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von Huelk
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P18 / MaleSlash
Daniel Ricciardo Lewis Hamilton Nico Hülkenberg Nico Rosberg
11.08.2019
18.03.2023
48
171.270
17
Alle Kapitel
165 Reviews
Dieses Kapitel
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18.03.2023 4.769
 
Understand | Kapitel 30
Invisible String


⊱ Am nächsten Morgen ⊰


Er war lange vor Nico wach.
Was für eine schreckliche Nacht. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal innerlich so aufgewühlt gewesen war.
Klar, nach ihrem Unfall war er das auch gewesen. Aber nicht so. Nicht auf diese Weise. Das war etwas anderes.
Nicht, dass er es beschreiben könnte. Alles was er deutlich spürte war, dass sich wieder etwas zwischen ihnen verändert hatte. Nicht zu ihrem Nachteil, ganz sicher nicht, trotzdem fühlte es sich in diesem Moment schlecht an.
Eine Weile hatte er seinem Freund einfach beim Schlafen zugesehen.
Das war lange genug nicht möglich gewesen und einerseits war es das alte, zufriedene Gefühl, welches in ihm aufkam. Andererseits kannte er Nico gut genug, um die Unterschiede deutlich zu erkennen.
Er sah längst nicht so entspannt aus. Als hätten die vergangenen Wochen und besonders der gestrige Abend ihm all seine Leichtigkeit genommen.
Das war nicht gut auszuhalten.

Er konnte nicht verhindern, dass Nicos Worte sofort wieder in seinem Kopf waren.
Alles, was er ihm gestern anvertraut hatte, all die Dinge über die entsetzlichen Beziehungen, die er bisher geführt hatte...
Ihm wurde ganz schlecht, wenn er sich das alles in Erinnerung rief.
Nicos Vergangenheit zu hören, war alles andere als einfach für ihn und hatte ihm die schlimmsten Bilder in den Kopf gesetzt. Vor allem dieser Justus, von dem Nico gesprochen hatte.
Dabei wollte er diesen Kerl nicht beim Namen nennen. Den konnte man nur ‚Arschloch‘ nennen und damit machte man dem sogar noch ein Kompliment.
Wie konnte man nur so niederträchtig und eiskalt zu einem Menschen sein, dem man sagte, dass man ihn liebte?
Das würde er nie verstehen können und obwohl er nicht mal wusste, wie dieser Typ aussah, hasste er ihn heiß und innig.
Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass er dem mal begegnete, konnte er für gar nichts mehr garantieren. Egal wie lange dieser Übergriff an Nico auch her sein mochte.
Für ihn würde das niemals verjähren.

Aber was Nico erzählt hatte erklärte so viele Dinge, die er bislang nicht verstehen konnte.
Nicht nur seine Verschlossenheit. Nicht nur den beißenden Sarkasmus, mit dem er sich zu schützen versuchte oder seine grenzenlose Panik vor einer neuen Beziehung.
Rückblickend betrachtet, war Nico gemessen daran in Austin sogar noch nett zu ihm gewesen, als er ihn einfach sitzengelassen hatte. Er bekam nur eine ungefähre Vorstellung davon, was das alles damals in Nico aufgewirbelt haben musste.
Es erklärte auch Nicos strikte Antihaltung gegen Alkohol, wieso er so kalt reagierte, wenn er selbst mal ein wenig angetrunken war.
Genauso wie es begründete, warum er sich mit dem Vertrauen schwertat, warum er an Silvester und Neujahr nie etwas unternehmen wollte. Und natürlich, wieso Nico jedes Mal darauf bestanden hatte, nicht in der passiven Rolle sein zu wollen.
Letzteres war zwar verständlich, denn das mochte nicht jeder. Er selbst hatte das eigentlich auch nicht gewollt, aber mit Nico war nicht zu verhandeln gewesen.
Er hatte damals den ein oder anderen lockeren Spruch gemacht, den Nico nicht gut aufgefasst hatte.
Damals hielt er ihm vor, dass er mit seinen Sprüchen wohl nur austeilen, aber nicht einstecken konnte.

