Ich will dich nicht verlieren!
von SunshineOak
Kurzbeschreibung
In dieser Titanic Fanfiktion begleiten wir Jasmine, ein junges 19 jähriges Mädchen welches, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Lukas und ihren zwei besten Freundinnen Viola und Kate, durch einen merkwürdigen Zufall im Jahre 1912 landet. Noch vor der Abreise des zum Untergang geweihten Luxusdampfers trifft sie auf den 6ten Offizier James P. Moody. Bald wird ihr bewusst, dass sie mehr für ihn empfindet als sie eigentlich sollte, doch sie weiß auch, um das Schicksal des jungen Offiziers. Hin und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und dem Wissen um die Tragödie die sich schon bald darauf abspielen wird, begibt sie sich auf eine gefährliche Reise.
GeschichteTragödie, Liebesgeschichte / P16 / Gen
OC (Own Character)
21.09.2019
28.09.2020
63
232.841
10
Alle Kapitel
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28.09.2020
3.082
Das sanfte Rauschen der Wellen, welche sich in einem gleichbleibenden Takt am Rumpf der Carpathia brachen, und das Brüllen des Schornsteins, jagten Lukas einen eisigen Schauer über den Rücken.
Sein Blick wanderte in den wolkenlosen Sternenhimmel.
Es war alles genau so, wie in der Nacht der Kollision.
Die Kälte, die Geräusche, der wolkenlose Himmel. Alles passte.
Der kalte Fahrtwind fühlte sich an, als würden tausende von Klingen über die Haut des Schwarzhaarigen gleiten. Auch bildeten sich bei jedem Ausatmen Dampfwolken. Es war wirklich, wie in jener Nacht.
Ohne es überhaupt zu merken, umklammerte Lukas die eiskalte Reling des Schiffes. Sein Herzschlag und seine Atmung wurden schneller, als plötzlich von überall her Stimmen ertönten. Hilferufe, Kinder, die nach ihren Eltern schrien, das schrille Geräusch der Offizierspfeifen, Weinen, das aufprallen von Körpern auf der Wasseroberfläche.
All diese Geräusche waren von jetzt auf gleich um ihn herum. Es war, als durchlebte er diese Nacht ein weiteres Mal.
Lukas hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen.
Doch auch das brachte nicht viel. Die Geräusche waren in seinem Kopf und die Bilder, welche vor seinem geistigen Auge aufblitzten, ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Er befand sich wieder auf der Titanic. Um ihn herum waren verängstigte Menschenmassen. Dichtes Gedränge an den Booten, Offiziere und Matrosen die verzweifelt versuchen, eine Massenpanik zu verhindern. James, welcher ihn und die anderen zu einem Boot führte. Seine Schwester, welche in der Masse verschwand und mit einem Baby in den Armen zurückkehrte.
Lukas spürte, wie ihm bei der Erinnerung plötzlich schlecht wurde. Er wollte die Bilder verdrängen, doch es funktionierte nicht.
Stattdessen saß er jetzt, zusammen mit Kate, Viola, Anna und dem Baby, im Rettungsboot, welches langsam zu Wasser gelassen wurde. Er schaut hoch, in das Gesicht von Jasmine. Die Angst und Unsicherheit in ihrem Blick, schnürten ihm regelrecht den Hals zu. Am liebsten hätte er seine Schwester gepackt und zu sich ins rettende Boot gezogen, doch er war wie gelähmt. Stattdessen konnte er einfach nur da sitzen und zusehen, wie die Entfernung zwischen ihnen immer größer wurde. Er konnte nichts mehr für sie tun. Aber wenigstens war James bei ihr. Er würde sie beschützen. Und obendrein war seine Schwester nicht dumm. Sie kannte sich von ihnen allen am besten mit der Titanic aus. Sie wusste schon, was zu tun war. Sie würde es schaffen und James auch.
Oder zumindest dachte Lukas, dass es so sein würde. Wenn er gewusst hätte was noch kommen würde, dann hätte er Jasmine niemals alleine gelassen.
Eine Welle der Schuld erfasste ihn, welche jedoch von weiteren, plötzlich auftauchenden Visionen, verdrängt wurde.
Er sah, wie Menschen in ihrer blinden Panik entweder zum Heck rannten, oder von Bord sprangen. Er sah und hörte, wie die Schornsteine laut heulend umkippten und dutzende von Menschen unter sich begruben.
Lukas fühlte einen Stich im Herzen, als er die Lichter der Titanic ein letztes Mal aufleuchten sah, bevor sie schließlich zerbrach und im eisigen Wasser unter ging. Die darauffolgenden Schreie, waren herzzerreißend und ohrenbetäubend.
Das Gefühl der Übelkeit war für ihn unerträglich geworden.
Schlagartig riss Lukas die Augen auf, beugte sich über die Reling, und übergab sich.
Sein ganzer Körper zitterte dabei vor Anstrengung. Er konnte spüren, wie die Magensäure ihm die Speiseröhre verätzte. Viel schlimmer als der Schmerz, war für ihn jedoch der bittere Geschmack. Dieser ekelte ihn regelrecht an. So sehr, dass er sich erneut übergeben musste.
Da seine letzte Mahlzeit schon einen Tag her war, erbrach er nur Magensäure.
Nach zwei weiteren Malen, gelang es Lukas endlich, seinen Brechreiz zu unterdrücken. Schwer atmend hing er über die Reling gebeugt. Den Blick hatte er auf das tiefe, schwarze Meer unter sich gerichtet. Sein Hals schmerzte fürchterlich und er fühlte sich im Moment einfach nur beschissen. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle auf die Knie gesunken, um sich zu erholen. Doch die Kälte und die Tatsache, dass die Offiziere regelmäßig Rundgänge machten, hielten ihn davon ab.
