Ich will dich nicht verlieren!
von SunshineOak
Kurzbeschreibung
In dieser Titanic Fanfiktion begleiten wir Jasmine, ein junges 19 jähriges Mädchen welches, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Lukas und ihren zwei besten Freundinnen Viola und Kate, durch einen merkwürdigen Zufall im Jahre 1912 landet. Noch vor der Abreise des zum Untergang geweihten Luxusdampfers trifft sie auf den 6ten Offizier James P. Moody. Bald wird ihr bewusst, dass sie mehr für ihn empfindet als sie eigentlich sollte, doch sie weiß auch, um das Schicksal des jungen Offiziers. Hin und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und dem Wissen um die Tragödie die sich schon bald darauf abspielen wird, begibt sie sich auf eine gefährliche Reise.
GeschichteTragödie, Liebesgeschichte / P16 / Gen
OC (Own Character)
21.09.2019
28.09.2020
63
232.841
10
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Dieses Kapitel
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24.01.2020
5.035
Erschrocken wich Jasmine einige Schritte zurück.
Das war unmöglich, das konnte nicht sein! Es konnte einfach nicht!
Irritiert legte der Fremde etwas den Kopf schräg.
"Das ist unmöglich!" murmelte die Braunhaarige ungläubig. "Ich muss träumen! Entweder das, oder irgendjemand erlaubt sich einen üblen Scherz mit mir!"
Jetzt brach ihr Gegenüber in lautes Gelächter aus.
"Einen Scherz nennst du mich also? Das ist aber nicht die feine englische Art, Mädchen."
Jasmine rieb sich über die Augen.
"Du bist nicht echt! Du...du kannst gar nicht echt sein!" schrie sie und wich noch zwei weitere Schritte zurück.
Schlagartig hörte der fremde Mann auf zu lachen. Sein amüsierter Gesichtsausdruck war verschwunden. Stattdessen lagen nun Ernst und Besorgnis in seinem Blick.
"Wieso bin ich nicht echt?" fragte er und klang dabei keineswegs verärgert. Eher verwundert.
"Weil eine lebende Person nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann!"
Überrascht hob der Fremde die Augenbrauen.
"Aber ich lebe doch gar nicht mehr." erklärte er mit ruhiger Stimme.
Jetzt war es Jasmine, welcher vor Überraschung fast die Kinnlade runterklappte.
"Du...was? Aber wie ist das möglich? Du warst doch in einem der Boote, das weiß ich ganz genau!"
Ihr Gegenüber seufzte und fuhr sich einmal durch die kurzen braunen Haare.
"Mir scheint, als gäbe es da ein sehr großes Missverständnis."
Jetzt wurde sie hellhörig. Ein Missverständnis? Was sollte denn das schon wieder heißen?
"Was genau meinst du damit?" hakte sie verunsichert nach.
Der Fremde mit den blaugrauen Augen sah sie eindringlich an.
"Das mag jetzt vielleicht etwas seltsam für dich klingen, aber ich bin nicht der, den du zu glauben kennst."
Jasmines Verunsicherung schwand allmählich, dafür stieg jetzt ihre Ungeduld.
"Wovon zum Teufel redest du da? Wenn du ein Fremder wärst, dann würdest du doch wohl kaum mit mir reden, Harry!"
Der junge Mann fuhr sich erneut durch die Haare. Er wusste ja, dass es nicht leicht werden würde, Jasmine die ganze Sache zu erklären. Aber wenn er gewusst hätte, dass es so schwer werden würde, dann hätte er sich vielleicht nochmal anders überlegt. Aber nichts desto trotz war sie jetzt hier und verlangte Antworten. Und die sollte sie natürlich auch bekommen.
"Hör zu, ich bin nicht Harry. Naja, doch schon, aber ich bin nicht der, den du kennengelernt hast. Ich bin ein anderer Harry."
Jetzt verstand Jasmine gar nichts mehr.
"Hörst du dir zur Abwechslung eigentlich mal selber zu? Erst sagst du, dass du nicht Harry bist. Und dann aufeinmal doch? Und was soll das überhaupt bedeuten, ein anderer? Ich weiß von keinem anderen Harold Godfrey Lowe!"
Harold massierte sich die Schläfe. Dieses Mädel hatte durchaus Temperament.
"Guck, ich will versuchen es dir zu erklären, okay? Lass mich einfach ausreden und hör zu."
Jasmine verschränkte die Arme vor der Brust.
"In Ordnung, aber bevor du anfängst, beantworte mir eine Frage."
Der Ältere nickte.
"Wo bin ich hier?"
Ein belustigtes Grinsen schlich sich auf Harolds Lippen. Lässig deutete er auf ein Paar Grabsteine.
"Ist das nicht offensichtlich? Das hier ist ein Friedhof."
Jasmine verkniff sich ein genervtes Schnauben.
"Das meinte ich nicht!"
"Ich weiß." sagte Harold und wirkte mit einem mal nicht mehr ganz so erheitert wie zuvor. Im Gegenteil, sein Blick hatte jetzt etwas trauriges und wehmütiges an sich.
"Dieser "Ort", ist eine Art Zwischenwelt. Alle Seelen, die mit ihrem irdischen Leben noch nicht ganz abgeschlossen haben oder es nicht können, oder die noch etwas erledigen müssen, landen hier."
Bei diesen Worten bekam Jasmine ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend.
"Also bin ich tatsächlich..."
"Tot?" fragte Harold und schaute sie mitfühlend an.
Jasmine nickte nur.
"Ich fürchte ja. Es tut mir wirklich leid, dass dein junges Leben so früh enden musste."
Die Augenbrauen des Älteren zogen sich etwas zusammen, als er sah, wie Jasmine bedrückt den Kopf senkte.
"Ich weiß, das klingt jetzt nicht besonders tröstlich, aber manche Dinge sind einfach dazu bestimmt zu passieren. Gute wie auch schlechte."
Jasmine sah auf. Der Ausdruck in ihren Augen war tieftraurig.
"Du hast recht, es ist wirklich nicht sonderlich tröstlich. Aber sich jetzt darüber zu beklagen bringt auch nichts. Es ist nun mal so wie es ist. Ich wünschte nur, dass es nicht so weit gekommen wäre! Wenn ich doch nur ein bisschen länger durchgehalten hätte! Oder vorher eingegriffen hätte."
Harold bedachte sie mit einem langen und verständnisvollen Blick. In seinen Augen jedoch lag ein eigenartiges Leuchten. Es war fast so, als wisse er von etwas, das Jasmine verborgen war. Zumindest noch.
Er wollte gerade zum sprechen ansetzen aber die Braunhaarige kam ihm zuvor.
"Aber moment mal. Wenn ich doch tot bin und das hier eine Zwischenwelt ist, in welcher ruhelose Seelen existieren. Was tust du dann hier? Ich meine, du bist doch noch überhaupt nicht tot!"
Harold seufzte.
"Ich sagte doch, dass ich nicht der Harry bin, den du kennengelernt hast. Wir sind zwar miteinander identisch, aber ich komme aus einer ganz anderen, ich nenne es mal Zeitlinie."
Als er Jasmines verwirrten Blick bemerkte, wurde ihm bewusst, dass er seine nächsten Worte mit bedacht wählen sollte.
"Schau, die Sache ist die, der Harry den du kennst und ich sind zwar im Prinzip ein und die selbe Person, aber ich komme aus einer ganz anderen Zeit als er. Das heißt, während ich schon lange tot bin, lebt mein Gegenstück noch in der Vergangenheit und ist quicklebendig. Deshalb kann ich dich sehen und auch mit dir sprechen."
Jasmine glaubte, jeden Moment umzukippen.
Sie brauchte einen Moment, um die ganzen Informationen irgendwie zu verpacken.
"Also damit ich das jetzt richtig verstanden habe. DU kommst aus einer ganz anderen Zeitlinie als der Harold Lowe, den ich kenne?"
"Das ist richtig."
"Es gibt also zwei von euch?"
"Du hast es erfasst." sagte der Ältere und war wirklich froh darüber, dass Jasmine so schnell begriff.
"Aber...wie ist das möglich? Ich meine, wie kann man zweimal existieren? Das...das geht doch überhaupt nicht!"
Jetzt zog Harold etwas die Augenbrauen zusammen.
"Doch das geht. Du musst das so sehen, durch dein Eingreifen hast du die Geschichte ein klein wenig verändert. Dadurch ist eine alternative Zeitlinie entstanden."
Jasmines Augen weiteten sich vor Schreck.
"Eine alternative Zeitlinie? Du meinst, sowas wie ein Paralleluniversum?"
"Ja."
Die Braunhaarige starrte für einige Sekunden in Harolds Augen.
"Du...du verarscht mich auch nicht?" fragte sie ihn und hatte die Hoffnung, dass diese ganze Sache nur Einbildung, oder besser noch ein Traum war. Aber das langsame Kopfschütteln und der ernste Gesichtsausdruck, ließen keinen Platz für Zweifel.
"Ach du Scheiße!" rief Jasmine nur und begann plötzlich hin und her zu laufen. Dabei murmelte sie immer mal wieder ein paar unverständliche Worte leise vor sich hin.