Er biss sich auf die Lippe bei der Erinnerung, die jetzt in einem ganz anderen Licht erschien.
Natürlich hatte er das nicht wissen können, weil Nico an diesem Punkt wie üblich dichtmachte, aber er würde sowas sicherlich nie wieder zu ihm sagen.
Er hatte nicht geahnt, was das alles mit Nico machen würde. Mit seinem Verhalten und seinen Worten, musste er ihn viel häufiger getriggert haben, als nur mit diesem verdammten Parfüm.
Es war schwer, sich nichts vorzuwerfen, denn Nico würde immer dagegen argumentieren, dass er nichts anderes erwarten durfte, wenn er sich selbst nicht öffnen konnte. Das stimmte auch. Dagegen konnte er nichts sagen.
Aber jetzt wusste er es und wollte sich dahingehend unbedingt bessern.
Er konnte verstehen, wieso Nico so lange brauchte, um darüber zu sprechen. Das war nichts, was man mal so erzählen konnte.
Ihm wurde erst jetzt so richtig bewusst, wie schwer das tatsächlich gewesen sein musste.
Nico hatte ihm zwar früh anvertraut, dass Dinge vorgefallen waren, über die er nicht sprechen konnte, nur war er nicht von etwas so Heftigem ausgegangen.
Sowas hatte er sich nicht vorstellen können. Nicht bei Nico.

Wobei...
Bei wem stellte man sich das schon vor? An so kranke Dinge dachte man doch normalerweise nicht.
Es lag aber an Nicos Stärke, dass ihm sowas nie in den Sinn gekommen war. Er konnte oft so locker und unbeschwert wirken, wenn es nicht um seine Person ging.
Es machte ihn mental fertig, was man ihm da angetan hatte. Es tat richtig weh.
Das bewies wohl nur, was sein Freund ihm bedeutete. Obwohl es unsinnig war, bekam er plötzlich den Drang Nico zu beschützen.
Das würde er auch. Nicht im Sinne davon, dass er seinen Ex aufsuchen und zusammenschlagen oder etwas vergleichbar Dummes machen würde – auch wenn die Verlockung groß war.
Er würde ihn davor schützen, indem er ihm jeden Tag zeigte, dass er mit ihm endlich die richtige Wahl getroffen hatte.
Das erschien ihm der bessere Weg zu sein und war wohl eher ein Argument, welches sogar Nico gelten lassen würde.
Stellte sich noch die Frage, wie es jetzt weitergehen sollte. Das alles wollte wohl auch von ihm erst einmal verarbeitet werden. Er konnte es noch immer nicht so richtig fassen. Nicht, weil er an Nicos Aufrichtigkeit zweifelte. Alleine wie heftig sein ganzer Körper auf diese Erinnerungen reagiert hatte, zeigte, dass er sich das nicht ausdenken konnte.
Sowas würde Nico auch nie tun. Das wusste er.
Nur blieb es eine Tat, die der Verstand kaum begreifen konnte und er wünschte so sehr, dass Nico es nicht hätte erleben müssen.

Leider ließ sich daran nichts mehr ändern. Es war ein Teil von Nico.
Er ertappte sich immer wieder bei dem Gedanken, jetzt ganz besonders für Nico da sein zu wollen, aber damit musste er auch aufpassen. Er wollte nicht Gefahr laufen, ihn jetzt mit Liebe und Fürsorge zu unterdrücken, denn er wusste, dass seinem Freund das nicht gefallen würde.
Nico wollte dafür sicher nicht bedauert werden oder dass er ihn nun ständig ansah, als würde er das alles mit ihm gemeinsam erleiden.
Was das betraf sollte er sich auf die Stärke seines Freundes verlassen. Er musste bedenken, dass Nico das nicht eben erst, sondern bereits vor acht Jahren passiert war.
Viel Zeit, in der Nico seinen eigenen Weg gefunden hatte. Mal besser und mal schlechter, wie er aus ihrem Gespräch gestern herausgehört hatte.
Nichtsdestotrotz sollte er sich das unbedingt bewusst machen, dass es für Nico deutlich weiter in der Vergangenheit lag, als für ihn, der er es gestern erst erfahren hatte. Aber hoffentlich sprach nichts dagegen, wenn man ihm seine Sorge dennoch ein wenig ansah.
Es erschütterte ihn mehr, als er in diesem Moment sagen konnte. Er hatte es noch nicht so richtig wegstecken können und ging davon aus, dass das auch noch etwas dauern würde.
Seit er aufgestanden war kamen ihm immer wieder so viele kleine Erinnerungen in den Sinn. Situationen, in denen er Nico bisher nicht verstanden hatte und nun so genau wusste, woran es lag.
Er wünschte schon, dass er vieles davon früher gewusst hätte.
Plötzlich schoss ihm so vieles durch den Kopf…

