Gut zehn Jahre jünger als sein Sohn. Es konnte sich also nicht um einen Schulfreund handeln. Wann sollte ihm dieser Teenager denn schon einmal begegnet sein? Wer war er überhaupt? Und wer war der kleine Junge in seiner Obhut?
„Aber natürlich Signor Fort … ähm Dottor Massimo“, stammelte der Teenager und reichte ihm die Hand. „Bo Spavento. Das ist ja ewig her. Scip, tut mir leid. Ich bin etwas zu früh. Ich wusste gar nicht, dass du Kontakt mit deinem Vater hast. Soll ich noch eine Runde mit Ben laufen oder …“
„Ist schon gut, Bo. Wir waren eh fast fertig.“ Fast fertig? Scipio war doch gerade erst gekommen. Eine plötzlich erklingende Melodie ließ Fabio nach seinem Mobiltelefon tasten, aber es war Scipios Handy, das klingelte. Sein Sohn blickte auf das Display und seufzte. „Tut mir leid“, sagte er. „Da muss ich rangehen.“ Er warf Bo noch einen kurzen Blick zu, den Fabio nicht recht zu deuten wusste. Dann ging der vor die Tür.
„Wo sind wir uns schon mal begegnet?“ Fabio konnte sich beim besten Willen nicht an den Teenager erinnern. Wenn sie sich begegnet waren, bevor Scipio verschwand musste er noch ein kleiner Junge gewesen sein.
„Ich war eins von den Stella-Kindern.“ Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als müsse Fabio genau wissen, wovon er sprach. Das war allerdings nicht der Fall.
„Entschuldigung, Stella-Kindern?“
„Na, eines der Kinder, die damals in Ihrem verlassenen Kino untergekommen sind. Im Stella. Ich war damals fünf oder sechs. Ich war auch mal bei Ihnen Zuhause. Zusammen mit meinem großen Bruder.“
Der Teenager sah nicht so aus, als würde er auf der Straße wohnen und auch das Kleinkind wirkte nicht verwahrlost.
„Du hast auf der Straße gelebt?“
„Nicht sehr lange. Vielleicht insgesamt ein halbes Jahr. Als meine Mutter gestorben ist, sind mein Bruder und ich alleine nach Venedig. Scipio hat uns damals sehr geholfen. Tut er eigentlich immer noch.“ Das musste gewesen sein, bevor Scipio aus Venedig verschwand. Er konnte also nicht älter als 15 gewesen sein. Wie hatte er damals einer Bande Streuner geholfen? Vermutlich hatten diese Kinder ihn letztendlich überredet von Zuhause wegzulaufen.
„Aber jetzt wohnt ihr in einem Heim? Bei den Barmherzigen Schwestern?“  
„Nein, wir wurden adoptiert. Mein Bruder ist auch schon volljährig. Er macht jetzt sein Jahrespraktikum bei den Schwestern und dann ist er fertiger Sozialarbeiter.“ Bo machte eine kurze Pause und warf einen Blick auf den kleinen Jungen im Kinderwagen, der noch immer friedlich vor sich hinschlummerte. Dann fiel sein Blick wieder auf Fabio und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Dottor Massimo, Sie sind doch Eigentümer einiger leerstehender Immobilien in Lido, Castello und San Marco oder?“
Fabio zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht, worauf der Junge hinauswollte. „Auch in Murano und Burano.“
Bo winkte ab. „Da haben wir schon was“, sagte er. „Mein Bruder Prosper und meine Schwester Caterina wollen in den nächsten Jahren einen Verein zur Unterstützung von Straßenkindern aufbauen. Die Grundidee ist, den Kindern ein Dach über dem Kopf, eine warme Mahlzeit und Unterstützung zu bieten, ohne, dass die Carabinieri und damit auch eventuelle Verwandte oder sonstige vorhandene Erziehungsberechtige involviert werden.“
„Ich verstehe den Mehrwert nicht“, erwiderte Fabio. „Warum bringt man diese Kinder nicht einfach zu ihren Erziehungsberechtigten zurück. Dem Staat liegen doch schon genug auf der Tasche.“
Bo machte eine kurze Pause. Dann sagte er: „Dieser Verein würde nicht von staatlichen Geldern finanziert werden und wäre deshalb auch möglichst unabhängig vom Staat. Die Erfahrung, die wir als Kinder auf der Straße gemacht haben, ist, dass kein Kind grundlos von Zuhause wegläuft. Diese Kinder einfach wieder dorthin zurück zu bringen, wo sie herkamen, mag eine einfache Lösung für den Staat sein, endet aber oft katastrophal für die Kinder. Meine Adoptivschwester Caterina zum Beispiel hat über ein Jahr auf der Straße gelebt, weil sie Zuhause misshandelt wurde. Unsere Adoptivmutter konnte sie nicht rechtmäßig adoptieren, da Caterinas biologische Familie nicht bereit gewesen wäre, sie einfach so abzugeben. Caterina hat mit 18 – als sie sicher war, dass niemand sie wieder zu diesen Menschen zurückzwingen konnte – ihren echten Namen wieder angenommen und ihre Eltern verklagt. Hätte der Staat Caterina in die Finger bekommen, wäre sie – solange sie noch nicht bereit war, darüber zu reden, was ihr passiert ist – zurück zu ihrer biologischen Familie gekommen.