Eine Weile beobachtete Harold sie dabei. Nach etwa zwei Minuten entschloss er sich dazu, dem ein Ende zu machen. Es gab da nämlich noch ein paar Dinge, die er ihr um jeden Preis mitteilen musste.
"Jasmine, hör zu. Ich weiß, dass dich das alles gerade sehr mitnimmt. Und ich verstehe auch, dass du im Moment vollkommen andere Sorgen hast, aber bitte. Es ist wirklich wichtig, dass du mir zuhörst!"
Die Braunhaarige hielt kurz inne. Ihre blaugrauen Augen schienen Funken zu sprühen.
"Wie du eben schon angemerkt hast, habe ich gerade vollkommen andere Sorgen! Also, was könnte schon so wichtig sein, dass du es nicht einfach auf später verschieben kannst? Es ist ja nicht so, als würde ich wie durch ein Wunder von den Toten auferstehen und wieder zur Erde zurückkehren. Dieses Privileg hat sich ja schon jemand anders patentiert!" entgegnete die Jüngere der beiden spitzer als eigentlich beabsichtigt.
Harold konnte nicht anders als darüber zu schmunzeln.
"Hat dir eigentlich schonmal jemand gesagt, dass du ziemlich temperamentvoll und scharfzüngig sein kannst?"
Da Jasmine überhaupt nicht in der Stimmung für solche Bemerkungen war und sich auch nicht weiter darauf einlassen wollte, entschied sie sich dazu, seinen Kommentar gekonnt zu ignorieren. Stattdessen verschränkte sie jetzt die Arme vor der Brust und warf Harold einen ungeduldigen Blick zu.
"Also gut, was willst du mir denn so wichtiges sagen?"
Obwohl er versuchte sich zusammenzureißen, konnte er nicht verhindern, dass ihm ein leises Lachen entfuhr.
"Ihr seid euch wirklich unheimlich ähnlich. Wirklich verblüffend."
"Was meinst du? Wer ist wem unheimlich ähnlich?"
Harold winkte ab.
"Ach, vergiss was ich gesagt habe. War nicht so wichtig."
Doch Jasmine kniff die Augen zusammen.
Irgendwas verheimlichte er vor ihr. Aber was? Und was hatte diese komische Aussage von gerade nur zu bedeuten?
"Was hältst du davon, wenn wir woanders hingehen. Ich mag ehrlich gesagt keine Friedhöfe, die wecken zu viele schlechte Erinnerungen. Was meinst du?"
Jasmine, welche ihr Gegenüber immernoch misstrauisch beäugte, zuckte leicht mit den Schultern.
"Hm, von mir aus."
"Also gut, dann los." sagte der Ältere und ging zwischen den Gräbern den Hügel, auf dem sie standen, hinunter.
Jasmine folgte nicht sofort. Sie beschlich das eigenartige Gefühl, dass dieser Harry viel mehr von dieser ganzen Sache zu wissen schien.
Während sie ihm beim Gehen beobachtete, fiel ihr plötzlich wieder das Grab ein, an welchem der alte Mann gestanden hatte. Erneut packte sie die Neugier.
Sie wollte sich schon umdrehen und den Stein genauer in Augenschein nehmen, als Harrys Stimme von weiter unten ertönte.
"Jasmine, wo bleibst du?"
Die Angesprochene zuckte zusammen.
'Verdammt, immer dann wenn ich gucken will! Das macht er doch mit Absicht!' dachte sie voller Verärgerung.
"Ja, komme schon." rief sie dann und wandte sich widerwillig von dem Grab ab.
Der Ältere wartete, bis die Braunhaarige bei ihm angelangt war.
"Nicht jedes Geheimnis sollte sofort gelüftet werden." bemerkte Harold nur und setzte sich in Bewegung.
Jasmine unterdrückte den Drang mit den Augen zu rollen und folgte ihm.
James war unendlich erleichtert, als er das Boot langsam näher kommen sah.
Obwohl Harry ihn mittlerweile entdeckt hatte und die Taschenlampe in seine Richtung hielt, hörte James nicht auf, in seine Trillerpfeife zu pusten.
Ob es nun die Angst davor zwar übersehen zu werden, oder ob es daran lag, dass er zeigen wollte, dass er noch am Leben war, wusste er nicht. Jedenfalls half ihm diese kleine Messingpfeife dabei, Harrys Boot in durch das Wasser, direkt zu ihm zu lotsen.
"Seid vorsichtig mit den Rudern!" ermahnte der fünfte Offizier die Seemänner.
Als das Boot dann endlich bei ihm angelangt war, konnte James es einfach nicht glauben. Rettung war gekommen. Er war tatsächlich gerettet!
Doch sofort spürte er einen Stich in seinem Herzen. Harry war zu spät.
Als besagter Offizier ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht schien, erschrak er. Das Gesicht seines Freundes und Kollegen war so weiß, wie das Boot in dem sie saßen.
"James?" fragte der Waliser prüfend.
"Ja?" antwortete dieser angestrengt und mit krächzender Stimme. Ihm wurde erst jetzt bewusst, wie viel Kraft ihn das Pusten in die Trillerpfeife gekostet hatte.
Eine Welle der Erleichterung erfasste Harold.
"Gott sei dank, du lebst noch."
Als er das sagte, fiel sein Blick auf etwas, das hinter James lag.
Er richtete den Strahl seiner Lampe auf das besagte etwas und erschrak, als er erkannte, dass es sich dabei um eine weitere Person handelte. Da er jedoch nur den Rücken und den Hinterkopf sah, konnte er nicht identifizieren, wer dort lag. Das einzige was er mit Sicherheit sagen konnte war, dass die Person weiblich war.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Harold zu erkennen, ob sie noch atmete.
James bemerkte dies.
"Jasmine lebt nicht...mehr. Sie ist...vor ein paar Minuten...gestorben." sagte er angestrengt keuchend.
Als Harold das hörte, starrte er seinen Kollegen entsetzt an.
"Was?" fragte er in der Hoffnung, sich verhört zu haben.
James schwieg.
Wieder schaute der fünfte Offizier auf den leblosen Körper neben seinem Freund.
"Nein, bitte nicht." flüsterte er und konnte spüren, wie sein Herz immer schwerer wurde, je länger er dorthin sah.
"Sir? Was ist mit dem Überlebenden? Sollten wir ihn nicht allmählich ins Boot holen?" fragte einer der Seemänner ihn vorsichtig.
Harold löste sich aus seiner Starre.
"Natürlich, worauf wartet ihr? Helft ihm raus und gebt ihm ein paar Decken! Haltet ihn warm!" befahl der fünfte Offizier den Männern mit barscher Stimme. Dies tat er allerdings nur um seinen Kummer, über Jasmines Tod, vor den anderen zu verbergen.
Als James dann schließlich dank der Hilfe von zwei Seemännern im Boot war, musste Harold sich zwingen den Blick von dem Floß, auf welchem Jasmine lag, loszureißen.
Für etwa eine halbe Stunde noch suchten der fünfte Offizier und die Seemänner noch nach weiteren Überlebenden. Tatsächlich hörten sie irgendwo in der Ferne noch weitere Hilferufe. Natürlich eilten sie so schnell sie nur konnten diesen nach. Doch egal wie sehr sie sich auch bemühten, die Leute von denen die Rufe kamen erreichten sie nie.
Irgendwann gab Harold die Suche nach möglichen Überlebenden schließlich auf. Er wusste, dass er zu spät gekommen war, um noch weitere Menschen zu retten.
Ein Blick auf den Horizont verriet, dass der Tag langsam anbrach. Doch noch etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Er kniff die Augen zusammen. Ein heller Punkt näherte sich ihnen.
Auch die anderen Männer in seinem Boot bemerkten dies. Einer von ihnen sprang auf und schrie: "Schiff ahoi!"
Es stimmte, bereits nach kurzer Zeit hob sich die Silhouette eines Schiffes vom langsam heller werdenden Himmel ab.
Ein Gefühl von unbeschreiblicher Freude und Erleichterung durchfuhr den fünften Offizier bei diesem Anblick. Hilfe war endlich eingetroffen, sie alle waren gerettet!
Doch anstatt sofort auf das Schiff zuzusteuern, beschloß Harold, zuerst die zusammengetäuten Boote ausfindig zu machen und anschließend gemeinsam dorthin zu schwimmen.
Als er bemerkte, dass der Wind auffrischte, befahl er einem der Matrosen, vorne am Boot ein Segel aufzusetzen.
Während hinter ihnen allmählich die Sonne auf ging und den Himmel in ein zartes rosa färbte, war der Himmel vor ihnen noch ganz dunkel und mit unzähligen Sternen übersät.
Mithilfe seiner Taschenlampe erleuchtete er den Weg vor ihnen. Weil sie die Körper der Toten nicht mit dem Bug des Bootes treffen wollten, nahmen sie einen kleinen Umweg.
Als sie zurückkamen, musste Harold feststellen, dass sich seine kleine Flotte zerstreut hatte.