Beim Handyverbot im Schlafzimmer hatte er sich ja noch nichts gedacht.
Als Nico aber auch darauf bestanden hatte, dass es weit außerhalb der Reichweite sein musste, egal wo sie Sex hatten, war ihm das schon merkwürdiger vorgekommen. Vor allem einmal, als Nico ihre Zweisamkeit lieber unterbrochen hatte, nur um das Handy vom Wohnzimmertisch zu entfernen.
Jetzt war ihm klar, dass das durch dieses Arschloch kam, mit dem er es als Teenager zu tun gehabt hatte.
Er erinnerte sich noch, dass er mal irgendeine dumme Klatsch- und Tratsch-Sendung im Fernsehen angehabt hatte, in der jemand dutzende Affären hatte und Nico eine ziemlich deutliche Meinung dazu hatte.
Wenn man seinen Schwanz nicht lange genug in der Hose lassen kann, um seine Beziehungen nacheinander, statt parallel zu führen, sollte man wenigstens noch die Eier haben und ehrlich sein.“
Das waren Nicos genaue Worte dazu gewesen und vielleicht hätte er sich daran auch mal erinnern sollen, bevor er ihm in Paris so unnötig vorgeworfen hatte, dass er ihn mit Daniel betrügen würde.
Wie verletzend musste es auch für ihn gewesen sein, nicht einmal oder zweimal betrogen worden zu sein, sondern unzählige Male? Nur, weil er aufgrund seiner Vorerfahrungen vorsichtig geworden war…
Er wusste nicht einmal, wie man auf die Idee kommen konnte, so einen tollen Mann zu betrügen. Tatsächlich war er selbst früher auch nicht zwingend von Monogamie überzeugt gewesen, aber seit er mit Nico zusammen war, hatten andere Typen für ihn vollkommen ihren Reiz verloren.
Was hatte ihn nur denken lassen, dass Nico anders darüber dachte?

Und natürlich all die Dinge, die wohl der letzte Wichser zu verantworten hatte…
Zweimal hatte er das neue Jahr lieber mit Nico beginnen wollen, aber beide Male hatte er sich völlig zurückgezogen und gemeint, er wollte lieber für sich sein.
Das hatte er nie verstanden. Beim ersten Mal war er davon ausgegangen, dass er seine Familie sehen wollte und deswegen keine Zeit hatte. So war es allerdings nicht. Nico kapselte sich an diesen beiden Tagen völlig von seinem Umfeld ab.
Er erinnerte sich, wie er Nico damit in die Flucht getrieben hatte, wenn er abends mal ein bisschen was Alkoholisches getrunken hatte. Ab dem dritten Glas war Nico jedes Mal aufgesprungen und verbrachte den Rest des Abends lieber bei sich.
Wann immer er mal etwas lauter geworden war, fing Nico an leiser zu reden, bis er selbst stiller werden musste, um noch zu hören, was sein Freund sagte. Es war nicht so, dass Nico lautes Reden nicht mochte, er hasste es regelrecht.
Jedes Mal, wenn sie diskutierten und er selbst bestimmter wurde und verärgert wirken konnte, zog Nico sich aus der Situation zurück. Diskutieren konnte man mit ihm, aber nur zu seinen Bedingungen, ohne Gebrüll, ohne sich von seinem Platz zu erheben.
Und natürlich die Sache mit dem Sex…
Ihm war einige Male in den Sinn gekommen, dass mehr dahinterstecken könnte, als nur die Tatsache, dass Nico es nicht mochte, passiv zu sein. Er hatte sich nur nichts vorstellen können, was dafür verantwortlich sein könnte. Wobei schlechte Erfahrungen schon etwas waren, was ihm durch den Kopf ging.
Allerdings hatte er eher daran gedacht, dass sein erster Freund vielleicht zu grob gewesen war, dass es deswegen unangenehm war.
Aber als er ihn damals hatte überzeugen wollen, es zu versuchen, hatte Nico ihn regelrecht von sich gestoßen, als habe er die größte Grenze überhaupt überschritten.
Das war der letzte und heftigste Dämpfer in ihrer Beziehung gewesen. Erst, als er das akzeptieren konnte, hatten sie tatsächlich eine harmonische Zeit miteinander haben können.

