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Der Pilgerweg der Sieben

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Het
Catelyn "Cat" Stark Eddard "Ned" Stark Jeyne Poole Sandor "Der Hund" Clegane Sansa Stark Tyrion Lannister
30.06.2019
24.07.2021
217
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30.06.2019 3.269
 
Es hätte alles so schön werden können. Unsere Zugfahrkarten waren gebucht, die Rucksäcke gepackt. Mein ältester Bruder Robb, der im Gegensatz zu mir ziemlich wandererfahren war, hatte endloses Kartenmaterial aus dem Internet auf mein Handy heruntergeladen und mir gezeigt, wie man es benutzte. Ehrlich gesagt hatte ich nur mit halbem Ohr hingehört, als er sich die Mühe gemacht hatte, mir alles im Detail zu erklären, denn ich war ganz einfach viel zu aufgeregt gewesen! Jeyne war ziemlich gut, was all das Outdoorzeugs anging, ich würde schlicht alles ihr überlassen und dafür kochen und unsere Klamotten waschen, beides Dinge, die meine beste Freundin verabscheute. Jede von uns würde einfach den Part übernehmen, der ihr am meisten lag und dann würde schon alles wie am Schnürchen laufen. Am Mittag des folgenden Tages sollte es endlich losgehen, wenn Jeynes Vater uns mit dem geräumigen Kastenwagen, den er oft für seine Arbeit benutzte, nach Winterfell zum Bahnhof brachte. Dachten wir.

Und dann passierte die Katastrophe. Mein Handy klingelte um halb sieben abends, doch ich war gerade auf einem letzten Spaziergang mit meiner zahmen Schattenwölfin Lady und wollte mich nicht ablenken lassen, deshalb hatte ich das Telefon gar nicht erst mitgenommen. Meine Mutter, Catelyn Stark von Winterfell, war es, die den Anruf an meiner statt entgegennahm. Als ich Lady eine halbe Stunde später zurück in das riesige, eingezäunte Areal, das unsere Burg umgab, entlassen hatte, das sie mit vier ihrer fünf Geschwister bewohnte, seitdem mein Vater und meine Brüder vor einigen Jahren bei einer Jagd im Wolfswald eine tote Wölfin mit einem Wurf Welpen gefunden hatten – nur Geist, der Albino, lebte mit Jon noch höher im Norden –,  kam meine Mutter mir schon entgegen. Sie wirkte angespannt und ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Vayon hat angerufen, während du weg warst, Sansa“, sagte sie und sah mich mitleidig an. „Es gibt leider keine guten Neuigkeiten. Jeyne ist heute beim Joggen in der Innenstadt an einer Ampel von einem Auto angefahren worden.“

„Wie? Was …?“ Ich spürte, wie meine Beine drohten, unter mir nachzugeben und setzte mich schnell auf einen der großen Begrenzungssteine am Parkplatz vor dem Portal unserer Burg.

Meine Mutter, der natürlich klar war, wie sehr diese Nachricht mich mitnehmen musste, strich mir mitfühlend über den Arm.  „Keine Angst, Liebes, es ist nichts Lebensbedrohliches, sie wird wieder! Jedoch muss sie böse mit dem Fuß aufgekommen sein nach dem Aufprall, ansonsten hat sie wohl nur ein paar Prellungen davongetragen. Vayon ist gerade bei ihr im Krankenhaus und er sagt …“

Der Rest von dem, was meine Mutter mir zu erklären versuchte, ging irgendwie unter. Seltsam, mein erster Gedanke, nachdem sie den Mund geöffnet und mir die schreckliche Botschaft überbracht hatte, war: joggen? Wer sagt denn heutzutage nochjoggen? Meine Mutter entstammte genau wie mein Vater einem alten westerosischen Adelsgeschlecht und manchmal hatte ich das Gefühl, sie waren mit ihrer Burg, ihren Bediensteten und dem ganzen hochherrschaftlichen Zeug noch nicht so ganz im 21. Jahrhundert angekommen. Dann drang die Bedeutung von Lady Catelyns Worten langsam zu mir durch und ich muss erst einmal schlucken. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Nein! Das konnte einfach nicht wahr sein! Nicht so! Nicht Jeyne! Und ganz bestimmt nicht am Abend vor unserer Abreise nach Schnellwasser!

