[[Arno Dorian]] L'innocence est morte
von simplygreen
Kurzbeschreibung
Louanne war noch fast ein Kind, als Arno sie - von seiner Trauer um Élise getrieben - aus seinem Leben jagte. Nun, nach acht Jahren und auf den Spuren einer Verschwörung, trifft er seine totgeglaubte einstige Freundin wieder. Doch sie ist nicht mehr die, die sie einst war, sondern ein einziges Mysterium. Vielleicht kann er nun jedoch sehen, wofür er damals zu blind war... auch wenn er sie eigentlich töten sollte. //L'innocence est morte - Die Unschuld ist tot//
GeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P18 / Gen
OC (Own Character)
22.07.2019
30.12.2019
20
81.517
12
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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22.07.2019
2.936
Paris, 1. August 1794
Es war ein ungewöhnlich heißer Tag in Paris. Die Rue Saint-Antoinne war wie immer vollgestopft mit Menschen jedweder Couleur und während die einen mit feinem Zwirn und parfümiert über den Markt schlenderten, versuchten andere wiederum in einem unachtsamen Moment den Bäckern und Obstverkäufern etwas zu Essen zu stehlen, um nicht zu verhungern.
Louanne beobachtete einen verwildert aussehenden Jungen dabei, wie er einem gut betuchten Mann Münzen aus dem Beutel stahl und schmunzelte. Nicht dass sie sein Handeln guthieß. Ganz im Gegenteil. Doch wenn sie sich den alten Herren in seinem Seidendoublet so besah, war sie davon überzeugt, dass ihm ein paar Münzen nicht wehtun würden. Dennoch straffte sie den Griff um den Weidenkorb in ihrer Hand und senkte wieder den Blick. Sie war gewiss zu unauffällig und viel zu ärmlich gekleidet, um als gutes Ziel zu gelten. Doch es waren harte Zeiten für die Pariser. Und die Erinnerungen an Vergangenes saßen tief in Louannes Hinterkopf fest. Besonders, als sie die Rue de Petit Musc passierte.
Sie kniff die Augen zusammen. Es war bereits acht Monate her, und dennoch war die Erinnerung noch so lebhaft, als wäre es eben erst geschehen. Sie erinnerte sich an den ruppigen Griff und die Messerspitze, die sich gegen ihre Rippen presste, auf offener Straße, mitten am Tag. Sie war von zwei Männern dazu genötigt worden, sie beide... nun ja... zu unterhalten. Die vulgären Obszönitäten hallten noch immer in ihrem Kopf wieder. Sie erinnerte sich so lebhaft an das Gefühl der Hilflosigkeit. Sie war eine zierliche, hübsche junge Frau von neunzehn Jahren. Sie hatte diesen Männern nichts entgegenzusetzen. Und auch die Umstehenden hatten nur weggesehen und waren schnell weitergelaufen. Nicht dass es die beiden Männer geschert hätte. Sie waren schwer betrunken und von stämmiger Statur. Sie hatten sie in eine verlassene kleine Gasse gezerrt, in der es fürchterlich nach Fäkalien und Fischabfällen stank. Louanne hatte damals geglaubt, ihre letzte Stunde hätte geschlagen, als der eine dreckig grinsend seine fauligen Zähne präsentierte und das rostige Klappmesser unter den Träger ihres Kleides geschoben hatte. Ihr blieb nichts anderes als die Augen zu schließen und den Kopf in unheilvoller Erwartung gegen das feuchtkalte Mauerwerk zu pressen. Sie schluckte schwer bei der Erinnerung des rostigen Metalls an ihrer Schulter, an das Rauschen des Blutes und den wild puckernden Herzschlag in ihren Ohren. Und dann...
„Pardon Messieurs, aber ich glaube die Dame möchte Euch nun verlassen.“
Einen kurzen Augenblick lang glaubte Louanne, es hätte sich noch ein Dritter zu ihren Peinigern gesellt. Erst ein paar Sekunden später begriff sie den Inhalt und die gespielte Höflichkeit dieser Worte. Und eine Sekunde später spürte sie, wie der Riese von Mann von ihr weggezerrt wurde. Ein kurzes metallisches Klicken war zu hören, gefolgt von dem unheilvollen Geräusch von Metall, dass sich in menschliches Fleisch bohrte.
„Du dreckiger kleiner Hurensohn. Ich werde dich-“
Und erneut vernahm sie dieses Geräusch, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann war es still. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen, wagte es nur mit Mühe, Luft in ihre Lungen zu pressen. Und als eine ungewohnt sanfte Hand auf ihrer nackten Schulter landete, zuckte sie zusammen und riss vor Schreck die Augen auf.
„Verzeiht, Mademoiselle. Es war nicht meine Absicht, Euch noch mehr zu ängstigen.“
Doch sie hörte seine Worte gar nicht. Sie blickte ihn nur ängstlich an. Es war ein Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, nicht älter als dreißig jedenfalls. Er trug einen adretten blauen Militärmantel mit einer merkwürdigen Kapuze, die dunkle Schatten in sein Gesicht warf.
Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und wartete geduldig auf eine Reaktion. Doch Louanne konnte nichts weiter tun, als ihn anzustarren. Scheinbar bemerkte er, dass sie noch immer glaubte, in Gefahr zu schweben, denn er streifte sich mit einer fließenden Handbewegung die Kapuze vom Kopf und enthüllte ein hübsches, freundlich anmutendes Gesicht. Ein paar schokoladenbraune Strähnen fielen hervor und rahmten das markante Gesicht mit den tiefbraunen Augen, einer ebenso markanten Nase, die wohl bereits das ein oder andere Mal gebrochen gewesen sein musste, und den schönsten Lippen, die Lou je an einem Mann aus nächste Nähe betrachtet hatte. Er war so gar nicht das, was sie der Geräuschkulisse nach erwartet hatte. Kein bulliger, bärtiger Schlächter mit einer Axt. Er war von drahtiger Statur und hochgewachsen und bei den Damen gewiss sehr beliebt.
„Geht es Euch gut?“, versuchte er es erneut und lächelte weiter. Er betrachtete suchend jeden Winkel ihres Gesichts.
„Ich... was ist... geschehen?“
Louanne legte die Hand an ihre schweißnasse Stirn. Langsam kam sie zur Besinnung und blinzelte ein paar Mal. Dann versuchte sie an dem jungen Mann vorbei und in die Gasse zu sehen, doch der legte auch die andere Hand an ihre Schultern und versperrte ihr den Anblick. Sie schluckte.
„Ihr seid in Sicherheit. Keine Sorge. Ich werde Euch nichts tun.“
Sie wusste nicht, weshalb, aber sie hatte ihm das geglaubt, einem vollkommen Fremden, obwohl zwei vollkommen Fremde sie ein paar Sekunden zuvor noch misshandeln wollten.
„Mademoiselle, wenn Ihr nichts dagegen habt, sollten wir vielleicht gehen.“
Aber noch bevor Louanne einen Schritt vor den anderen setzen konnte, gaben ihre Beine nach, vor ihren Augen wurde es schwarz und sie sank in die Arme ihres Retters.
Das war der Tag, an dem sie Arno begegnete, der Tag, an dem ihr Leben ein bisschen schöner, ein bisschen weniger einsam wurde, zumindest für eine Zeit. Es war der Beginn einer innigen Vertrautheit, die über die letzten Monate wuchs und wuchs. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie seine einzige Freundin war, da er ihr trotz seines geschäftigen Lebens doch recht viel Zeit widmete. Lou hatte längst eingesehen, dass sie Arno schon am Tag ihrer Begegnung hoffnungslos verfallen war. Und jede ihrer Begegnungen machte es ihr umso deutlicher. Sie war sich ziemlich sicher, dass er um ihre Gefühle wusste. Oder vielleicht auch nicht. Aber ihr war auch klar, dass sie für ihn nie mehr als eine Schwesterfigur sein würde. Arno liebte eine Frau namens Élise. Oder hatte sie geliebt. Sie war vor drei Tagen gestorben und seitdem machte sich Louanne jeden Tag um sieben Uhr mit etwas zu Essen auf den Weg ins Café Théâtre, um Arno zu besuchen. Um es milde auszudrücken: er war am Boden zerstört. Er hatte in den letzten Tagen keine drei Sätze mit ihr gesprochen. Sie hatte ihm nur das Essen vorgesetzt, zugesehen, dass er neben flaschenweise Wein auch etwas Essbares zu sich nahm und hatte sich dann zu ihm an den Ofen gesetzt, um etwas zu lesen.
Als sie an diesem Tag die Tür zu Arnos Räumlichkeiten öffnete, peitschte ihr sogleich ein unangenehmer Geruch entgegen. Es roch nach verbrauchter Luft, Alkohol und gammeligem Käse. Lou rümpfte die Nase und erkannte die Überreste des mitgebrachten Risottos vom Vortag. Natürlich hatte er nicht noch etwas gegessen, so wie sie ihn kurz vor ihrem Abschied gebeten hatte. Er saß in seinem großen Ohrensessel am Ofen und starrte ins Feuer, genau wie an den Tagen zuvor. Er wirkte blass und gequält und sie bemühte sich, ihn nicht allzu sorgenvoll zu mustern.
„Bonsoir Arno.“, grüßte sie leise und stellte ihren Korb auf dem Tisch ab. Es folgte keine Antwort, doch das hätte sie auch sehr gewundert. Sie zog sich das gelbe Tuch von den Schultern und legte es über die Lehne eines Palisanderholzstuhls. Dann schritt sie auf die Balkonfenster zu und öffnete die Vorhänge und die Flügeltüren, um etwas Licht und frische Luft in den Raum zu lassen.
Hinter sich vernahm sie einen leisen, missbilligenden Zischlaut. Sie wandte sich an Arno, der den Ellbogen auf die Lehne aufgestützt und die Hand zur Faust geballt hatte.
„Ich habe dir etwas Suppe mitgebracht.“, sagte Louanne, bemüht über seine genervte Geste hinwegzusehen. Sie ging zurück zu ihrem Korb und füllte ihm eine große Kelle des dampfenden Eintopfs in eine mitgebrachte Schüssel, zog noch einen Löffel hervor und näherte sich ihm vorsichtig. Als sie den Sessel umrundet hatte, konnte sie ihren besorgten Blick nicht mehr verbergen. Er sah furchtbar aus. Blass, grimmig, wie ein Mensch, der alle Hoffnung hatte fahren lassen. Sein Haar fiel strähnig über seine Schultern und ein ungepflegter, vier Tage alter Bart sprießte um Kiefer, Mund und Wangen. Auch roch er fürchterlich nach Alkohol und Schweiß.