Das erschien jetzt alles in einem ganz anderen Licht für ihn.
Er wollte es Nico nicht vorwerfen, dass er nichts erzählt hatte. Er konnte das absolut verstehen. Er wünschte nur, er hätte das alles früher gewusst, weil er sich dann selbst gewiss besser hätte anstellen können.
Es gab viel, was er Nico sicher hätte ersparen können, wenn er die ganze Geschichte gekannt hätte. Das konnte er selbstverständlich nicht rückgängig machen, aber vielleicht würde es ihm gelingen, in Zukunft feinfühliger zu sein. Auch, wenn Nico nie den Eindruck erweckte, es zu brauchen oder zu wollen, gab es wohl ein paar Dinge, bei denen er rücksichtsvoller sein sollte.
Er wollte doch im Grunde nur, dass es seinem Freund immer gut ging.
Klar, sowas hatte man nicht immer in der Hand, nur bekam er automatisch einen anderen Blick auf das ganze Leben durch das, was er erfahren hatte.
Er war so tief in diese Gedanken versunken, dass er überhaupt nicht mitbekommen hatte, dass Nico inzwischen auch aufgestanden war.
Er lehnte schon eine Weile am Türrahmen. Er bemerkte ihn erst, als er aufstand, weil seine Tasse schon wieder leer war. Er hielt sofort inne und hatte sein eigentliches Vorhaben direkt wieder vergessen.
Es brauchte nicht mehr, als einen einzigen Blick um zu sehen, dass Nico der vorausgegangene Abend immer noch in den Knochen steckte.
Es tat weh, als ihre Blicke sich trafen und er Nico so überdeutlich ansehen konnte, dass es ihm nicht gut ging.

„Wie lange stehst du schon da?“, fragte er Nico, obwohl das eigentlich überhaupt keine Rolle spielte.
Beiläufig stellte er die Tasse wieder auf den Tisch, weil sein ursprüngliches Vorhaben gänzlich an Relevanz verloren hatte.
„Paar Minuten“, lautete die Antwort, allerdings klang Nicos Stimme nicht so fest wie so sonst. Generell wirkte er ziemlich angegriffen und unausgeglichen.
So hatte er ihn noch nie erlebt.
„Wie geht’s dir?“, stellte er die viel wichtigere Frage, die ihm gleichzeitig aber auch ganz schön dämlich vorkam.
Eigentlich war es Nico anzusehen, dass es ihm nicht besonders gut ging.
„Ich bin mir nicht sicher“, wurde ihm jedoch gesagt und das hatte er nicht unbedingt erwartet. Er wartete, ob Nico dieser Aussage noch etwas hinzufügen wollte, nur schien er selbst gerade auch keine Worte zu finden.
Es war so schwer und er wollte seinen Freund so gerne in den Arm nehmen. Ihm war bewusst, dass er das nicht tun sollte, um sich selbst besser zu fühlen. Das sollte er nur tun, wenn es für Nico gerade auch hilfreich war und da er sich nicht so sicher zu sein schien, was in ihm vor sich ging, wollte er ihn auf keinen Fall überfordern.
Also breitete er erst einmal nur andeutungsweise die Arme aus und hakte nach: „Kann ich dich gerade in den Arm nehmen?“
Er meinte, es ihm bereits von der Stirn ablesen zu können und war sich sicher, dass er davor zurückweichen würde. Tat er allerdings nicht. Stattdessen hob Nico nur eine Hand, machte deutlich, dass er gerade eine Armlänge Abstand brauchte, die er natürlich respektierte.
„Gib mir erst einmal einen Moment, ja?“
„Natürlich.“

