Der Pilgerweg der Sieben
von Phantanielle
Kurzbeschreibung
Sansa Stark, hochbegabt, wohlbehütet und naiv, trifft zum ersten Mal in ihrem Leben eine ernstzunehmende Entscheidung aus dem Bauch heraus: Als ihre beste Freundin Jeyne verunglückt und nicht mit ihr in Urlaub fahren kann, beschließt das götterfürchtige Mädchen, sich ganz allein auf den 1000 Meilen langen Fernwanderweg von Schnellwasser nach Altsass zu begeben – obwohl sie noch minderjährig ist. Kaum losgepilgert, beginnen die Probleme. Schlechte Kondition, zu viel überflüssiges Gepäck, Blasen an den Füßen und seltsame Mitpilger machen ihr das Leben schwer. Und je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, sich nicht gegenüber anderen oder ihren Eltern zu verraten, zumal die unschickliche und aussichtslose (?) erste Liebe zu einem für eine Lady unangemessenen Mann ihr ganz gehörig den Kopf verdreht … Modernes Coming-of-Age-Drama, Sansa plus wechselnde GoT-(Neben)figuren.
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Het
Catelyn "Cat" Stark
Eddard "Ned" Stark
Jeyne Poole
Sandor "Der Hund" Clegane
Sansa Stark
Tyrion Lannister
30.06.2019
24.07.2021
217
876.843
51
Alle Kapitel
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01.07.2019
2.782
Jeynes Garantie war in der lauen Frühlingsluft zerplatzt wie eine Seifenblase und nun stand ich ganz allein da. Das würde wohl bedeuten, dass ich zu Anfang dieses Sommers – denn es war nur eine Frage der Zeit, wann der Sommer Einzug halten würde, dafür brauchten wir hier oben keinen Wetterbericht aus Altsass – mehrere Wochen im Hotel meiner Eltern an der Rezeption arbeiten würde. Das tat ich schon seit zwei Jahren ab und zu an den Wochenenden und es war eigentlich kein schlechter Job. Dabei wurde auf Höflichkeit und Effizienz Wert gelegt und ich besaß beides, dazu ein recht ansprechendes Äußeres, wie mir schon einige Hotelgäste – zumeist Männer – bescheinigt hatten. Doch zwei Monate nur Zimmer buchen, Schlüssel aushändigen, Wegbeschreibungen geben und telefonieren, das war nun echt total öde. Jeder, der die Mittelschule oder die Oberstufe abgeschlossen hatte und entweder studieren ging oder einen anderen Bildungsweg einschlug, machte erstmal eine Reise zwischen diesen beiden Meilensteinen seines Lebens. Das war in ganz Westeros ein ungeschriebenes Gesetz. Doch für mich würde es jetzt keine Reise mehr geben, da ich minderjährig war und mich meine Eltern auch mit einer Jugendgruppe nicht fortlassen würden, wenn Jeyne – der sie vertrauten, obwohl diese keinesfalls so unschuldig war wie sie aussah – nicht mit von der Partie war.
Meine Mutter versuchte mich zu trösten, trotzdem merkte ich deutlich, wie erleichtert sie im Grunde war, hatte sie doch schon vorab alle möglichen Horrorszenarien heraufbeschworen, die uns auf unserem Weg widerfahren könnten. Schwere Stürme begleitet von Gewittern, wunde Füße, Orientierungslosigkeit und Taschendiebe, um nur einige davon zu nennen. Von Exhibitionisten und Vergewaltigern gar nicht zu reden, die ihrer Meinung nach hinter jedem zweiten Busch lauern konnten.
Ich redete nicht viel, ich war viel zu erschüttert und enttäuscht, dass sich unsere Pläne so mir nichts, dir nichts zerschlagen hatten. Jeyne tat mir irrsinnig leid, doch ich mir selbst noch viel mehr, muss ich zugeben. Natürlich drückte ich meiner Freundin die Daumen, dass sie ihr Sportstudium trotz ihrer Verletzungen in zwei Monaten würde antreten können, schließlich wusste man nie genau, was so ein ernstzunehmender Unfall bei einem anrichten konnte und ob nicht eventuell noch Folgeschäden zurückblieben. Ich war fest entschlossen: Früh am Morgen des nächsten Tages würde ich als allererstes zu Jeyne ins Krankenhaus fahren und hoffen, dass man mich auch zu ihr ließ.