Mühselig richtete er sich auf. Lukas ging es nach dem erbrechen zwar schon deutlich besser, allerdings wollte das Gefühl der Übelkeit nicht völlig verschwinden. Doch solange es nur bei dem Gefühl blieb, war ihm das egal.
Während er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, hielt er sich an der Reling fest.
Er musste irgendwas finden, auf dem er Platz nehmen konnte. Einen Deckstuhl, eine Bank, eine Kiste oder eine Treppenstufe. Egal was, Hauptsache er konnte sich irgendwo hinsetzen und ausruhen.
Während Lukas vorsichtig über das Deck wankte,
Nach einigen Metern, erblickte er eine kleine Bank.
Angespornt von der sich bietenden Sitzgelegenheit, eilte Lukas, mit noch immer leicht wackeligen Beinen, auf die Bank zu.
Dort angekommen, ließ er sich auf das aus Holz gefertigte Objekt fallen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so sehr über eine Sitzgelegenheit gefreut, wie jetzt gerade.
Eine ganze Weile saß er einfach nur da und starrte in die Ferne. Sein Kopf war gefüllt mit unzähligen Gedanken.
Das eben erlebte, sein eigenartiges Erlebnis einige Stunden zuvor, das junge Paar, bei dem es sich zweifelsohne um die Vorfahren von Kate und Viola handelte, die Tatsache, dass die beiden, ohne es überhaupt zu wissen, miteinander verwandt waren. Um nur ein paar zu nennen.
Und doch gab es eine Sache, die Lukas mehr als alles andere beschäftigte. Nämlich die Bedeutung von all diesen Dingen. Er war davon überzeugt, dass ihr Aufenthalt hier und auch diese ganzen Ereignisse, keine Zufälle waren und miteinander in Verbindung stehen mussten.
Als sie noch in Southampton waren, hatte Jasmine nämlich sowas merkwürdiges angedeutet. Wusste seine Schwester möglicherweise etwa doch mehr, als sie damals zugegeben hatte?
Lukas lehnte sich etwas zurück und starrte, mit in den Nacken gelegten Kopf, hoch in den Himmel um die Sterne zu beobachten.
Während er dies tat, ging er in Gedanken die vergangenen Tage noch einmal durch. Möglicherweise war ihm ja das ein oder andere Detail entgangen.
Er überlegte wirklich fieberhaft, ob seine Schwester irgendwas wichtiges angedeutet oder erwähnt hatte. Irgendeinen Anhaltspunkt, anhand dessen er vielleicht dieses Rätsel lösen konnte.
Lukas zerbrach sich im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf, doch egal wie sehr er auch überlegte, ihm kam tatsächlich nur ein einziger Moment in den Sinn, von dem er aber nicht wusste, ob dieser überhaupt hilfreich war.
Und zwar handelte es sich dabei um das Gespräch zwischen ihm und Jasmine, kurz nach der Kollision mit dem Eisberg. Das Gespräch, in dem Jasmine erwähnte, dass ihre Aufgabe vielleicht darin bestanden hätte, den Untergang zu verhindern.
Zuerst wollte Lukas es nicht glauben, da jeder wusste, dass Einmischungen in die Geschichte schlimme Konsequenzen hatten.
Und auch jetzt fiel es ihm immernoch ziemlich schwer, daran zu glauben. Doch auf der anderen Seite schien es auch irgendwie logisch. Immerhin musste es ja einen Grund dafür geben, dass sie in die Vergangenheit geschickt wurden.
Aber das sie den Lauf der Dinge so drastisch ändern sollten, schien ihm äußerst merkwürdig. Und noch eine Sache ließ ihm keine Ruhe. Nämlich das WIE. Wie war es möglich, dass vier Leute aus dem 21. Jahrhundert, mehr als hundert Jahre in der Zeit zurück reisten? Keiner von ihnen hatte eine Zeitmaschine oder sowas. Also wie war das nur möglich? Wer hatte das zu verantworten? Warum genau wurden sie zurück geschickt? Haben sie ihre Aufgabe erfüllt?
Es gab so viele Fragen, aber keine einzige Antwort. Es brachte Lukas fast schon um den Verstand.
Eine Frage jedoch machte ihm unheimliche Angst.
Was würde nun aus ihm, Viola und Kate werden?
Die Angst zerrte an ihm wie ein Paar eiskalter Hände, als er sich an Jasmines unheilvolle Worte erinnerte.
,,Vielleicht werden wir nie wieder nach Hause zurückkehren können."
Was ist, wenn seine Schwester recht gehabt hatte? Was, wenn sie tatsächlich versagt hatten, und deshalb nun für immer hier gefangen waren?
Das wäre nicht nur schrecklich, es wäre eine absolute Katastrophe. Sowohl für ihn, Kate und Viola, als auch für den Verlauf der Geschichte. Sie gehörten nicht hierher! Es haben eh schon viel zu viele Leute ihre Bekanntschaft gemacht. Wer weiß, in wie weit das bereits die Geschichte verändert hat. Ganz zu schweigen davon, dass der sechste Offizier James Moody, welcher ja eigentlich hätte sterben sollen, am leben war.
Wieder wanderte Lukas' Blick rauf in den Sternenhimmel. Plötzlich fühlte er sich leer und verloren. Wie ein kleines Kind, welches von seiner Mutter zurückgelassen wurde.
,,Warum hast du uns alleine gelassen?", fragte er leise.
Stumm und ungestört, blinkten die Sterne munter am Nachthimmel.
Heiße Wut kochte plötzlich in Lukas hoch.
Mit einem Satz war er auf den Beinen. Sein Blick war immernoch in den Himmel gerichtet.
,,WARUM MUSSTEST DU UNS ALLEINE LASSEN? WARUM BIST DU NICHT MITGEKOMMEN? WAS SOLL DENN JETZT AUS UNS WERDEN?"