Das war immerhin kein ‚Nein‘ und somit mehr, als er vermutete. Es war nicht leicht, Nico einzuschätzen, wenn er sich nicht wie sonst verhielt.
Ihn seit Stunden ohne seine typischen Sprüche oder einen Funken von Sarkasmus zu erleben, stellte sich als härter heraus, als er jemals angenommen hätte. Das war eine Seite, die Nico ihm niemals zuvor gezeigt hatte.
Er konnte seinem Freund deutlich ansehen, dass viel in ihm vor sich gehen musste. Sonst verbarg Nico das immer so gekonnt. Normalerweise hatte er immer einen Blick auf Nico, der durch viele Schutzmauern nur ein oberflächliches Bild gab. Die seltenen Einblicke waren nur kleine Momente gewesen. Aber jetzt schien es, als wären diese Schutzmauern zu Glas geworden. Komplett durchsichtig und erschreckend zerbrechlich.
Es wäre leicht, sie auf der Stelle niederzureißen. Er konnte eindeutig sehen, dass Nico in diesem Augenblick nicht dazu in der Lage wäre, ihm standzuhalten, wenn er es drauf anlegen würde. Nicht, dass er so eine Absicht hatte. Damit würde er alles zerstören, was ihm etwas bedeutete.
Es zeigte nur so erschreckend, wie grausam und einschneidend es war, was Nico vor acht Jahren erlebt hatte und dass es immer noch so einen großen Einfluss auf sein Leben besaß.
Genauso klar konnte er aber auch sehen, dass Nico nicht bereit war, sich davon besiegen zu lassen. Er kämpfte nach wie vor dagegen an, riss sich zusammen und drängte den ganzen Schmerz wieder von sich.
Nicht zum ersten Mal stellte er selbst sich dabei die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn Nico diesen Kampf für einen Moment vergessen würde.
Vor ihm musste er das nicht verstecken. Allerdings glaubte er weniger, dass Nico es noch tat, um es vor ihm zu verbergen, sondern viel mehr aus Selbstschutz, um nicht daran zu zerbrechen.

Er rechnete nicht mehr damit, dass Nico etwas sagen würde, als er es eben doch tat.
„Lass uns mal setzen.“
Das klang auch nicht unbedingt kraftvoller, aber das stand vorerst wohl auch nicht zu erwarten. Dennoch entging ihm die innere Stärke seines Freundes nicht. Es musste ihm ja schon schwerfallen, sich in solchen Moment überhaupt noch aufzurichten.
Er könnte auch liegen bleiben, sich wieder abkapseln und in seinen Schutzpanzer zurückziehen. Aber das tat er nicht.
Er kam diesem Vorschlag sofort nach, konnte seinen Blick aber nicht wirklich von Nico abwenden. Er wollte ihn zwar nicht wie eine überbesorgte Mutti anstarren, nur fiel ihm das ausgesprochen schwer. Er hoffte darauf, dass Nico es ihm nachsehen konnte.
Am liebsten würde er selbst etwas sagen, nur hatte er das Gefühl, als würde Nico gerade selbst nach Worten suchen und dabei wollte er ihn nicht stören.
Es überraschte ihn, als es keine Worte waren, die er von seinem Freund vernahm, sondern dieser erst einmal nach seiner Hand griff. Es erleichterte ihn irgendwie, dass Nico offensichtlich körperliche Nähe zulassen konnte. Nur eben nicht zu viel auf einmal.
„Gestern bin ich gar nicht mehr dazu gekommen dir zu sagen, wie viel es mir bedeutet, dass du für mich da bist und all die Jahre da warst, ohne das alles zu wissen“, teilte Nico ihm schließlich mit. Es schien ihm noch schwer zu fallen mit ihm zu sprechen, trotzdem tat er es.
Er wollte ihm schon sagen, dass das nicht nötig war, nur wäre es sicherlich nicht nett, Nico ausgerechnet jetzt zu unterbrechen, also hörte er ihm nur zu.
„Ich weiß, dass das für dich alles nicht so einfach gewesen ist und vieles leichter gewesen wäre, wenn ich etwas gesagt hätte. Aber du bist den nicht so leichten Weg gegangen und ist das ist viel mehr, als ich erwartet hab.“