Den Rest des Abends verbrachte ich grübelnd auf dem Sofa am Kamin in unserem Wohnzimmer, da meine Eltern es nicht akzeptieren konnten, dass ich mich in meinem Zimmer einschloss und vor mich hin schmollte. Mutter verwöhnte mich mit heißer Schokolade und Keksen, sogar ein Zitronentörtchen zauberte sie hervor, doch ich brachte kaum etwas davon hinunter. Ich hielt meinen Pilgerpass in Händen, strich immer wieder mit den Fingerspitzen leicht über all die leeren Seiten, die sich ab dem nächsten Tag mit Stempeln der jeweiligen Herbergen hätten füllen sollen. Es war kein großes Problem gewesen, an einen von ihnen zu kommen, obwohl weder Jeyne noch ich im Glauben an die Sieben erzogen worden waren. Für die Generationen vor uns hatte das bei der Pilgerschaft noch eine wesentliche Rolle gespielt, heute war dem jedoch nicht mehr so. Die Wenigsten, so hatte ich im Internet erfahren, gingen den Weg der Sieben noch aus religiösen Gründen. Er war sowohl in spiritueller Hinsicht als auch landschaftlich gesehen höchst reizvoll, es gab hunderte von kleinen und großen, teils Jahrhunderte alten Septen zu besichtigen. So etwas interessierte mich, im Gegensatz zu Jeyne, sehr. Ich konnte stundenlang auf Fresken starren, die Stille einer winzigen, aus Stein errichteten Septe genießen sowie die Art und Weise, wie das Sonnenlicht in einem bestimmten Winkel auf einen Altar oder eine Statue der Mutter fiel, genauso wie ich Stille oder den Wind in den Blättern eines Wehrbaumes in einem Götterhain genießen konnte. Ich liebte die Götter der westlichen Welt, egal welche. Für mich waren alle einer, und einer alle, alle waren sie miteinander zu einem großen Ganzen verbunden, von Anbeginn der Welt an. Jeyne hingegen war eher an der sportlichen Seite des ganzen Unterfangens interessiert. Am Ende des Weges wartete das sogenannte „Zeugnis der Sieben“ auf einen, eine Art Urkunde, die dem jeweiligen Pilger seine Mühen und Strapazen bescheinigte. Jeder, der die letzten hundert Meilen des Weges mit Stempeln in seinem Pilgerpass belegen konnte, bekam sein Zeugnis. Man hatte dadurch sogar Vorteile bei Bewerbungen und generell bei der Berufswahl, zumindest im sozialen Sektor, auch deswegen war meine Freundin so erpicht auf ihr Zeugnis. Mir war das alles ziemlich schnuppe, ich wollte einfach nur endlich dem goldenen Käfig meines Elternhauses entfliehen. Mein Name würde mir in der Arbeitswelt so manche Tür öffnen, das war mir klar. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, ärgerte mich das sogar, denn ich wusste, dass ich nicht nur einen großen Namen hatte, sondern auch außergewöhnlich klug war. Gerüchte, dass man eine bestimmte Position nur Vitamin B zu verdanken hatte, war in meinen Augen fast so schlimm wie die, nach denen sich eine Frau „hochgeschlafen“ hatte. Ich wollte nicht bevorzugt werden, weil der Name meines Vaters halb Westeros ein Begriff war, nein, ich wollte beweisen, was ich draufhatte. Aber noch war das alles Zukunftsmusik. Lange davor noch hatte ich mich auf andere Art beweisen wollen: indem ich den Weg der Sieben beschritt und bis zum Ende durchhielt. Und jetzt diese herbe Enttäuschung!
Als ich meine und Jeynes Pläne vor einigen Wochen zum ersten Mal am Abendbrottisch erwähnte, hatte mein Vater erstaunt eine Augenbraue hochgezogen. „Der Weg der Sieben?“, hatte er abwesend gemurmelt und die Fingerspitzen beider Hände zusammengelegt, wie er es oft tat. „Ich habe schon davon gehört. Es überrascht mich allerdings, dass ausgerechnet du dich dafür interessierst, Sansa.“
„Warum überrascht dich das?“, hatte ich zwischen zwei Gabeln vegetarischen Auflaufs, den ich zusammen mit meiner Mutter gekocht hatte, hervorgebracht.
Mein Vater hatte mich lange und intensiv angeblickt. „Soviel ich weiß, stellt dieser Weg große Herausforderungen an den, der ihn geht“, sagte er gedehnt. „Wir leben hier in einem Paradies für Wanderer, die Saison hat gerade erst wieder begonnen. Aber du bist nie besonders gern gewandert, Sansa. Es war dir immer zu anstrengend und wenn du deine Notdurft verrichten musstest, hast du dich jedes Mal ziemlich angestellt, bevor du bereit warst, dich hinter einen Busch zurückzuziehen. Du trägst nicht gern Hosen und klobige Stiefel, schwitzt nicht gern, hast Angst vor der Dunkelheit … Warum bei allen Göttern möchtest du diesen Weg unbedingt gehen?“
Ich war bass erstaunt gewesen. Jedoch hatte er recht damit, dass ich lieber lange Kleider als Hosen trug, auch im Winter, und ich liebte Schuhe mit hohen Absätzen, die meine ohnehin schon ziemlich langen Beine noch länger erscheinen ließen. Meine alten Wanderschuhe hatte ich abgesehen davon schon immer als hässlich und unweiblich empfunden.
„Er … er soll ganz schön sein“, hatte ich mich verteidigt. „Er führt bis hinauf in die Altstadt von Casterlystein, und außerdem durch das wunderschöne Rosengarten. Und die Sternensepte von Altsass, die soll einfach …“
Er hatte mich unterbrochen, was er nicht oft tat. „Natürlich sind die Orte, durch die der Weg führt, sehr schön. Diese jahrhundertealten Kulturstätten sind in der heutigen Zeit kleine Juwelen, das ist bekannt ...“
„Ist bekannt!“, echoten Arya, Bran und Rickon unisono von ihren Plätzen, was meine jüngeren Geschwister allesamt zum Kichern brachte. Das taten sie ständig in letzter Zeit, ich fand es schon lange nicht mehr witzig und runzelte bloß die Stirn.