„Kann ich zu ihr?“, würgte ich hervor. Mir war auf einmal sterbensschlecht und ich zitterte, was nicht an der Kälte liegen konnte. Zwar trug ich meinen Anorak, weil es abends im Frühling noch immer kalt sein und bisweilen sogar schneien konnte, doch eigentlich war es an diesem Tag relativ mild für nordische Verhältnisse gewesen. „Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm und wir können unseren Start um ein, zwei Wochen verschieben. Es sind ja insgesamt sieben, das ist eine lange Zeit, da macht es gar nichts aus, wenn wir ein bisschen abkürzen.“ Der Gedanke daran gefiel mir sogar, wenn ich ehrlich war. Als Jeyne das erste Mal vorgeschlagen hatte, den Pilgerweg der Sieben zu laufen, hatte ich sie angesehen, als hätte sie sie nicht mehr alle und meine Freundin ausgelacht.

Sieben Wochen? Zu Fuß? Durch die Einöde? Und das mit nur einem Rucksack auf dem Rücken? Du spinnst total, Jeyne Pool! Lass uns auf die Sommerinseln fliegen, das Flugticket geht auf mich!“

Jeyne war die Tochter unseres Hausmeisters Vayon Pool, der sich um die Instandhaltung des alten Gemäuers kümmerte, das sich Burg Winterfell nannte. Er lebte allein mit seiner Tochter in einer kleinen Einliegerwohnung in einem der Nebengebäude der weitläufigen Burganlagen, wie viele andere Angestellte meines Vaters auch. Jeynes Mutter hatte Mann und Kind schon bald nach Jeynes Geburt verlassen, um irgendwo im Süden mit einem anderen Mann zusammenzuleben. Sie hatte sogar all ihre anderen Töchter - vier an der Zahl - mitgenommen, zu denen Jeyne dadurch jeglichen Kontakt verloren hatte. Der Norden war eben nicht für jeden was. Er konnte sowas mit einem machen. Ich selbst kannte es nicht anders, war hier aufgewachsen. Natürlich war ich schon oft verreist und musste ehrlich sagen, dass ich mich darauf freute, diese karge Landschaft in Kürze gegen das vor Lebenslust brodelnde Königsmund eintauschen zu können, um dort zu studieren. Ich liebte meine Heimat, doch ich wollte auch nicht hier oben versauern. Ganz genauso sah es Jeyne.

Meine Mutter biss sich auf die Lippen, woran ich sehen konnte, dass die schlechten Neuigkeiten noch nicht erschöpft waren. „Das wird wohl leider nicht gehen, meine Süße. Jeyne wird in diesem Moment operiert, das duldete anscheinend keinen Aufschub. Ihr Sprunggelenk ist mehrfach gebrochen, meinte Vayon. Sansa … Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber ich glaube, ihr müsst eure Reise absagen …“

Ich brach in Tränen aus. Zwei Monate lang hatten Jeyne und ich von nichts anderem mehr geredet. Unser Wanderurlaub – Pilgerreise klang ja noch hundertmal altmodischer als joggen! – hatte sogar unserem Thema Nummer eins – natürlich Jungs – den Rang abgelaufen und das wollte schon was heißen. Stundenlang waren wir im Internet gesurft, hatten uns Landschaften, Städte und Herbergen angesehen und unsere Route grob geplant. Der Pilgerweg der Sieben, kurz PWS genannt, war nach den Göttern des Glaubens an die Sieben benannt worden und führte durch ebenfalls sieben mehr oder weniger bedeutende Städte. Er hatte seinen Ursprung in Schnellwasser in den Flusslanden und fand sein Ende vor der Kathedrale von Altsass, im äußersten Südwesten von Westeros, die im Volksmund auch die Septe der Mutter genannt wurde.