Er bekam richtig Herzklopfen.
Obwohl sie schon so viele besondere Momente miteinander teilten, seit sie zusammen waren, war das hier etwas anderes. Fast wie ein Augenblick, auf den sie schon sehr lange gewartet hatten. Es war nicht das erste Mal, dass Nico ihm Worte sagte, die ihm zu Herzen gingen und dennoch waren sie irgendwie anders.
„Wenn wir uns nicht begegnet wären, würde ich immer noch glauben, dass ich niemandem vertrauen kann und es für mich keinen Menschen gibt, mit dem ich je wieder zusammen sein will. Du hast echt viel verändert und zwar zum Guten. Jetzt müsstest du davon nur auch überzeugt sein und aufhören, dir ständig Vorwürfe zu machen. Die sind nicht mehr nötig.“
Er spürte deutlich diesen Impuls, Nico zu widersprechen, wie er es immer getan hatte. Seine Taten kleinreden, sich wieder vorwerfen, wie er ihn behandelt hatte.
Aber er musste einsehen, dass Nico vollkommen recht hatte. Gemessen an dem, was er mit seinen vorherigen Partnern erlebt hatte, war er wahrlich ziemlich anständig. Er mochte Fehler gemacht haben, nur war es dabei nie seine Absicht gewesen, Nico weh zu tun. Das war bei den anderen nicht so.
Einer hatte ihn auf die fieseste Weise getäuscht, die man sich nur vorstellen konnte, der andere hatte ihn ohne Reue immer wieder hintergangen und der letzte hatte nicht einmal davor zurückgeschreckt, Nico ernsthaft zu verletzen.
Für einen kurzen Moment kam es ihm so vor, als könnte er sich mal durch Nicos Augen wahrnehmen. Als könnte er für eine Weile nachempfinden, wie verloren Nico sich in der Hinsicht gefühlt hatte, als sie sich begegneten und wie erleichtert er über alles Gute gewesen sein musste, was er finden konnte.
Es war unglaublich. Dass sowas möglich war. Aber auch, dass all diese Dinge passiert waren. Mit Worten konnte man das kaum beschreiben. Im Grunde zählte jedoch nur eine Sache.

„Du hast recht“, ließ er Nico also nach einer Weile wissen.
Das hatte sein Freund meistens, wie er stumm für sich vermerkte. Es war schwer, sich mit so ruhigen und vernünftigen Menschen zu streiten. Zum Glück taten sie das inzwischen seltener und nach all diesem Trubel hoffentlich noch weniger.
„Nach allem, was passiert ist und was du mir erzählt hast, kommt mir vieles so lächerlich vor, worüber wir sonst so diskutiert haben. Es gibt Dinge, die so viel wichtiger sind, als der ganze oberflächliche Kram.“
Und eigentlich wollte er noch so viel mehr sagen, nur wusste er nicht, wo er anfangen sollte. Sein Kopf war noch ziemlich überfüllt und er wollte auch nichts falschmachen. Die Situation war vollkommen neu für ihn. Alles, was er machen konnte war, sich an Nicos Hand festzuhalten, die er ihm als einzige körperliche Verbindung gegeben hatte.
Er dachte kurz nach, wollte dann aber ehrlich zu Nico sein. Schließlich war er es auch zu ihm.
„Nico, ich weiß gar nicht, was ich sagen oder wie ich mich jetzt verhalten soll. Ich hab eben über all die Male nachgedacht, in denen ich nicht begriffen hab, wo dein Problem ist und jetzt weiß ich das alles und würde es so gerne rückgängig machen und besser reagieren. Aber das geht nicht mehr.“
Das ließ ihn am wenigsten los, obwohl daran nichts mehr zu ändern war. Umso mehr wollte er es von nun an besser machen, nur fürchtete er, dass es dann zu gewollt wirken könnte. Er wollte nicht, dass sich in ihrer Beziehung etwas unnatürlich anfühlte.
„Alleine, dass du das willst zeigt mir doch schon, dass du es niemals gemacht hättest, wenn du mehr gewusst hättest“, versuchte Nico ihm zu verdeutlichen, weshalb die Vergangenheit nicht mehr zählen sollte.
Er sollte wirklich versuchen, diese Dinge abzuhaken und mit Nico zusammen nach vorne zu sehen. Das war besser, als in dem zu wühlen, was einmal war.