Lukas' Worte hallten laut über das leere Deck. Einerseits erhoffte er sich dadurch eine Antwort, doch der logisch denkende Teil von ihm wusste, dass dieses Geschreie ihm rein gar nichts bringen würde.
Als das Echo nach ein paar Sekunden schließlich verstummt war und keine andere Stimme sich erhob, bestätigte sich dies nur.
Doch es interessierte Lukas nicht. Ihm war klar, dass sein Geschreie nicht viel nützen würde, aber für ihn fühlte es sich gut an, sich den Schmerz mal von der Seele zu schreien.
Und auch wenn seine Wortwahl etwas anderes vermuten ließ, machte er seine Schwester keineswegs für die Lage, in welcher er und die anderen nun steckten, alleine verantwortlich. Sie alle trugen eine gewisse Mitschuld, denn sie alle wussten was passieren würde, und das jederzeit etwas hätte schief gehen können.
Doch es lag nun einmal in der Natur des Menschen, einen Schuldigen zu finden.
Sei es nun eine höhere Macht wie beispielsweise Gott, oder eben der Verstorbene selbst. Irgendjemand musste verantwortlich gemacht werden.
Lukas fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. Vielleicht sollte er langsam mal in Erwägung ziehen, nach Kate und Viola zu suchen und sich bei ihnen wegen seines Verhaltens zu entschuldigen, anstatt sich wie ein Feigling vor ihnen zu verstecken. Er war sich absolut sicher, dass die beiden, vorallem Kate, krank vor Sorge waren.
,,Lukas? Was machst du denn so spät noch hier?"
Erschrocken zuckte der Schwarzhaarige zusammen.
Harold, welcher sich seinen Nerven zuliebe doch noch dazu entschieden hatte, einen Spaziergang an Deck zu machen, starrte gedankenverloren auf's Wasser, als ein lautes Geschreie ihn in die Wirklichkeit zurückholte.
Obwohl die Wellen ziemlich laut waren, konnte er jedes einzelne Wort klar und deutlich verstehen.
Er erkannte auch, zu wem die Stimme gehörte.
Mit vor Sorge gerunzelter Stirn, machte er sich auf zur Quelle des Geschreis.
Dabei hoffte er inständig, dass Lukas nicht der nächste war der versuchte, von diesem Schiff zu springen.
Angetrieben von dieser Befürchtung und einer für ihn unerklärlichen Angst, eilte der Waliser in die Richtung, aus welcher das Schreien kam.
Sein Herz und seine Gedanken rasten. Warum zum Teufel, schrie der Junge mitten in der Nacht hier rum? Und was hatte dieses ,,Was soll denn jetzt aus uns werden", zu bedeuten?
War möglicherweise etwas passiert? Oder war er jetzt völlig verrückt geworden?
Diese Ungewissheit gefiel Harry überhaupt nicht. Zumal er auch wusste, zu was Lukas imstande war.
Tatsache war, dass ihm sein Zwerchfell immernoch an der Stelle weh tat, an der der Schwarzhaarige ihm seinen Ellenbogen reingerammt hatte.
Doch diesen Gedanken schob der Waliser schnell beiseite.
James hatte ihm gesagt, dass Lukas ihn von seinem ersten Suizidversuch abgehalten hatte. Und da Harry seinem Kollegen glaubte, konnte er sich nicht vorstellen, dass Lukas erneut die Kontrolle über sich verloren hatte und jemanden attackierte.
Als Harold in etwa zehn Metern Entfernung eine schlanke Gestalt ausmachen konnte, wurde er langsamer. Dank der Schiffsbeleuchtung, konnte er die Person auch auf dieser Entfernung zweifelsohne als Lukas identifizieren.
Der Kopf des Jungen war in den Nacken gelegt. Der Anblick, welcher sich ihm bot, war selbstredend.
Das selbe Mitleid, welches er für James empfunden hatte, zerriss Harold auch diesmal das Herz.
Er mochte sich überhaupt nicht vorstellen, wie groß Lukas' Schmerz sein musste. Es konnte sogar gut möglich sein, dass Lukas mehr litt als James. Immerhin war Jasmine seine einzige Schwester gewesen.
Harold war schon fast bei ihm angekommen, als er sah, wie Lukas sich mit der Hand durch das Gesicht strich.
Vielleicht wäre es besser, wenn er durch irgendwas seine Anwesenheit ankündigte.
,,Lukas? Was machst du denn so spät noch hier?"
Kaum hatte diese Frage seinen Mund verlassen, realisierte er, dass er diese vielleicht doch ein wenig zu streng gestellt hatte.
Harold sah, wie der Angesprochene beim Klang seiner Stimme, erschrocken zusammenzuckte und sich ruckartig umdrehte.
,,Harry?", fragte der Jüngere irritiert.
,,Mhm."
Fünf Sekunden, in denen Lukas sein Gegenüber überrascht und verwirrt zugleich anstarrte vergingen, bevor er sich wieder rühren konnte.
,,Was machst du hier?", fragte er wirsch.
Der ehemalige fünfte Offizier zog bei dieser Frage eine Augenbraue hoch.
,,Das selbe habe ich dich eben gefragt."
Lukas blinzelte ein paar mal, bevor er wegschaute.
,,Ist doch nicht wichtig", sagte er ausweichend.
Harry verdrehte nur die Augen. Genau das selbe Theater, hatte er vorhin bereits mit James.
,,Glaubst du wirklich, ich kann mir nicht denken, weshalb du zu so später Stunde noch rumstreunerst statt wie alle anderen zu schlafen?"
Bei dieser Bemerkung, kniff Lukas die Augen zusammen.
,,Du solltest um diese Zeit schon längst im Reich der Träume unterwegs sein. So wie jeder andere auch!"
Lukas schnaubte.
,,Du bist nicht mein Vater, also spar dir dieses Getue!"
Harold musterte Lukas streng.