„Das Problem dabei ist, dass zwischen diesen Städten teilweise lange Wegstrecken liegen“, fuhr Vater fort. „Es wird nicht ausschließlich sonnig und von den Temperaturen her angenehm sein. Es kann regnen, stürmen, kalt werden, sogar schneien, auch südlich von hier. Oder das genaue Gegenteil.“
„Jeyne und ich haben alle Eventualitäten eruiert“, hatte ich ein wenig hochnäsig erklärt, was Arya abermals zum Kichern brachte.
„Ja, klar“, gluckste meine jüngere Schwester, „ihr habt nur vergessen, dass ihr zwischenzeitlich … ein wenig laufen müsst.“
Wütend hatte ich mich ihr zugewandt. „Blödsinn. Wir haben alles hinreichend überprüft und sind dementsprechend vorbereitet. Gutes Schuhwerk, ein Regenschutz, ein passender Rucksack …“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Alle paar Meilen gibt es eine Herberge und die meisten davon sind spottbillig. Außerdem bin ich nicht unerfahren, was das Wandern angeht.“ Ich sah wieder zu meinem Vater, der sich bedächtig eine Gabel voll Auflauf in den Mund schob und dabei wissend nickte.
„Das ist wohl wahr“, ließ der sich vernehmen. „Nur, dass du es eigentlich stets gehasst hast.“
Dann hatte Bran damit begonnen, sich lachend auf die Schenkel zu schlagen; Kartoffelstücke waren aus seinem Mund geflogen, was Rickon von neuem zum Kichern brachte.
„Ich habe es nicht gehasst!“, begehrte ich wütend auf. „Ich wollte nur nicht immer mit der ganzen Familie unterwegs sein. Das war sterbenslangweilig! Mit Jeyne wird das alles ganz anders werden!“
Auch meine Mutter, die gerade mit einer Flasche Wein aus der Küche gekommen war, hatte mich prüfend angeblickt. „Bist du dir ganz sicher, dass du dir da nichts vormachst, Schatz? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob Ned und ich dir das erlauben sollen. Es … es passt nicht so recht zu dir.“
„Jeyne ist ne richtige Sportskanone“, mümmelte Arya mit vollem Mund. „Glaubst du, sie zieht dich mit, wenn du am Ende des Tages nicht mehr kannst, es aber noch fünf Meilen bis zur nächsten Herberge sind?“
Arya war erst dreizehn, aber ihre altkluge Art ging mir gerade jetzt mal wieder höllisch auf die Nerven. „Natürlich wird sie das, sie ist schließlich meine beste Freundin“, ätzte ich. „Du weißt ja noch nicht mal, was das ist, Freundschaft, weil du so seltsam bist, dass keiner was mit dir …“
„Das reicht jetzt, Sansa.“ Meine Mutter hatte die Stimme erhoben. „Was ist nur mit dir los? Und übrigens finde ich, dass Arya gar nicht so unrecht hat. Du kannst dich nicht immer nur auf Jeyne verlassen. Wenn sie ein anderes Schritttempo hat als du, könntet ihr Probleme beim gemeinsamen Laufen kriegen. Seid ihr überhaupt irgendwann schon einmal miteinander gewandert?“
Ich hatte geschwiegen. Danke, Arya. Eine Weile hatte niemand mehr etwas gesagt. Ich hatte die Zähne zusammengebissen und verärgert in meinem Rest Auflauf herumgestochert. Robb hätte mich in Schutz genommen und mich ermuntert, es einfach zu probieren, hatte ich verbittert gedacht. Aber er übernachtete wie so oft bei Talisa, die im Schwesternwohnheim von Ochsenfurt ein winziges Zimmer bewohnte.
„Seid ihr?“, hatte Bran insistiert.
„Das ist alles schon Jahre her“, meinte ich ungehalten, ohne auf meinen zweitjüngsten Bruder einzugehen. „Woher wollt ihr denn wissen, dass mir das Wandern jetzt nicht viel besser gefällt?“
Vater hatte nachdenklich den Kopf von einer Seite auf die andere gewiegt und Arya hatte mit vollen Backen genuschelt: „Ja, genau. Ist Jahre her. Meinst du nicht, es könnte etwas beschwerlich werden, wenn du so aus der Übung bist?“
„Man darf sich eben anfangs nicht übernehmen“, klärte ich meine Schwester von oben herab auf. „Nur wenige Meilen am Tag gehen, nicht zu viel im Rucksack haben, genügend Pausen machen. Wir haben echt schon viel recherchiert und die Idee gefällt uns beiden“, betonte ich, „immer besser.“
„Es sind ja noch ein paar Wochen bis Schulende“, hatte meine Mutter dann gesagt, als mein Vater nichts mehr zu dem Thema beizusteuern gedachte. „Ich persönlich halte eure Pläne ja für etwas gewagt. Sicher, viele junge und auch ältere, längst pensionierte Leute machen das heutzutage; das Pilgern ist ziemlich populär geworden. Dennoch habe ich den Eindruck, dass du den Umfang des ganzen Unterfangens ein wenig unterschätzt, Sansa.“
An diesem Punkt hatte es mir dann endgültig gereicht. Wütend hatte ich meine Serviette auf den Teller geworfen und war aus dem Esszimmer gestürmt. Diese Besserwisser! Ich war schließlich kein Stubenhocker! Ich ging regelmäßig mit Lady spazieren, tanzte leidenschaftlich gern und besuchte zwei bis dreimal die Woche ein Fitnesscenter in der Innenstadt, wo ich Schattenboxen, Yoga und Gymnastik praktizierte. Arya belächelte das alles. Sie betrieb seit ihrem sechsten Lebensjahr Kampfsport und war trotz ihrer geringen Größe ziemlich gut darin. So langsam verlor ich den Überblick über all die farbigen Gürtel und Grade, die sie bereits verliehen bekommen hatte. Bran ging mehrmals die Woche in die neue Kletterhalle, die man Ende letzten Jahres in einem der alten Viertel von Winterfell, das sich das Winterdorf nannte, in einem ehemaligen Industriegebäude eröffnet hatte. Im Gegensatz zu mir war mein zweitjüngster Bruder absolut schwindelfrei und konnte schneller und anmutiger klettern als eine Bergziege. Zumindest wieder, dachte ich mit einem Anflug von Dankbarkeit an die alten Götter des Waldes.
