Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Ich will dich nicht verlieren!

Kurzbeschreibung
GeschichteTragödie, Liebesgeschichte / P16 / Gen
OC (Own Character)
21.09.2019
28.09.2020
63
232.841
10
Alle Kapitel
72 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
28.11.2019 4.939
 
Glücklicher als jemals zuvor, spazierte Jasmine mit James an ihrer Seite, über das Bootsdeck, auf der Steuerbordseite der Titanic.
"Ist das nicht verrückt? Vor zwei Tagen noch haben wir so getan, als wären wir beide miteinander verlobt und jetzt sind wir es wirklich!"
James lachte leise.
"Das Leben steckt voller Überraschungen, nicht wahr?"
Die Braunhaarige legte ihren Kopf leicht auf seine Schulter und lächelte.
"Du hast vollkommen recht."
Dem sechsten Offizier fiel auf, das einige Passagiere sie missbilligend musterten.
Er verdrehte nur leicht die Augen.
Auch Jasmine bemerkte dies. Sie seufzte.
"Warum nur, müssen die einen immerzu anstarren?"
Jetzt grinste James.
"Weil sie noch nie ein so hübsches Paar wie uns gesehen haben."
Als er das sagte, zwinkerte er seiner Liebsten amüsiert zu.
Diese musste daraufhin ebenfalls grinsen.
"Ach so, na dann bin ich ja beruhigt. Und ich dachte schon das läge daran, das ein junger, lediger Schiffsoffizier und eine junge, unverheiratete Frau aus der ersten Klasse, in aller Öffentlichkeit händchenhalten und miteinander kuscheln."
James nahm den Witz der Braunhaarigen, hinter vorgehaltener Hand lachend, zur Kenntnis.
Er wollte gerade etwas sagen, als ein junger, uniformierter Mann, etwa in James' Alter, vor ihnen zum stehen kam. Auf seiner Mütze war ein goldenes M gestickt.
"James!" sagte er und lächelte dem sechsten Offizier freundlich zu.
"Jack, schön dich auch noch mal zu Gesicht zu bekommen." scherzte James.
Der Mann, der auf den Namen Jack hörte, verzog gequält das Gesicht.
"All diese Privatnachrichten verschicken sich leider nicht von selbst."
James lachte.
"Recht hast du. Und wie ich diese superreichen kenne, haben die eine ganze Menge davon für dich und Bride."
Jetzt lachte auch Jack.
"Worauf du wetten kannst!"
Erst jetzt fiel sein Blick auf Jasmine. Seine Augen weiteten sich und er sah zwischen dem Offizier und ihr neugierig hin und her.
"Wer ist denn diese bildhübsche Frau neben dir?" fragte er unverblümt und zuckte vielsagend mit seinen Augenbrauen in James' Richtung.
Dieser machte daraufhin nur ein amüsiertes Geräusch, während Jasmine bei diesem Kompliment errötete.
"Jack, darf ich vorstellen. Diese bildhübsche Frau neben mir ist Jasmine Fitzgerald. Und sie ist ganz nebenbei auch noch meine Verlobte."
Vor Staunen klappte dem jungen Mann vor ihnen der Kiefer runter.
"Du...du hast eine Verlobte? Seit wann?"
Das Paar sah sich kurz an, bevor sie wieder zu Jack sahen.
"Seit heute." beantwortete James die Frage.
Es dauerte einen kurzen Moment, bis Jack seine Fassung wiedererlangt hatte.
"Ich...wow! Na dann erstmal herzlichen Glückwunsch euch beiden. Es freut mich, das du endlich jemanden gefunden hast, James. Und dann auch noch eine solche Schönheit von Frau. Respekt, ich bin fast schon ein bisschen neidisch."
"Danke mein Freund. Aber mach dir mal keine Sorgen, du wirst sicherlich auch bald die richtige Frau für dich finden."
Jack schnaubte.
"Klar, aber wie hoch ist schon die Wahrscheinlichkeit, das ein hübsches Mädel sich in so eine olle, kleine Funkerkabine verirrt?"
Beide Männer prusteten kurz darauf gleichzeitig los.
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, schien Jack etwas einzufallen. Er sah zu Jasmine.
"Wo bleiben nur meine Manieren? Mein Name ist Jack Phillips. Ich bin einer der Funker auf diesem Schiff." sagte er und streckte ihr mit einem freundlichen Lächeln, seine Hand entgegen.
