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Ich will dich nicht verlieren!

Kurzbeschreibung
GeschichteTragödie, Liebesgeschichte / P16 / Gen
OC (Own Character)
21.09.2019
28.09.2020
63
232.841
10
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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05.06.2020 3.602
 
Zusammen liefen die beiden jungen Männer über das Bootsdeck der Carpathia.
Erst jetzt fiel Lukas wirklich auf, dass sich James in einem ziemlich üblen Zustand befand.
Sein Blick klebte dabei auch regelrecht am Gesicht des Älteren. Oder eher an dessen Nase. Wieder packte ihn die Schuld.
"Tut mir leid, dass ich dich so übel zugerichtet habe. Vorallem deine Nase."
Als Lukas das sagte, traute er sich nicht einmal aufzublicken. Stattdessen schaute er beschämt zu Boden.
James warf ihm einen flüchtigen Blick zu und seufzte dann leise.
"Ist schon in Ordnung, du warst wütend. Wer weiß, wie ich an deiner Stelle reagiert hätte."
Doch obwohl James' Worte der Beschwichtigung dienen sollten, verschlimmerten sie Lukas' Schuldgefühle nur noch mehr.
"Mag sein, trotzdem tut es mir leid. Ich hätte nicht so reagieren dürfen!"
Nach einem weiteren kurzen Blick auf James' Nase, fragte er: "Ich hab sie dir gebrochen, oder?"
Der Offizier nickte nur.
Seufzend fuhr sich der Jüngere durch die kurzen schwarzen Haare.
"Du brauchst dich deswegen jetzt nicht schlecht zu fühlen. Was passiert ist, ist passiert."
"Trotzdem! Es war falsch von mir. Wenn ich könnte, dann würde ich das alles am liebsten wieder rückgängig machen."
James wusste genau was er meinte.
"Geht mir genauso.", murmelte er leise.
Wieder herrschte zwischen den beiden eine bedrückende Stille. Worte waren allerdings auch nicht nötig, da sie beide ganz genau wussten, woran der jeweils andere denken musste.
Die einzigen Geräusche, die die beiden auf ihrem Weg begleiteten, waren das Rauschen der Wellen, das laute Brüllen des Schornsteins und die Schritte von zwei Schuhpaaren.
Irgendwann war es nur noch ein Paar, welches über den hölzernen Boden lief.
Irritiert hielt Lukas inne.
"Was ist los?"
Keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht, hielt James die Hand gegen seine Rippen gedrückt.
"James?", fragte Lukas besorgt und blickte unsicher drein.
"Was ist los? Soll ich Hilfe holen?"
James schüttelte den Kopf.
Es dauerte eine Weile, bis der Offizier etwas sagen konnte.
"Es ist nur eine...Prellung. Habe mich wohl über...anstrengt.", brachte er mühsam hervor.
Lukas' Herz setzte einen Schlag aus und er ballte die Hände zu Fäusten. Er wusste, dass dies ebenfalls auf sein Konto ging.
"Was habe ich nur getan?", sagte er leise und empfand eine noch nie dagewesene Abscheu gegen sich selbst.
James wollte etwas sagen, doch Lukas hinderte ihn daran.
"Du solltest dich ausruhen. Du hast in den letzten Stunden verdammt viel durchgemacht. Ein Wunder, dass du überhaupt noch stehen kannst."
Der Offizier wollte bereits protestieren, doch Lukas beachtete ihn nicht. Stattdessen legte er sich den Arm des Älteren um die Schultern.
"Wohin?", fragte er dann nur, allerdings ohne Blickkontakt herzustellen.
"Du musst mir nicht helfen.", sagte James.
Doch für Lukas kam ein nein überhaupt nicht in Frage.
"Doch, muss ich. Immerhin hast du mir diesen ganzen Scheiß erst zu verdanken.", erinnerte er ihn.
"Jetzt sag, wo lang?"
James blinzelte ein-, zweimal, ehe er mit dem Kopf in eine Richtung nickte.
Im Augenwinkel sah Lukas, wohin der Ältere gedeutet hatte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, lief er los.
Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie ihr Ziel.
Vor Anstrengung und Schmerz bebten James' Flanken.
"Danke."
Lukas winkte ab.
"Nicht dafür. Das war das mindeste was ich tun konnte."
Einige Sekunden vergingen, bevor James erneut etwas sagte.