Der Verein soll Kindern eine Möglichkeit geben mit Sozialarbeitern, Drogenberatern und Psychologen zu reden, sich aber auch rechtlichen Beistand zu besorgen, falls notwendig. Am wichtigsten sind jedoch zu diesem Zeitpunkt kostenfreie Unterkünfte. Wir haben schon eine 4-Zimmer-Wohnung in Burano und ein kleines Haus in Murano, aber zum Beispiel hier in San Marco sind wir schon seit längerem auf der Suche. Natürlich freuen wir uns auch über finanzielle Spenden.“
Bevor Fabio irgendetwas erwidern konnte, drückte Bo ihm eine Visitenkarte in die Hand. „Caterina Spavento, Rechtsanwältin“ stand darauf und darüber in kitschig goldenen Lettern „Sternenverstecke e.V.“. Was für eine total bescheuerte Idee war das denn? Vermutlich waren Bos Geschwister nicht viel älter als er selbst, so kindisch wie das Ganze klang. Eine Rechtsanwältin war Bos Schwester bestimmt nicht.
Scipio war noch immer nicht zurückgekehrt. Fabio sah durch die Scheibe, wie er vor dem Café auf und abging und dabei in sein Telefon sprach.
„Überlegen Sie es sich“, sagte Bo und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch.
„Das tue ich“, sagte Fabio höflich. Normalerweise hätte er eine solch bizarre Idee direkt in der Luft zerrissen, aber er wollte er sich mit Scipio nicht direkt wieder verscherzen und der hatte ihm ja auch geraten sein Geld in diesem Projekt anzulegen. Eine Sache, die Bo gesagt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Kein Kind läuft grundlos von Zuhause weg. Hätte Scipio auch von einem dieser Häuser profitiert, nachdem er von Zuhause weggelaufen war? Hätte auch er psychologischen Beistand oder rechtliche Beratung in Anspruch nehmen wollen? Drogenberatung?
„Bo, wo ist meine Käääppiii!“ Irritiert sah Fabio sich um. Der kleine Junge war aufgewacht und versuchte sich aus dem Anschnallgurt des Wagens zu befreien.
„Gut geschlafen, Ben?“, fragte Bo den Kleinen grinsend, während er ihm aus dem Wagen half.
„Ich habe gar nicht geschlafen“, behauptete das Kind.
„Hier.“ Bo setzte ihm die Cappy wieder auf den Kopf. „Jetzt bist du wieder ein richtiger Agent.“
„So wie Papa!“ Der Junge streckte Bo die Arme entgegen und dieser nahm ihn zu sich auf den Schoß und setzte sich wieder.
„Ist das dein Sohn?“, fragt Fabio vorsichtig und hoffte inständig, dass die Antwort ‚Nein‘ lautete.
„Oh“, sagte Bo überrascht. „Ähm, ich dachte, ihr kennt euch. Sorry. Das ist Benvolio. Ben, das ist dein Großvater.“ Während Fabio das Kind irritiert und – zu seinem eigenen Erstaunen – freudig überrascht musterte, schien Benvolio von dieser Offenbarung vollkommen unbeeindruckt zu sein. Er nahm sich die Cappy wieder vom Kopf und betrachtete die drei Buchstaben darauf.
„Was steht da, Bo?“ Bo seufzte. „F.B.I.“, antwortete er.
„So wie Papa“, sagte Ben und setzte sich die Cappy etwas schief wieder auf. Bo richtete sie.
„Warum wie Papa?“, fragte Fabio, der seine Augen nicht von dem kleinen Jungen lassen konnte. Warum war ihm zuvor nicht aufgefallen wie ähnlich das Kind Scipio sah?
Bo musterte Bo für einige Sekunden nachdenklich, bevor er antwortete. „Scip hat der AISI (italienischer Inlandsgeheimdienst) vor ein paar Jahren mal sehr ausgeholfen. Er hat ein paar entscheidende Schlüsse bei einer Bankraubserie in Verona gezogen. Seitdem arbeitet er ab und zu für sie und wir haben Ben erklärt, das wäre so etwas wie das F.B.I. … Deshalb die Cappy. Die sind jetzt bestimmt auch am Telefon. Scip musste ganz spontan nach Venedig für einen Fall. Maria ist diese Woche bei ihrer Mutter, deshalb musste Ben mit, auch, wenn Scip beruflich hier ist.“ Bo drückte Ben einen Kuss auf die Stirn. „Jedenfalls war Ben ein paar Stunden mit im Büro, als ich noch in der Schule war. Ich konnte ihn erst vor zwei Stunden abholen und auch sonst hatte so spontan niemand Zeit. Aber Ben hat das wohl nichts ausgemacht.“ Fabio erinnerte sich an die Bankraube in Verona. Es waren fünf gewesen. Immer die gleiche Bande, aber die Geheimdienste hatten lange im Dunkeln getappt.