Jasmine nahm seine Hand in ihre und schüttelte diese zum Gruß.
"Schön Sie kennenzulernen, Mr. Phillips."
"Jack." korrigierte der junge Mann die Braunhaarige.
Jasmine lächelte und nickte.
"Hast du gerade Dienstfrei, Jack?" fragte James den Funker.
Diesem entglitten kurzzeitig alle Gesichtszüge.
"Verfluchter Mist! Ich hab ja ganz vergessen, weshalb ich eigentlich hier hin gekommen bin!"
Schnell reichte er James einen kleinen, gelben Zettel, auf dem etwas geschrieben stand.
"Wieder eine Eiswarnung. Diesmal von der Baltic." berichtete Jack dem sechsten Offizier. Dieser zog nachdenklich die Brauen zusammen.
"Das ist heute schon die dritte." murmelte er und beäugte den Zettel mit leichter Besorgnis. Nach wenigen Sekunden sah er auf.
"Danke, Jack. Ich werde die Warnung sofort an die Brücke weiterleiten!"
Der Funker nickte nur.
"Ist gut. Ich muss jetzt wieder zurück an die Arbeit. Wenn ich weitere Warnungen bekomme, dann lass' ich es euch wissen. Euch beiden noch einen schönen Tag."
Mit diesen Worten verabschiedete sich Jack auch schon und lief eilig den Weg, den er gekommen war, wieder zurück.
Jasmine allerdings, hatte davon nichts mitbekommen. Sie starrte unaufhörlich auf das kleine Stück Papier in James' Hand. Die Angst in ihrem Blick war nicht zu verleugnen. Ihr Hals fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an und ihr ganzer Körper begann, unkontrolliert wie Espenlaub, zu zittern.
James bemerkte dies und schaute sie an. Er wusste, das Eiswarnungen Jasmine aus irgendeinem Grund entsetzliche Angst machten. Er wusste allerdings nicht, weshalb dem so war. Klar, Warnungen vor Eisbergen wirkten auf Passagiere natürlich beunruhigend, aber sowohl er, als auch Joe und Herb hatten ihr mehrfach versichert, das Eiswarnungen um diese Zeit was völlig normales waren.
James steckte den Zettel schnell in die Tasche seiner Uniformsjacke und legte Jasmine beruhigend eine Hand auf die Wange.
"Ist schon okay, Liebes. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen! Eiswarnungen sind nichts schlechtes, denn dank ihnen, können wir gefährliche Eisfelder umfahren."
Jasmine berührte mit ihrer Hand die von James und sah ihm ganz kurz in die Augen. Ihr Blick bestand aus einer Mischung aus Angst und Traurigkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte er, auch soetwas wie Schuld in ihnen erkannt zu haben. Aber ganz sicher war James sich da nicht, da Jasmine bereits den Kopf gesenkt hatte und ein kaum hörbares "Ich weiß" murmelte.
Der Offizier hob etwas ihren Kopf an und streichelte ihr ganz sanft über die Wange.
"Hab keine Angst. Ich verspreche dir, es wird nichts schlimmes passieren! Wir werden den Kurs etwas ändern und denen im Ausguck sagen, das sie verschärft nach Eisbergen Ausschau halten sollen!"
Jasmine hätte ihm so gerne geglaubt. Wirklich. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das James recht behalten und nichts schlimmes passieren würde. Aber sie wusste, das dem nicht so war. Im Gegensatz zu ihm wusste sie, das dieses Schiff von einer entsetzlichen Katastrophe heimgesucht werden würde, die in die Geschichte eingehen und die Menschen auch weit über einhundert Jahre später, noch immer beschäftigen und faszinieren würde.
'Wenn ich doch nur...' dachte Jasmine traurig, schüttelte diesen Gedanken aber schnell wieder ab. Nein! Sie durfte sich nicht so weit in die Geschichte einmischen, dazu hatte sie kein Recht!
Ein sanftes Rütteln brachte sie wieder in die Realität zurück.
James musterte seine Verlobte besorgt.
"Jasmine, was ist los? Du bist ja plötzlich so blass, fehlt dir was? Soll ich dich zum Arzt bringen?"
Die Antwort der Braunhaarigen war ein simples Kopfschütteln.
"Bist du sicher? Nicht, das du plötzlich Fieber bekommst, oder vielleicht sogar noch schlimmeres?"
Als James das sagte, legte er seine Hand an Jasmines Stirn und fühlte ihre Temperatur.