Vielleicht hatte ich mich gerade deswegen so auf den Weg der Sieben versteift, weil ihn mir anscheinend niemand so recht zutraute. Ich war wild endschlossen gewesen, es ihnen allen zu zeigen, meinen Eltern, Arya und auch Jon, der mich bei unserem letzten Telefonat regelrecht ausgelacht hatte: „Du und pilgern, Sansa? Willst du mich verarschen oder was?“, waren seine Worte gewesen, als ich ihm von meinem und Jeynes Vorhaben erzählt hatte. Fast hätte ich das Gespräch an dieser Stelle ganz unelegant beendet, doch ich wollte mich nicht vor meinem Stiefbruder lächerlich machen. „Ich weiß, du verehrst die Götter, Schwesterchen, egal ob es sich dabei um die alten Götter des Waldes oder die Sieben handelt. Heutzutage ist das ja nicht mehr wichtig. Aber zufällig verfüge ich über einige Infos aus erster Hand über diesen Weg. Oder besser aus zweiter. Ein paar von den Jungs hier sind ihn vor ein paar Jahren gelaufen. Nur ein einziger hat die ganzen tausend Meilen geschafft und er hat dafür weit länger gebraucht als nur sieben Wochen. Der Rest der Typen ist mit Blasen an den Füßen, Sehnenentzündungen und kaputten Knien reumütig heimgekehrt. Ich wette, du fällst schon in Ohnmacht, wenn du nur eine fette Blase an deinem zarten kleinen Zeh siehst“, lachte Jon gutmütig. „Warum schleifst du Jeyne nicht in den nächsten Flieger und jettest mit ihr runter nach Dorne? Das ist es anscheinend, wo neuerdings die Party abgeht. In den Wassergärten veranstalten sie Schaumpartys. Hab ich mir zumindest sagen lassen.“
„Das habe ich ja versucht“, hatte ich säuerlich geantwortet. „Aber dafür hat Jeyne kein Geld. Sie muss für ihr Studium sparen. Königsmund ist ein sündhaft teures Pflaster.“
„Ich dachte, sie wohnt bei dir“, kam es durch die Leitung.
„Das tut sie auch“, räumte ich ein, „aber ich kann sie nicht die ganze Zeit aushalten und Jeyne würde es auch gar nicht wollen, wie die Made im Speck auf meine Kosten zu leben. Ich sollte mir vielleicht auch einen Nebenjob suchen, wenn ich unten in der Hauptstadt bin. Irgendwie habe ich ständig ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber…“
„Weil unser Vater ein Lord ist?“, gab Jon zurück. „Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst. Mir gefällt es an der Mauer auch gerade deshalb so gut, weil ich hier keinen Sonderstatus hab. Sie wissen alle, wer mein Ziehvater ist und dass ich auch mit Benjen verwandt bin. Anfangs hab ich jede Menge Prügel deswegen bezogen. Jetzt ist es den meisten egal und nur die Neuen stoßen sich noch dran.“
Was er damit meinte, konnte ich voll und ganz nachvollziehen. Ich hatte sogar in Betracht gezogen, in meinem Pilgerausweis, den ich anonym übers Internet bestellt hatte, falsche Angaben zu machen. Hätte ich ihn beim BAS, dem Bund aller Septen in Altsass bestellt, würde jetzt dick und fett „Sansa Stark von Winterfell“ darinstehen. Mein Familienname war jedoch in ganz Westeros bekannt und auch mein Vorname war nicht besonders geläufig. Wenn ich irgendwo außerhalb des Nordens meinen Ausweis vorlegte, wurde ich oft als die Tochter von Lord Eddard Stark von Winterfell erkannt, was mich sowohl verlegen machte als auch ärgerte. Zumal ich feststellte, dass manche Leute mich daraufhin anders behandelten. Manche zogen die Brauen hoch, musterten mich von Kopf bis Fuß und kehrten mir anschließend den Rücken zu – meist Frauen oder Mädchen meines Alters –, andere wiederum bekamen große Augen und versuchten, mich in ein Gespräch zu verwickeln – Männer –, und Vertreter beiderlei Geschlechts hatten schon versucht, aus meiner Herkunft Kapital zu schlagen. Ja, mein Vater war ein Lord; ja, ich war von altem Adel und lebte auf einer Burg; ja, meine Familie war wohlhabend und hatte nicht wenig Einfluss in den Sieben Königslanden. Ja, ja und nochmals ja. Ich würde während meines Studiums nicht arbeiten müssen, aber mein Vater hatte mir auch klargemacht, dass er mich nicht Golddrachen überschütten würde.