"Weißt du, irgendwie erinnerst du mich ein bisschen an Harry. Ihr beide habt diese sture und hitzköpfige Art an euch. Vorallem wenn es darum geht, anderen zu helfen. Und außerdem, seht ihr zwei euch sogar ziemlich ähnlich. Eigenartig, dass mir das vorher nie aufgefallen ist."
Diese Aussage traf Lukas ziemlich unvorbereitet. Er blinzelte einige Male.
"Echt?", fragte er dann zögerlich.
James nickte.
Lukas zog etwas die Augenbrauen zusammen. Ehrlich gesagt wusste er nicht so recht, ob er sich jetzt geehrt fühlen, oder vielleicht sogar besorgt sein sollte.
"Stimmt was nicht?"
Überrascht schaute der Schwarzhaarige auf.
"Hm? Oh ähm, nein. Alles in Ordnung."
James merkte, dass etwas den Jüngeren zu beschäftigen schien. Sollte er ihn fragen?
"Ich gehe dann jetzt. Und erhol dich gut. Man sieht sich."
Kaum hatte Lukas das gesagt, hatte er sich auch schon umgedreht und ging eiligen Schrittes davon.
James war davon mehr als nur verwirrt.
Es schien fast so, als rannte Lukas vor etwas davon. Zumindest erweckte dessen hastige Verabschiedung diesen Verdacht.
James schüttelte den Kopf. Er musste aufhören sowas albernes zu denken.
Jetzt wo er alleine war, bemerkte James, wie sehr sein Körper unter dem Schlafmangel litt, und wie dringend er diesen brauchte.
Jeder einzelne seiner Muskeln schrie förmlich danach, sich endlich ausruhen zu dürfen. Kein Wunder, immerhin war er bereits seit über vierundzwanzig Stunden wach. Es grenzte wirklich schon an ein Wunder, dass er überhaupt noch stehen konnte.
James unterdrückte mit großer Mühe ein Gähnen und rieb sich kurz die müden Augen. Er schaute noch kurz in die Richtung, in welcher Lukas verschwunden war und wandte sich dann ab.
Er öffnete die Tür zur Kabine und trat ein. Als er das Bett erblickte, spürte er wie ihn seine letzten Kräfte allmählich verließen.
Gerade noch so schaffte er es, zum einladend aussehenden Möbelstück zu wanken. Dort nahm er Platz und zog sich mit halb geschlossenen Augen die Schuhe aus.
Als er sich anschließend niederlegte, konnte er spüren, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem Körper entspannte.  Zwar schmerzten seine Rippen und seine Nase immernoch, doch aufgrund seiner Müdigkeit und dank der Tabletten des Docs, nahm er dies kaum noch war. Doch das war auch ganz gut so.
Das letzte was er jetzt noch gebrauchen konnte waren Schmerzen, die ihn wachhielten.
Ein leises Seufzen entfuhr James, bevor ihm die Augen zufielen und er in einen traumlosen Schlaf glitt.









Indes hatte Viola sich dazu entschieden Lukas und Oliver suchen zu gehen, da sie sich allmählich große Sorgen um die beiden machte.
Kate hingegen war nach all dem weinen irgendwann eingeschlafen. Auch an Viola nagte die Müdigkeit, und sie wünschte sich eigentlich nichts sehnlicher, als endlich etwas Schlaf zu bekommen. Doch die Sorge um Lukas und die Ungewissheit über Olivers Schicksal, ließen sie einfach nicht zur Ruhe kommen.
So leise wie nur möglich erhob sie sich von ihrem Platz. Hier und da konnte man vereinzelt leises Wimmern hören. Doch der Großteil der Leute schlief tief und fest.
Damit sie auch sicher niemanden weckte, zog sie sich die Schuhe aus und schlich auf leisen Sohlen nach draußen.
Erst als sie weit genug von dem Speisesaal entfernt war, zog sie diese wieder an und begab sich an Deck. Dort angekommen, wurde sie von einem ziemlich starken Wind und strahlendem Sonnenschein begrüßt.
Doch dies interessierte die Brünette kein bisschen. Ihr war egal wie einladend das Wetter war. Sie musste Lukas und Oliver finden. Vorallem um letzteren machte sie sich schreckliche Sorgen.
Diese Sorge brachte sie schließlich auch dazu, ihre Suche in dem Bereich des Schiffes zu beginnen, welcher den Passagieren der dritten Klasse zugeteilt war.