„Schon. Weißt du, ich würde gerne einfach irgendwas tun. Mir ist klar, dass es für dich schon lange her ist und vermutlich wäre es dir lieber, wenn ich mich verhalte, wie gewohnt, aber-“
Er hob etwas hilflos die Schultern, weil er nicht so genau wusste, wie er es erklären sollte. Ehrlichkeit war alles, was ihnen jetzt helfen konnte und zum Glück konnte er sich sicher sein, dass Nico das genauso sah.
„Das ist mir klar, dass du das nicht einfach kannst. Ich hab es in sechs Jahren nicht geschafft, es zu verarbeiten. Wie könnte ich also erwarten, dass du es nach einem Tag beiseiteschieben könntest?“
Obwohl von Nico kaum etwas anderes zu erwarten gewesen war, erleichterte es ihn sehr. Wahrscheinlich mussten sie einander nur ein wenig Zeit lassen. Für Nico war es gewiss auch nicht so einfach sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es nun jemanden gab, der von dieser Sache wusste.
„Irgendwie weiß ich überhaupt nicht, was ich tun oder wie ich mich verhalten soll. Ich weiß nicht, ob es okay ist, wenn ich dir Fragen stelle oder ob ich es lieber nie wieder erwähnen soll. Ich will dir einfach nicht noch mehr wehtun“, gab er zu, wie es nun einmal in ihm aussah.
Es überraschte ihn, dass sich daraufhin ein ganz kleines Lächeln auf Nicos Lippen bildete. „Das kannst du überhaupt nicht“, wurde ihm versichert. „Und wenn du etwas wissen willst, dann frag mich. Wäre es für mich nicht okay, dann hätte ich dir das nicht erzählt.“
Davon war im Grunde auszugehen. Nico war niemand, der sich Dinge nicht genau überlegte. Zumindest, wenn sie von Bedeutung waren.
„Wie schaffst du das nur?“, kam es ihm über die Lippen. Eigentlich sollte die Frage stumm an sich selbst gerichtet bleiben, aber nun hatte er damit natürlich Nicos Aufmerksamkeit erregt, weshalb er noch etwas hinzufügte. „Du bist damit Jahre lang ganz alleine gewesen und du hast dich davon nicht unterkriegen lassen.“

Nico senkte kurz den Blick, wie immer, wenn er in sich ging, um etwas Schwieriges ehrlich zu beantworten.
„So genau kann ich das gar nicht sagen“, fing Nico irgendwann an. „Die ersten Tage danach sind so an mir vorbeigegangen. Ich glaube irgendwann kommt einfach der Punkt an dem man entscheiden muss, ob man dagegen angeht oder zulässt, was es aus einem macht.“
Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie schrecklich das gewesen sein musste. So etwas mit sich selbst auszumachen war sicherlich grausam.
„Und deine Familie? Ihr habt so ein enges Verhältnis zueinander. Ich hätte nicht gedacht, dass es da Geheimnisse geben könnte“, wagte er sich vorsichtig weiter. „Immerhin hattest du sie damals auch ins Vertrauen gezogen, als es zu diesen Problemen in der Schule kam.“
„Das stimmt. Aber zum einen bin ich neun Jahre älter gewesen und hab nicht mehr zu Hause gewohnt. Zum anderen war das einfach viel schlimmer. Anfangs dachte ich, dass ich ihnen diese Bilder ersparen will, die du jetzt wahrscheinlich auch im Kopf hast. Später wusste ich, dass dieser Gedanke für mich nicht zu ertragen war. Mit etwas Abstand hätte ich sehr viel anders gemacht. Vielleicht früher jemanden davon erzählt, ihn angezeigt… Aber wenn man was Traumatisches erlebt ist man nicht dazu in der Lage für sich die richtige Entscheidung zu treffen. Deswegen kommen solche Kerle damit durch.“
Das war so unfassbar ungerecht. Leider konnte man nach so langer Zeit nicht mehr viel tun. Wobei…
Er musste durchaus daran denken, dass die ärztlichen Befunde noch existieren mussten und dass man ihm sicherlich noch beikommen könnte. Aber das war Nicos Entscheidung, ob er diese Wunde nach all der Zeit noch einmal soweit aufreißen wollte.
„Jedenfalls hatte ich meiner Familie nur etwas von einer Auszeit erzählt, die ich mir nehmen wollte. Bestimmt haben sie mir das nie richtig abgekauft und ihre eigene Theorie dazu. Aber danach hab ich sie niemals gefragt.“