"Hmm, fühlt sich normal an." sagte er, beäugte Jasmine aber nicht minder besorgt.
"Mir geht's gut, James!" beteuerte sie und bemühte sich darum, zuversichtlich zu wirken.
James jedoch ließ nicht locker.
"Wenn es da etwas gibt, was dir auf dem Herzen liegt, dann sag es mir bitte. Du weißt, das es mir in der Seele weh tut, dich leiden zu sehen."
Jasmine zwang sich zu einem Lächeln.
"Ich weiß, aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen um mich zu machen. Es geht mir gut."
James konnte sehen, dass dies eine Lüge war. Er sah es in ihren Augen und auch an ihrer Körpersprache. Trotzdem verstand er nicht, warum sie das tat. Warum sagte sie ihm nicht einfach, was sie bedrückte? Sie wusste doch, das er ihr so gut er nur konnte helfen würde.
James versuchte es ein letztes mal.
"Jasmine...du weißt, das ich immer ein offenes Ohr für dich habe und dir auch sehr gerne helfe. Und du weißt auch, das ich dir niemals böse sein könnte."
Betreten wich die Braunhaarige seinem Blick aus.
"Das weiß ich, aber es ist wirklich alles in Ordnung. Ehrlich."
James nahm einen tiefen Atemzug und schloss kurz die Augen.
Er wollte es jetzt nicht so offen zeigen, aber Jasmines plötzliche Geheimniskrämerei, kränkte ihn doch sehr.  Er hatte gedacht, das sie ihm vertraute. Was gab es denn so schlimmes, das sie es ihm nicht sagen konnte? Was verheimlichte sie vor ihm? Und warum beschlich ihn das ungute Gefühl, das diese Eiswarnungen erheblich zu ihrer Verschwiegenheit beitrugen?
James nahm nochmals einen tiefen Atemzug, bevor er die Augen öffnete und zu sprechen begann. Und obwohl er sich sehr darum bemühte, sich nichts anmerken zu lassen, so konnte man dennoch einen Hauch von Enttäuschung in seiner Stimme mitschwingen hören.
"In Ordnung, dann lass uns kurz zur Brücke gehen, ja?"
Jasmine schwieg einen Moment, bevor sie schließlich nickte.
"Ja, ist gut."





"James, was tust du denn hier?" fragte Lowe beim Anblick seines jüngeren Kollegen staunend.
Dieser holte aus seiner Tasche den Zettel mit der Eiswarnung hervor und übergab sie dem fünften Offizier.
"Von der Baltic."
Lowe überflog das geschriebene kurz und schnalzte daraufhin mit der Zunge.
"Danke, das werde ich umgehend Will melden. Ich denke mal, eine Kursänderung weiter südlich wird wohl das beste sein."
"Gehe ich auch mal von aus."
James warf Jasmine einen kurzen Blick zu.
Lowe folgte seinem Blick und erschrak. Ihm fiel sofort auf das Jasmine, im Vergleich zu gestern, irgendwie blasser und auch erschöpfter wirkte.
"Himmel noch eins Mädchen, du siehst ja gar nicht gut aus. Fehlt dir was?"
James war froh, das er nicht der einzige war, der dies bemerkt hatte.
Vielleicht schaffte er es ja, zusammen mit Harrys Hilfe, Jasmine dazu zu bringen, ihm zu sagen was sie bedrückte.
Jasmine jedoch beantwortete seine Frage ebenfalls nur mit einem Kopfschütteln.
Harold kniff die Augen etwas zusammen, bevor sein Blick kurz darauf zu James wanderte, den er mit hochgezogenen Brauen forschend anschaute.
Dieser bemerkte den bohrenden Blick seines Kumpels und sah in seine Richtung.
James' Sorge war für Harold fast schon erdrückend und als er sah, das James hilflos mit den Schultern zuckte, war für ihn klar, das der jüngere genauso wenig wusste was los war, wie er selbst.
Harold wandte sich wieder Jasmine zu.
"Jasmine, ist wirklich alles in Ordnung? Ohne dich jetzt angreifen zu wollen, aber du siehst mir ehrlich gesagt nicht danach aus. Brauchst du vielleicht einen Arzt?"