Doch dazwischen erstreckten sich fast eintausend Meilen Wegstrecke durch teilweise verlassene Landstriche, über hohe Berge hinweg und durch tiefe Täler; einsame Moore und großflächige Wälder wechselten sich mit flachen Steppen ab. Immer weiter in Richtung des Wispernden Sunds mäanderte der Weg, und wenn man am Ziel angelangt war, bestand entweder die Möglichkeit, seine Ankunft in den Weinbars im Hafen des Arbors zu feiern, oder, für diejenigen, die nicht genug bekommen konnten, sich nach Südosten in Richtung Dorne zu wenden, wo die Landschaft allmählich karger und das Klima heißer und trockener wurde. Wenn man Lust hatte, konnte man sogar über Sternfall bis nach Sonnspeer wandern.

Die Fotos im Internet hatten mir gefallen, doch wenn ich ganz ehrlich war, reizten mich an unserem ehrgeizigen Projekt, welches im Übrigen nur erfahrenen Wanderern und Pilgern ans Herz gelegt wurde – und zumindest war Jeyne eine solche – eher die Begleitumstände. Es würde mein erster Urlaub ohne meine Familie werden. Ich war gerade erst sechzehn geworden und in zwei Monaten würde ich mich offiziell an der Baelor-Targaryen-Universität in Königsmund einschreiben, um dort Kunst und Literatur zu studieren. Jeyne würde ebenfalls mitkommen, doch sie hatte sich für ein Sportstudium entschieden. Ich selbst hätte eigentlich noch gar nicht an die Uni gedurft – schließlich wurde ich erst in zwei Jahren volljährig –, doch da ich während meiner Schullaufbahn wegen meiner ausgezeichneten Noten zweimal eine Klasse übersprungen hatte, hatte ich den Abschluss mit meiner besten Freundin, die schon achtzehn war, gemeinsam machen können. An der Baelorschen Universität hatte mein Vater eine Ausnahmegenehmigung für mich erwirkt und ich würde in einem Apartment, das ihm gehörte und welches er nutzte, wenn er ab und zu unten in der Hauptstadt war, um Geschäfte zu tätigen, wohnen können und Jeyne gleich mit. Sie würde meinem Vater einen kleinen Obolus an Miete zahlen und war total aus dem Häuschen, dass sie als Tochter eines Hausmeisters vom Arsch der Welt – Jeynes eigene Worte – sich zu einer Studentin mausern würde, die fast genau gegenüber von Baelors berühmter Septe in einem Apartment mitten in der Altstadt von Königsmund lebte. Damit würden sich nicht viele unserer Kommilitonen brüsten können. Ganz Königsmund und vor allem die historische Altstadt mit den Resten des altertümlichen Roten Bergfrieds, der einst Teil einer gewaltigen Burg gewesen war, einer Burg, die man ab dem Jahr 304 nach A.E. nicht weit davon wiederaufgebaut hatte, war astronomisch teuer und die meisten Studenten konnten sich die horrenden Mieten nicht leisten.

Doch was würde jetzt geschehen? Bis zum Beginn des ersten Semesters waren es noch mehr als zwei Monate und Jeynes und meine Reise stellte quasi für mich den Abnabelungsprozess von meinem Elternhaus da. Mein Vater war ziemlich streng, was bestimmte Dinge anging, wie zum Beispiel den Besuch eines Clubs am Samstagabend, selbst wenn es sich dabei um einen handelte, den ich auch mit sechzehn schon besuchen durfte, aber nur, weil dort keinen Alkohol ausgeschenkt wurde. Was in den angesagten Clubs der Stadt selbstverständlich nicht der Fall war, denn dort wurde gesoffen, bis der Maester kam. Immer musste ich um spätestens zweiundzwanzig Uhr daheim sein und meine Mutter machte sich stets Sorgen um mich und konnte eine krasse Glucke sein, wie Jeyne es ausdrückte. Bevor ich nicht sicher in meinem Bett geparkt war, schlief sie gar nicht erst ein. Ich hatte mich immer gut mit meinen Eltern verstanden, doch so langsam spürte ich, dass ich ein Korsett trug, das zu eng wurde. Ich hatte noch drei jüngere Geschwister und einen älteren Bruder – vielmehr zwei, das war noch eine ganz andere Geschichte – doch ich war die älteste Tochter und das allein machte alles so verdammt schwierig.