Noch war mein Pilgerausweis also genauso jungfräulich wie ich; kein Stempel, kein Startdatum, praktisch nichts stand darin eingetragen. Ich hätte ihn einfach noch ein Jahr lang aufbewahren und den Weg mit Jeyne in den nächsten Semesterferien gehen können. Doch die würde dann sicher arbeiten wollen beziehungsweise müssen. Ich fluchte innerlich. Der jetzige Zeitpunkt war perfekt gewählt gewesen. Ich wollte jetzt von hier weg und ab in die Freiheit! Wollte all die altertümlichen Septen, Klöster, Burgen und die interessanten kunsthistorischen Museen in Casterlystein und Altsass jetzt besuchen und hoffen, dass sie mich für mein Studium inspirierten. Spaß mit Jeyne haben. Gleichaltrige Jungs kennen lernen und vielleicht mal mit ihnen tanzen gehen. Jaja, und natürlich auch ein bisschen wandern. Ach, verflucht noch mal!
Meine Mutter versuchte mich zu trösten, trotzdem merkte ich deutlich, wie erleichtert sie im Grunde war, hatte sie doch schon vorab alle möglichen Horrorszenarien heraufbeschworen, die uns auf unserem Weg widerfahren könnten. Schwere Stürme begleitet von Gewittern, wunde Füße, Orientierungslosigkeit und Taschendiebe, um nur einige davon zu nennen. Von Exhibitionisten und Vergewaltigern gar nicht zu reden, die ihrer Meinung nach hinter jedem zweiten Busch lauern konnten.
Ich redete nicht viel, ich war viel zu erschüttert und enttäuscht, dass sich unsere Pläne so mir nichts, dir nichts zerschlagen hatten. Jeyne tat mir irrsinnig leid, doch ich mir selbst noch viel mehr, muss ich zugeben. Natürlich drückte ich meiner Freundin die Daumen, dass sie ihr Sportstudium trotz ihrer Verletzungen in zwei Monaten würde antreten können, schließlich wusste man nie genau, was so ein ernstzunehmender Unfall bei einem anrichten konnte und ob nicht eventuell noch Folgeschäden zurückblieben. Ich war fest entschlossen: Früh am Morgen des nächsten Tages würde ich als allererstes zu Jeyne ins Krankenhaus fahren und hoffen, dass man mich auch zu ihr ließ.
Den Rest des Abends verbrachte ich grübelnd auf dem Sofa am Kamin in unserem Wohnzimmer, da meine Eltern es nicht akzeptieren konnten, dass ich mich in meinem Zimmer einschloss und vor mich hin schmollte. Mutter verwöhnte mich mit heißer Schokolade und Keksen, sogar ein Zitronentörtchen zauberte sie hervor, doch ich brachte kaum etwas davon hinunter. Ich hielt meinen Pilgerpass in Händen, strich immer wieder mit den Fingerspitzen leicht über all die leeren Seiten, die sich ab dem nächsten Tag mit Stempeln der jeweiligen Herbergen hätten füllen sollen. Es war kein großes Problem gewesen, an einen von ihnen zu kommen, obwohl weder Jeyne noch ich im Glauben an die Sieben erzogen worden waren. Für die Generationen vor uns hatte das bei der Pilgerschaft noch eine wesentliche Rolle gespielt, heute war dem jedoch nicht mehr so. Die Wenigsten, so hatte ich im Internet erfahren, gingen den Weg der Sieben noch aus religiösen Gründen. Er war sowohl in spiritueller Hinsicht als auch landschaftlich gesehen höchst reizvoll, es gab hunderte von kleinen und großen, teils Jahrhunderte alten Septen zu besichtigen. So etwas interessierte mich, im Gegensatz zu Jeyne, sehr. Ich konnte stundenlang auf Fresken starren, die Stille einer winzigen, aus Stein errichteten Septe genießen sowie die Art und Weise, wie das Sonnenlicht in einem bestimmten Winkel auf einen Altar oder eine Statue der Mutter fiel, genauso wie ich Stille oder den Wind in den Blättern eines Wehrbaumes in einem Götterhain genießen konnte. Ich liebte die Götter der westlichen Welt, egal welche. Für mich waren alle einer, und einer alle, alle waren sie miteinander zu einem großen Ganzen verbunden, von Anbeginn der Welt an. Jeyne hingegen war eher an der sportlichen Seite des ganzen Unterfangens interessiert. Am Ende des Weges wartete das sogenannte „Zeugnis der Sieben“ auf einen, eine Art Urkunde, die dem jeweiligen Pilger seine Mühen und Strapazen bescheinigte. Jeder, der die letzten hundert Meilen des Weges mit Stempeln in seinem Pilgerpass belegen konnte, bekam sein Zeugnis. Man hatte dadurch sogar Vorteile bei Bewerbungen und generell bei der Berufswahl, zumindest im sozialen Sektor, auch deswegen war meine Freundin so erpicht auf ihr Zeugnis. Mir war das alles ziemlich schnuppe, ich wollte einfach nur endlich dem goldenen Käfig meines Elternhauses entfliehen. Mein Name würde mir in der Arbeitswelt so manche Tür öffnen, das war mir klar. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, ärgerte mich das sogar, denn ich wusste, dass ich nicht nur einen großen Namen hatte, sondern auch außergewöhnlich klug war. Gerüchte, dass man eine bestimmte Position nur Vitamin B zu verdanken hatte, war in meinen Augen fast so schlimm wie die, nach denen sich eine Frau „hochgeschlafen“ hatte. Ich wollte nicht bevorzugt werden, weil der Name meines Vaters halb Westeros ein Begriff war, nein, ich wollte beweisen, was ich draufhatte. Aber noch war das alles Zukunftsmusik. Lange davor noch hatte ich mich auf andere Art beweisen wollen: indem ich den Weg der Sieben beschritt und bis zum Ende durchhielt. Und jetzt diese herbe Enttäuschung!