In ein paar Metern Entfernung erkannte er das Faltboot D, welches tief im Wasser lag und einen kläglichen Anblick bot.
"Wir fahren rüber und passen auf, dass denen nichts passiert!" teilte er seinen Männern mit. Diese nickten.
Kurz darauf steuerte Harold Mithilfe der Ruderpinne auf das kleine Notboot zu.
"Wir haben allmählich genug!" rief ihm einer der Insassen zu, als sie näher kamen.
Als Harold das hörte, nahm er sich eine Leine, warf sie dem Mann zu und befahl ihm, diese vorne am Boot festzumachen. Kurz darauf hatte sein Boot das andere im Schlepp.
In etwa anderthalb Meilen Entfernung entdeckte er ein weiteres Faltboot, welches bewegungslos und fast vollständig bis zum Rand im Wasser lag. Vermutlich war es vollgelaufen.
Der fünfte Offizier zögerte keine einzige Sekunde und steuerte auf besagtes Boot zu. Beim Näherkommen erkannte er dann auch, warum das Boot so tief im Wasser versunken war.
Die Seitenwände waren nicht hochgezogen, weil die Eisenbügel zum Spannen der Segeltuchseiten stark beschädigt waren.
Etwa ein Dutzend Männer und eine Frau dritter Klasse, befanden sich in der Mitte des Bootes. Sie alle standen bis zu den Knien im eisigen Wasser.
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, nahm er die dreizehn Passagiere bei sich auf. Als sie alle in Sicherheit waren, setzte er wieder Segel. Das Boot A wurde dabei zurückgelassen. Harold warf noch einen letzten Blick hinein. Als er die Leichen dreier Männer erblickte, schloss er kurz die Augen und sandte ein kurzes Stoßgebet in den Himmel. Danach schaute Harold zu seinem Kumpel James, welcher in eine Decke gehüllt da saß und mit leerem Blick auf seine Füße starrte.
Seine Erleichterung über die bevorstehende Rettung verschwand augenblicklich. Stattdessen durchbohrte jetzt ein Gefühl der Schuld sein Herz.
'Wenn ich doch nur rechtzeitig zurückgekehrt wäre! Dann würde Jasmine jetzt sehr wahrscheinlich noch leben!' Während das Boot mit all seinen Überlebenden langsam auf das Rettungsschiff zusegelte, kreiste dieser vor Selbstvorwürfen nur so triefende Gedanke, immer wieder in Harolds Kopf herum.
Jasmine wusste nicht, wie lange sie und Harold jetzt eigentlich schon nebeneinander her liefen. Als sie den Friedhof verlassen hatten, hatte niemand etwas gesagt gehabt. Und auch jetzt herrschte zwischen ihnen eine seltsame Stille. Es war zwar nicht unangenehm, aber dennoch irgendwie komisch.
Irgendwann hielt die Braunhaarige die Stille jedoch nicht mehr aus.
"Also..." begann sie und überlegte kurz, wie sie ihre Frage am besten stellen sollte. Und als hätte der Ältere ihre Gedanken gelesen, sah er sie kurz darauf mit einem belustigten Funkeln in den Augen an.
"Du möchtest wissen, weshalb du hier bist, stimmts?"
Etwas überrascht davon, nickte sie.
Harolds Gesichtsausdruck wurde ernster und er gab einen kurzen, brummenden Laut von sich, bevor er ihr darauf antwortete.
"Du wirst die Antwort darauf selber erkennen, sobald ich dir alles erzählt habe."
Jasmine verdrehte die Augen. Jetzt ging das schon wieder los.
"Kannst du endlich mal damit aufhören, dich so rätselhaft auszudrücken und mir eine vernünftige Antwort geben? Ist das denn wirklich so schwer?"
Ein amüsiertes Schnauben entfuhr ihm.
"Wo bleibt denn da der Spaß?" fragte er und erntete dafür sofort einen bösen Blick.
"Also gut" sagte Jasmine dann und stellte sich dem Waliser kurz darauf in den Weg.
"Wenn du nicht endlich damit aufhörst hier so dumm rum zu laufen, dann gehe ich! Wenn das, was du zu sagen hast ja so wichtig wäre, dann hättest du doch schon längst damit angefangen!"
Harold hob eine Augenbraue. Doch anstatt Verärgerung oder Empörung, fand Jasmine nichts in seinem Blick vor. Seine Augen zeigten wirklich gar keine Emotionen.
"Du hast recht." sagte er dann und schaute ihr kurz weg. Sein Blick wanderte über die Landschaft. Als er schließlich eine kleine, sonnenbeschienene Bank ins Auge fasste, bedeutete er der Braunhaarigen, mitzukommen.
Diese zögerte jetzt. Sie war sich absolut sicher, dass diese Bank gerade eben noch nicht dort gestanden hatte.
Harold warf einen Blick über die Schulter zu. Der Klang seiner Stimme war freundlich.
"Worauf wartest du?"
Jasmine schüttelte leicht den Kopf.
'Das muss ich mir eingebildet haben.' dachte sie und folgte ihm noch immer leicht verwundert.
Als sie schließlich bei der schmiedeeisernen Bank ankamen, bedeutete Harold ihr sich zu setzen. Das glatte Holz war durch die Sonne angenehm aufgewärmt.
Eine Weile saßen die beiden einfach nur dort und schauten hinunter auf das Tal. In der Ferne konnte man jedoch ganz vage den Friedhof erkennen.
"Was du getan hast, war sehr edel und mutig von dir."
Verwirrt schaute Jasmine den Älteren an.
"Wovon sprichst du?"
Seine Mundwinkel verzogen sich nur ganz leicht nach oben.
"Na deine Taten während des Untergangs. Du hast doch deinen Platz einer junge Mutter mit Kind überlassen. Und deine Rettungsweste hast du doch diesem kleinen Jungen aus der dritten Klasse gegeben."
Jetzt begriff sie.
"Ach so das meinst du. Ja, mag schon sein. Aber sag mal...woher weißt du das eigentlich? Ich dachte du wärst aus einer anderen Zeit? Wie kannst du dann wissen, was dort passiert ist?"
Harold schmunzelte etwas.
"Ach Kind, für uns Seelen existiert weder Zeit noch Raum. Wir sehen und hören alles. Egal wann und egal wo."
Jasmine legte den Kopf schief.
"Aber ist das auf Dauer nicht irgendwann nervig?"
"Selbstverständlich können wir selber darüber entscheiden, was wir wann sehen möchten."
Jetzt war die Braunhaarige noch verwirrter als zuvor.
"Du hast mich also beobachtet, weil du es wolltest?"
"Ja."
"Ähm...okay? Ich will jetzt nicht unhöflich klingen, aber das ist schon irgendwie ein bisschen...gruselig."
Jetzt konnte Harold nicht anders als laut loszulachen.
"Denkst du ich bin der einzige, der die Lebenden beobachtet und über sie wacht?"
Jasmine spürte die Wärme in ihrem Gesicht hochkriechen.
"N-nein natürlich nicht. Aber ich dachte immer, dass nur unsere verstorbenen Freunde und Verwandten vom Jenseits aus auf uns aufpassen und keine...naja, Fremden."
Harold sah sie amüsiert grinsend an.
"Wa-warum grinst du so? Habe ich irgendwas komisches gesagt?"
"Nein nein, alles gut. Ich musste nur gerade an etwas denken. Deine Art erinnert mich nämlich an jemanden, der mir sehr viel bedeutet."
Jasmine wurde schlagartig rot.
"Tat-tatsächlich?"
Harold nickte nur und ließ seinen Blick über das Tal wandern.
"Harry, wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet du hier bist? Ich meine, du hast doch sicher besseres zu tun, als dich hier mit mir rum zu schlagen?"
Der Waliser nahm einen tiefen Atemzug, bevor er sich ihr zuwandte.
"Nein, das habe ich nicht. Wie ich dir ja bereits vorhin schon gesagt habe, leben in dieser Zwischenwelt die Seelen derer, die mit ihrem irdischen Leben noch nicht vollständig abgeschlossen haben oder noch etwas erledigen müssen."
Jasmine senkte beschämt den Kopf.
"Oh, verstehe. Tut mir leid."
"Entschuldige dich nicht. Du konntest es ja nicht wissen." sagte er beschwichtigend.
Nach einer Weile sah die Braunhaarige auf.
"Sag, was genau ist eigentlich der Sinn dieser Zwischenwelt? Also, warum genau kommen Seelen hier her?"
Harold verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich etwas zurück.
"Der Grund weshalb eine Seele sich hierher verirrt, ist immer ganz individuell. Sei es aus Schuld, Uneinsichtigkeit, Reue, Wut oder einfach nur der Wunsch so nah wie nur möglich bei deinen Liebsten zu sein. Manche wollen auch einfach nicht ins Jenseits gehen. Oder können es nicht. Je nachdem. Warum du hier bist, weißt übrigens nur du selbst." erklärte Harold, ohne sie dabei direkt anzusehen.
Jasmine hörte aufmerksam zu. Dabei bemerkte sie, dass Harold plötzlich irgendwie betrübt und fast schon ein wenig traurig wirkte.