Da sie noch in etwa wusste, wo dieser war, dauerte es auch nicht allzu lange, bis sie schließlich eine der Absperrungen fand.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie sah, öffnete sie das kleine Törchen und stieg die Treppen hinunter.
Viele der Passagiere aus der dritten Klasse saßen in kleinen Grüppchen und unterhielten sich. Die Stimmung hier war erdrückend. So erdrückend, dass sogar die Kinder es vorzogen lieber bei den Erwachsenen zu sitzen, als miteinander zu spielen. Doch wer konnte es ihnen schon verübeln? Immerhin hatten sie alle mindestens ein geliebtes Familienmitglied verloren.
Zutiefst betrübt von der traurigen Szenerie, setzte Viola ihren Weg fort. Ihr Blick glitt dabei suchend über das Meer aus Gesichtern, immer in der Hoffnung, das von Oliver zu erblicken.
Einige Passagiere bemerkten sie und warfen ihr neugierige und teilweise auch irritierte Blicke zu. Doch sie ansprechen oder gar davonscheuchen, tat niemand. Ein weiterer gravierender Unterschied zwischen den Leuten der ersten und dritten Klasse.
'Oliver wo bist du?', fragte Viola stumm und hoffte, dass besagte Person plötzlich wie aus dem Nichts vor ihr auftauchen, und sie mit einer liebevollen Umarmung begrüßen würde.
"Viola?"
Beim Klang von Annas Stimme, blieb Viola augenblicklich stehen. Voller Hoffnung wandte sich die Angesprochene in die Richtung, aus welcher die Stimme kam.
"Anna, ich bin so froh dich zu sehen!"
Die Rothaarige kam mit Abigail auf dem Arm, und einem warmherzigen Lächeln auf den Lippen auf sie zu. Allerdings entging Viola nicht, dass sie suchend nach jemandem Ausschau zu halten schien.
"Wo sind denn Kate und Lukas?"
"Kate ist in der ersten Klasse und schläft. Und wo Lukas ist, weiß ich leider nicht."
Anna hob fragend eine Augenbraue.
"Wie du weißt nicht wo er ist? Ist irgendwas passiert? Habt ihr euch gestritten?"
In Violas Hals bildete sich ein dicker Kloß.
Anna spürte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Sanft legte sie Viola eine Hand auf die Schulter, und führte sie an eine Stelle, an der sie ungestört und von den anderen Passagieren ungesehen waren.
"Was ist passiert?", fragte sie und wartete darauf, dass Viola zu sprechen anfing.
Diese jedoch brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln.
Als sie schließlich soweit war und zu sprechen anfing, zitterte ihre Stimme stark.
"Es gab tatsächlich eine Art Streit
Wobei Schlägerei und versuchter Mord es eher treffen würden."
Anna schnappte entsetzt nach Luft.
"Was sagst du da? Schlägerei? Versuchter Mord? Aber doch nicht zwischen euch?"
Viola schüttelte den Kopf.
"Nein. Zwischen James und Lukas.", sagte sie und spürte, wie ihr ganzer Körper bei der Erinnerung daran, wieder zu zittern anfing.
"Bitte was? Aber warum?"
Jetzt senkte Viola den Kopf. Heiße Tränen liefen ihre Wangen hinab und tropften auf den Boden.
"Viola? Was ist los?", fragte Anna besorgt, als sie die leisen Schluchzer hörte.
"Es ging dabei um Jasmine.", brachte die Brünette schließlich mit zittriger Stimme hervor.
Annas Verwirrung nahm zu.
"Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Warum ging es denn um Jasmine? Was hat sie denn gemacht?"
Viola ballte die Hände zu Fäusten. Die nächsten Worte, kosteten sie viel Überwindung. Doch Anna hatte genauso ein Recht darauf von Jasmines Schicksal zu erfahren. Immerhin hatte diese ihr und Abigail ihren Platz im Rettungsboot überlassen und ihnen somit sehr wahrscheinlich die Leben gerettet.
"Anna...Jasmine ist...sie ist...tot."
Die Rothaarige Frau glaubte sich verhört zu haben.
"Nein! Das kann nicht sein! Das...das ist unmöglich! Jasmine kann doch nicht..."
Doch Violas Blick war Bestätigung genug.
"Es ist wahr. James hat es uns gesagt. Deshalb ist Lukas auch ausgerastet und hat ihn attackiert und versucht umzubringen."