Jasmine verstand, das die beiden Männer sich nur um sie sorgten und ihr keinesfalls etwas böses wollten, aber es ging ihr wirklich gut. Okay, sie fühlte sich heute tatsächlich ein bisschen abgeschlagen, aber das konnte unzählige Gründe haben. Was sie wirklich fertig machte war die Tatsache, das sie alle einer unausweichlichen Katastrophe entgegenfuhren, die mehr als ein Drittel der Menschen hier an Bord zum Tode verurteilen würde und sie selbst dazu gezwungen war, dies stillschweigend hinzunehmen und einfach abzuwarten bis es passierte.
Kein Arzt der Welt konnte ihr mit diesem 'Problem' helfen, es sei denn, er konnte ihr zu hundert Prozent versichern, das ein eingreifen in die Geschichte keine Konsequenzen haben würde. Was nebenbei erwähnt, der wohl größte Bockmist aller Zeiten war! Alles Handeln hatte Konsequenzen, gute wie auch schlechte. Niemand konnte sagen, was passieren würde, wenn die Titanic nicht untergehen würde. Vielleicht passierte rein gar nichts, vielleicht erschuf sie ein Paralleluniversum, in dem die Titanic New York erreichen und eine erfolgreiche Schiffskarriere erleben würde. Vielleicht würden einige der Passagiere, die beim Untergang eigentlich gestorben wären, etwas weltbewegendes tun, oder aber ihre Nachkommen. Bei Gott, vielleicht würde sie mit ihren Eingreifen aber auch das ganze Universum zerstören! Wer wusste das denn schon? Es gab einfach viel zu viele was wäre wenn Möglichkeiten und das Risiko, dadurch mehr kaputt zu machen als wirklich zu helfen war einfach zu groß. Viel zu groß.
"Jasmine? Hörst du mich?"
James' energische Stimme, riss die Braunhaarige aus ihren Gedanken.
"Hm, was?" fragte sie ihn völlig irritiert.
Harold und James sahen sich an.
Es bereitete ihnen wirklich Kopfzerbrechen, wie sehr Jasmine eigentlich neben der Spur stand. James hatte mittlerweile richtig Angst um Jasmine.
"Ich finde du solltest wirklich besser mal zum Arzt gehen, du gefällst mir nämlich überhaupt nicht! Ich begleite dich selbstverständlich auch!" sagte er und hoffte, das sie diesmal nachgeben würde, doch Fehlanzeige.
"James, wie oft denn noch? Es geht mir gut! Du machst dir unnötig Sorgen um mich!"
Der sechste Offizier streckte seine Hände nach ihr aus, um die ihren, in seine zu nehmen. Sein Blick war jetzt flehend.
"Jasmine, hör mir bitte zu! Ich liebe dich und ich will, das es dir gut geht! Ich mache mir nicht nur Sorgen, ich habe regelrecht Angst um dich! Und außerdem bin ich nicht blind, ich sehe doch, das es dir eben nicht gut geht! Warum also lügst du mich an? Sag es mir, bitte!"
Jasmine wusste nicht, was sie jetzt darauf antworten sollte.
Obwohl es gerade einmal zehn Sekunden oder so waren, in denen sie James in seine Augen, in denen die Sorge und Angst deutlich geschrieben stand, sah, kam es ihr doch bedeutend länger vor.
"James...ich...ich kann nicht. Ich kann es dir nicht sagen...e-es tut mir leid!"
Mit diesen Worten riss sie sich von James los und verließ schnellen Schrittes die Brücke. Sie musste weg, egal wohin, nur weg!






Beide Männer sahen der Braunhaarigen entsetzt nach.
James traf Jasmines Flucht natürlich bedeutend schwerer als Harold, doch auch ihn ließ dieses seltsame Verhalten von ihr nicht ungerührt.
Da er nicht wusste, wie er seinem Kumpel anders helfen sollte, legte er ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.
"Lass ihr etwas Zeit. Ich bin mir sicher, das sie schon mit dir reden wird."
Obwohl Harold so viel Überzeugungskraft wie nur möglich in seine Worte legte, glaubte er selbst nicht so wirklich daran. Und anhand von James' Reaktion konnte er sehen, das dieser es ebenfalls nicht tat.
"Ich frage mich, was es ist, was sie so bedrückt. Ich meine, ich sehe doch das sie leidet! Liegt es vielleicht an mir? Habe ich irgendwas falsch gemacht?"
Harolds Hand umklammerte jetzt etwas die Schulter von James.
"Was sollst du schon falsches gemacht haben?" fragte dieser ihn nur.
Der sechste Offizier öffnete den Mund, schloss ihn kurz darauf aber auch wieder.