,,Du hast Recht, ich bin nicht dein Vater. Aber wäre ich es, dann hätte ich schon längst andere Seiten aufgezogen!"
Von einer Sekunde auf die andere, veränderte Lukas' Blick sich schlagartig.
Ungläubig und auch ein wenig entsetzt, starrte er sein Gegenüber an.
Als der Waliser den veränderten Gesichtsausdruck bemerkte, blinzelte er überrascht.
War er bei seiner Wortwahl etwa über die Strenge geschlagen? Oder hatte er irgendwas komisches gesagt?
Lukas schüttelte leicht den Kopf. Obwohl er es vehement zu verbergen versuchte, bemerkte Harold die plötzliche Angst und Unsicherheit in den Augen des Jüngeren.
Irgendetwas hatte ihn zutiefst beunruhigt. Aber was?
,,Was ist los, Lukas?"
Doch der Angesprochene antwortete nicht.
,,Lukas?"
,,Das ist unmöglich!", flüsterte der Schwarzhaarige und starrte Harold mit geweiteten Augen an.
Jetzt verstand der Waliser gar nichts mehr. Was war unmöglich? Und warum starrte Lukas ihn so an, als hätte er einen Geist gesehen?
,,Was hat das alles zu bedeuten?"
Harolds Verwirrung, sowie seine Ungeduld, wuchsen immer weiter.
,,Was zum Teufel redest du da, Junge?", verlangte er zu wissen.
Doch anstatt zu antworten, wich Lukas ein paar Schritte zurück. Voller Ehrfurcht blickte er zu dem Älteren auf.
Harold verstand nicht, weshalb Lukas ihn so anschaute. Er hatte ihm doch nichts getan.
,,Lukas? Lukas, du verdammter Volltrottel!"
Beide Männer sahen gleichzeitig in die Richtung, aus welcher der Ruf kam.
Die Stimme gehörte zu Kate welche, mit Viola im Schlepptau, auf sie beide zu ging. Das sie wütend war, musste nicht erst erwähnt werden. Denn allein ihr Gesichtsausdruck, war schon Antwort genug.
,,Wo warst du bloß die ganze Zeit? Hast du überhaupt eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe?"
Im Augenwinkel bemerkte Harold, dass Lukas den Kopf senkte.
Seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben. Er wusste ganz genau, wie der Jüngere sich gerade fühlte. Seine Verlobte Ellen war nämlich genau so, wenn sie besorgt war.
,,Ich rede mit dir, Lukas!"
Nervös kratzte dieser sich am Hinterkopf.
,,Tut mir leid, Kate. Ich...ähm muss wohl die Zeit völlig vergessen haben."
Innerlich schlug Harold sich die Hand vor die Stirn. Er hatte definitiv schon bessere Ausreden gehört.
Das sah Kate übrigens genau so.
,,Willst du mich jetzt komplett verarschen? Eine noch billigere Ausrede ist dir wohl nicht mehr eingefallen, oder?"
Der Waliser rechnete schon mit einer hitzköpfigen Antwort. Weshalb ihn Lukas' kleinlaute Entschuldigung, umso mehr überraschte.
Und auch die beiden jungen Frauen hatten mit einer völlig anderen Reaktion gerechnet.
Kate verschlug es sogar kurzzeitig die Sprache.
Viola trat vor und schaute abwechselnd zu Harold und Lukas.
,,Ist alles in Ordnung?"
Die Frage war an den Offizier gerichtet.
Dieser schaute kurz zum Schwarzhaarigen, bevor er sich wieder an die Brünette wandte.
,,Soweit ja. Und bei euch?"
,,Bei uns auch, danke", antwortete Viola höflich aber mit Misstrauen in der Stimme. Ihr war der besorgte Blick des Offiziers nicht entgangen.
,,Lukas, wo bist du nur die ganze Zeit gewesen? Du...du hast doch wohl nicht etwa nach James gesucht, oder?"
Kates Blick wanderte zu Harold.
,,Es geht ihm doch gut, oder?"
Voller Unglauben und Verwirrung, schaute Lukas die Blondhaarige an.
,,Was? Warum sollte ich denn nach ihm suchen?"
Bevor Harold überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte zu antworten, hatte Kate den Kopf bereits wieder in Lukas' Richtung gedreht.
,,Das fragst du auch noch? Du wolltest ihn umbringen, Lukas!"
Es war unschwer zu erkennen, dass Lukas am liebsten widersprochen hätte. Doch da er seine Aktion von vorhin und auch die Worte, die er gesagt hatte, nicht verleugnen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als beschämt zur Seite zu schauen.
,,Sag schon, hast du James was getan, ja oder nein?"
,,Nein, hab ich nicht!"
Kate musterte ihren Freund eingehend.
,,Und wo warst du dann gewesen?"
Harold sah an der Körperhaltung des Jüngeren, dass dieser etwas zu verbergen hatte.
Normalerweise war es nicht Harolds Art sich in andere Angelegenheiten einzumischen. Aber bei Lukas' Anblick überkam ihn plötzlich das Gefühl, dass er ihn in Schutz nehmen musste.
,,Er war bei mir und den anderen Offizieren."
Überrascht schauten die drei ihn an.
Als Lukas den vielsagenden Blick in den Augen des Walisers sah, begriff er.
,,Da habt ihr eure Antwort", sagte er an die beiden Freundinnen gerichtet.
,,Wirklich?", hakte Viola misstrauisch nach.
Harold nickte.
Sie und Kate sahen sich an. Sie schienen zwar nicht wirklich überzeugt, aber andererseits konnten sie auch nicht das Gegenteil beweisen.
,,Hm, okay", sagte Kate mit hochgezogener Augenbraue.
,,Ihr wolltet doch wissen, wie es James geht, richtig?"
Bei der Erwähnung von Jasmines Geliebten, wurden alle drei hellhörig.