„Ich bin echt froh, dass mir ein Schicksal wie deines erspart geblieben ist“, behauptete Jeyne jedes Mal, wenn ich mich über meine familiäre Situation beschwerte. „Du solltest dich öfter durchsetzen, Sansa. Elf Uhr Zapfenstreich anstatt zehn, mindestens. Und den Trip nach Braavos damals hätten sie dir ruhig auch erlauben können. Aber nein, du warst erst fünfzehn, is nich, Feierabend.“

Sie hatte ja recht. Sowohl Robb als auch Jon hatten ziemlich über die Stränge geschlagen, als sie in die Pubertät gekommen waren. Alkoholexzesse und andere, wenn auch weiche Drogen – für den krassen Scheiß war Winterfell doch ein wenig zu klein und provinziell – aber meine älteren Brüder hatten sich schon das ein oder andere Mal geprügelt oder sonstwie negativ auf sich aufmerksam gemacht. Im Grunde noch ganz harmlos, zumindest, was Robb anbetraf. Jon hatte lebenslanges Hausverbot in Jeynes Lieblingsclub, in den sie mich einmal mitgenommen hatte, als meine Eltern, was nicht oft vorkam, zusammen verreist waren. „Ein Stark muss immer auf Winterfell sein, um den Laden zu schmeißen“, so lautete ihr Credo.

Der Laden, das war unser Hotel mit angegliedertem Sternerestaurant und Spa, in Expertenkreisen eine ausgezeichnete Adresse. Robb hatte von selbst die Kurve gekriegt, sein BWL-Studium hatte er mittlerweile abgeschlossen und wollte sich seinen ersten Job in Volantis suchen, wo die Mutter seiner Freundin lebte, einer dunkelhäutigen Schönheit namens Talisa, die von dort stammte. Er hatte sie kennengelernt, als er sich während eines feucht-fröhlichen Outdoorurlaubs mit Freunden in den Westlanden – im Nachhinein von allen nur noch „die Ochsentour“ genannt – im Krankenhaus von Ochsenfurt hatte behandeln lassen müssen, wo sie als Krankenschwester arbeitete. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und die beiden sprachen bereits von Hochzeit und Kindern.

Bei Jon hatte es etwas länger gedauert, bis er sich gefangen hatte. Er hatte es schwer gehabt. Meine Mutter war nicht seine Mutter und selbst ich konnte nicht nachvollziehen, warum mein Vater ihm nicht von Anfang an erzählt hatte, wer ihn eigentlich zur Welt gebracht hatte. Dass das Thema schambesetzt war, verstand ich gut, denn angeblich hatte mein Vater meine Mutter damals betrogen, und das hatte dazu geführt, das Jon in seiner eigenen Familie zum Außenseiter geworden war. Beinahe lachhaft, wenn man bedachte, was Jahre später bei der ganzen Sache herausgekommen war …

Jon war kein Halbstarker, sondern eigentlich ein grundehrlicher, anständiger junger Mann, doch das zunächst wohlgehütete Geheimnis seiner Herkunft hatte ihn in seinen Grundfesten erschüttert. Schon als Kind hatte meine Mutter eine Therapie vorgeschlagen, doch da sie wegen seiner zweifelhaften Abstammung einen unverhohlenen Groll gegen ihn hegte, wäre sie niemals zusammen mit ihm zu einem Kinderpsychologen gegangen.

