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Kurzbeschreibung
GeschichteHumor, Liebesgeschichte / P12 / Gen
01.03.2019
28.02.2021
74
63.572
1
Alle Kapitel
20 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
26.05.2019 1.142
 
Tagebucheintrag, 28. November 2018, 2.36 Uhr, Zimmer

Sem hat mir gesagt, dass Leute mich bewundern. Das haben mir viele Leute gesagt. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht warum. Es gibt nichts bewundernswertes an mir. Ich habe keine schwere Kindheit gehabt, ich hatte eine gute Kindheit mit kleinen Alltagsproblemen, die sich erst um Materielles und dann um Jungs gedreht haben. Ich habe in der Schule zu den „Coolen" gehört, wobei das vermutlich mehr eine Haltung als ein Verdienst war (vielleicht dachte ich auch nur, ich gehör zu den Coolen – gibt es Schüler, die sich anschauen und für die größten Looser halten?). Danke Mama.
Andererseits halte ich mich schon für eine der angenehmeren Sorte Mensch. Ich glaube, bei der Bewunderungs-Diskussion spielt das und Charisma viel mit rein. Aber um Bewunderung zu verdienen, sollte man doch was außergewöhnliches geleistet haben, oder?

Ich fühle mich manchmal als hätte ich kein Recht auf Probleme. Und ich weiß, dass das Schwachsinn ist. Ich habe mal gelesen, dass man ja immer Probleme hat, weil das für Menschen heißt, voranzukommen. Wenn man keine Probleme hat, die man lösen kann, keine Ziele, die man erreichen kann, dann hat man ja per se nichts mehr zu tun. Deshalb suchen sich Menschen ohne Probleme neue Probleme.

Probleme kann ich also haben, sie sind nur nicht schwerwiegend. Nie habe ich mich mit einem schwerwiegenden Problem befasst. Alles nur First World Problems. Ich habe auch nichts erreicht. Ich habe die Welt nicht zu einem besseren Ort gemacht. Beziehungsweise habe ich das natürlich versucht, aber nicht in einem Ausmaß, das irgendeine Art von Bewunderung rechtfertigen würde.

Wenn Menschen mich bewundern, dann nur, weil das, was ich ihnen von mir zeige, wünschenswert erscheint. Weil ich keine Probleme, sondern Ziele zeige (naja, im Normalfall). Weil ich positiv bin und im Moment lebe. Weil ich mich nicht vor mir selber schäme und zu mir stehe. Weil ich im Reinen mit mir selber bin.

Nur bin ich das ja nicht. Das ist wohl niemand. Selbst jetzt, wo ich das formulieren will, formuliere ich nur das, was sich vermutlich jeder denkt. Ich will feiern und im Moment leben. Und gleichzeitig wäre ich manchmal gerne angekommen. Ich war drei Jahre mit Marius zusammen, ohne auch nur einen einzigen Moment das Gefühl zu haben, angekommen zu sein. Nicht wie Sophie und Basti. Ich traue mich nicht, Dinge festzuhalten. Ich schaue lieber nach vorne. Schließe Dinge eindeutig ab. Das ist nichts schlechtes, genauso wenig, wie festhalten etwas schlechtes ist. Natürlich alles in Maßen.

Bin ich eigentlich im Reinen mit mir selbst?
Keine Ahnung.

Elias hat mal gesagt, dass ich glücklich bin und dass das ein Luxus ist. Er hat gesagt, dass ich auch dann glücklich wäre, wenn ich sehr viel weniger oder sehr viel mehr Anlass dazu hätte. Keine Ahnung, ob das stimmt. Unter anderen Bedingungen wäre ich ja eine andere Person. Deswegen kann ich auch dieses „hätte hätte Fahrradkette“ nicht ab. Wäre etwas anders gewesen, wäre alles anders. War (oder ist) aber nicht so. Siehe Elliott.
Elias hat außerdem gesagt, dass ich mich als glücklich präsentiere. Er hat mir gesagt, dass Tania mich für eine unausstehliche, arrogante Nervensäge hält und ich weiß bis heute nicht, wie ihm das egal sein kann. Und ich weiß nicht, wo bei Leuten, die genervt von mir, meinen Meinungen und meiner nonchalanten Herangehensweise sind, die Grenze zwischen ehrlich genervt und neidisch ist. Genauso wie ich Jule immer bewundert (und geliebt habe), aber genau um seine Fehler wusste und seine unglaubliche Angeberei als das erkannt habe, was sie ist. Jeder wird gerne bewundert. Oder?