,,Natürlich!", sagte Viola fast schon empört.
Kate trat vor.
,,Sag, wie geht es ihm?"
,,Körperlich eigentlich ganz gut. Er befindet sich Momentan in der Obhut des Schiffarztes. Aber ich befürchte, dass die anderen Offiziere und ich ihn für den Rest der Reise nicht mehr aus den Augen lassen können."
,,Was? Warum?"
Harolds Blick verfinsterte sich.
,,Weil er versucht hat, sich umzubringen!"
Nach einem kurzen Seitenblick in Lukas' Richtung fügte er noch hinzu: ,,Zum zweiten Mal."
Sein Blick wanderte in den wolkenlosen Sternenhimmel.
Es war alles genau so, wie in der Nacht der Kollision.
Die Kälte, die Geräusche, der wolkenlose Himmel. Alles passte.
Der kalte Fahrtwind fühlte sich an, als würden tausende von Klingen über die Haut des Schwarzhaarigen gleiten. Auch bildeten sich bei jedem Ausatmen Dampfwolken. Es war wirklich, wie in jener Nacht.
Ohne es überhaupt zu merken, umklammerte Lukas die eiskalte Reling des Schiffes. Sein Herzschlag und seine Atmung wurden schneller, als plötzlich von überall her Stimmen ertönten. Hilferufe, Kinder, die nach ihren Eltern schrien, das schrille Geräusch der Offizierspfeifen, Weinen, das aufprallen von Körpern auf der Wasseroberfläche.
All diese Geräusche waren von jetzt auf gleich um ihn herum. Es war, als durchlebte er diese Nacht ein weiteres Mal.
Lukas hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen.
Doch auch das brachte nicht viel. Die Geräusche waren in seinem Kopf und die Bilder, welche vor seinem geistigen Auge aufblitzten, ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Er befand sich wieder auf der Titanic. Um ihn herum waren verängstigte Menschenmassen. Dichtes Gedränge an den Booten, Offiziere und Matrosen die verzweifelt versuchen, eine Massenpanik zu verhindern. James, welcher ihn und die anderen zu einem Boot führte. Seine Schwester, welche in der Masse verschwand und mit einem Baby in den Armen zurückkehrte.
Lukas spürte, wie ihm bei der Erinnerung plötzlich schlecht wurde. Er wollte die Bilder verdrängen, doch es funktionierte nicht.
Stattdessen saß er jetzt, zusammen mit Kate, Viola, Anna und dem Baby, im Rettungsboot, welches langsam zu Wasser gelassen wurde. Er schaut hoch, in das Gesicht von Jasmine. Die Angst und Unsicherheit in ihrem Blick, schnürten ihm regelrecht den Hals zu. Am liebsten hätte er seine Schwester gepackt und zu sich ins rettende Boot gezogen, doch er war wie gelähmt. Stattdessen konnte er einfach nur da sitzen und zusehen, wie die Entfernung zwischen ihnen immer größer wurde. Er konnte nichts mehr für sie tun. Aber wenigstens war James bei ihr. Er würde sie beschützen. Und obendrein war seine Schwester nicht dumm. Sie kannte sich von ihnen allen am besten mit der Titanic aus. Sie wusste schon, was zu tun war. Sie würde es schaffen und James auch.
Oder zumindest dachte Lukas, dass es so sein würde. Wenn er gewusst hätte was noch kommen würde, dann hätte er Jasmine niemals alleine gelassen.
Eine Welle der Schuld erfasste ihn, welche jedoch von weiteren, plötzlich auftauchenden Visionen, verdrängt wurde.
Er sah, wie Menschen in ihrer blinden Panik entweder zum Heck rannten, oder von Bord sprangen. Er sah und hörte, wie die Schornsteine laut heulend umkippten und dutzende von Menschen unter sich begruben.
Lukas fühlte einen Stich im Herzen, als er die Lichter der Titanic ein letztes Mal aufleuchten sah, bevor sie schließlich zerbrach und im eisigen Wasser unter ging. Die darauffolgenden Schreie, waren herzzerreißend und ohrenbetäubend.
Das Gefühl der Übelkeit war für ihn unerträglich geworden.
Schlagartig riss Lukas die Augen auf, beugte sich über die Reling, und übergab sich.
Sein ganzer Körper zitterte dabei vor Anstrengung. Er konnte spüren, wie die Magensäure ihm die Speiseröhre verätzte. Viel schlimmer als der Schmerz, war für ihn jedoch der bittere Geschmack. Dieser ekelte ihn regelrecht an. So sehr, dass er sich erneut übergeben musste.
Da seine letzte Mahlzeit schon einen Tag her war, erbrach er nur Magensäure.
Nach zwei weiteren Malen, gelang es Lukas endlich, seinen Brechreiz zu unterdrücken. Schwer atmend hing er über die Reling gebeugt. Den Blick hatte er auf das tiefe, schwarze Meer unter sich gerichtet. Sein Hals schmerzte fürchterlich und er fühlte sich im Moment einfach nur beschissen. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle auf die Knie gesunken, um sich zu erholen. Doch die Kälte und die Tatsache, dass die Offiziere regelmäßig Rundgänge machten, hielten ihn davon ab.
Mühselig richtete er sich auf. Lukas ging es nach dem erbrechen zwar schon deutlich besser, allerdings wollte das Gefühl der Übelkeit nicht völlig verschwinden. Doch solange es nur bei dem Gefühl blieb, war ihm das egal.
Während er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, hielt er sich an der Reling fest.
Er musste irgendwas finden, auf dem er Platz nehmen konnte. Einen Deckstuhl, eine Bank, eine Kiste oder eine Treppenstufe. Egal was, Hauptsache er konnte sich irgendwo hinsetzen und ausruhen.
Während Lukas vorsichtig über das Deck wankte,
Nach einigen Metern, erblickte er eine kleine Bank.