Geholfen hatte Jon letztendlich wohl Vaters Entscheidung, ihn, wie man im Volksmund noch heute sagte, „an die Mauer zu schicken“, der allerletzte noch denkbare Ausweg. Früher wurden verurteilte Straftäter an die Grenze zwischen dem Norden des Reiches und den entlegensten Regionen von Westeros, die jenseits der noch immer existierenden Mauer aus Eis und Schnee verborgen lagen, geschickt. Die sogenannte Nachtwache existierte bereits seit Jahrhunderten und man galt zumindest hier im Norden noch immer als Mann von Ehre, wenn man sich ihr anschloss. Die schwarzen Brüder, zu denen übrigens auch ein Onkel von mir gehörte, unterhielten dort eine Art Internat und/oder Ausbildungsstätte für schwererziehbare Jugendliche. Jon war mit sechzehn bei der Nachtwache gelandet und wollte jetzt gar nicht mehr von dort weg. Offenbar stellte er sich sehr geschickt an und hatte sich dazu entschlossen, wie sein Vorbild Onkel Benjen Erster Grenzer zu werden, ein hochrangiger Posten. Ich wusste nur ansatzweise, was das war, auch nicht genau, ob er im späteren Leben mit dieser Ausbildung etwas würde anfangen können. Im Gegenteil, es fiel mir schwer mir vorzustellen, wie jemand freiwillig beim Grenzschutz arbeiten konnte, dort oben, wo Menschen andere Menschen daran hinderten, die Mauer zu überqueren, notfalls mit Waffengewalt. Obwohl Jon nicht zu diesen Grenzern gehörte, schließlich stand er auf unserer Seite, der Seite der Guten.

Doch genug zu Jon. Hier ging es schließlich um mich. Ich war wie gesagt die älteste Tochter meiner Eltern und wurde flügge – noch so ein altmodischer Ausdruck, diesmal von meinem Vater. Jeyne hatte wohl recht, ich hätte mich vielleicht schon viel früher konsequenter durchsetzen sollen. Ich war immer ein braves Mädchen gewesen, hatte noch nie auf dem Rücksitz eines Autos mit einem Jungen rumgemacht, während meine beste Freundin schon lange keine Jungfrau mehr war. Meine Mutter hatte mich angefleht zu warten, bis ich achtzehn war. Eine Zeitlang war sogar die Rede davon gewesen, dass ich eines Tages den Kronprinzen Joffrey, den erstgeborenen Sohn unseres Königs Robert Baratheon I. heiraten könnte. Westeros war seit fast siebzig Jahren schon eine konstitutionelle Monarchie, der König hatte Einfluss, aber nicht wirklich viel Macht, was in Anbetracht der Geschichte unseres Kontinents als überaus angebracht erschien. Noch heute brodelte es manchmal in Dorne, wo die Separatisten Ärger machten, und ab und an auch hinter der Mauer.

Mein Vater war mit König Robert seit seiner Jugend befreundet und beide hätten die Beziehung zwischen mir und dem Kronprinzen gutgeheißen, doch ich konnte einfach nichts an Joff finden. Sicher, er sah ganz gut aus und hatte vollendete Manieren, doch er war auch verwöhnt und ein wenig, naja … unberechenbar. Jeyne konnte ihn nicht ausstehen, sie hatte ihn ebenfalls schon einmal getroffen, als mein Vater die Königsfamilie vor Jahren zu uns nach Winterfell eingeladen hatte. Sie hielt Joffrey für arrogant und egoistisch. Jeyne war ein sehr nüchterner Mensch, während ich damals wohl noch ziemlich gutgläubig und naiv war. Ich hatte nichts gegen Joffrey, doch ich musste Jeyne rechtgeben. Irgendetwas war mit ihm, brodelte unter seiner glatten, höflichen Oberfläche, etwas, was ich nicht so ganz greifen konnte … und wollte.

„Oh Sansa, sei froh, dass wir nicht mehr unter den Andalen leben, damals hättest du ihn ganz bestimmt heiraten müssen“, kicherte Jeyne, wenn die Rede darauf kam. „Heute kannst du sagen: äääh, nein danke! Und dann ziehst du los mit einem, der’n bisschen mehr hermacht als dieser verwöhnte Knabe. Übrigens …“ An der Art, wie sie dieses Wort unheilverkündend in die Länge zog, merkte ich sofort, um was es ging. „Bald ist es soweit, meine Liebe, sieben Wochen Freiheit! Dann suchen wir dir einen, mit dem du dich auf dem langen, einsamen Weg ein bisschen amüsieren kannst. Du weißt schon …“ Sie lachte laut auf und zog mich spielerisch an meinen langen roten Haaren.