Harry hatte recht, was hatte er schon falsches getan? Das einzige was er getan hatte war, ihr einen Heiratsantrag zu machen und diesen hatte sie doch auch ohne eine Sekunde zu zögern angenommen. Also daran konnte es schonmal nicht liegen, aber was war es denn dann?
Die Sorge in James' Blick wurde jetzt noch größer.
Für ihn war klar, das er Jasmine nicht einfach so sich selbst überlassen konnte.
Harold sah, das James im Begriff war die Brücke zu verlassen.
"Viel Glück, mein Freund." sagte dieser nur und klopfte ihn zweimal kameradschaftlich zwischen die Schulterblätter.
"Danke." sagte James und verließ die Brücke in genau der selben Richtung, in welche auch Jasmine gelaufen war.
In der Zwischenzeit war Jasmine schon ziemlich weit voran gekommen. Kein Wunder, wenn man berücksichtigte, das sie das Bootsdeck quasi entlang rannte. Die Tränen, die sich dabei langsam ihren Weg nach oben bahnen wollten, konnte sie nur mit sehr viel Mühe zurückhalten.
Ihr wurde das alles zu viel. Diese ganzen Eiswarnungen, ihre eigene Machtlosigkeit und Hilflosigkeit dieser Situation gegenüber und ihre Schuldgefühle, welche sie fast zu erdrücken schienen.
"Na hören Sie mal, Miss!" rief ein etwas älterer Herr, in welchen Jasmine um ein Haar rein gerannt wäre, ihr empört hinterher. Doch das interessierte sie kein bisschen. Sie wollte gerade nichts sehnlicher, als für sich alleine zu sein.
Doch auch dieser eine kleine Wunsch wurde ihr verweigert, als plötzlich eine kleine Gestalt vor ihr auftauchte. Irgendwie gelang es Jasmine, seitlich auszuweichen. Doch trotz ihrer schnellen Reaktion, streifte sie die Gestalt und brachte diese zu Fall. Sie selbst entging diesem Schicksal nur um Haaresbreite.
"Verdammter Kuhmist!" fluchte die Gestalt mit kindlicher Stimme. Jasmine, welche gerade erst ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, erstarrte beim Klang dieser wohlbekannten Stimme.
Schnell drehte sie sich um und sah niemand geringeres, als den kleinen George aus der dritten Klasse, welcher auf dem Boden saß und sich verärgert den Kopf rieb.
"George?" rief Jasmine ungläubig. "Was machst du denn hier?"
Der Junge sah auf. Als er Jasmine erblickte, stahl sich ein freudiges Grinsen auf sein Gesicht.
"Tante Jasmine!" rief er und wirkte mit einem mal ziemlich erleichtert.
Schnell rappelte er sich wieder auf die Beine und verschränkte die Arme hinter den Kopf.
"Bin ich froh, das du es bist und nicht einer von den anderen! Oder sogar einer der Offiziere!"
Jasmine war noch immer fassungslos. Was tat George hier? Und wie ist er überhaupt unbemerkt hier hin gekommen?
"George, was...was tust du hier? Du solltest lieber nicht hier sein!" sagte sie. Nicht jedoch, weil sie wollte das er verschwand, sondern weil sie Angst hatte, das er, wenn er erwischt werden würde, Ärger bekäme.
"Mir war langweilig, da wollte ich mal gucken, was es bei euch so gibt."
So locker, wie er Jasmine das sagte, ließ er sie dadurch aus dem Staunen gar nicht mehr rauskommen.
Nicht nur, das es diesem Rabauken gelungen war, unbemerkt von der dritten in die erste Klasse zu gelangen, nein, für ihn war das alles auch noch sowas wie ein Schulausflug.
Sie musste zugeben, der kleine hatte durchaus Mut. Abenteuerlustig und kreativ war er obendrein auch noch.
Doch nichts desto trotz, kam Jasmine nicht umhin, George für sein unüberlegtes Handeln zu Tadeln.
"George, du weißt ganz genau das du sehr großen Ärger bekommst, wenn dich jemand erwischt!"
Der Junge mit den dunkelblonden Haaren, schrumpfte unter Jasmines strengen Worten etwas zusammen.
Beschämt senkte er den Kopf.
"Tut mir leid."
Jasmine, welche wirklich ungerne mit anderen schimpfte, konnte bei dem Anblick, den George ihr dann bot, einfach nicht anders als nachzugeben.