Angespornt von der sich bietenden Sitzgelegenheit, eilte Lukas, mit noch immer leicht wackeligen Beinen, auf die Bank zu.
Dort angekommen, ließ er sich auf das aus Holz gefertigte Objekt fallen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so sehr über eine Sitzgelegenheit gefreut, wie jetzt gerade.
Eine ganze Weile saß er einfach nur da und starrte in die Ferne. Sein Kopf war gefüllt mit unzähligen Gedanken.
Das eben erlebte, sein eigenartiges Erlebnis einige Stunden zuvor, das junge Paar, bei dem es sich zweifelsohne um die Vorfahren von Kate und Viola handelte, die Tatsache, dass die beiden, ohne es überhaupt zu wissen, miteinander verwandt waren. Um nur ein paar zu nennen.
Und doch gab es eine Sache, die Lukas mehr als alles andere beschäftigte. Nämlich die Bedeutung von all diesen Dingen. Er war davon überzeugt, dass ihr Aufenthalt hier und auch diese ganzen Ereignisse, keine Zufälle waren und miteinander in Verbindung stehen mussten.
Als sie noch in Southampton waren, hatte Jasmine nämlich sowas merkwürdiges angedeutet. Wusste seine Schwester möglicherweise etwa doch mehr, als sie damals zugegeben hatte?
Lukas lehnte sich etwas zurück und starrte, mit in den Nacken gelegten Kopf, hoch in den Himmel um die Sterne zu beobachten.
Während er dies tat, ging er in Gedanken die vergangenen Tage noch einmal durch. Möglicherweise war ihm ja das ein oder andere Detail entgangen.
Er überlegte wirklich fieberhaft, ob seine Schwester irgendwas wichtiges angedeutet oder erwähnt hatte. Irgendeinen Anhaltspunkt, anhand dessen er vielleicht dieses Rätsel lösen konnte.
Lukas zerbrach sich im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf, doch egal wie sehr er auch überlegte, ihm kam tatsächlich nur ein einziger Moment in den Sinn, von dem er aber nicht wusste, ob dieser überhaupt hilfreich war.
Und zwar handelte es sich dabei um das Gespräch zwischen ihm und Jasmine, kurz nach der Kollision mit dem Eisberg. Das Gespräch, in dem Jasmine erwähnte, dass ihre Aufgabe vielleicht darin bestanden hätte, den Untergang zu verhindern.
Zuerst wollte Lukas es nicht glauben, da jeder wusste, dass Einmischungen in die Geschichte schlimme Konsequenzen hatten.
Und auch jetzt fiel es ihm immernoch ziemlich schwer, daran zu glauben. Doch auf der anderen Seite schien es auch irgendwie logisch. Immerhin musste es ja einen Grund dafür geben, dass sie in die Vergangenheit geschickt wurden.
Aber das sie den Lauf der Dinge so drastisch ändern sollten, schien ihm äußerst merkwürdig. Und noch eine Sache ließ ihm keine Ruhe. Nämlich das WIE. Wie war es möglich, dass vier Leute aus dem 21. Jahrhundert, mehr als hundert Jahre in der Zeit zurück reisten? Keiner von ihnen hatte eine Zeitmaschine oder sowas. Also wie war das nur möglich? Wer hatte das zu verantworten? Warum genau wurden sie zurück geschickt? Haben sie ihre Aufgabe erfüllt?
Es gab so viele Fragen, aber keine einzige Antwort. Es brachte Lukas fast schon um den Verstand.
Eine Frage jedoch machte ihm unheimliche Angst.
Was würde nun aus ihm, Viola und Kate werden?
Die Angst zerrte an ihm wie ein Paar eiskalter Hände, als er sich an Jasmines unheilvolle Worte erinnerte.
,,Vielleicht werden wir nie wieder nach Hause zurückkehren können."
Was ist, wenn seine Schwester recht gehabt hatte? Was, wenn sie tatsächlich versagt hatten, und deshalb nun für immer hier gefangen waren?
Das wäre nicht nur schrecklich, es wäre eine absolute Katastrophe. Sowohl für ihn, Kate und Viola, als auch für den Verlauf der Geschichte. Sie gehörten nicht hierher! Es haben eh schon viel zu viele Leute ihre Bekanntschaft gemacht. Wer weiß, in wie weit das bereits die Geschichte verändert hat. Ganz zu schweigen davon, dass der sechste Offizier James Moody, welcher ja eigentlich hätte sterben sollen, am leben war.
Wieder wanderte Lukas' Blick rauf in den Sternenhimmel. Plötzlich fühlte er sich leer und verloren. Wie ein kleines Kind, welches von seiner Mutter zurückgelassen wurde.
,,Warum hast du uns alleine gelassen?", fragte er leise.
Stumm und ungestört, blinkten die Sterne munter am Nachthimmel.
Heiße Wut kochte plötzlich in Lukas hoch.
Mit einem Satz war er auf den Beinen. Sein Blick war immernoch in den Himmel gerichtet.
,,WARUM MUSSTEST DU UNS ALLEINE LASSEN? WARUM BIST DU NICHT MITGEKOMMEN? WAS SOLL DENN JETZT AUS UNS WERDEN?"
Lukas' Worte hallten laut über das leere Deck. Einerseits erhoffte er sich dadurch eine Antwort, doch der logisch denkende Teil von ihm wusste, dass dieses Geschreie ihm rein gar nichts bringen würde.
Als das Echo nach ein paar Sekunden schließlich verstummt war und keine andere Stimme sich erhob, bestätigte sich dies nur.
Doch es interessierte Lukas nicht. Ihm war klar, dass sein Geschreie nicht viel nützen würde, aber für ihn fühlte es sich gut an, sich den Schmerz mal von der Seele zu schreien.