Erst, als sie sich vor ihn hockte, konnte sie seinen Blick endlich auffangen. Man möchte meinen, ein freundliches Gesicht hätte seine Laune zumindest etwas aufhellen können. Doch dem war nicht so. Stattdessen atmete er genervt aus und ließ den Kopf gegen die Lehne fallen.
„Hier.“, sagte Lou und reichte ihm die halbvolle, dampfende Schüssel. Arno sah nur missbilligend darauf hinab, dann in das hoffnungsvolle Gesicht seiner Besucherin.
„Es ist Bouillabaisse. Die magst du doch.“, versuchte sie es erneut geduldig und freundlich wie immer und hielt es ihm noch ein Stück näher entgegen. Arnos Blick blieb abschätzig, doch er schickte sich nicht einmal zu einer ablehnenden Handbewegung an. Davon ließ sich Lou aber nicht entmutigen und stellte die Schüssel auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel ab. Vielleicht würde er ja später etwas essen.
Seufzend erhob sie sich wieder und räumte zumindest das schmutzige Geschirr und die leeren Weinflaschen zusammen, bevor sie alles auf den Flur vor die Zimmertür stellte, damit es ein Hausmädchen entsorgen konnte. Dann stellte sie sich vor das vollgestopfte Bücherregal und suchte nach dem Buch, welches sie gestern dorthin zurückgestellt hatte. Arno hatte ihr in den letzten Monaten, die so glücklich und sorglos für sie gewesen waren, das Lesen beigebracht. Sie war natürlich noch recht langsam darin, doch seither konnte sie nicht mehr damit aufhören.
„Geh nach Hause.“, hörte sie eine düstere, raue Stimme hinter sich räuspern, gerade, als sie die Hand nach dem abgegriffenen Einband von Le Jeu de l’amour et du hasard ausgestreckt hatte. Sie hielt inne und kniff kurz die Augen zusammen. Er war so herzlich mit ihr umgegangen, seit sie sich begegnet waren. In den letzten Tagen aber hatte sie ihn derart verbittert kennengelernt, dass sie manchmal das Gefühl hatte, einem vollkommen Fremden Gesellschaft zu leisten.
Das ist nicht er, dachte sie, Aus ihm spricht die Trauer.
Sie zog das Buch hervor und drückte es an ihre Brust, bevor sie sich ihm wieder näherte und sich wortlos vor dem Ofen und neben seinem Sessel auf dem ausgetretenen Teppich niederließ, um es sich bequem zu machen. Sie schenkte seiner düsteren Bitte keine Beachtung, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Natürlich spürte sie den starren, grimmigen Blick Arnos auf sich ruhen, doch sie versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren. Louanne wusste, dass er nicht wirklich allein sein wollte. Er war einfach ein eitler Mann. Er schämte sich dafür, was die Trauer aus ihm machte. Und er wollte sich weiter in seinem Elend suhlen. Dazu war die sanftmütige junge Frau mit ihrem geblümten, himmelblauen Kleid und den fließenden haselnussbraunen Locken ein schmerzhafter Kontrast. Sie war so unschuldig und das war etwas, das Arno nach den jüngsten Ereignissen nur schwer ertragen konnte. Auch wenn ein bisschen Fürsorge und Unschuld genau das war, was er dieser Tage eigentlich am nötigsten hatte.
Louanne wollte gerade ihre fünfte Seite umblättern, als sie sich zu einem kurzen Seitenblick hinreißen ließ. Und der Anblick ließ ihr Herz beinahe zerspringen. Arno starrte noch immer ins Feuer, die Faust gegen die Lippen gepresst. Lautlose Tränen liefen in kleinen Rinnsalen über seine stoppeligen Wangen, eine Miene verzog er aber nicht. Lou schluckte und klappte das Buch zusammen, um es sofort wegzulegen. Sie erhob sich langsam von ihrem Platz auf dem Boden und stand dann hilflos vor Arno, dem sie nun die Sicht auf das Feuer versperrte. Einige endlose Sekunden vergingen, in denen sie nicht wusste, was sie tun Oder sagen sollte. Doch dann blickte er plötzlich in ihr Gesicht auf, die Augen voller Trauer, und streckte die Hand nach ihr aus.
Ohne zu zögern reichte sie ihm die ihre und er zog sie zu sich heran. Sie landete unbeholfen auf seinem Schoß und hatte Angst, ihm dabei wehgetan zu haben, doch Arno drückte sie einfach an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Und dann weinte er.
Lou hatte noch nie einen Mann weinen sehen. Doch sie fand es keinesfalls befremdlich und schon gar nicht unangebracht. Arno konnte es mit beiden Armen auf dem Rücken mit einem dutzend Männer aufnehmen. Doch er hatte einen geliebten Menschen verloren, DEN geliebten Menschen. Er sollte ruhig weinen, bis alle Tränen vergossen waren. Und Lou würde für ihn da sein, jedes abschätzige Wort ertragen, bis es ihm besser ging.