"Dürfte ich dich noch was fragen?"
Der Angesprochene sah sie an.
"Du möchtest wissen weshalb ich hier bin, richtig?"
Ertappt sah sie weg und nickte.
Harold fuhr sich einmal durch die Haare.
"Du musst wissen, ich bin schon sehr lange hier. Von deiner Zeit aus gerechnet glaube ich müssten es jetzt fünfundsiebzig Jahre sein."
Erstaunt schaute die Braunhaarige den jungen Mann vor sich an.
"So lange schon? Aber wieso?"
Harold blickte ihr direkt in die Augen.
"Weil ich aufgrund meiner Schuldgefühle keine andere Wahl habe." gestand er dann. In seinen Augen lag jetzt so viel Schuld und Schmerz, dass Jasmine sofort bereute, diese Frage überhaupt gestellt zu haben.
"Ich wollte dich nicht traurig machen, bitte entschuldige."
Doch Harold winkte ab.
"Nein, es ist gut dass du mich das gefragt hast. Immerhin hat es auch mit dir was zu tun."
Der Blick der Braunhaarigen wandelte sich innerhalb von Millisekunden von schuldbewusst zu irritiert.
"Mit mir?" wiederholte sie.
"Ja."
"Aber was habe ich denn schon groß mit dir zu tun? Ich meine, zwischen uns beiden liegen buchstäblich Welten! Du bist irgendwann 1944 gestorben und ich bin 1999 geboren. Das sind immerhin fünfundfünzig Jahre!"
Der Waliser wirkte plötzlich nicht mehr ganz so selbstbewusst wie noch zu Anfang. Es schien wirklich so, als würde er irgendwas vor ihr versuchen zu verbergen.
"Das stimmt schon. Aber so meinte ich das auch gar nicht. Es ist nur..."
Harold tippte unbehaglich mit den Fingern auf dem eisernen Gestell herum.
"Es ist nur was?" hakte Jasmine jetzt scharf nach. Alles Mitleid war plötzlich aus ihr verschwunden. Stattdessen durchbohrte sie ihn mit ihren Augen fast.
Der ältere seufzte. Es war ein langgezogener und gequälter Seufzer.
"Ein Toter kann die Vergangenheit nicht ändern. Aber ein Lebender schon."
Jasmine verstand immernoch nicht so recht, was er ihr damit sagen wollte.
"Wieso sollte ein Toter die Vergangenheit ändern wollen?"
Harold sah sie an. Ein trauriges Lächeln auf den Lippen tragend.
"Um einen Fehler wieder gut zu machen."
Jasmine wich etwas zurück. Sie hatte plötzlich ein ganz ungutes Gefühl ihm gegenüber.
"Hast du dich denn nie gefragt, weshalb du, Lukas, Viola und Kate in der Vergangenheit gelandet seid?"
Die Art wie Harold ihr diese Frage stellte, ließen in ihr automatisch alle Alarmglocken klingeln. Unbehaglich rutschte sie etwas von ihm weg.
"Was genau willst du mir damit sagen?" fragte Jasmine ihn dann ungehalten. Obwohl sie versuchte mit ihrer abwehrenden Haltung ihre Angst und Unsicherheit zu verbergen, gelang ihr dies nur mäßig bis fast gar nicht.
"Bitte beruhige dich erstmal." bat Harold sie, doch Jasmine dachte nicht mal im entferntesten daran.
"Du sagst mir jetzt sofort was du von mir willst! Ich habe keine Lust mehr auf dieses dumme Rätselraten!"
Der Waliser biss sich unbehaglich auf die Unterlippe.
"Na los, ich warte!"
Schließlich gestand Harold sich ein, dass es Zeit war mit offenen Karten zu spielen.
"Also gut. Die Wahrheit ist, dass ICH es war, der euch vier zurückgeschickt hat. Ich wollte, dass ihr, allen voran du, verhindert, dass ich den selben Fehler ein zweites Mal mache."
Mit einem Satz war Jasmine auf den Beinen. Ihre Augen strotzen nur so vor Wut.
"DU?" blaffte sie. "Du warst das? Dir haben wir es also zu verdanken, dass wir diesen ganzen Scheiß überhaupt erst durchmachen mussten? Hast du überhaupt eine Ahnung davon, wie beschissen es uns allen deswegen ging? Oder wie oft wir uns gestritten haben?"
Harold wurde bei jedem ihrer Worte immer kleiner und kleiner. Die Scham stand ihm dabei auch regelrecht ins Gesicht geschrieben.
"Du hast bereitwillig unsere Leben aufs Spiel gesetzt!"
Nach dem letzten Satz kniff die Braunhaarige die Augen zusammen. Der Zorn verwandelte sich Hass und Abscheu.
"Nur deinetwegen bin ich jetzt tot!"
Dieser letzte Satz war es schließlich, welcher Harold endgültig in die Knie zwang.
"Es tut mir leid! Das alles war selbstverständlich nie so geplant gewesen!" beteuerte er.
Jasmine verlor jetzt vollends die Beherrschung.
"NIE SO GEPLANT?" schrie sie ihn dann an.
Ein Ausdruck schierer Verzweiflung zeichnete das Gesicht des ehemaligen fünften Offiziers.
"Bitte versteh doch, es war wirklich niemals meine Absicht gewesen, euch allen so viel Kummer zu bereiten! Ich wollte doch nur... - "
"Das hast du aber! Und weißt du was? Ich finde es verdammt dreist von dir, dass du vier Jugendliche, die rein gar nichts mit dir und deinen Taten zu tun haben, ungefragt in DEINE Angelegenheiten mit hinein verwickelst! Warum hast du nicht einfach jemand anderes nehmen können? Warum uns?"
Harold senkte den Kopf und schwieg lange.
"Weil nur die, die in unmittelbarer Verbindung zu einer Sache stehen, auch die Macht haben etwas zu tun." flüsterte er kaum hörbar.
"In unmittelbarer Verbindung? Das ich nicht lache! Was haben schon vier halbstarke Jugendliche, die nebenbei erwähnt aus Deutschland kommen, mit der Titanic zu tun? Richtig, gar nichts!"
Jetzt schoss Harolds Kopf hoch.
Sein Blick war nicht leicht zu deuten. Allerdings meinte Jasmine einen Hauch von Kränkung in seinen blaugrauen Augen erkennen zu können.
"Tatsächlich? Hast du dir denn nie Gedanken darüber gemacht, warum ihr alle englische Nachnamen habt?"
Damit hatte die Braunhaarige nicht gerechnet. Weshalb sie auch ins stocken kam.
"Was hat das denn jetzt damit zu tun?" entgegnete sie, nachdem sie ihre Fassung wieder erlangt hatte, gereizt.
"Ganz einfach, ihr alle seid englischer Abstammung! Und neben dieser Tatsache, habt ihr alle noch eine weitere Kleinigkeit gemeinsam."
Jasmines Anspannung nahm deutlich zu.
"Worauf willst du hinaus? Was soll diese Gemeinsamkeit sein, von der du da sprichst?"
Jetzt erhob sich Harold von seinem Platz. Sein ernster Blick beunruhigte sie zutiefst.
"Ihr alle habt mindestens einen Vorfahren, der damals auch an Bord war." sagte er dann.
Jasmine glaubte, dass ihre Beine jeden Moment den Dienst versagen würden.
In ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles.
"Du...du lügst! Niemand aus meiner Familie mit dem Nachnamen Fitzgerald war an Bord der Titanic! Das wüsste ich!"
Harold blinzelte ein–, zweimal.
"Du hast recht. Aber der Vorfahre von dem ich spreche, trägt auch einen ganz anderen Nachnamen als du und dein Bruder." erklärte er. Seine sonst so tiefe Stimme, hatte jetzt einen eher sanften Klang.
"Ehrlich gesagt wundert es mich, dass du es immernoch nicht bemerkt hast."
Verunsichert musterte sie ihn.
"W-was meinst du? Was habe ich nicht bemerkt?"
Harold legte den Kopf etwas schräg und lächelte dann verschmitzt. Die Arme hatte er dabei vor der Brust verschränkt.
Jasmine riss die Augen vor Schreck ganz weit auf und wich einige Schritte zurück.
"D-das gibt es nicht! Das kann nicht sein! Du...du siehst ja beinahe so aus wie...wie..."
"Lukas?" fragte Harold belustigt.
Jasmine nickte nur. Sie war viel zu sprachlos um etwas zu sagen.
Der Waliser lächelte.
"Verstehst du jetzt? Ich bin eure Verbindung zur Titanic."
Jasmine ließ sich langsam auf die Knie sinken, zu überfordert um die vielen Informationen auf einmal zu verpacken.
"Sagt dir der Name Phillip etwas?" fragte Harold.
Bei der Erwähnung dieses Namens sah die Braunhaarige auf. Sie kannte genau zwei Leute aus ihrer Familie, die diesen Namen trugen.
"M-mein Großvater hieß Phillip."
Ein warmes Lächeln zeichnete nun Harolds Lippen.
"Gut, du kennst ihn also."