Anna hielt sich die Hand vor den Mund und schaute erst zu Viola, und dann runter zu Abigail, welche friedlich in ihrem Arm schlief. In ihren Augen sammelten sich Tränen.
"Das tut mir so schrecklich leid. Mein herzlichstes Beileid für euch alle."
Viola schloß die Augen, und versuchte weitere Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht schon wieder anfangen zu weinen.
"Das wird George das Herz brechen. Er mochte Jasmine so gerne."
Bei der Erwähnung von Olivers kleinen Bruder, zog sich Violas Herz einmal mehr zusammen.
Doch trotz all dem Schmerz und der Traurigkeit über Jasmines Tod, gab es dennoch so etwas wie Hoffnung was ihren Liebsten betraf.
"Anna, hast du Oliver gesehen? Ich kann ihn nirgendwo finden."
Die junge Mutter schwieg eine Weile. Man konnte sehen, dass sie sehr mit sich rang. Sie wusste also etwas.
"Anna, bitte sag mir ob du weißt, wo Oliver ist."
Anna zog ihre Tochter näher zu sich. In ihrem Blick lagen Trauer und Leid.
Violas Puls raste. Ein entsetzlicher Verdacht keimte in ihr auf
"Nein...", flüsterte sie.
"Nicht auch noch Oliver! Sag mir bitte, dass du ihn gesehen hast, und dass es ihm gut geht. Bitte Anna, ich flehe dich an!"
Das Herz der Rothaarigen jungen Frau war plötzlich so schwer wie Blei.
Ein heiseres "Es tut mir leid", war alles was sie über die Lippen brachte.
Doch dies genügte bereits.
Denn als Viola dies hörte, sank sie runter auf die Knie. Die Tränen, die sie bis eben noch zurückgehalten hatte, brachen nun unaufhaltsam aus ihr heraus.
"Warum? Warum er?", wimmerte sie und legte ihre Arme um sich selbst, um sich so klein wie nur möglich zu machen.
"Erst Jasmine und jetzt auch noch Oliver!"
Annas Herz zog sich beim Anblick den Viola bot, vor Mitleid zusammen. Sie kannte dieses Gefühl nur allzu gut.
Wortlos kniete sie sich vor die Brünette und umarmte sie.
"Shhh, ist schon gut."
Doch genau das war es eben nicht. Nichts war mehr gut. Jasmine und Oliver waren tot. Ihre beste Freundin, und die Liebe ihres Lebens waren nicht mehr da. Und keine Macht dieser Welt, konnte sie jemals wieder zurückbringen. Viola fühlte sich, als hätte sie alles verloren.
Sie hatte in einer Nacht zwei geliebte Menschen verloren. Zwei Menschen, die ihre Welt um ein vielfaches schöner gemacht hatten.
Und sie beide waren ihr auf grausame Art und Weise entrissen worden. Wenn sie gewusst hätte, dass dies tatsächlich das letzte Mal sein würde, dass sie Jasmine und Oliver lebend sah, dann wäre sie mit ihnen an Bord geblieben.









Während Lukas über das von Sonnenlicht geflutete Deck lief, dachte er unaufhörlich an diese eigenartige Bemerkung von James.
Er und Harry waren und sahen sich ähnlich? Wie zur Hölle kam er nur darauf? Was hatten er und der fünfte Offizier schon groß miteinander gemeinsam?
Okay gut, sie beide waren schon ziemlich temperamentvoll und hitzköpfig, doch das musste noch lange nichts heißen. Genausowenig wie ihr Wunsch anderen zu helfen. Aber was wäre, wenn James' Bemerkung doch nicht allzu weit hergeholt war? Bestand eventuell tatsächlich die Möglichkeit, dass er und Jasmine eine Verbindung zu Lowe hatten?
Lukas schüttelte den Kopf.
'Quatsch! Jetzt fange ich auch schon an, irgendwelche dummen Theorien aufzustellen. Vielleicht sollte ich meinen eigenen Rat befolgen, und auch endlich schlafen gehen.'
Doch noch bevor Lukas überhaupt die Chance dazu hatte sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, liefen ihm Molly und Mrs. Astor über den Weg.
Ein leises und genervtes Seufzen entfuhr ihm.
Er war im Moment überhaupt nicht in der Stimmung, mit den beiden Frauen zu reden.