"Ist schon gut. Sei froh, das dich von den anderen Passagieren oder Stewarts noch keiner gesehen hat. Die wären nämlich garantiert nicht so freundlich zu dir, wie ich."
George nickte, konnte es sich aber nicht nehmen lassen, stolz die Brust rauszustrecken.
"Ich habe mich aber bis jetzt immer sehr gut versteckt!" verkündete er mit einem breiten Grinsen.
Die Braunhaarige hob fragend die Augenbraue.
"Sag mal, wie oft hast du dich eigentlich schon in die erste Klasse geschlichen?"
George fing an zu giggeln.
"Oft. Sehr oft sogar."
Jasmine war schockiert über Georges Leichtsinn. Für jemanden der noch so jung war, hatte er es ziemlich faustdick hinter den Ohren.
Schnell räusperte sie sich und ließ vorsichtig den Blick über das Deck gleiten.
Zu ihrem Entsetzen, war einigen Passagieren Georges Anwesenheit bereits aufgefallen.
"Was tut denn dieses...dieses Balg hier? Schafft es sofort zu seinesgleichen!" rief eine Frau entsetzt.
"Verschwinde du schmutziges Unterklassekind!" sagte ein Mann verächtlich.
"Miss, hat dieser Bengel Sie belästigt? Sollen wir den Bootsmann holen?" fragte ein anderer an Jasmine gewandt.
Erschrocken und verängstigt schaute George zu ihr auf.
Jasmine sah den Jungen kurz an, bevor sie sich der immer größer werdenden Passagiermenge zuwandte.
"Nein, dieses Kind hat nichts falsches gemacht. Es hat sich verlaufen und mich darum gebeten, ihm zu helfen!"
Die Menge sah erst sich und dann Jasmine an. In den Blicken lag sowohl Entsetzen als auch Verachtung und Unglauben.
Wieso sollte eine Dame aus erster Klasse, freiwillig einem schmutzigen Gossenkind helfen wollen? Hatte sie jetzt vollständig den Verstand verloren?
"Was ist hier los?"
Beim Klang einer jungen aber dennoch autoritären Männerstimme, wich die Menge etwas zur Seite und enthüllte niemand geringeres als James höchstpersönlich.
Jasmine war so erleichtert, als sie ihren Verlobten sah. Doch dieser plötzlich Anflug von Freude hielt nur kurz, da sie bald darauf auch schon wieder das schlechte Gewissen ihm gegenüber plagte.
Einer der Männer wandte sich an James und deutete beim reden auf George.
"Ein Kind aus der dritten Klasse hat sich unerlaubt in die erste Klasse geschlichen. Das muss sofort bestraft werden!"
James sah in die Richtung, in die der Mann zeigte und war überrascht, als er Jasmine neben besagtem Kind stehen sah. Ihm fiel allerdings auch auf, das dieses Kind sich ängstlich hinter der Braunhaarigen versteckt hatte.
James kniff die Augen etwas zusammen und wandte sich dem Mann zu.
"Hier wird niemand bestraft! Und ein Kind schon gar nicht! Ich bin mir sicher, das es dafür eine vernünftige Erklärung gibt."
Der Mann konnte nicht glauben was er da hörte und fing auch sofort an, zu protestieren.
"Aber dieses Gossenkind hat sich unerlaubt hierhin geschlichen! Wenn man dem Bengel jetzt keine Lektion erteilt, dann wird er es immer wieder machen! Und wer weiß, was der für Krankheiten mit sich rumträgt!"
Es war nicht schwer zu erkennen, das James von diesen Worten und mehr noch, nämlich von dieser ganzen Person, einfach nur angewidert war. Wie konnte man nur sowas abscheuliches sagen?
Der Blick der sechsten Offiziers verfinsterte sich.
"Sir, ich möchte gerne zwei Sachen hier ein für alle mal klarstellen. Erstens, bin ich immernoch ein Offizier dieses Schiffes und deshalb entscheide auch nur ich darüber, was in einer solchen Situation angemessen ist! Und zweitens, werde ich auf gar keinen Fall, ein unschuldiges Kind für eine solch lächerliche Kleinigkeit bestrafen!"
Das war das erste mal, das Jasmine ihren Verlobten mit einer solchen Strenge in der Stimme, hatte sprechen hören.
Bei genauerem hinhören, konnte man auch ganz deutlich die Verachtung in ihr wahrnehmen.