Als ich meine und Jeynes Pläne vor einigen Wochen zum ersten Mal am Abendbrottisch erwähnte, hatte mein Vater erstaunt eine Augenbraue hochgezogen. „Der Weg der Sieben?“, hatte er abwesend gemurmelt und die Fingerspitzen beider Hände zusammengelegt, wie er es oft tat. „Ich habe schon davon gehört. Es überrascht mich allerdings, dass ausgerechnet du dich dafür interessierst, Sansa.“
„Warum überrascht dich das?“, hatte ich zwischen zwei Gabeln vegetarischen Auflaufs, den ich zusammen mit meiner Mutter gekocht hatte, hervorgebracht.
Mein Vater hatte mich lange und intensiv angeblickt. „Soviel ich weiß, stellt dieser Weg große Herausforderungen an den, der ihn geht“, sagte er gedehnt. „Wir leben hier in einem Paradies für Wanderer, die Saison hat gerade erst wieder begonnen. Aber du bist nie besonders gern gewandert, Sansa. Es war dir immer zu anstrengend und wenn du deine Notdurft verrichten musstest, hast du dich jedes Mal ziemlich angestellt, bevor du bereit warst, dich hinter einen Busch zurückzuziehen. Du trägst nicht gern Hosen und klobige Stiefel, schwitzt nicht gern, hast Angst vor der Dunkelheit … Warum bei allen Göttern möchtest du diesen Weg unbedingt gehen?“
Ich war bass erstaunt gewesen. Jedoch hatte er recht damit, dass ich lieber lange Kleider als Hosen trug, auch im Winter, und ich liebte Schuhe mit hohen Absätzen, die meine ohnehin schon ziemlich langen Beine noch länger erscheinen ließen. Meine alten Wanderschuhe hatte ich abgesehen davon schon immer als hässlich und unweiblich empfunden.
„Er … er soll ganz schön sein“, hatte ich mich verteidigt. „Er führt bis hinauf in die Altstadt von Casterlystein, und außerdem durch das wunderschöne Rosengarten. Und die Sternensepte von Altsass, die soll einfach …“
Er hatte mich unterbrochen, was er nicht oft tat. „Natürlich sind die Orte, durch die der Weg führt, sehr schön. Diese jahrhundertealten Kulturstätten sind in der heutigen Zeit kleine Juwelen, das ist bekannt ...“
„Ist bekannt!“, echoten Arya, Bran und Rickon unisono von ihren Plätzen, was meine jüngeren Geschwister allesamt zum Kichern brachte. Das taten sie ständig in letzter Zeit, ich fand es schon lange nicht mehr witzig und runzelte bloß die Stirn.
„Das Problem dabei ist, dass zwischen diesen Städten teilweise lange Wegstrecken liegen“, fuhr Vater fort. „Es wird nicht ausschließlich sonnig und von den Temperaturen her angenehm sein. Es kann regnen, stürmen, kalt werden, sogar schneien, auch südlich von hier. Oder das genaue Gegenteil.“
„Jeyne und ich haben alle Eventualitäten eruiert“, hatte ich ein wenig hochnäsig erklärt, was Arya abermals zum Kichern brachte.
„Ja, klar“, gluckste meine jüngere Schwester, „ihr habt nur vergessen, dass ihr zwischenzeitlich … ein wenig laufen müsst.“
Wütend hatte ich mich ihr zugewandt. „Blödsinn. Wir haben alles hinreichend überprüft und sind dementsprechend vorbereitet. Gutes Schuhwerk, ein Regenschutz, ein passender Rucksack …“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Alle paar Meilen gibt es eine Herberge und die meisten davon sind spottbillig. Außerdem bin ich nicht unerfahren, was das Wandern angeht.“ Ich sah wieder zu meinem Vater, der sich bedächtig eine Gabel voll Auflauf in den Mund schob und dabei wissend nickte.
„Das ist wohl wahr“, ließ der sich vernehmen. „Nur, dass du es eigentlich stets gehasst hast.“
Dann hatte Bran damit begonnen, sich lachend auf die Schenkel zu schlagen; Kartoffelstücke waren aus seinem Mund geflogen, was Rickon von neuem zum Kichern brachte.