"Hallo Lukas. Bin ich vielleicht froh dich wohlauf zu sehen.", begrüßte Molly ihn.
Ein einfaches "Hallo Molly", war alles, was er sagte, bevor er an ihnen vorbei lief.
Molly und Mrs. Astor schauten einander verwirrt an.
"Lukas?"
Doch der Schwarzhaarige ignorierte ihr Rufen und ging weiter. Er wusste ganz genau, sobald er eine Unterhaltung mit ihnen führte, würde diese eine Frage kommen.
"Lukas!", rief Molly erneut, jedoch ohne Erfolg.
Mrs. Astor zog etwas die Augenbrauen zusammen. Da musste etwas passiert sein. Davon war sie überzeugt.
"Was ist nur los mit ihm? Er ist doch sonst nicht so."
"Vielleicht ist er müde? Er wirkte auf mich zumindest sehr erschöpft.", sagte Mrs. Astor. Ihren Verdacht behielt sie jedoch vorerst für sich.
"Hm, vielleicht hast du recht, Madeline. Ich versuche es einfach später nochmal. Aber sag, geht es dir jetzt wieder besser?"
Die junge Frau nickte. Sie war Molly wirklich sehr dankbar, dass sie ihr Gesellschaft leistete und sie begleitete. Die traumatischen Ereignisse der vergangenen Nacht, die Trauer um ihren Ehemann und ihre morgendliche Übelkeit, machten ihr schwer zu schaffen. Weshalb ein kleiner Spaziergang an der frischen Seeluft das beste war, was sie momentan tun konnte.
Lukas hingegen war alles andere als scharf darauf, weiter an Deck rumzulaufen. Alles hier erinnerte ihn an seine Schwester und die Titanic.
Und außerdem wollte er vermeiden, noch mehr Leuten zu begegnen, denen er dann sagen musste, dass sie nicht überlebt hatte. Allein der Gedanke daran, war schon die reinste Folter für ihn.
Im Moment wollte er nichts dringender, als sich endlich schlafen zu legen. Nicht nur, weil die Erschöpfung auch an ihm zerrte. Sondern auch, weil dies die einzige Möglichkeit war, diesem Horror zumindest für kurze Zeit zu entkommen. Zwar würde es ihm seine Schwester auch nicht wieder zurück bringen, aber zumindest könnte er dann für eine Weile seine Trauer und diesen Schmerz vergessen. Und sei es nur für ein paar Stunden.
Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, trottete er das Deck entlang.
"Entschuldigung?", fragte eine weibliche Stimme vorsichtig.
Lukas blieb stehen und drehte den Kopf in die Richtung, aus welcher die Stimme kam. Vor ihm stand eine hübsche junge Frau mit hellblonden Haaren, und warm leuchtenden, dunkelgrünen Augen.
"Sind Sie ein Überlebender?", fragte sie und klang dabei sehr einfühlsam.
Lukas nickte nur.
Die Frau betrachtete den Jugendlichen eingehend.
Ein missmutiges Brummen kam aus Lukas' Kehle. Was sollte das jetzt werden? Etwa so eine Art Freakshow?
"Haben Sie mich jetzt nur angesprochen, um mich zu begaffen oder was?", entgegnete er gereizt.
Sofort senkte die Frau beschämt den Kopf.
"Nein, natürlich nicht. Bitte verzeihen Sie mir mein unschickliches Verhalten."
Lukas murrte genervt.
"Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob Sie einen Schlafplatz haben und vielleicht etwas anderes zum anziehen möchten. Ich reise nämlich mit meinem Verlobten und ich bin mir sicher, dass er von seiner Kleidung etwas entbehren kann."
Lukas warf der jungen Frau einen erstaunten Blick zu.
Sein erster Impuls war es, ihr freundliches Angebot dankend abzulehnen. Doch um ehrlich zu sein war der bloße Gedanke, an ein warmes Bett und endlich aus diesen Klamotten raus zu kommen, viel zu verlockend, um nein zu sagen.
Die Frau spürte Lukas' Unentschlossenheit.
"Sie müssen das Angebot selbstverständlich nicht annehmen. Ich dachte nur, dass nach diesem Ereignis ein wenig Ruhe das richtige wäre. Verzeihen Sie, wenn ich zu aufdringlich bin."
"Sie sind nicht aufdringlich."
Die junge Frau schien erleichtert.
"Ich bin Ihnen für das Angebot dankbar und nehme es an."