Sie wusste nicht wie lange, doch es musste mindestens eine Stunde gewesen sein, dass sie so dort saßen. Es gelang ihr zwischendurch, eine bequemere Sitzposition auf seinem Schoß einzunehmen. Auch sie schlang einen Arm um seinen Hals, mit der anderen Hand streichelte sie sein Haar und seine Wange, während er in ihrer Halsbeuge immer und immer mehr Tränen vergoss. Es verging eine weitere Stunde und Arnos eiserner Griff um ihre Mitte lockerte sich nicht. Doch zumindest bebten seine Schultern nicht mehr und auch fühlte sich ihre Halsbeuge etwas trockener an. Sie streichelte ihm weiter durchs Haar und bemerkte seinen regelmäßigen Atem. Er musste wohl eingeschlafen sein. Und sie würde den Teufel tun und ihn wecken. Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, war das der erste Schlaf, zu dem er seit Tagen fand.
Lou versuchte sich zu entspannen, doch sie machte kein Auge zu. Sie war hellwach. Er war ihr so nahe. Und er hatte sich ihr gegenüber so verletzt gezeigt, dass ihr ganz schwindelig vor Stolz war. Dieser Mann, dieser Assassine, der binnen einer Sekunde tötete, ohne mit der Wimper zu zucken, suchte in ihren Armen Trost. Ganz Recht, Lou wusste Bescheid über Arnos Berufung, seine Motive. Sie wusste alles. Manchmal glaubte sie, er wusste selbst nicht, weshalb er einem jungen, naiven Ding wie ihr so viel über sich selbst verriet. Auf der anderen Seite, wem konnte sie schon gefährlich werden? Sie war ein Niemand. Und niemand würde ihr glauben. Doch ganz gleich, was ihn dazu bewogen hatte, sie in sein Leben zu lassen und ihr sein Vertrauen zu schenken, sie würde dieses Geschenk hüten, wie einen Schatz.
Es war Stunden später. Lous Kopf war schwer geworden und sie hatte ihn gegen die hohe Seitenlehne des Ohrensessels gelehnt, als sie spürte, wie Arnos Wimpern ihren Hals streiften. Sie strich ihm wieder durchs Haar und lächelte. Er sollte möglichst sanft aufwachen, bevor ihn die Realität wieder einholte. Er atmete tief ein und seufzte und für einen ganz kleinen Moment erhielt Lou eine Kostprobe davon, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn er tatsächlich eines Tages ihre Gefühle erwidern würde.
„Élise...“, seufzte er dann plötzlich zufrieden und straffte den Griff um ihre Taille. Louanne erstarrte. Das hatte sie nicht kommen sehen und es traf sie wie ein Dolchstoß mitten ins Herz. Er schlief wohl noch immer und würde sich später nicht daran erinnern können... so hoffte sie zumindest. Sie wollte ihm und sich selbst die Peinlichkeit doch gern ersparen.
Und auch wenn es schmerzte, sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Natürlich träumte er von ihr. Lou hatte zwar nicht erwartet, dass jemals ihr Name mit einer solchen Zufriedenheit über seine Lippen kommen würde. Dennoch riss ihr dieses eine Wort das Herz aus der Brust.
Es vergingen ein paar weitere Minuten, in denen Lou erfolgreich ihre Tränen zurückdrängen konnte. Dann regte er sich und gab ein undefinierbares Raunen von sich. Und einen Augenblick später hob er tatsächlich langsam den Kopf. Es war ein Moment, der Lou das Blut in den Adern gefrieren ließ, als Arnos Gesicht nur wenige Zentimeter vor ihrem eigenen innehielt und sie stoisch anblickte. Noch immer ruhte ihre eine Hand in seinem Nacken und die andere auf seinem Hinterkopf. Sie schluckte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Emotionslos starrte er in ihre Augen, während sie im Gegensatz dazu hoffte, ihre Scham möge ihr nicht rot übers Gesicht kriechen. Ein paar endlose Sekunden später ertrug Lou die Spannung nicht mehr. Sie legte den Kopf schief und lächelte vorsichtig.
„Wie geht es dir jetzt?“, wisperte sie vorsichtig und bereute es im nächsten Moment bereits. Sie konnte förmlich sehen, wie seine sonst so warmen braunen Augen kalt wie Eis wurden. Der Druck um ihre Taille verschwand und er benutzte seine Hände stattdessen dafür, sie sanft aber bestimmt von sich zu schieben, sodass sie gar keine andere Wahl hatte, als vom Sessel aufzustehen.
„Ich möchte, dass du aufhörst mich zu besuchen.“, sagte er heiser und hätte er ihr dabei nicht fest entschlossen und streng in die Augen gesehen, hätte sie ihm nicht geglaubt. Lous Hände bebten. Sie brauchte ein paar Sekunden, um den Inhalt seiner Worte zu begreifen und blinzelte auf ihn hinab. Er warf den Kopf gegen die Lehne, legte die Arme auf den Seitenlehnen ab und schloss dann die Augen – wahrscheinlich um ihren Anblick nicht länger ertragen zu müssen, so dachte sie.
Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, als sie sich nach dem Buch bückte und es fest an ihre Brust drückte.