Er konnte es irgendwie verstehen. Obwohl er gesehen hatte, wie eng die Bindung in dieser Familie war. Gerade deswegen konnte er sich vorstellen, dass es besonders schwer gewesen war, die Sache mit sich selbst auszumachen.
Er senkte selbst den Blick, dachte über das nach, was er gehört hatte und als er wieder aufsah bemerkte er, dass Nico ihn ansah. Er konnte ihm zwar ansehen, dass es immer noch schwer für ihn war und ihm alleine die Erinnerungen daran unheimlich wehtaten. Aber er konnte genauso erkennen, dass er sich davon nicht besiegen lassen würde, dass er darüber hinweg war, obwohl es noch so sehr schmerzte damit konfrontiert zu werden.
Wenn Nico zuversichtlich war, dass sie es gemeinsam schafften, dann konnte er selbst das auch. Die letzten Wochen waren hart und anstrengend gewesen, aber es hatte sie nicht zurückgeworfen. Im Gegenteil. Irgendwie hatten sie es hinbekommen, aus dieser Sache sehr viel für ihre Beziehung mitzunehmen und darauf kam es am Ende an.
Alles, was noch ungewiss war betraf Nicos Zukunft. Er war immer noch angeschlagen und man konnte noch nicht genau sagen, wie es weitergehen würde. Man musste abwarten, ob er sich vollständig erholen konnte und ob Leistungssport dann überhaupt wieder möglich war.
Es war schwer, sich deswegen nicht wieder Vorwürfe zu machen. Er musste endlich akzeptieren, dass es eine Verkettung ganz unglücklicher Umstände gewesen war und aufhören, sich das alles aufzubürden. Damit half er Nico am Ende auch nicht.
Sein Freund wollte immer noch mit ihm zusammen sein und ihm keine schuld geben. Er sollte froh sein und dafür alles tun, damit Nico nicht nur den Kampf gegen seine grauenvolle Vergangenheit gewann, sondern auch gegen seine Verletzungen.

Er wollte kein längeres Schweigen zwischen ihnen aufkommen lassen. Es gab da noch etwas, was ihm vorhin schon in den Sinn gekommen war und was er gerne loswerden wollte.
„Wahrscheinlich muss ich dir gar nicht sagen, wie gerne ich all diesen Wichsern irgendwas antun würde. Aber klar, sowas hilft jetzt auch nicht mehr. Vielleicht klingt es total lächerlich, aber ich will dich einfach nur noch vor diesen Dingen beschützen. Vermutlich hört sich das in deinen Ohren ein bisschen lächerlich an, aber für mich ist der Gedanke schwer, dass dir etwas in der Art je wieder passiert. Da ich nicht alles in der Hand hab, will ich nur dass du weißt, dass ich alles tun werde was ich kann, damit ich nicht deine grauenhafte Erfahrung Nummer Vier werde. Ich möchte, dass wir eine tolle Beziehung haben, noch besser, als sie es vor dem Unfall gewesen ist und dir nur jeden Tag aufs Neue zeigen dürfen, dass das mit uns die richtige Entscheidung gewesen ist.“
Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte, hob etwas hilflos die Schultern, konnte Nicos dezentes Schmunzeln darauf aber erwidern.
Wenn er an einer Sache nie zweifelte, dann daran, wie glücklich sie gemeinsam waren und es gewiss auch wieder sein konnten. Sie hatten eine wunderbare Zeit miteinander gehabt und nun, wo er Nico besser verstehen konnte, würde es noch besser werden.
Wieder kam dieses starke Bedürfnis in ihm auf, welches er vorhin schon verspürt hatte, also wagte er es, Nico noch einmal zu fragen.
„Kann ich dich vielleicht jetzt endlich in den Arm nehmen?“
Er wollte ja nicht aufdringlich sein, aber die Distanz war sehr schwer auszuhalten. Er liebte ihn so sehr und wollte es ihm so gerne zeigen.

Erleichtert richtete er sich auf, als Nico endlich nickte und nichts konnte sich von diesem Moment an mehr zwischen ihn und den Mann stellen, den er über alles auf der Welt liebte.





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