"Ja, aber nicht persönlich. Er ist gestorben lange bevor...-"
"Lange bevor du oder dein Bruder geboren wurdet. Ich weiß."
Ein eigenartiges Gefühl breitete sich plötzlich in Jasmine aus.
"Du kanntest meinen Großvater, stimmts?"
Der Waliser nickte. Ein stolzes Funkeln trat jetzt in seine Augen.
"Selbstverständlich kannte ich ihn. Immerhin ist Phillip Fitzgerald mein Enkelsohn."
Das war unmöglich, das konnte nicht sein! Es konnte einfach nicht!
Irritiert legte der Fremde etwas den Kopf schräg.
"Das ist unmöglich!" murmelte die Braunhaarige ungläubig. "Ich muss träumen! Entweder das, oder irgendjemand erlaubt sich einen üblen Scherz mit mir!"
Jetzt brach ihr Gegenüber in lautes Gelächter aus.
"Einen Scherz nennst du mich also? Das ist aber nicht die feine englische Art, Mädchen."
Jasmine rieb sich über die Augen.
"Du bist nicht echt! Du...du kannst gar nicht echt sein!" schrie sie und wich noch zwei weitere Schritte zurück.
Schlagartig hörte der fremde Mann auf zu lachen. Sein amüsierter Gesichtsausdruck war verschwunden. Stattdessen lagen nun Ernst und Besorgnis in seinem Blick.
"Wieso bin ich nicht echt?" fragte er und klang dabei keineswegs verärgert. Eher verwundert.
"Weil eine lebende Person nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann!"
Überrascht hob der Fremde die Augenbrauen.
"Aber ich lebe doch gar nicht mehr." erklärte er mit ruhiger Stimme.
Jetzt war es Jasmine, welcher vor Überraschung fast die Kinnlade runterklappte.
"Du...was? Aber wie ist das möglich? Du warst doch in einem der Boote, das weiß ich ganz genau!"
Ihr Gegenüber seufzte und fuhr sich einmal durch die kurzen braunen Haare.
"Mir scheint, als gäbe es da ein sehr großes Missverständnis."
Jetzt wurde sie hellhörig. Ein Missverständnis? Was sollte denn das schon wieder heißen?
"Was genau meinst du damit?" hakte sie verunsichert nach.
Der Fremde mit den blaugrauen Augen sah sie eindringlich an.
"Das mag jetzt vielleicht etwas seltsam für dich klingen, aber ich bin nicht der, den du zu glauben kennst."
Jasmines Verunsicherung schwand allmählich, dafür stieg jetzt ihre Ungeduld.
"Wovon zum Teufel redest du da? Wenn du ein Fremder wärst, dann würdest du doch wohl kaum mit mir reden, Harry!"
Der junge Mann fuhr sich erneut durch die Haare. Er wusste ja, dass es nicht leicht werden würde, Jasmine die ganze Sache zu erklären. Aber wenn er gewusst hätte, dass es so schwer werden würde, dann hätte er sich vielleicht nochmal anders überlegt. Aber nichts desto trotz war sie jetzt hier und verlangte Antworten. Und die sollte sie natürlich auch bekommen.
"Hör zu, ich bin nicht Harry. Naja, doch schon, aber ich bin nicht der, den du kennengelernt hast. Ich bin ein anderer Harry."
Jetzt verstand Jasmine gar nichts mehr.
"Hörst du dir zur Abwechslung eigentlich mal selber zu? Erst sagst du, dass du nicht Harry bist. Und dann aufeinmal doch? Und was soll das überhaupt bedeuten, ein anderer? Ich weiß von keinem anderen Harold Godfrey Lowe!"
Harold massierte sich die Schläfe. Dieses Mädel hatte durchaus Temperament.
"Guck, ich will versuchen es dir zu erklären, okay? Lass mich einfach ausreden und hör zu."
Jasmine verschränkte die Arme vor der Brust.
"In Ordnung, aber bevor du anfängst, beantworte mir eine Frage."
Der Ältere nickte.
"Wo bin ich hier?"
Ein belustigtes Grinsen schlich sich auf Harolds Lippen. Lässig deutete er auf ein Paar Grabsteine.
"Ist das nicht offensichtlich? Das hier ist ein Friedhof."
Jasmine verkniff sich ein genervtes Schnauben.
"Das meinte ich nicht!"
"Ich weiß." sagte Harold und wirkte mit einem mal nicht mehr ganz so erheitert wie zuvor. Im Gegenteil, sein Blick hatte jetzt etwas trauriges und wehmütiges an sich.
"Dieser "Ort", ist eine Art Zwischenwelt. Alle Seelen, die mit ihrem irdischen Leben noch nicht ganz abgeschlossen haben oder es nicht können, oder die noch etwas erledigen müssen, landen hier."
Bei diesen Worten bekam Jasmine ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend.
"Also bin ich tatsächlich..."
"Tot?" fragte Harold und schaute sie mitfühlend an.
Jasmine nickte nur.
"Ich fürchte ja. Es tut mir wirklich leid, dass dein junges Leben so früh enden musste."
Die Augenbrauen des Älteren zogen sich etwas zusammen, als er sah, wie Jasmine bedrückt den Kopf senkte.
"Ich weiß, das klingt jetzt nicht besonders tröstlich, aber manche Dinge sind einfach dazu bestimmt zu passieren. Gute wie auch schlechte."
Jasmine sah auf. Der Ausdruck in ihren Augen war tieftraurig.
"Du hast recht, es ist wirklich nicht sonderlich tröstlich. Aber sich jetzt darüber zu beklagen bringt auch nichts. Es ist nun mal so wie es ist. Ich wünschte nur, dass es nicht so weit gekommen wäre! Wenn ich doch nur ein bisschen länger durchgehalten hätte! Oder vorher eingegriffen hätte."
Harold bedachte sie mit einem langen und verständnisvollen Blick. In seinen Augen jedoch lag ein eigenartiges Leuchten. Es war fast so, als wisse er von etwas, das Jasmine verborgen war. Zumindest noch.
Er wollte gerade zum sprechen ansetzen aber die Braunhaarige kam ihm zuvor.
"Aber moment mal. Wenn ich doch tot bin und das hier eine Zwischenwelt ist, in welcher ruhelose Seelen existieren. Was tust du dann hier? Ich meine, du bist doch noch überhaupt nicht tot!"
Harold seufzte.
"Ich sagte doch, dass ich nicht der Harry bin, den du kennengelernt hast. Wir sind zwar miteinander identisch, aber ich komme aus einer ganz anderen, ich nenne es mal Zeitlinie."
Als er Jasmines verwirrten Blick bemerkte, wurde ihm bewusst, dass er seine nächsten Worte mit bedacht wählen sollte.
"Schau, die Sache ist die, der Harry den du kennst und ich sind zwar im Prinzip ein und die selbe Person, aber ich komme aus einer ganz anderen Zeit als er. Das heißt, während ich schon lange tot bin, lebt mein Gegenstück noch in der Vergangenheit und ist quicklebendig. Deshalb kann ich dich sehen und auch mit dir sprechen."
Jasmine glaubte, jeden Moment umzukippen.
Sie brauchte einen Moment, um die ganzen Informationen irgendwie zu verpacken.
"Also damit ich das jetzt richtig verstanden habe. DU kommst aus einer ganz anderen Zeitlinie als der Harold Lowe, den ich kenne?"
"Das ist richtig."
"Es gibt also zwei von euch?"
"Du hast es erfasst." sagte der Ältere und war wirklich froh darüber, dass Jasmine so schnell begriff.
"Aber...wie ist das möglich? Ich meine, wie kann man zweimal existieren? Das...das geht doch überhaupt nicht!"
Jetzt zog Harold etwas die Augenbrauen zusammen.
"Doch das geht. Du musst das so sehen, durch dein Eingreifen hast du die Geschichte ein klein wenig verändert. Dadurch ist eine alternative Zeitlinie entstanden."
Jasmines Augen weiteten sich vor Schreck.
"Eine alternative Zeitlinie? Du meinst, sowas wie ein Paralleluniversum?"
"Ja."
Die Braunhaarige starrte für einige Sekunden in Harolds Augen.
"Du...du verarscht mich auch nicht?" fragte sie ihn und hatte die Hoffnung, dass diese ganze Sache nur Einbildung, oder besser noch ein Traum war. Aber das langsame Kopfschütteln und der ernste Gesichtsausdruck, ließen keinen Platz für Zweifel.
"Ach du Scheiße!" rief Jasmine nur und begann plötzlich hin und her zu laufen. Dabei murmelte sie immer mal wieder ein paar unverständliche Worte leise vor sich hin.
Eine Weile beobachtete Harold sie dabei. Nach etwa zwei Minuten entschloss er sich dazu, dem ein Ende zu machen. Es gab da nämlich noch ein paar Dinge, die er ihr um jeden Preis mitteilen musste.
"Jasmine, hör zu. Ich weiß, dass dich das alles gerade sehr mitnimmt. Und ich verstehe auch, dass du im Moment vollkommen andere Sorgen hast, aber bitte. Es ist wirklich wichtig, dass du mir zuhörst!"