Eigentlich kennt mich ja niemand. Elias ist vielleicht am nächsten dran. Henni kennt glaube ich nur die Henni-Version von mir. Marius kannte mich. Präteritum. Und obwohl ich den Eindruck habe, mich nicht verändert zu haben, seit ich aus Coburg weg bin, habe ich mich wohl doch verändert. Ist das nicht seltsam? Wie man Veränderungen nicht wahrnimmt? Manchmal fällt mir ein, dass ich anders war. Aber eher auf so äußerer Ebene. Ich stand mal im Bus und mir ist eingefallen, dass ich früher nie an diese Festhalteschlaufen rangekommen bin. Ich habe nie gemerkt, dass ich wachse und trotzdem kann ich heute auf jedes Fahrgeschäft. Ich kann mich erinnern, Sophie einmal nervös erzählt zu haben, dass ich meine Tage bekommen hätte. Das heißt, es gab eine Zeit (logisch), in der ich meine Tage nicht hatte, aber das ist so alltäglich geworden...
Ich habe mal nicht in Coburg gewohnt. Ich habe mal in Coburg gewohnt. Aber war das ich oder war das eine vollkommen andere Person? Menschen entwickeln sich ja.

Irgendwer hat mir mal erklärt, dass in sieben Jahren keine einzige Zelle im Körper erhalten bleibt. Sie sterben ab und neue bilden sich. Verrückt, oder? Deshalb sind 14 (Konfirmation) und 21 (international erwachsen) auch diese Faustregel. Wir sind einfach ein komplett anderer Zellenhaufen. Aber mit dem Körper und Erfahrung ändert sich ja auch der Geist.

Konrad hat mich mal gefragt, ob ich finde, dass er sich durch die Drogen verändert hat. Ich kenne Konrad seit schon immer. Und klar hatte er sich verändert, aber das lag nicht an den Drogen. Die Drogen haben die Veränderung vielleicht mitbestimmt, aber auch ohne Drogen hätte er sich verändert. Ergibt das Sinn?

Ich hab Erinnerung an Sachen, die ich gesagt habe, die ich heute nicht sagen würde. Vielleicht weil meine Schlagfertigkeit, vielleicht weil mein Hintergrundwissen zugenommen hat. Ich habe Erinnerung an Momente, in denen ich heute genauso handeln würde, aber mein heutiges Ich würde gar nicht in diese Momente kommen.

Wir verändern uns immer. Wie jeder spirituelle Guide einmal sagte: Alles ist im Fluss. Ich kenne mich nicht. Mit jeder Sekunde verändere ich mich. Wie sollen mich da andere kennen? Wie können andere mich bewundern? Wie können andere glauben, mich zu kennen, wenn ich mich nicht kenne? Oder kennen mich andere vielleicht besser als ich mich kenne?

Boah, meine Gedanken sind so wirr, mein Kopf explodiert gleich. Ich werde morgen keine einzige Zeile von dem Gedaddel hier verstehen.

Aber ich finde es gut, dass ich das gerade aufschreibe, weil ich es dann nicht vergesse. Oder „anders“ vergesse. Ich finde es spannend, was das Gehirn sich merkt. Hätte mein Gehirn statt all der vergessenen Erinnerungen andere Erinnerungen vergessen, wäre ich eine ganz andere Person.

Gedanken strukturieren müsste man können. Meine sind so willkürlich.

Sozialverhalten müsste man auch mal analysieren. Ich verhalte mich in Gruppen anders als zu zweit und selbst zu zweit und in Gruppen differenziert sich das von Person zu Person und Gruppe zu Gruppe. Je nachdem, wie man sich präsentieren möchte. Man lässt ja doch immer nur einen Ausschnitt durchblicken. Gegenüber anderen und sich selbst. Das schreibe ich aber vielleicht lieber wann anders auf, ich werde müde. Außerdem ist alles, was ich denke, krass widersprüchlich und in jedem Gedanken steckt eine potenzielle Bachelor-Arbeit. Vielleicht komme ich nächstes Jahr wieder auf den Eintrag hier zurück.
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