Und auch wenn seine Wortwahl etwas anderes vermuten ließ, machte er seine Schwester keineswegs für die Lage, in welcher er und die anderen nun steckten, alleine verantwortlich. Sie alle trugen eine gewisse Mitschuld, denn sie alle wussten was passieren würde, und das jederzeit etwas hätte schief gehen können.
Doch es lag nun einmal in der Natur des Menschen, einen Schuldigen zu finden.
Sei es nun eine höhere Macht wie beispielsweise Gott, oder eben der Verstorbene selbst. Irgendjemand musste verantwortlich gemacht werden.
Lukas fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. Vielleicht sollte er langsam mal in Erwägung ziehen, nach Kate und Viola zu suchen und sich bei ihnen wegen seines Verhaltens zu entschuldigen, anstatt sich wie ein Feigling vor ihnen zu verstecken. Er war sich absolut sicher, dass die beiden, vorallem Kate, krank vor Sorge waren.
,,Lukas? Was machst du denn so spät noch hier?"
Erschrocken zuckte der Schwarzhaarige zusammen.
Harold, welcher sich seinen Nerven zuliebe doch noch dazu entschieden hatte, einen Spaziergang an Deck zu machen, starrte gedankenverloren auf's Wasser, als ein lautes Geschreie ihn in die Wirklichkeit zurückholte.
Obwohl die Wellen ziemlich laut waren, konnte er jedes einzelne Wort klar und deutlich verstehen.
Er erkannte auch, zu wem die Stimme gehörte.
Mit vor Sorge gerunzelter Stirn, machte er sich auf zur Quelle des Geschreis.
Dabei hoffte er inständig, dass Lukas nicht der nächste war der versuchte, von diesem Schiff zu springen.
Angetrieben von dieser Befürchtung und einer für ihn unerklärlichen Angst, eilte der Waliser in die Richtung, aus welcher das Schreien kam.
Sein Herz und seine Gedanken rasten. Warum zum Teufel, schrie der Junge mitten in der Nacht hier rum? Und was hatte dieses ,,Was soll denn jetzt aus uns werden", zu bedeuten?
War möglicherweise etwas passiert? Oder war er jetzt völlig verrückt geworden?
Diese Ungewissheit gefiel Harry überhaupt nicht. Zumal er auch wusste, zu was Lukas imstande war.
Tatsache war, dass ihm sein Zwerchfell immernoch an der Stelle weh tat, an der der Schwarzhaarige ihm seinen Ellenbogen reingerammt hatte.
Doch diesen Gedanken schob der Waliser schnell beiseite.
James hatte ihm gesagt, dass Lukas ihn von seinem ersten Suizidversuch abgehalten hatte. Und da Harry seinem Kollegen glaubte, konnte er sich nicht vorstellen, dass Lukas erneut die Kontrolle über sich verloren hatte und jemanden attackierte.
Als Harold in etwa zehn Metern Entfernung eine schlanke Gestalt ausmachen konnte, wurde er langsamer. Dank der Schiffsbeleuchtung, konnte er die Person auch auf dieser Entfernung zweifelsohne als Lukas identifizieren.
Der Kopf des Jungen war in den Nacken gelegt. Der Anblick, welcher sich ihm bot, war selbstredend.
Das selbe Mitleid, welches er für James empfunden hatte, zerriss Harold auch diesmal das Herz.
Er mochte sich überhaupt nicht vorstellen, wie groß Lukas' Schmerz sein musste. Es konnte sogar gut möglich sein, dass Lukas mehr litt als James. Immerhin war Jasmine seine einzige Schwester gewesen.
Harold war schon fast bei ihm angekommen, als er sah, wie Lukas sich mit der Hand durch das Gesicht strich.
Vielleicht wäre es besser, wenn er durch irgendwas seine Anwesenheit ankündigte.
,,Lukas? Was machst du denn so spät noch hier?"
Kaum hatte diese Frage seinen Mund verlassen, realisierte er, dass er diese vielleicht doch ein wenig zu streng gestellt hatte.
Harold sah, wie der Angesprochene beim Klang seiner Stimme, erschrocken zusammenzuckte und sich ruckartig umdrehte.
,,Harry?", fragte der Jüngere irritiert.
,,Mhm."
Fünf Sekunden, in denen Lukas sein Gegenüber überrascht und verwirrt zugleich anstarrte vergingen, bevor er sich wieder rühren konnte.
,,Was machst du hier?", fragte er wirsch.
Der ehemalige fünfte Offizier zog bei dieser Frage eine Augenbraue hoch.
,,Das selbe habe ich dich eben gefragt."
Lukas blinzelte ein paar mal, bevor er wegschaute.
,,Ist doch nicht wichtig", sagte er ausweichend.
Harry verdrehte nur die Augen. Genau das selbe Theater, hatte er vorhin bereits mit James.
,,Glaubst du wirklich, ich kann mir nicht denken, weshalb du zu so später Stunde noch rumstreunerst statt wie alle anderen zu schlafen?"
Bei dieser Bemerkung, kniff Lukas die Augen zusammen.
,,Du solltest um diese Zeit schon längst im Reich der Träume unterwegs sein. So wie jeder andere auch!"
Lukas schnaubte.
,,Du bist nicht mein Vater, also spar dir dieses Getue!"
Harold musterte Lukas streng.
,,Du hast Recht, ich bin nicht dein Vater. Aber wäre ich es, dann hätte ich schon längst andere Seiten aufgezogen!"
Von einer Sekunde auf die andere, veränderte Lukas' Blick sich schlagartig.
Ungläubig und auch ein wenig entsetzt, starrte er sein Gegenüber an.
Als der Waliser den veränderten Gesichtsausdruck bemerkte, blinzelte er überrascht.
War er bei seiner Wortwahl etwa über die Strenge geschlagen? Oder hatte er irgendwas komisches gesagt?
Lukas schüttelte leicht den Kopf. Obwohl er es vehement zu verbergen versuchte, bemerkte Harold die plötzliche Angst und Unsicherheit in den Augen des Jüngeren.
Irgendetwas hatte ihn zutiefst beunruhigt. Aber was?
,,Was ist los, Lukas?"
Doch der Angesprochene antwortete nicht.
,,Lukas?"
,,Das ist unmöglich!", flüsterte der Schwarzhaarige und starrte Harold mit geweiteten Augen an.
Jetzt verstand der Waliser gar nichts mehr. Was war unmöglich? Und warum starrte Lukas ihn so an, als hätte er einen Geist gesehen?
,,Was hat das alles zu bedeuten?"
Harolds Verwirrung, sowie seine Ungeduld, wuchsen immer weiter.
,,Was zum Teufel redest du da, Junge?", verlangte er zu wissen.
Doch anstatt zu antworten, wich Lukas ein paar Schritte zurück. Voller Ehrfurcht blickte er zu dem Älteren auf.
Harold verstand nicht, weshalb Lukas ihn so anschaute. Er hatte ihm doch nichts getan.
,,Lukas? Lukas, du verdammter Volltrottel!"
Beide Männer sahen gleichzeitig in die Richtung, aus welcher der Ruf kam.
Die Stimme gehörte zu Kate welche, mit Viola im Schlepptau, auf sie beide zu ging. Das sie wütend war, musste nicht erst erwähnt werden. Denn allein ihr Gesichtsausdruck, war schon Antwort genug.
,,Wo warst du bloß die ganze Zeit? Hast du überhaupt eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe?"
Im Augenwinkel bemerkte Harold, dass Lukas den Kopf senkte.
Seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben. Er wusste ganz genau, wie der Jüngere sich gerade fühlte. Seine Verlobte Ellen war nämlich genau so, wenn sie besorgt war.
,,Ich rede mit dir, Lukas!"
Nervös kratzte dieser sich am Hinterkopf.
,,Tut mir leid, Kate. Ich...ähm muss wohl die Zeit völlig vergessen haben."
Innerlich schlug Harold sich die Hand vor die Stirn. Er hatte definitiv schon bessere Ausreden gehört.
Das sah Kate übrigens genau so.
,,Willst du mich jetzt komplett verarschen? Eine noch billigere Ausrede ist dir wohl nicht mehr eingefallen, oder?"
Der Waliser rechnete schon mit einer hitzköpfigen Antwort. Weshalb ihn Lukas' kleinlaute Entschuldigung, umso mehr überraschte.
Und auch die beiden jungen Frauen hatten mit einer völlig anderen Reaktion gerechnet.
Kate verschlug es sogar kurzzeitig die Sprache.
Viola trat vor und schaute abwechselnd zu Harold und Lukas.
,,Ist alles in Ordnung?"
Die Frage war an den Offizier gerichtet.
Dieser schaute kurz zum Schwarzhaarigen, bevor er sich wieder an die Brünette wandte.
,,Soweit ja. Und bei euch?"
,,Bei uns auch, danke", antwortete Viola höflich aber mit Misstrauen in der Stimme. Ihr war der besorgte Blick des Offiziers nicht entgangen.
,,Lukas, wo bist du nur die ganze Zeit gewesen? Du...du hast doch wohl nicht etwa nach James gesucht, oder?"
Kates Blick wanderte zu Harold.
,,Es geht ihm doch gut, oder?"
Voller Unglauben und Verwirrung, schaute Lukas die Blondhaarige an.
,,Was? Warum sollte ich denn nach ihm suchen?"
Bevor Harold überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte zu antworten, hatte Kate den Kopf bereits wieder in Lukas' Richtung gedreht.
,,Das fragst du auch noch? Du wolltest ihn umbringen, Lukas!"
Es war unschwer zu erkennen, dass Lukas am liebsten widersprochen hätte. Doch da er seine Aktion von vorhin und auch die Worte, die er gesagt hatte, nicht verleugnen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als beschämt zur Seite zu schauen.
,,Sag schon, hast du James was getan, ja oder nein?"
,,Nein, hab ich nicht!"
Kate musterte ihren Freund eingehend.
,,Und wo warst du dann gewesen?"
Harold sah an der Körperhaltung des Jüngeren, dass dieser etwas zu verbergen hatte.
Normalerweise war es nicht Harolds Art sich in andere Angelegenheiten einzumischen. Aber bei Lukas' Anblick überkam ihn plötzlich das Gefühl, dass er ihn in Schutz nehmen musste.
,,Er war bei mir und den anderen Offizieren."
Überrascht schauten die drei ihn an.
Als Lukas den vielsagenden Blick in den Augen des Walisers sah, begriff er.
,,Da habt ihr eure Antwort", sagte er an die beiden Freundinnen gerichtet.
,,Wirklich?", hakte Viola misstrauisch nach.
Harold nickte.
Sie und Kate sahen sich an. Sie schienen zwar nicht wirklich überzeugt, aber andererseits konnten sie auch nicht das Gegenteil beweisen.
,,Hm, okay", sagte Kate mit hochgezogener Augenbraue.
,,Ihr wolltet doch wissen, wie es James geht, richtig?"
Bei der Erwähnung von Jasmines Geliebten, wurden alle drei hellhörig.
,,Natürlich!", sagte Viola fast schon empört.
Kate trat vor.
,,Sag, wie geht es ihm?"
,,Körperlich eigentlich ganz gut. Er befindet sich Momentan in der Obhut des Schiffarztes. Aber ich befürchte, dass die anderen Offiziere und ich ihn für den Rest der Reise nicht mehr aus den Augen lassen können."
,,Was? Warum?"
Harolds Blick verfinsterte sich.
,,Weil er versucht hat, sich umzubringen!"
Nach einem kurzen Seitenblick in Lukas' Richtung fügte er noch hinzu: ,,Zum zweiten Mal."