Die Braunhaarige hielt kurz inne. Ihre blaugrauen Augen schienen Funken zu sprühen.
"Wie du eben schon angemerkt hast, habe ich gerade vollkommen andere Sorgen! Also, was könnte schon so wichtig sein, dass du es nicht einfach auf später verschieben kannst? Es ist ja nicht so, als würde ich wie durch ein Wunder von den Toten auferstehen und wieder zur Erde zurückkehren. Dieses Privileg hat sich ja schon jemand anders patentiert!" entgegnete die Jüngere der beiden spitzer als eigentlich beabsichtigt.
Harold konnte nicht anders als darüber zu schmunzeln.
"Hat dir eigentlich schonmal jemand gesagt, dass du ziemlich temperamentvoll und scharfzüngig sein kannst?"
Da Jasmine überhaupt nicht in der Stimmung für solche Bemerkungen war und sich auch nicht weiter darauf einlassen wollte, entschied sie sich dazu, seinen Kommentar gekonnt zu ignorieren. Stattdessen verschränkte sie jetzt die Arme vor der Brust und warf Harold einen ungeduldigen Blick zu.
"Also gut, was willst du mir denn so wichtiges sagen?"
Obwohl er versuchte sich zusammenzureißen, konnte er nicht verhindern, dass ihm ein leises Lachen entfuhr.
"Ihr seid euch wirklich unheimlich ähnlich. Wirklich verblüffend."
"Was meinst du? Wer ist wem unheimlich ähnlich?"
Harold winkte ab.
"Ach, vergiss was ich gesagt habe. War nicht so wichtig."
Doch Jasmine kniff die Augen zusammen.
Irgendwas verheimlichte er vor ihr. Aber was? Und was hatte diese komische Aussage von gerade nur zu bedeuten?
"Was hältst du davon, wenn wir woanders hingehen. Ich mag ehrlich gesagt keine Friedhöfe, die wecken zu viele schlechte Erinnerungen. Was meinst du?"
Jasmine, welche ihr Gegenüber immernoch misstrauisch beäugte, zuckte leicht mit den Schultern.
"Hm, von mir aus."
"Also gut, dann los." sagte der Ältere und ging zwischen den Gräbern den Hügel, auf dem sie standen, hinunter.
Jasmine folgte nicht sofort. Sie beschlich das eigenartige Gefühl, dass dieser Harry viel mehr von dieser ganzen Sache zu wissen schien.
Während sie ihm beim Gehen beobachtete, fiel ihr plötzlich wieder das Grab ein, an welchem der alte Mann gestanden hatte. Erneut packte sie die Neugier.
Sie wollte sich schon umdrehen und den Stein genauer in Augenschein nehmen, als Harrys Stimme von weiter unten ertönte.
"Jasmine, wo bleibst du?"
Die Angesprochene zuckte zusammen.
'Verdammt, immer dann wenn ich gucken will! Das macht er doch mit Absicht!' dachte sie voller Verärgerung.
"Ja, komme schon." rief sie dann und wandte sich widerwillig von dem Grab ab.
Der Ältere wartete, bis die Braunhaarige bei ihm angelangt war.
"Nicht jedes Geheimnis sollte sofort gelüftet werden." bemerkte Harold nur und setzte sich in Bewegung.
Jasmine unterdrückte den Drang mit den Augen zu rollen und folgte ihm.
James war unendlich erleichtert, als er das Boot langsam näher kommen sah.
Obwohl Harry ihn mittlerweile entdeckt hatte und die Taschenlampe in seine Richtung hielt, hörte James nicht auf, in seine Trillerpfeife zu pusten.
Ob es nun die Angst davor zwar übersehen zu werden, oder ob es daran lag, dass er zeigen wollte, dass er noch am Leben war, wusste er nicht. Jedenfalls half ihm diese kleine Messingpfeife dabei, Harrys Boot in durch das Wasser, direkt zu ihm zu lotsen.
"Seid vorsichtig mit den Rudern!" ermahnte der fünfte Offizier die Seemänner.
Als das Boot dann endlich bei ihm angelangt war, konnte James es einfach nicht glauben. Rettung war gekommen. Er war tatsächlich gerettet!
Doch sofort spürte er einen Stich in seinem Herzen. Harry war zu spät.
Als besagter Offizier ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht schien, erschrak er. Das Gesicht seines Freundes und Kollegen war so weiß, wie das Boot in dem sie saßen.
"James?" fragte der Waliser prüfend.
"Ja?" antwortete dieser angestrengt und mit krächzender Stimme. Ihm wurde erst jetzt bewusst, wie viel Kraft ihn das Pusten in die Trillerpfeife gekostet hatte.
Eine Welle der Erleichterung erfasste Harold.
"Gott sei dank, du lebst noch."
Als er das sagte, fiel sein Blick auf etwas, das hinter James lag.
Er richtete den Strahl seiner Lampe auf das besagte etwas und erschrak, als er erkannte, dass es sich dabei um eine weitere Person handelte. Da er jedoch nur den Rücken und den Hinterkopf sah, konnte er nicht identifizieren, wer dort lag. Das einzige was er mit Sicherheit sagen konnte war, dass die Person weiblich war.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Harold zu erkennen, ob sie noch atmete.
James bemerkte dies.
"Jasmine lebt nicht...mehr. Sie ist...vor ein paar Minuten...gestorben." sagte er angestrengt keuchend.
Als Harold das hörte, starrte er seinen Kollegen entsetzt an.
"Was?" fragte er in der Hoffnung, sich verhört zu haben.
James schwieg.
Wieder schaute der fünfte Offizier auf den leblosen Körper neben seinem Freund.
"Nein, bitte nicht." flüsterte er und konnte spüren, wie sein Herz immer schwerer wurde, je länger er dorthin sah.
"Sir? Was ist mit dem Überlebenden? Sollten wir ihn nicht allmählich ins Boot holen?" fragte einer der Seemänner ihn vorsichtig.
Harold löste sich aus seiner Starre.
"Natürlich, worauf wartet ihr? Helft ihm raus und gebt ihm ein paar Decken! Haltet ihn warm!" befahl der fünfte Offizier den Männern mit barscher Stimme. Dies tat er allerdings nur um seinen Kummer, über Jasmines Tod, vor den anderen zu verbergen.
Als James dann schließlich dank der Hilfe von zwei Seemännern im Boot war, musste Harold sich zwingen den Blick von dem Floß, auf welchem Jasmine lag, loszureißen.
Für etwa eine halbe Stunde noch suchten der fünfte Offizier und die Seemänner noch nach weiteren Überlebenden. Tatsächlich hörten sie irgendwo in der Ferne noch weitere Hilferufe. Natürlich eilten sie so schnell sie nur konnten diesen nach. Doch egal wie sehr sie sich auch bemühten, die Leute von denen die Rufe kamen erreichten sie nie.
Irgendwann gab Harold die Suche nach möglichen Überlebenden schließlich auf. Er wusste, dass er zu spät gekommen war, um noch weitere Menschen zu retten.
Ein Blick auf den Horizont verriet, dass der Tag langsam anbrach. Doch noch etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Er kniff die Augen zusammen. Ein heller Punkt näherte sich ihnen.
Auch die anderen Männer in seinem Boot bemerkten dies. Einer von ihnen sprang auf und schrie: "Schiff ahoi!"
Es stimmte, bereits nach kurzer Zeit hob sich die Silhouette eines Schiffes vom langsam heller werdenden Himmel ab.
Ein Gefühl von unbeschreiblicher Freude und Erleichterung durchfuhr den fünften Offizier bei diesem Anblick. Hilfe war endlich eingetroffen, sie alle waren gerettet!
Doch anstatt sofort auf das Schiff zuzusteuern, beschloß Harold, zuerst die zusammengetäuten Boote ausfindig zu machen und anschließend gemeinsam dorthin zu schwimmen.
Als er bemerkte, dass der Wind auffrischte, befahl er einem der Matrosen, vorne am Boot ein Segel aufzusetzen.
Während hinter ihnen allmählich die Sonne auf ging und den Himmel in ein zartes rosa färbte, war der Himmel vor ihnen noch ganz dunkel und mit unzähligen Sternen übersät.
Mithilfe seiner Taschenlampe erleuchtete er den Weg vor ihnen. Weil sie die Körper der Toten nicht mit dem Bug des Bootes treffen wollten, nahmen sie einen kleinen Umweg.
Als sie zurückkamen, musste Harold feststellen, dass sich seine kleine Flotte zerstreut hatte.
In ein paar Metern Entfernung erkannte er das Faltboot D, welches tief im Wasser lag und einen kläglichen Anblick bot.
"Wir fahren rüber und passen auf, dass denen nichts passiert!" teilte er seinen Männern mit. Diese nickten.
Kurz darauf steuerte Harold Mithilfe der Ruderpinne auf das kleine Notboot zu.
"Wir haben allmählich genug!" rief ihm einer der Insassen zu, als sie näher kamen.