„Ich habe es nicht gehasst!“, begehrte ich wütend auf. „Ich wollte nur nicht immer mit der ganzen Familie unterwegs sein. Das war sterbenslangweilig! Mit Jeyne wird das alles ganz anders werden!“
Auch meine Mutter, die gerade mit einer Flasche Wein aus der Küche gekommen war, hatte mich prüfend angeblickt. „Bist du dir ganz sicher, dass du dir da nichts vormachst, Schatz? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob Ned und ich dir das erlauben sollen. Es … es passt nicht so recht zu dir.“
„Jeyne ist ne richtige Sportskanone“, mümmelte Arya mit vollem Mund. „Glaubst du, sie zieht dich mit, wenn du am Ende des Tages nicht mehr kannst, es aber noch fünf Meilen bis zur nächsten Herberge sind?“
Arya war erst dreizehn, aber ihre altkluge Art ging mir gerade jetzt mal wieder höllisch auf die Nerven. „Natürlich wird sie das, sie ist schließlich meine beste Freundin“, ätzte ich. „Du weißt ja noch nicht mal, was das ist, Freundschaft, weil du so seltsam bist, dass keiner was mit dir …“
„Das reicht jetzt, Sansa.“ Meine Mutter hatte die Stimme erhoben. „Was ist nur mit dir los? Und übrigens finde ich, dass Arya gar nicht so unrecht hat. Du kannst dich nicht immer nur auf Jeyne verlassen. Wenn sie ein anderes Schritttempo hat als du, könntet ihr Probleme beim gemeinsamen Laufen kriegen. Seid ihr überhaupt irgendwann schon einmal miteinander gewandert?“
Ich hatte geschwiegen. Danke, Arya. Eine Weile hatte niemand mehr etwas gesagt. Ich hatte die Zähne zusammengebissen und verärgert in meinem Rest Auflauf herumgestochert. Robb hätte mich in Schutz genommen und mich ermuntert, es einfach zu probieren, hatte ich verbittert gedacht. Aber er übernachtete wie so oft bei Talisa, die im Schwesternwohnheim von Ochsenfurt ein winziges Zimmer bewohnte.
„Seid ihr?“, hatte Bran insistiert.
„Das ist alles schon Jahre her“, meinte ich ungehalten, ohne auf meinen zweitjüngsten Bruder einzugehen. „Woher wollt ihr denn wissen, dass mir das Wandern jetzt nicht viel besser gefällt?“
Vater hatte nachdenklich den Kopf von einer Seite auf die andere gewiegt und Arya hatte mit vollen Backen genuschelt: „Ja, genau. Ist Jahre her. Meinst du nicht, es könnte etwas beschwerlich werden, wenn du so aus der Übung bist?“
„Man darf sich eben anfangs nicht übernehmen“, klärte ich meine Schwester von oben herab auf. „Nur wenige Meilen am Tag gehen, nicht zu viel im Rucksack haben, genügend Pausen machen. Wir haben echt schon viel recherchiert und die Idee gefällt uns beiden“, betonte ich, „immer besser.“
„Es sind ja noch ein paar Wochen bis Schulende“, hatte meine Mutter dann gesagt, als mein Vater nichts mehr zu dem Thema beizusteuern gedachte. „Ich persönlich halte eure Pläne ja für etwas gewagt. Sicher, viele junge und auch ältere, längst pensionierte Leute machen das heutzutage; das Pilgern ist ziemlich populär geworden. Dennoch habe ich den Eindruck, dass du den Umfang des ganzen Unterfangens ein wenig unterschätzt, Sansa.“
An diesem Punkt hatte es mir dann endgültig gereicht. Wütend hatte ich meine Serviette auf den Teller geworfen und war aus dem Esszimmer gestürmt. Diese Besserwisser! Ich war schließlich kein Stubenhocker! Ich ging regelmäßig mit Lady spazieren, tanzte leidenschaftlich gern und besuchte zwei bis dreimal die Woche ein Fitnesscenter in der Innenstadt, wo ich Schattenboxen, Yoga und Gymnastik praktizierte. Arya belächelte das alles. Sie betrieb seit ihrem sechsten Lebensjahr Kampfsport und war trotz ihrer geringen Größe ziemlich gut darin. So langsam verlor ich den Überblick über all die farbigen Gürtel und Grade, die sie bereits verliehen bekommen hatte. Bran ging mehrmals die Woche in die neue Kletterhalle, die man Ende letzten Jahres in einem der alten Viertel von Winterfell, das sich das Winterdorf nannte, in einem ehemaligen Industriegebäude eröffnet hatte. Im Gegensatz zu mir war mein zweitjüngster Bruder absolut schwindelfrei und konnte schneller und anmutiger klettern als eine Bergziege. Zumindest wieder, dachte ich mit einem Anflug von Dankbarkeit an die alten Götter des Waldes.