Ein kleines Lächeln huschte der Blondhaarigen über die Lippen.
"In Ordnung. Dann kommen Sie mit."
Wortlos folgte Lukas ihr.
"Dürfte ich auch erfahren, wie Sie heißen?"
"Lukas."
Die Frau nickte.
"Mein Name lautet Maria. Maria Andrews."
Beim Nachnamen wurde der Jugendliche hellhörig.
"Andrews?", fragte er.
"Ja. Sagt Ihnen der Name etwas?"
Lukas nickte.
"Ja. Ich kenne einen Thomas Andrews. Er war der-"
"Der Konstrukteur der Titanic. Ich weiß."
"Also kennen Sie ihn auch?"
Wieder nickte Maria. Diesmal war ihr Blick jedoch traurig.
"Mr. Andrews war mein Onkel."
Betreten senkte Lukas den Blick.
"Verstehe. Also wissen Sie bereits, dass er..."
"Ja."
Lukas schluckte.
"Das tut mir leid."
Maria winkte ab.
"Ist schon gut. Sie können ja nichts dafür. Niemand konnte ahnen, dass die Titanic mit einem Eisberg kollidieren und untergehen würde."
Lukas' Herz zog sich bei dieser Bemerkung schmerzhaft zusammen.
'Wenn du nur wüsstest.', dachte er niedergeschlagen und voller Bitterkeit.
Ab und zu fragte Maria den Jugendlichen ein paar Dinge. Zum Beispiel weshalb er nach Amerika wollte, wo er herkam, oder ob er alleine reiste. Einige Fragen ließ er bewusst unbeantwortet. Warum er dies tat, wusste er allerdings nicht. Vielleicht lag es daran, dass er, wenn er seine Schwester erwähnte, auch sagen musste, dass sie nicht überlebt hatte. Oder aber es lag daran, dass er über solche persönlichen Dinge nicht unbedingt mit einer fremden Person reden wollte.
Egal was es letzten Endes war, es hatte dafür gesorgt, dass Maria verstand. Für den Rest des Weges unterließ sie es, noch irgendwelche Fragen zu stellen.
Sehr zu Lukas' Erleichterung.
"Wir sind da. Ich sage meinem Verlobten eben bescheid. Warten Sie hier."
Lukas tat wie geheißen und wartete im Gang vor der Kabine auf die junge Frau.
Als allerdings nach knapp zehn Minuten immernoch keiner rauskam, seufzte Lukas genervt.
Er wollte schon gehen. Doch gerade in dem Moment, als er sich zum gehen wandte, öffnete sich die Tür. Heraus kam ein hochgewachsener junger Mann, im Anzug. Er hatte kurze, dunkelbraune Haare und blaue Augen.
"Sie sind also Lukas, richtig?"
Trotz der beeindruckenden Größe, hatte der Mann eine freundliche und warmherzige Stimme.
"Ja."
Der Mann streckte ihm die Hand entgegen.
"Ich bin Edgar Johnson. Meine Verlobte hat mir schon von Ihnen erzählt. Es freut mich, Sie kennen zu lernen."
Lukas erwiderte die Geste.
"Ganz meinerseits."
"Maria sagte mir, dass Sie ihren Onkel kannten."
Lukas schluckte.
"Ähm ja, stimmt. Mr. Andrews war so nett gewesen und hat mich auf der Titanic ein wenig herumgeführt."
Mr. Johnson nickte.
"Verstehe."
Kurz musterte er den Jüngeren.
"Sie sehen aus, als könnten Sie eine gehörige Portion Schlaf gut gebrauchen."
In der Tat merkte Lukas, wie es ihm immer schwerer fiel, gegen die Müdigkeit anzukämpfen.
"Kommen Sie."
Trotz seiner Müdigkeit, zögerte der Schwarzhaarige etwas.
"Ist das auch wirklich in Ordnung für Sie? Ich will Ihnen und Ihrer Verlobte wirklich keine Umstände machen.", entgegnete er unsicher.
Doch Mr. Johnson schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
"Sie machen uns keine Umstände. Im Gegenteil. Wir sind froh, wenn wir helfen können."
Dankbar schaute Lukas den Mann an.
Mr. Johnson klopfte ihm zweimal auf die Schulter.
"Na komm. Du kannst in meinem Bett schlafen."
Erleichtert folgte Lukas ihm in die Kabine.
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