Nach einem weiteren Moment des Zögerns ging sie an ihm vorbei, stellte das Buch zurück ins Regal, schnappte sich im Vorbeigehen ihr Tuch von der Stuhllehne und auch ihren Korb und verließ ohne ein weiteres Wort das Café Théâtre. Draußen hatte es gerade aufgehört zu regnen, doch auch so würde niemand Lous Tränen bemerken, denn es war mittlerweile dunkle Nacht. Aber das ängstigte sie nicht. In ihr war gerade kein Platz für Angst, nur für Tränen. Und heute fühlte sie sich mehr denn je wie ein wertloses Mädchen aus der Unterschicht, obwohl sie sich in seiner Gegenwart noch nie so fühlen musste. Aber genau das war sie, auch wenn sie nun vielleicht lesen konnte.
Es war ein ungewöhnlich heißer Tag in Paris. Die Rue Saint-Antoinne war wie immer vollgestopft mit Menschen jedweder Couleur und während die einen mit feinem Zwirn und parfümiert über den Markt schlenderten, versuchten andere wiederum in einem unachtsamen Moment den Bäckern und Obstverkäufern etwas zu Essen zu stehlen, um nicht zu verhungern.
Louanne beobachtete einen verwildert aussehenden Jungen dabei, wie er einem gut betuchten Mann Münzen aus dem Beutel stahl und schmunzelte. Nicht dass sie sein Handeln guthieß. Ganz im Gegenteil. Doch wenn sie sich den alten Herren in seinem Seidendoublet so besah, war sie davon überzeugt, dass ihm ein paar Münzen nicht wehtun würden. Dennoch straffte sie den Griff um den Weidenkorb in ihrer Hand und senkte wieder den Blick. Sie war gewiss zu unauffällig und viel zu ärmlich gekleidet, um als gutes Ziel zu gelten. Doch es waren harte Zeiten für die Pariser. Und die Erinnerungen an Vergangenes saßen tief in Louannes Hinterkopf fest. Besonders, als sie die Rue de Petit Musc passierte.
Sie kniff die Augen zusammen. Es war bereits acht Monate her, und dennoch war die Erinnerung noch so lebhaft, als wäre es eben erst geschehen. Sie erinnerte sich an den ruppigen Griff und die Messerspitze, die sich gegen ihre Rippen presste, auf offener Straße, mitten am Tag. Sie war von zwei Männern dazu genötigt worden, sie beide... nun ja... zu unterhalten. Die vulgären Obszönitäten hallten noch immer in ihrem Kopf wieder. Sie erinnerte sich so lebhaft an das Gefühl der Hilflosigkeit. Sie war eine zierliche, hübsche junge Frau von neunzehn Jahren. Sie hatte diesen Männern nichts entgegenzusetzen. Und auch die Umstehenden hatten nur weggesehen und waren schnell weitergelaufen. Nicht dass es die beiden Männer geschert hätte. Sie waren schwer betrunken und von stämmiger Statur. Sie hatten sie in eine verlassene kleine Gasse gezerrt, in der es fürchterlich nach Fäkalien und Fischabfällen stank. Louanne hatte damals geglaubt, ihre letzte Stunde hätte geschlagen, als der eine dreckig grinsend seine fauligen Zähne präsentierte und das rostige Klappmesser unter den Träger ihres Kleides geschoben hatte. Ihr blieb nichts anderes als die Augen zu schließen und den Kopf in unheilvoller Erwartung gegen das feuchtkalte Mauerwerk zu pressen. Sie schluckte schwer bei der Erinnerung des rostigen Metalls an ihrer Schulter, an das Rauschen des Blutes und den wild puckernden Herzschlag in ihren Ohren. Und dann...
„Pardon Messieurs, aber ich glaube die Dame möchte Euch nun verlassen.“
Einen kurzen Augenblick lang glaubte Louanne, es hätte sich noch ein Dritter zu ihren Peinigern gesellt. Erst ein paar Sekunden später begriff sie den Inhalt und die gespielte Höflichkeit dieser Worte. Und eine Sekunde später spürte sie, wie der Riese von Mann von ihr weggezerrt wurde. Ein kurzes metallisches Klicken war zu hören, gefolgt von dem unheilvollen Geräusch von Metall, dass sich in menschliches Fleisch bohrte.
„Du dreckiger kleiner Hurensohn. Ich werde dich-“
Und erneut vernahm sie dieses Geräusch, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann war es still. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen, wagte es nur mit Mühe, Luft in ihre Lungen zu pressen. Und als eine ungewohnt sanfte Hand auf ihrer nackten Schulter landete, zuckte sie zusammen und riss vor Schreck die Augen auf.
„Verzeiht, Mademoiselle. Es war nicht meine Absicht, Euch noch mehr zu ängstigen.“
Doch sie hörte seine Worte gar nicht. Sie blickte ihn nur ängstlich an. Es war ein Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, nicht älter als dreißig jedenfalls. Er trug einen adretten blauen Militärmantel mit einer merkwürdigen Kapuze, die dunkle Schatten in sein Gesicht warf.
Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und wartete geduldig auf eine Reaktion. Doch Louanne konnte nichts weiter tun, als ihn anzustarren. Scheinbar bemerkte er, dass sie noch immer glaubte, in Gefahr zu schweben, denn er streifte sich mit einer fließenden Handbewegung die Kapuze vom Kopf und enthüllte ein hübsches, freundlich anmutendes Gesicht. Ein paar schokoladenbraune Strähnen fielen hervor und rahmten das markante Gesicht mit den tiefbraunen Augen, einer ebenso markanten Nase, die wohl bereits das ein oder andere Mal gebrochen gewesen sein musste, und den schönsten Lippen, die Lou je an einem Mann aus nächste Nähe betrachtet hatte. Er war so gar nicht das, was sie der Geräuschkulisse nach erwartet hatte. Kein bulliger, bärtiger Schlächter mit einer Axt. Er war von drahtiger Statur und hochgewachsen und bei den Damen gewiss sehr beliebt.