Als Harold das hörte, nahm er sich eine Leine, warf sie dem Mann zu und befahl ihm, diese vorne am Boot festzumachen. Kurz darauf hatte sein Boot das andere im Schlepp.
In etwa anderthalb Meilen Entfernung entdeckte er ein weiteres Faltboot, welches bewegungslos und fast vollständig bis zum Rand im Wasser lag. Vermutlich war es vollgelaufen.
Der fünfte Offizier zögerte keine einzige Sekunde und steuerte auf besagtes Boot zu. Beim Näherkommen erkannte er dann auch, warum das Boot so tief im Wasser versunken war.
Die Seitenwände waren nicht hochgezogen, weil die Eisenbügel zum Spannen der Segeltuchseiten stark beschädigt waren.
Etwa ein Dutzend Männer und eine Frau dritter Klasse, befanden sich in der Mitte des Bootes. Sie alle standen bis zu den Knien im eisigen Wasser.
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, nahm er die dreizehn Passagiere bei sich auf. Als sie alle in Sicherheit waren, setzte er wieder Segel. Das Boot A wurde dabei zurückgelassen. Harold warf noch einen letzten Blick hinein. Als er die Leichen dreier Männer erblickte, schloss er kurz die Augen und sandte ein kurzes Stoßgebet in den Himmel. Danach schaute Harold zu seinem Kumpel James, welcher in eine Decke gehüllt da saß und mit leerem Blick auf seine Füße starrte.
Seine Erleichterung über die bevorstehende Rettung verschwand augenblicklich. Stattdessen durchbohrte jetzt ein Gefühl der Schuld sein Herz.
'Wenn ich doch nur rechtzeitig zurückgekehrt wäre! Dann würde Jasmine jetzt sehr wahrscheinlich noch leben!' Während das Boot mit all seinen Überlebenden langsam auf das Rettungsschiff zusegelte, kreiste dieser vor Selbstvorwürfen nur so triefende Gedanke, immer wieder in Harolds Kopf herum.
Jasmine wusste nicht, wie lange sie und Harold jetzt eigentlich schon nebeneinander her liefen. Als sie den Friedhof verlassen hatten, hatte niemand etwas gesagt gehabt. Und auch jetzt herrschte zwischen ihnen eine seltsame Stille. Es war zwar nicht unangenehm, aber dennoch irgendwie komisch.
Irgendwann hielt die Braunhaarige die Stille jedoch nicht mehr aus.
"Also..." begann sie und überlegte kurz, wie sie ihre Frage am besten stellen sollte. Und als hätte der Ältere ihre Gedanken gelesen, sah er sie kurz darauf mit einem belustigten Funkeln in den Augen an.
"Du möchtest wissen, weshalb du hier bist, stimmts?"
Etwas überrascht davon, nickte sie.
Harolds Gesichtsausdruck wurde ernster und er gab einen kurzen, brummenden Laut von sich, bevor er ihr darauf antwortete.
"Du wirst die Antwort darauf selber erkennen, sobald ich dir alles erzählt habe."
Jasmine verdrehte die Augen. Jetzt ging das schon wieder los.
"Kannst du endlich mal damit aufhören, dich so rätselhaft auszudrücken und mir eine vernünftige Antwort geben? Ist das denn wirklich so schwer?"
Ein amüsiertes Schnauben entfuhr ihm.
"Wo bleibt denn da der Spaß?" fragte er und erntete dafür sofort einen bösen Blick.
"Also gut" sagte Jasmine dann und stellte sich dem Waliser kurz darauf in den Weg.
"Wenn du nicht endlich damit aufhörst hier so dumm rum zu laufen, dann gehe ich! Wenn das, was du zu sagen hast ja so wichtig wäre, dann hättest du doch schon längst damit angefangen!"
Harold hob eine Augenbraue. Doch anstatt Verärgerung oder Empörung, fand Jasmine nichts in seinem Blick vor. Seine Augen zeigten wirklich gar keine Emotionen.
"Du hast recht." sagte er dann und schaute ihr kurz weg. Sein Blick wanderte über die Landschaft. Als er schließlich eine kleine, sonnenbeschienene Bank ins Auge fasste, bedeutete er der Braunhaarigen, mitzukommen.
Diese zögerte jetzt. Sie war sich absolut sicher, dass diese Bank gerade eben noch nicht dort gestanden hatte.
Harold warf einen Blick über die Schulter zu. Der Klang seiner Stimme war freundlich.
"Worauf wartest du?"
Jasmine schüttelte leicht den Kopf.
'Das muss ich mir eingebildet haben.' dachte sie und folgte ihm noch immer leicht verwundert.
Als sie schließlich bei der schmiedeeisernen Bank ankamen, bedeutete Harold ihr sich zu setzen. Das glatte Holz war durch die Sonne angenehm aufgewärmt.
Eine Weile saßen die beiden einfach nur dort und schauten hinunter auf das Tal. In der Ferne konnte man jedoch ganz vage den Friedhof erkennen.
"Was du getan hast, war sehr edel und mutig von dir."
Verwirrt schaute Jasmine den Älteren an.
"Wovon sprichst du?"
Seine Mundwinkel verzogen sich nur ganz leicht nach oben.
"Na deine Taten während des Untergangs. Du hast doch deinen Platz einer junge Mutter mit Kind überlassen. Und deine Rettungsweste hast du doch diesem kleinen Jungen aus der dritten Klasse gegeben."
Jetzt begriff sie.
"Ach so das meinst du. Ja, mag schon sein. Aber sag mal...woher weißt du das eigentlich? Ich dachte du wärst aus einer anderen Zeit? Wie kannst du dann wissen, was dort passiert ist?"
Harold schmunzelte etwas.
"Ach Kind, für uns Seelen existiert weder Zeit noch Raum. Wir sehen und hören alles. Egal wann und egal wo."
Jasmine legte den Kopf schief.
"Aber ist das auf Dauer nicht irgendwann nervig?"
"Selbstverständlich können wir selber darüber entscheiden, was wir wann sehen möchten."
Jetzt war die Braunhaarige noch verwirrter als zuvor.
"Du hast mich also beobachtet, weil du es wolltest?"
"Ja."
"Ähm...okay? Ich will jetzt nicht unhöflich klingen, aber das ist schon irgendwie ein bisschen...gruselig."
Jetzt konnte Harold nicht anders als laut loszulachen.
"Denkst du ich bin der einzige, der die Lebenden beobachtet und über sie wacht?"
Jasmine spürte die Wärme in ihrem Gesicht hochkriechen.
"N-nein natürlich nicht. Aber ich dachte immer, dass nur unsere verstorbenen Freunde und Verwandten vom Jenseits aus auf uns aufpassen und keine...naja, Fremden."
Harold sah sie amüsiert grinsend an.
"Wa-warum grinst du so? Habe ich irgendwas komisches gesagt?"
"Nein nein, alles gut. Ich musste nur gerade an etwas denken. Deine Art erinnert mich nämlich an jemanden, der mir sehr viel bedeutet."
Jasmine wurde schlagartig rot.
"Tat-tatsächlich?"
Harold nickte nur und ließ seinen Blick über das Tal wandern.
"Harry, wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet du hier bist? Ich meine, du hast doch sicher besseres zu tun, als dich hier mit mir rum zu schlagen?"
Der Waliser nahm einen tiefen Atemzug, bevor er sich ihr zuwandte.
"Nein, das habe ich nicht. Wie ich dir ja bereits vorhin schon gesagt habe, leben in dieser Zwischenwelt die Seelen derer, die mit ihrem irdischen Leben noch nicht vollständig abgeschlossen haben oder noch etwas erledigen müssen."
Jasmine senkte beschämt den Kopf.
"Oh, verstehe. Tut mir leid."
"Entschuldige dich nicht. Du konntest es ja nicht wissen." sagte er beschwichtigend.
Nach einer Weile sah die Braunhaarige auf.
"Sag, was genau ist eigentlich der Sinn dieser Zwischenwelt? Also, warum genau kommen Seelen hier her?"
Harold verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich etwas zurück.
"Der Grund weshalb eine Seele sich hierher verirrt, ist immer ganz individuell. Sei es aus Schuld, Uneinsichtigkeit, Reue, Wut oder einfach nur der Wunsch so nah wie nur möglich bei deinen Liebsten zu sein. Manche wollen auch einfach nicht ins Jenseits gehen. Oder können es nicht. Je nachdem. Warum du hier bist, weißt übrigens nur du selbst." erklärte Harold, ohne sie dabei direkt anzusehen.
Jasmine hörte aufmerksam zu. Dabei bemerkte sie, dass Harold plötzlich irgendwie betrübt und fast schon ein wenig traurig wirkte.
"Dürfte ich dich noch was fragen?"
Der Angesprochene sah sie an.
"Du möchtest wissen weshalb ich hier bin, richtig?"
Ertappt sah sie weg und nickte.
Harold fuhr sich einmal durch die Haare.
"Du musst wissen, ich bin schon sehr lange hier. Von deiner Zeit aus gerechnet glaube ich müssten es jetzt fünfundsiebzig Jahre sein."
Erstaunt schaute die Braunhaarige den jungen Mann vor sich an.