„Bo, ich habe Hunger“, verkündete Ben und grinste Bo breit an. Der sah auf sein Handy. „Wir holen Prosper gleich ab und dann gehen wir zu Ida. Lucia will Nudeln kochen. Victor und Mosca kommen auch.“
„Was ist mit Riccio?“, fragte Scipio, der plötzlich wieder hinter ihnen aufgetaucht war.
Bo schüttelte mit dem Kopf. „Unabkömmlich“, sagte er mit einem vielsagenden Blick zu Scipio auf den Fabio sich jedoch keinen Reim machen konnte. Scipio verdrehte jedoch die Augen und schien genau zu wissen, was das bedeutete.
„Ciao Ben.“ Scipio nahm den kleinen Jungen auf den Arm und Ben zeigte seinem Vater die Cappy. „Guck mal! Genau wie du!“ Scipio nickte lächelnd und fuhr seinem Sohn durch das rabenschwarze Haar.
„Alles okay auf der Arbeit?“, fragte Bo neugierig und auch ein wenig besorgt. Scipio zuckte mit den Schultern. „Ich gehe Morgen noch mal hin, bevor wir fahren. Wespe kommt morgen früh in die Stadt und kann Ben nehmen.“
„Wespe!“, quietschte Ben vergnügt.
„Wir müssen los, oder?“, fragte Scipio Bo und der nickte. Scipio setzte Ben wieder in den Kinderwagen.
„Dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag, Vater.“ Das sollte es also gewesen sein? Das Treffen das Fabio so viele Jahre herbeigesehnt hatte? Gut, er hatte mit eigenen Augen gesehen, dass es seinem Sohn gut ging. Nicht nur das. Scipio schien beruflich erfolgreich zu sein und hatte eine eigene kleine Familie gegründet.
Sein Sohn nickte ihm noch einmal zu. Bo lächelte kurz und hob die Hand und dann machten sich die beiden samt Kind auf den Weg Richtung Ausgang.
„Warte!“, rief Fabio noch bevor er wirklich darüber nachdenken konnte, was er tat. Scipio sah sich überrascht um. Dann drückte er Bo den Kinderwagen in die Hand und drehte sich zu seinem Vater um. Bo verschwand mit dem Jungen nach draußen.
„Ja?“, fragte Scipio und hob die Augenbrauen.
„Warum bist du damals weggelaufen?“ Es war die einzige Frage, auf die er wirklich dringend eine Antwort brauchte. Die Frage auf deren Antwort er seit zehn Jahren wartete. „Du hast mir diese Postkarten geschrieben und mich darüber informiert, dass es dir gut geht, aber du hast mir nie erklärt, warum.“ Scipios Gesichtsausdruck nach zu urteilen überraschten ihn die Worte seines Vaters. Nicht nur das. Er schien … enttäuscht zu sein, als hätte er etwas Anderes erwartet.
„Oh“, machte er und schwieg dann für einige Sekunden. „Ich dachte … ich dachte, das wäre klar.“ Scipio räusperte sich. Dann setzte er sich noch einmal auf den Stuhl gegenüber von Fabio und sah ihm direkt in die Augen. „Ich war meine gesamte Kindheit über sehr unglücklich in deinem Haus.“ Als Scipio die Worte aussprach wurde Fabio schlagartig klar, dass er die Antwort auf seine Frage immer gewusst hatte. Und Scipio hatte seine Worte noch freundlich gewählt. Natürlich war er, Fabio, Scipios Vater, derjenige, der das Haus zu einem Ort gemacht hatte, an dem sein Sohn unglücklich aufwuchs.
„Das … das tut mir leid.“ Fabio blickte erst auf die weiße Tischdecke und seinen kalt gewordenen Cappuccino, doch dann fasste er sich ein Herz und blickte seinem Sohn in die dunklen Augen. Scipio lächelte ihn erleichtert an und Fabio fühlte sich, als wäre eine schwere Last von seinen Schultern gehoben worden. Er lächelte zaghaft zurück.
„Ich verzeihe dir“, sagte sein Sohn und nickte Fabio zu. „Ich melde mich!“ Und Fabio glaubte ihm. Und er hoffte … er hoffte so sehr, dass diesmal keine zehn Jahre verstreichen würden und dass er Ben kennenlernen durfte und Maria. Scipio verließ das Lokal und Fabio schloss seine Finger um die Karte, die Bo ihm gegeben hatte. Vielleicht gab es ja doch noch eine Möglichkeit etwas wieder gut zu machen.
 
 
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