„Geht es Euch gut?“, versuchte er es erneut und lächelte weiter. Er betrachtete suchend jeden Winkel ihres Gesichts.
„Ich... was ist... geschehen?“
Louanne legte die Hand an ihre schweißnasse Stirn. Langsam kam sie zur Besinnung und blinzelte ein paar Mal. Dann versuchte sie an dem jungen Mann vorbei und in die Gasse zu sehen, doch der legte auch die andere Hand an ihre Schultern und versperrte ihr den Anblick. Sie schluckte.
„Ihr seid in Sicherheit. Keine Sorge. Ich werde Euch nichts tun.“
Sie wusste nicht, weshalb, aber sie hatte ihm das geglaubt, einem vollkommen Fremden, obwohl zwei vollkommen Fremde sie ein paar Sekunden zuvor noch misshandeln wollten.
„Mademoiselle, wenn Ihr nichts dagegen habt, sollten wir vielleicht gehen.“
Aber noch bevor Louanne einen Schritt vor den anderen setzen konnte, gaben ihre Beine nach, vor ihren Augen wurde es schwarz und sie sank in die Arme ihres Retters.
Das war der Tag, an dem sie Arno begegnete, der Tag, an dem ihr Leben ein bisschen schöner, ein bisschen weniger einsam wurde, zumindest für eine Zeit. Es war der Beginn einer innigen Vertrautheit, die über die letzten Monate wuchs und wuchs. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie seine einzige Freundin war, da er ihr trotz seines geschäftigen Lebens doch recht viel Zeit widmete. Lou hatte längst eingesehen, dass sie Arno schon am Tag ihrer Begegnung hoffnungslos verfallen war. Und jede ihrer Begegnungen machte es ihr umso deutlicher. Sie war sich ziemlich sicher, dass er um ihre Gefühle wusste. Oder vielleicht auch nicht. Aber ihr war auch klar, dass sie für ihn nie mehr als eine Schwesterfigur sein würde. Arno liebte eine Frau namens Élise. Oder hatte sie geliebt. Sie war vor drei Tagen gestorben und seitdem machte sich Louanne jeden Tag um sieben Uhr mit etwas zu Essen auf den Weg ins Café Théâtre, um Arno zu besuchen. Um es milde auszudrücken: er war am Boden zerstört. Er hatte in den letzten Tagen keine drei Sätze mit ihr gesprochen. Sie hatte ihm nur das Essen vorgesetzt, zugesehen, dass er neben flaschenweise Wein auch etwas Essbares zu sich nahm und hatte sich dann zu ihm an den Ofen gesetzt, um etwas zu lesen.
Als sie an diesem Tag die Tür zu Arnos Räumlichkeiten öffnete, peitschte ihr sogleich ein unangenehmer Geruch entgegen. Es roch nach verbrauchter Luft, Alkohol und gammeligem Käse. Lou rümpfte die Nase und erkannte die Überreste des mitgebrachten Risottos vom Vortag. Natürlich hatte er nicht noch etwas gegessen, so wie sie ihn kurz vor ihrem Abschied gebeten hatte. Er saß in seinem großen Ohrensessel am Ofen und starrte ins Feuer, genau wie an den Tagen zuvor. Er wirkte blass und gequält und sie bemühte sich, ihn nicht allzu sorgenvoll zu mustern.
„Bonsoir Arno.“, grüßte sie leise und stellte ihren Korb auf dem Tisch ab. Es folgte keine Antwort, doch das hätte sie auch sehr gewundert. Sie zog sich das gelbe Tuch von den Schultern und legte es über die Lehne eines Palisanderholzstuhls. Dann schritt sie auf die Balkonfenster zu und öffnete die Vorhänge und die Flügeltüren, um etwas Licht und frische Luft in den Raum zu lassen.
Hinter sich vernahm sie einen leisen, missbilligenden Zischlaut. Sie wandte sich an Arno, der den Ellbogen auf die Lehne aufgestützt und die Hand zur Faust geballt hatte.
„Ich habe dir etwas Suppe mitgebracht.“, sagte Louanne, bemüht über seine genervte Geste hinwegzusehen. Sie ging zurück zu ihrem Korb und füllte ihm eine große Kelle des dampfenden Eintopfs in eine mitgebrachte Schüssel, zog noch einen Löffel hervor und näherte sich ihm vorsichtig. Als sie den Sessel umrundet hatte, konnte sie ihren besorgten Blick nicht mehr verbergen. Er sah furchtbar aus. Blass, grimmig, wie ein Mensch, der alle Hoffnung hatte fahren lassen. Sein Haar fiel strähnig über seine Schultern und ein ungepflegter, vier Tage alter Bart sprießte um Kiefer, Mund und Wangen. Auch roch er fürchterlich nach Alkohol und Schweiß.
Erst, als sie sich vor ihn hockte, konnte sie seinen Blick endlich auffangen. Man möchte meinen, ein freundliches Gesicht hätte seine Laune zumindest etwas aufhellen können. Doch dem war nicht so. Stattdessen atmete er genervt aus und ließ den Kopf gegen die Lehne fallen.