"So lange schon? Aber wieso?"
Harold blickte ihr direkt in die Augen.
"Weil ich aufgrund meiner Schuldgefühle keine andere Wahl habe." gestand er dann. In seinen Augen lag jetzt so viel Schuld und Schmerz, dass Jasmine sofort bereute, diese Frage überhaupt gestellt zu haben.
"Ich wollte dich nicht traurig machen, bitte entschuldige."
Doch Harold winkte ab.
"Nein, es ist gut dass du mich das gefragt hast. Immerhin hat es auch mit dir was zu tun."
Der Blick der Braunhaarigen wandelte sich innerhalb von Millisekunden von schuldbewusst zu irritiert.
"Mit mir?" wiederholte sie.
"Ja."
"Aber was habe ich denn schon groß mit dir zu tun? Ich meine, zwischen uns beiden liegen buchstäblich Welten! Du bist irgendwann 1944 gestorben und ich bin 1999 geboren. Das sind immerhin fünfundfünzig Jahre!"
Der Waliser wirkte plötzlich nicht mehr ganz so selbstbewusst wie noch zu Anfang. Es schien wirklich so, als würde er irgendwas vor ihr versuchen zu verbergen.
"Das stimmt schon. Aber so meinte ich das auch gar nicht. Es ist nur..."
Harold tippte unbehaglich mit den Fingern auf dem eisernen Gestell herum.
"Es ist nur was?" hakte Jasmine jetzt scharf nach. Alles Mitleid war plötzlich aus ihr verschwunden. Stattdessen durchbohrte sie ihn mit ihren Augen fast.
Der ältere seufzte. Es war ein langgezogener und gequälter Seufzer.
"Ein Toter kann die Vergangenheit nicht ändern. Aber ein Lebender schon."
Jasmine verstand immernoch nicht so recht, was er ihr damit sagen wollte.
"Wieso sollte ein Toter die Vergangenheit ändern wollen?"
Harold sah sie an. Ein trauriges Lächeln auf den Lippen tragend.
"Um einen Fehler wieder gut zu machen."
Jasmine wich etwas zurück. Sie hatte plötzlich ein ganz ungutes Gefühl ihm gegenüber.
"Hast du dich denn nie gefragt, weshalb du, Lukas, Viola und Kate in der Vergangenheit gelandet seid?"
Die Art wie Harold ihr diese Frage stellte, ließen in ihr automatisch alle Alarmglocken klingeln. Unbehaglich rutschte sie etwas von ihm weg.
"Was genau willst du mir damit sagen?" fragte Jasmine ihn dann ungehalten. Obwohl sie versuchte mit ihrer abwehrenden Haltung ihre Angst und Unsicherheit zu verbergen, gelang ihr dies nur mäßig bis fast gar nicht.
"Bitte beruhige dich erstmal." bat Harold sie, doch Jasmine dachte nicht mal im entferntesten daran.
"Du sagst mir jetzt sofort was du von mir willst! Ich habe keine Lust mehr auf dieses dumme Rätselraten!"
Der Waliser biss sich unbehaglich auf die Unterlippe.
"Na los, ich warte!"
Schließlich gestand Harold sich ein, dass es Zeit war mit offenen Karten zu spielen.
"Also gut. Die Wahrheit ist, dass ICH es war, der euch vier zurückgeschickt hat. Ich wollte, dass ihr, allen voran du, verhindert, dass ich den selben Fehler ein zweites Mal mache."
Mit einem Satz war Jasmine auf den Beinen. Ihre Augen strotzen nur so vor Wut.
"DU?" blaffte sie. "Du warst das? Dir haben wir es also zu verdanken, dass wir diesen ganzen Scheiß überhaupt erst durchmachen mussten? Hast du überhaupt eine Ahnung davon, wie beschissen es uns allen deswegen ging? Oder wie oft wir uns gestritten haben?"
Harold wurde bei jedem ihrer Worte immer kleiner und kleiner. Die Scham stand ihm dabei auch regelrecht ins Gesicht geschrieben.
"Du hast bereitwillig unsere Leben aufs Spiel gesetzt!"
Nach dem letzten Satz kniff die Braunhaarige die Augen zusammen. Der Zorn verwandelte sich Hass und Abscheu.
"Nur deinetwegen bin ich jetzt tot!"
Dieser letzte Satz war es schließlich, welcher Harold endgültig in die Knie zwang.
"Es tut mir leid! Das alles war selbstverständlich nie so geplant gewesen!" beteuerte er.
Jasmine verlor jetzt vollends die Beherrschung.
"NIE SO GEPLANT?" schrie sie ihn dann an.
Ein Ausdruck schierer Verzweiflung zeichnete das Gesicht des ehemaligen fünften Offiziers.
"Bitte versteh doch, es war wirklich niemals meine Absicht gewesen, euch allen so viel Kummer zu bereiten! Ich wollte doch nur... - "
"Das hast du aber! Und weißt du was? Ich finde es verdammt dreist von dir, dass du vier Jugendliche, die rein gar nichts mit dir und deinen Taten zu tun haben, ungefragt in DEINE Angelegenheiten mit hinein verwickelst! Warum hast du nicht einfach jemand anderes nehmen können? Warum uns?"
Harold senkte den Kopf und schwieg lange.
"Weil nur die, die in unmittelbarer Verbindung zu einer Sache stehen, auch die Macht haben etwas zu tun." flüsterte er kaum hörbar.
"In unmittelbarer Verbindung? Das ich nicht lache! Was haben schon vier halbstarke Jugendliche, die nebenbei erwähnt aus Deutschland kommen, mit der Titanic zu tun? Richtig, gar nichts!"
Jetzt schoss Harolds Kopf hoch.
Sein Blick war nicht leicht zu deuten. Allerdings meinte Jasmine einen Hauch von Kränkung in seinen blaugrauen Augen erkennen zu können.
"Tatsächlich? Hast du dir denn nie Gedanken darüber gemacht, warum ihr alle englische Nachnamen habt?"
Damit hatte die Braunhaarige nicht gerechnet. Weshalb sie auch ins stocken kam.
"Was hat das denn jetzt damit zu tun?" entgegnete sie, nachdem sie ihre Fassung wieder erlangt hatte, gereizt.
"Ganz einfach, ihr alle seid englischer Abstammung! Und neben dieser Tatsache, habt ihr alle noch eine weitere Kleinigkeit gemeinsam."
Jasmines Anspannung nahm deutlich zu.
"Worauf willst du hinaus? Was soll diese Gemeinsamkeit sein, von der du da sprichst?"
Jetzt erhob sich Harold von seinem Platz. Sein ernster Blick beunruhigte sie zutiefst.
"Ihr alle habt mindestens einen Vorfahren, der damals auch an Bord war." sagte er dann.
Jasmine glaubte, dass ihre Beine jeden Moment den Dienst versagen würden.
In ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles.
"Du...du lügst! Niemand aus meiner Familie mit dem Nachnamen Fitzgerald war an Bord der Titanic! Das wüsste ich!"
Harold blinzelte ein–, zweimal.
"Du hast recht. Aber der Vorfahre von dem ich spreche, trägt auch einen ganz anderen Nachnamen als du und dein Bruder." erklärte er. Seine sonst so tiefe Stimme, hatte jetzt einen eher sanften Klang.
"Ehrlich gesagt wundert es mich, dass du es immernoch nicht bemerkt hast."
Verunsichert musterte sie ihn.
"W-was meinst du? Was habe ich nicht bemerkt?"
Harold legte den Kopf etwas schräg und lächelte dann verschmitzt. Die Arme hatte er dabei vor der Brust verschränkt.
Jasmine riss die Augen vor Schreck ganz weit auf und wich einige Schritte zurück.
"D-das gibt es nicht! Das kann nicht sein! Du...du siehst ja beinahe so aus wie...wie..."
"Lukas?" fragte Harold belustigt.
Jasmine nickte nur. Sie war viel zu sprachlos um etwas zu sagen.
Der Waliser lächelte.
"Verstehst du jetzt? Ich bin eure Verbindung zur Titanic."
Jasmine ließ sich langsam auf die Knie sinken, zu überfordert um die vielen Informationen auf einmal zu verpacken.
"Sagt dir der Name Phillip etwas?" fragte Harold.
Bei der Erwähnung dieses Namens sah die Braunhaarige auf. Sie kannte genau zwei Leute aus ihrer Familie, die diesen Namen trugen.
"M-mein Großvater hieß Phillip."
Ein warmes Lächeln zeichnete nun Harolds Lippen.
"Gut, du kennst ihn also."
"Ja, aber nicht persönlich. Er ist gestorben lange bevor...-"
"Lange bevor du oder dein Bruder geboren wurdet. Ich weiß."
Ein eigenartiges Gefühl breitete sich plötzlich in Jasmine aus.
"Du kanntest meinen Großvater, stimmts?"
Der Waliser nickte. Ein stolzes Funkeln trat jetzt in seine Augen.
"Selbstverständlich kannte ich ihn. Immerhin ist Phillip Fitzgerald mein Enkelsohn."