Ich musste wider Willen grinsen. Mit dem, was ich meiner Mutter zum Thema Sex versprochen hatte, ging ich nicht hausieren, allenfalls Jeyne wusste Bescheid. Sie rollte jedes Mal nur mit den Augen, wenn die Rede darauf kam. Jeyne wusste, dass ich gläubig war und mich für jemanden aufhob, der mich später zu heiraten gedachte, doch begeistert davon war sie nicht.

„Wenn du’s nicht spätestens am Abend deines achtzehnten Namenstags tust, liefere ich dich persönlich bei den Schweigenden Schwestern ab, echt“, schimpfte sie. „Ach übrigens, die Schwestern haben auch ein oder zwei Klöster direkt am Weg, in denen wir übernachten können. Die machen das immer gegen Spende, sind also meine erste Anlaufstelle. Stell dir vor, wie das wird, Sansa, wir übernachten in Klöstern! Und in Wirtshäusern, Pensionen, Kuhställen …“

„Hör mir auf mit Kuhställen, schon allein vom Hören kriege ich Herpes“, murmelte ich verdrossen. „Nur, weil du gelesen hast, dass dieses eine Pärchen in einem übernachten musste, da sie nichts anderes gefunden haben. In Altsass werde ich mir ein 5-Sterne-Hotel suchen mit allem Drum und Dran und du bist eingeladen.“

Meine beste Freundin sah mich ernst an. „Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Sansa, aber ich werde mich ab diesem Sommer allein durchschlagen müssen. Hier hab ich ja auch schon neben der Schule gearbeitet und ich bin deinem Vater wirklich dankbar, dass er mich für kleines Geld mit dir zusammen in seiner Wohnung wohnen lässt. Als dein Anstandswauwau sozusagen.“ Jeyne kicherte wieder. „Aber ein Flugticket für die Sommerinseln würde ich nie von dir annehmen, auch wenn du meine beste Freundin bist. Und ich möchte lieber in Herbergen auf Spendenbasis übernachten als in einem Sternehotel am Weg. Abgesehen davon, dass du die mit der Lupe suchen kannst. Pilger sind arm und demütig.“

Ich seufzte. „Das mit den Sommerinseln hat sich ja jetzt eh erledigt. Wir haben uns entschieden, diesen Weg zu machen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, mich endlich nicht mehr von Vater und Mutter bevormunden lassen zu müssen. Aber ohne dich würden sie mich nie ziehen lassen und auch in Königsmund wird ständig irgendwer ein Auge auf mich haben, da ich eine minderjährige Studentin bin. Wahrscheinlich muss ich mich jede Woche da irgendwo melden und Rechenschaft darüber ablegen, wie es bei mir läuft. Mit Geld und Studium und so.“

„Wobei weder das eine noch das andere bei dir ein Problem sein sollte“, prophezeite Jeyne. „Du bist echt zu beneiden, Sansa. Nur um deine Helikoptereltern beneide ich dich nicht.“

„Sie sind keine Helikoptereltern. Sie legen Wert darauf, dass ich selbständig werde, aber ich weiß schon, was du meinst. Nein, diese Reise wird ein Fest, Jeyne. Wir feiern unsere Unabhängigkeit!“

„Du musst erstmal lernen, richtig zu feiern“, stichelte Jeyne. „Zum Feiern gehört für mich nämlich in erster Linie Alkohol. Und du trinkst ja noch nicht mal Bier, obwohl du’s von Rechts wegen dürftest.“

„Ich werde ab und zu abends mal ein Glas Wein trinken“, versuchte ich meine Freundin zu besänftigen. „Aber was soll ich denn machen, wenn das Zeug, also Alkohol generell, mir nicht wirklich schmeckt?“

„Du wirst schon noch auf den Geschmack kommen“, meinte Jeyne feierlich, „dafür werde ich höchstpersönlich sorgen. Du wirst sehen, Sansa, wir werden jede Menge Spaß haben, das garantier ich dir!“

Und nun war es also anders gekommen. Meine Mutter geleitete mich zurück in den Teil der Burg, der noch immer unserer Familie vorbehalten war. Ich rannte in mein Zimmer hinauf, warf mich aufs Bett und ergab mich meiner Verzweiflung.
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