„Hier.“, sagte Lou und reichte ihm die halbvolle, dampfende Schüssel. Arno sah nur missbilligend darauf hinab, dann in das hoffnungsvolle Gesicht seiner Besucherin.
„Es ist Bouillabaisse. Die magst du doch.“, versuchte sie es erneut geduldig und freundlich wie immer und hielt es ihm noch ein Stück näher entgegen. Arnos Blick blieb abschätzig, doch er schickte sich nicht einmal zu einer ablehnenden Handbewegung an. Davon ließ sich Lou aber nicht entmutigen und stellte die Schüssel auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel ab. Vielleicht würde er ja später etwas essen.
Seufzend erhob sie sich wieder und räumte zumindest das schmutzige Geschirr und die leeren Weinflaschen zusammen, bevor sie alles auf den Flur vor die Zimmertür stellte, damit es ein Hausmädchen entsorgen konnte. Dann stellte sie sich vor das vollgestopfte Bücherregal und suchte nach dem Buch, welches sie gestern dorthin zurückgestellt hatte. Arno hatte ihr in den letzten Monaten, die so glücklich und sorglos für sie gewesen waren, das Lesen beigebracht. Sie war natürlich noch recht langsam darin, doch seither konnte sie nicht mehr damit aufhören.
„Geh nach Hause.“, hörte sie eine düstere, raue Stimme hinter sich räuspern, gerade, als sie die Hand nach dem abgegriffenen Einband von Le Jeu de l’amour et du hasard ausgestreckt hatte. Sie hielt inne und kniff kurz die Augen zusammen. Er war so herzlich mit ihr umgegangen, seit sie sich begegnet waren. In den letzten Tagen aber hatte sie ihn derart verbittert kennengelernt, dass sie manchmal das Gefühl hatte, einem vollkommen Fremden Gesellschaft zu leisten.
Das ist nicht er, dachte sie, Aus ihm spricht die Trauer.
Sie zog das Buch hervor und drückte es an ihre Brust, bevor sie sich ihm wieder näherte und sich wortlos vor dem Ofen und neben seinem Sessel auf dem ausgetretenen Teppich niederließ, um es sich bequem zu machen. Sie schenkte seiner düsteren Bitte keine Beachtung, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Natürlich spürte sie den starren, grimmigen Blick Arnos auf sich ruhen, doch sie versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren. Louanne wusste, dass er nicht wirklich allein sein wollte. Er war einfach ein eitler Mann. Er schämte sich dafür, was die Trauer aus ihm machte. Und er wollte sich weiter in seinem Elend suhlen. Dazu war die sanftmütige junge Frau mit ihrem geblümten, himmelblauen Kleid und den fließenden haselnussbraunen Locken ein schmerzhafter Kontrast. Sie war so unschuldig und das war etwas, das Arno nach den jüngsten Ereignissen nur schwer ertragen konnte. Auch wenn ein bisschen Fürsorge und Unschuld genau das war, was er dieser Tage eigentlich am nötigsten hatte.
Louanne wollte gerade ihre fünfte Seite umblättern, als sie sich zu einem kurzen Seitenblick hinreißen ließ. Und der Anblick ließ ihr Herz beinahe zerspringen. Arno starrte noch immer ins Feuer, die Faust gegen die Lippen gepresst. Lautlose Tränen liefen in kleinen Rinnsalen über seine stoppeligen Wangen, eine Miene verzog er aber nicht. Lou schluckte und klappte das Buch zusammen, um es sofort wegzulegen. Sie erhob sich langsam von ihrem Platz auf dem Boden und stand dann hilflos vor Arno, dem sie nun die Sicht auf das Feuer versperrte. Einige endlose Sekunden vergingen, in denen sie nicht wusste, was sie tun Oder sagen sollte. Doch dann blickte er plötzlich in ihr Gesicht auf, die Augen voller Trauer, und streckte die Hand nach ihr aus.
Ohne zu zögern reichte sie ihm die ihre und er zog sie zu sich heran. Sie landete unbeholfen auf seinem Schoß und hatte Angst, ihm dabei wehgetan zu haben, doch Arno drückte sie einfach an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Und dann weinte er.
Lou hatte noch nie einen Mann weinen sehen. Doch sie fand es keinesfalls befremdlich und schon gar nicht unangebracht. Arno konnte es mit beiden Armen auf dem Rücken mit einem dutzend Männer aufnehmen. Doch er hatte einen geliebten Menschen verloren, DEN geliebten Menschen. Er sollte ruhig weinen, bis alle Tränen vergossen waren. Und Lou würde für ihn da sein, jedes abschätzige Wort ertragen, bis es ihm besser ging.
Sie wusste nicht wie lange, doch es musste mindestens eine Stunde gewesen sein, dass sie so dort saßen. Es gelang ihr zwischendurch, eine bequemere Sitzposition auf seinem Schoß einzunehmen. Auch sie schlang einen Arm um seinen Hals, mit der anderen Hand streichelte sie sein Haar und seine Wange, während er in ihrer Halsbeuge immer und immer mehr Tränen vergoss. Es verging eine weitere Stunde und Arnos eiserner Griff um ihre Mitte lockerte sich nicht. Doch zumindest bebten seine Schultern nicht mehr und auch fühlte sich ihre Halsbeuge etwas trockener an. Sie streichelte ihm weiter durchs Haar und bemerkte seinen regelmäßigen Atem. Er musste wohl eingeschlafen sein. Und sie würde den Teufel tun und ihn wecken. Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, war das der erste Schlaf, zu dem er seit Tagen fand.
Lou versuchte sich zu entspannen, doch sie machte kein Auge zu. Sie war hellwach. Er war ihr so nahe. Und er hatte sich ihr gegenüber so verletzt gezeigt, dass ihr ganz schwindelig vor Stolz war. Dieser Mann, dieser Assassine, der binnen einer Sekunde tötete, ohne mit der Wimper zu zucken, suchte in ihren Armen Trost. Ganz Recht, Lou wusste Bescheid über Arnos Berufung, seine Motive. Sie wusste alles. Manchmal glaubte sie, er wusste selbst nicht, weshalb er einem jungen, naiven Ding wie ihr so viel über sich selbst verriet. Auf der anderen Seite, wem konnte sie schon gefährlich werden? Sie war ein Niemand. Und niemand würde ihr glauben. Doch ganz gleich, was ihn dazu bewogen hatte, sie in sein Leben zu lassen und ihr sein Vertrauen zu schenken, sie würde dieses Geschenk hüten, wie einen Schatz.
Es war Stunden später. Lous Kopf war schwer geworden und sie hatte ihn gegen die hohe Seitenlehne des Ohrensessels gelehnt, als sie spürte, wie Arnos Wimpern ihren Hals streiften. Sie strich ihm wieder durchs Haar und lächelte. Er sollte möglichst sanft aufwachen, bevor ihn die Realität wieder einholte. Er atmete tief ein und seufzte und für einen ganz kleinen Moment erhielt Lou eine Kostprobe davon, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn er tatsächlich eines Tages ihre Gefühle erwidern würde.
„Élise...“, seufzte er dann plötzlich zufrieden und straffte den Griff um ihre Taille. Louanne erstarrte. Das hatte sie nicht kommen sehen und es traf sie wie ein Dolchstoß mitten ins Herz. Er schlief wohl noch immer und würde sich später nicht daran erinnern können... so hoffte sie zumindest. Sie wollte ihm und sich selbst die Peinlichkeit doch gern ersparen.
Und auch wenn es schmerzte, sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Natürlich träumte er von ihr. Lou hatte zwar nicht erwartet, dass jemals ihr Name mit einer solchen Zufriedenheit über seine Lippen kommen würde. Dennoch riss ihr dieses eine Wort das Herz aus der Brust.
Es vergingen ein paar weitere Minuten, in denen Lou erfolgreich ihre Tränen zurückdrängen konnte. Dann regte er sich und gab ein undefinierbares Raunen von sich. Und einen Augenblick später hob er tatsächlich langsam den Kopf. Es war ein Moment, der Lou das Blut in den Adern gefrieren ließ, als Arnos Gesicht nur wenige Zentimeter vor ihrem eigenen innehielt und sie stoisch anblickte. Noch immer ruhte ihre eine Hand in seinem Nacken und die andere auf seinem Hinterkopf. Sie schluckte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Emotionslos starrte er in ihre Augen, während sie im Gegensatz dazu hoffte, ihre Scham möge ihr nicht rot übers Gesicht kriechen. Ein paar endlose Sekunden später ertrug Lou die Spannung nicht mehr. Sie legte den Kopf schief und lächelte vorsichtig.
„Wie geht es dir jetzt?“, wisperte sie vorsichtig und bereute es im nächsten Moment bereits. Sie konnte förmlich sehen, wie seine sonst so warmen braunen Augen kalt wie Eis wurden. Der Druck um ihre Taille verschwand und er benutzte seine Hände stattdessen dafür, sie sanft aber bestimmt von sich zu schieben, sodass sie gar keine andere Wahl hatte, als vom Sessel aufzustehen.
„Ich möchte, dass du aufhörst mich zu besuchen.“, sagte er heiser und hätte er ihr dabei nicht fest entschlossen und streng in die Augen gesehen, hätte sie ihm nicht geglaubt. Lous Hände bebten. Sie brauchte ein paar Sekunden, um den Inhalt seiner Worte zu begreifen und blinzelte auf ihn hinab. Er warf den Kopf gegen die Lehne, legte die Arme auf den Seitenlehnen ab und schloss dann die Augen – wahrscheinlich um ihren Anblick nicht länger ertragen zu müssen, so dachte sie.
Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, als sie sich nach dem Buch bückte und es fest an ihre Brust drückte.
Nach einem weiteren Moment des Zögerns ging sie an ihm vorbei, stellte das Buch zurück ins Regal, schnappte sich im Vorbeigehen ihr Tuch von der Stuhllehne und auch ihren Korb und verließ ohne ein weiteres Wort das Café Théâtre. Draußen hatte es gerade aufgehört zu regnen, doch auch so würde niemand Lous Tränen bemerken, denn es war mittlerweile dunkle Nacht. Aber das ängstigte sie nicht. In ihr war gerade kein Platz für Angst, nur für Tränen. Und heute fühlte sie sich mehr denn je wie ein wertloses Mädchen aus der Unterschicht, obwohl sie sich in seiner Gegenwart noch nie so fühlen musste. Aber genau das war sie, auch wenn sie nun vielleicht lesen konnte.