Auch der Mann schien nun endlich begriffen zu haben, das er zu weit gegangen war. Er trat ein paar Schritte zurück. Allerdings funkelte er dabei mit einer Mischung aus Ekel und Wut in Georges Richtung.
James, für den das Thema abgehakt war, ging jetzt auf Jasmine und George zu.
Beim Anblick des ängstlichen Jungen, wurde sein Blick weicher. James hatte sowohl ein Herz für Kinder, wie auch für Tiere. Und er verabscheute jeden, der ihnen absichtlich weh tun wollte.
"Ist alles in Ordnung mit ihm?" fragte James sorgenvoll.
Jasmine nickte. Sie sah aufmunternd zu George.
"Hab keine Angst George, das ist James. Er wird dir nichts tun, versprochen."
Etwas mutiger, aber dennoch vorsichtig, kam George hinter der Braunhaarigen hervor. Er hatte schon öfters schlechte Erfahrungen mit Männern in Uniformen gemacht, aber irgendwas an James' Blick verriet ihm, das er anders war. Immerhin hatte er sich auch gerade für ihn eingesetzt gehabt.
Verunsichert stand George da und betrachtete den Mann vor sich.
James, welcher sich vorstellen konnte, das seine Körpergröße auf den kleinen Jungen ziemlich einschüchternd wirken musste, kniete sich hin. Er streckte ihm freundlich lächelnd die Hand entgegen.
"Ich bin James Moody, der sechste Offizier der Titanic. Und mit wem habe ich die Ehre?"
George schaute für einen Moment auf James' Hand, bevor er seine eigene nach dessen ausstreckte und sie schüttelte.
"George Morley."
"Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, George. Aber sag mal, was machst du eigentlich hier? Du hast dich doch bestimmt nicht verlaufen, oder?" fragte James mit einem wissenden Leuchten in den Augen.
George sah zu Jasmine. Diese nickte ihm nur zu und gab ihm damit zu verstehen, das er ruhig die Wahrheit sagen konnte.
Ermutigt von Jasmines Zuspruch, erzählte er James, weshalb er hier in der ersten Klasse war. Während George ihm alles erzählte, wanderte James' Blick immer mal wieder zu Jasmine. Diese stand nur schweigend daneben und hatte zur Unterstützung eine Hand auf Georges Schulter liegen.
Als der kleine Mann fertig war mit erzählen, erhob James sich und wuschelte ihm einmal kurz durch die Haare.
"Du bist ja ein ganz schöner Abenteurer, George. Du würdest sicher mal einen sehr tüchtigen Seemann abgeben!"
George fing sofort an zu strahlen.
"Findest du?"
James nickte amüsiert schmunzelnd.
"Darf ich dann auch auf so einem tollen Schiff arbeiten wie du?"
"Wenn du dich anstrengst und Glück hast, dann ja."
Überglücklich sah der kleine zu Jasmine.
"Tante Jasmine, hast du das gehört? Hast du?" fragte George aufgeregt und zog ihr dabei etwas am Kleid.
Jasmine lachte.
"Ja das habe ich. Und ich kann James nur zustimmen. Du wirst bestimmt einmal ein toller Seemann werden!"
Grinsend sah George zwischen den beiden Erwachsenen hin und her.
"Kommt, wir machen einen Spaziergang!"
Erstaunt sah das Paar sich an.
George war wirklich ein sehr aufgeschlossenes Kind.
Ein kurzer Blick nach hinten verriet James, das einige der Passagiere sie immernoch beobachteten.
Ein genervtes Brummen entfuhr ihm, bevor er sich seiner Verlobten und dem Jungen wieder zu drehte.
"Ist in Ordnung, aber lasst uns woanders hingehen."
George und Jasmine nickten.





Zu dritt gingen sie in Richtung Poopdeck. George lief zwischen den zwei Erwachsenen, welche sich je zu seiner rechten und linken Seite befanden.
Sie mussten schon ein recht ulkiges Bild abgeben. Eine feine Dame erster Klasse, ein Schiffsoffizier und ein Kind aus der dritten Klasse, die zusammen über das Deck spazierten. Kein Wunder, das die anderen Leute sie teilweise mit offenen Mündern anschauten.
Als George sich ab und an zu dem Paar umdrehte, sah er, das die beiden sich immer wieder flüchtige Blicke zuwarfen.