Vielleicht hatte ich mich gerade deswegen so auf den Weg der Sieben versteift, weil ihn mir anscheinend niemand so recht zutraute. Ich war wild endschlossen gewesen, es ihnen allen zu zeigen, meinen Eltern, Arya und auch Jon, der mich bei unserem letzten Telefonat regelrecht ausgelacht hatte: „Du und pilgern, Sansa? Willst du mich verarschen oder was?“, waren seine Worte gewesen, als ich ihm von meinem und Jeynes Vorhaben erzählt hatte. Fast hätte ich das Gespräch an dieser Stelle ganz unelegant beendet, doch ich wollte mich nicht vor meinem Stiefbruder lächerlich machen. „Ich weiß, du verehrst die Götter, Schwesterchen, egal ob es sich dabei um die alten Götter des Waldes oder die Sieben handelt. Heutzutage ist das ja nicht mehr wichtig. Aber zufällig verfüge ich über einige Infos aus erster Hand über diesen Weg. Oder besser aus zweiter. Ein paar von den Jungs hier sind ihn vor ein paar Jahren gelaufen. Nur ein einziger hat die ganzen tausend Meilen geschafft und er hat dafür weit länger gebraucht als nur sieben Wochen. Der Rest der Typen ist mit Blasen an den Füßen, Sehnenentzündungen und kaputten Knien reumütig heimgekehrt. Ich wette, du fällst schon in Ohnmacht, wenn du nur eine fette Blase an deinem zarten kleinen Zeh siehst“, lachte Jon gutmütig. „Warum schleifst du Jeyne nicht in den nächsten Flieger und jettest mit ihr runter nach Dorne? Das ist es anscheinend, wo neuerdings die Party abgeht. In den Wassergärten veranstalten sie Schaumpartys. Hab ich mir zumindest sagen lassen.“
„Das habe ich ja versucht“, hatte ich säuerlich geantwortet. „Aber dafür hat Jeyne kein Geld. Sie muss für ihr Studium sparen. Königsmund ist ein sündhaft teures Pflaster.“
„Ich dachte, sie wohnt bei dir“, kam es durch die Leitung.
„Das tut sie auch“, räumte ich ein, „aber ich kann sie nicht die ganze Zeit aushalten und Jeyne würde es auch gar nicht wollen, wie die Made im Speck auf meine Kosten zu leben. Ich sollte mir vielleicht auch einen Nebenjob suchen, wenn ich unten in der Hauptstadt bin. Irgendwie habe ich ständig ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber…“
„Weil unser Vater ein Lord ist?“, gab Jon zurück. „Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst. Mir gefällt es an der Mauer auch gerade deshalb so gut, weil ich hier keinen Sonderstatus hab. Sie wissen alle, wer mein Ziehvater ist und dass ich auch mit Benjen verwandt bin. Anfangs hab ich jede Menge Prügel deswegen bezogen. Jetzt ist es den meisten egal und nur die Neuen stoßen sich noch dran.“
Was er damit meinte, konnte ich voll und ganz nachvollziehen. Ich hatte sogar in Betracht gezogen, in meinem Pilgerausweis, den ich anonym übers Internet bestellt hatte, falsche Angaben zu machen. Hätte ich ihn beim BAS, dem Bund aller Septen in Altsass bestellt, würde jetzt dick und fett „Sansa Stark von Winterfell“ darinstehen. Mein Familienname war jedoch in ganz Westeros bekannt und auch mein Vorname war nicht besonders geläufig. Wenn ich irgendwo außerhalb des Nordens meinen Ausweis vorlegte, wurde ich oft als die Tochter von Lord Eddard Stark von Winterfell erkannt, was mich sowohl verlegen machte als auch ärgerte. Zumal ich feststellte, dass manche Leute mich daraufhin anders behandelten. Manche zogen die Brauen hoch, musterten mich von Kopf bis Fuß und kehrten mir anschließend den Rücken zu – meist Frauen oder Mädchen meines Alters –, andere wiederum bekamen große Augen und versuchten, mich in ein Gespräch zu verwickeln – Männer –, und Vertreter beiderlei Geschlechts hatten schon versucht, aus meiner Herkunft Kapital zu schlagen. Ja, mein Vater war ein Lord; ja, ich war von altem Adel und lebte auf einer Burg; ja, meine Familie war wohlhabend und hatte nicht wenig Einfluss in den Sieben Königslanden. Ja, ja und nochmals ja. Ich würde während meines Studiums nicht arbeiten müssen, aber mein Vater hatte mir auch klargemacht, dass er mich nicht Golddrachen überschütten würde.
Noch war mein Pilgerausweis also genauso jungfräulich wie ich; kein Stempel, kein Startdatum, praktisch nichts stand darin eingetragen. Ich hätte ihn einfach noch ein Jahr lang aufbewahren und den Weg mit Jeyne in den nächsten Semesterferien gehen können. Doch die würde dann sicher arbeiten wollen beziehungsweise müssen. Ich fluchte innerlich. Der jetzige Zeitpunkt war perfekt gewählt gewesen. Ich wollte jetzt von hier weg und ab in die Freiheit! Wollte all die altertümlichen Septen, Klöster, Burgen und die interessanten kunsthistorischen Museen in Casterlystein und Altsass jetzt besuchen und hoffen, dass sie mich für mein Studium inspirierten. Spaß mit Jeyne haben. Gleichaltrige Jungs kennen lernen und vielleicht mal mit ihnen tanzen gehen. Jaja, und natürlich auch ein bisschen wandern. Ach, verflucht noch mal!