Er war zwar noch ein Kind, aber auch er konnte deutlich sehen, das die beiden sich kannten und das irgendwas zwischen ihnen vorgefallen war. Und neugierig wie er nun einmal war, stellte er auch prompt die erste Frage.
"Tante Jasmine, ist er dein Freund?"
Die Braunhaarige sah das Kind einen Moment lang irritiert an, bevor sie seine Frage verneinte.
"James ist mein Verlobter." erklärte sie ihm dann.
George nickte.
"Ach so." sagte er und schaute das Paar jetzt fragend an.
"Aber warum guckt ihr beide euch dann so traurig an? Ist irgendwas schlimmes passiert?"
Jasmine und James sahen sich bei dieser Frage an.
Als sie James' Blick sah, wurde Jasmine das Herz schwer. Es tat ihr so unendlich leid, das er sich solche Sorgen um sie machte und nicht wusste, wie er ihr helfen konnte.
Und auch James zerriss es das Herz, als er seine Liebste so verloren und erschöpft vor sich sah, unfähig, ihr irgendwie zu helfen. Er wollte etwas zu ihr sagen, aber die Worte blieben ihm regelrecht im Hals stecken.
Und dann spürten beide plötzlich, wie George ihre Hände in seine nahm und sie beide dazu bringen wollte, miteinander Händchen zu halten.
"George, was machst du?" fragte Jasmine ihn irritiert.
Der Angesprochene sah auf und blickte mit seinen Kinderaugen unschuldig zu ihr auf.
"Ich möchte euch wieder glücklich machen."
Jasmine war davon gerührt. Sie wollte ihm schon sagen, dass das leider nicht so einfach ginge, als James sich schon zu Wort meldete.
"Das ist wirklich lieb von dir George, aber so leicht geht das leider nicht."
Sein Blick ruhte kurz auf Jasmine. Diese sah erst zu ihm und dann zu George.
"James hat recht. Manche Sachen benötigen einfach ein bisschen Zeit."
Doch George verstand nicht, weshalb es den Erwachsenen immer so schwer fiel, über ihren Schatten zu springen.
"Warum soll man unnötig Zeit mit traurig sein verschwenden, wenn man sich auch einfach vertragen und zusammen glücklich sein kann?"
Ein kleines Lächeln legte sich bei diesen Worten auf Jasmines Lippen.
George war wirklich unglaublich. Trotz seiner Vorliebe für das Verbotene, war er für sein Alter doch schon sehr erwachsen.
Wo andere ein kompliziertes Problem sahen und erstmal über eine Lösung nachdenken mussten, sah er die Antwort schon bereits nach wenigen Augenblicken.
Auch James war ehrlich beeindruckt von der Weisheit in diesen Worten.
Sein Blick wanderte abermals zu Jasmine und auch sie schaute ihn an.
Ein Lächeln zierte James' Gesicht, als er Jasmines Hand in seine nahm und sie einmal sanft drückte.
Die Braunhaarige erwiderte seine liebevolle Geste ebenfalls mit einem Lächeln.
George hatte recht, warum sollte man traurig sein, wenn man auch glücklich sein konnte?
"Tut mir leid, das ich dich so unter Druck gesetzt habe. Ich habe mir wirklich nur Sorgen um dich gemacht. Und du weißt, das mich nichts mehr fertig macht als die Tatsache, das ich nichts für dich tun kann, obwohl du leidest."
Jasmine legte sanft ihre Hand auf seine Wange.
"Ist schon gut, James. Ich verstehe das und ich bin dir deswegen auch keineswegs böse. Aber ich versichere dir, das alles in Ordnung ist. Ich bin...ich bin nur wegen der ganzen Eiswarnungen etwas beunruhigt, weil ich weiß, was so ein Eisberg alles ausrichten kann."
James nickte verständnisvoll und beugte sich etwas vor, um seiner Liebsten einen langen Kuss zu geben, welcher von selbiger sehr gerne erwidert wurde.
"Bäääh, Erwachsene sind manchmal so komisch!" sagte George und hielt sich die Augen zu.
Beide unterbrachen den Kuss und lachten.
"Wenn du größer bist, dann wirst du das schon verstehen." sagte James und wuschelte dem Jungen abermals durch die Haare.
Dieser schnaubte nur und lugte verstohlen hinter seinen Fingern hervor.
Als er sah, das die beiden sich nicht mehr küssten, sprang er genau zwischen sie, nahm sie beide an den Händen und zog sie weiter in Richtung Poopdeck.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast