Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Die Suche

Kurzbeschreibung
GeschichteHumor, Liebesgeschichte / P12 / Gen
01.03.2019
28.02.2021
74
63.572
1
Alle Kapitel
20 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
13.05.2019 2.022
 
25. November 2018, 19.56 Uhr, WG-Küche

„Heyyyy", sagte ich langgezogen und rührte meinen Spinat um.
„Hey", sagte Elias. Ich hatte lange nicht mehr mit ihm geskyped. Eigentlich hatte ich ihm nur Bilder von lustigen Stickern geschickt, weil wir das schon immer so gemacht hatten. London hat ein paar gute Sticker kleben und Elias und ich sind keine Menschen, die besonders viel Zeit für Gespräche haben.

„Man munkelt, wir fahren zusammen in den Urlaub?", fragte ich. Meinen Urlaub hab ich schon erwähnt? Ich wurde auch dieses Jahr wieder von meinen Berliner Jungs eingeladen. Trotz meiner Abwesenheit. Und genau genommen wurde ich nicht eingeladen, aber ich bin in der WhatsApp-Gruppe und durfte an der Umfrage zum Zeitpunkt teilnehmen uuund vermutlich werde ich auch wieder das Hotel buchen dürfen. Silvester würde ich sie alle wiedersehen. Das hatte ich jetzt schon entschieden. Keine Chance, dass ich länger als nötig, in Coburg bleiben würde. Warum denn auch? Coburg hat mir bisher nie gefehlt, nur Berlin. Coburg ist abgeschlossen, Berlin noch nicht. Schließlich würde ich nach dem Ersamus-Programm für mindestens ein Semester zurückkommen (zwei, mindestens zwei).

„Scheint so. Obwohl du natürlich nur der Notfallplan warst, falls wir nicht genug Kerle zusammen kriegen."
„Ich bin mehr Kerl als ihr alle."
„Abgesehen von Simon."
„Abgesehen von Simon." Kurz schwiegen wir uns an. Es war jetzt schon schön mit Elias zu reden. Er fehlte mir. Wie verrückt.

„Wie war der neue Mitbewohner?", fragte ich dann. Ich wusste, dass Henni ausgezogen war, weil sie den Typen nicht hatte ausstehen können. Sie hatte jetzt eine sehr klischeehafte Beste-Freundin-WG mit Suse. Früher war ich ihre beste Freundin gewesen, aber gut. Ich hatte mich nach dem Umzug nur sehr sporadisch gemeldet. Also wirklich sehr sporadisch.

„Ach, ich bin dann auch ausgezogen. Ohne dich als asozialen Gegenpol wird auch Henni anstrengend. Und Tania hat ja sowieso schon die ganze Zeit angedeutet, dass wir langsam mal zusammen ziehen müssen." Dass er auch ausgezogen war, hatte ich gewusst. Dass er mit Tania zusammenwohnte nicht.
„Aber gar kein Druck", lachte ich, „ihr wohnt jetzt also zusammen? Wie so ein richtiges Paar?" Er verdrehte die Augen. Aber wir beide dachten das gleiche. Hätte uns vor einem Jahr jemand gesagt, dass er mit seiner Freundin zusammen wohnen würde, während ich als Single durch London hüpfte, hätten wir uns erst scheckig gelacht und dann Franck (beziehungsweise Conor) eingesammelt, um in einen Club zu gehen und zuzuschauen, wie Elias sich das netteste Mädchen für die Nacht rauspickte.

„Wie ein richtiges Paar. Und du bist immer noch Single? Wann warst du zum letzten Mal zwei Monate in Folge Single?", stichelte er. Er stichelte gerne. Ich sagte nichts, sondern kippte Paprikagewürz in den Spinat.
„Aha. Naja, wir finden in Österreich schon jemanden für dich. Irgendwelche Vorlieben?"
„Du weißt, wie meine Typen aussehen. Und ich mache keine Fernbeziehungen."
„Jaja. Wird Zeit, dass du mal etwas anderes als überstürzte, super feste Beziehungen ausprobierst. Aber gut, du bist heute empfindlich." Ich verschwieg meinen One-Night-Stand gekonnt. Obwohl es mir auf der Zunge kribbelte.
„Gar nicht." Ich hatte immer noch meine Tage, doch das würde ich ihm definitiv nicht auf die Nase binden. Aber heute müsste der letzte Tag sein. Yay.

„Lass uns trotzdem über was anderes reden. Wie ist London abgesehen vom Männer-technischen? Tania zeigt mir immer dein Instagram, aber das ist jetzt nicht krass aussagekräftig. Obwohl sie ziemlich beeindruckt davon ist, dass du sogar durchlöcherte Retro-Jeans tragen kannst, ohne dich lächerlich zu machen."
„Danke", sagte ich ehrlich überrascht.
„Das war nur zur Hälfte ein Kompliment, sie würde dich am liebsten komplett neu einkleiden und dir die Augenbrauen zupfen."
„Das ist ganz schön viel Subtext und trägt nicht gerade dazu bei, dass ich auf eurer Hochzeit nicht den Partycrasher machen werde." Jetzt hatte ich Elias.

„Rede nicht über Hochzeit, Tania ist einen Raum weiter."
„In der Küche? Elias, ich hätte mehr von dir erwartet. Hör auf, Geschlechterklischees zu bestätigen. Was denkt sie eigentlich darüber, dass ich mit in den Skiurlaub darf, während sie in der Küche schmoren muss?"
„Sie weiß aus gutem Grund nichts davon und schmort nicht in der Küche, sondern... keine Ahnung, was sie macht. Wahrscheinlich Abendbrot. Obwohl ich eigentlich nichts mehr essen sollte, sonst krieg ich noch so ein Beziehungs-Bauch wie Tobi. Und bitte lass uns nicht mit deinem Gender-Fetisch anfangen, du hast mir mal versprochen entspannter zu werden, wenn ich mich an die Mülltrennung halte."
„Hältst du dich an die Mülltrennung?"

„Warte..." Er hob den Laptop an und ich konnte jetzt einen weiteren Blick auf das Zimmer erhaschen. Verrückt. Ein Schlafzimmer für zwei Leute. Und Elias war einer der zwei Leute. Was war so besonders an Tania? Wie hatte sie die eine sein können, für die er seine Freiheit aufgab? Oder hatte er einfach kein Interesse mehr an der Freiheit? Hatte er sich weiterentwickelt? Oh, kein guter Gedankengang. Wenn das so weiter geht, muss ich über meine eigenen Beziehungen und die fehlende Entwicklung in ihnen nachdenken.

Stolz präsentierte Elias die Küche. Sie war klein und direkt an eine Entschuldigung von Wohnzimmer gekoppelt, aber Tania stand mit einem Lächeln à la Vorzeigehausfrau am Herd und begrüßte mich vorbildlich und nachdem Elias mir alle drei Unterteilungen des Mülleimers präsentiert hatte, musste er mir noch den Rest der Pärchenwohnung zeigen. Ich hatte auf einmal Angst mit diesem Kerl, der in dieser Sekunde beunruhigend wenig Ähnlichkeit mit meinem besten Freund zu haben schien, in den Urlaub zu fahren. Feierte er noch genauso? Fuhr er noch genauso rücksichtslos? Oder hatte er jetzt konstant diese dunkle Wolke von Verantwortung über sich schweben.

„Ich bin beeindruckt", behauptete ich und verließ meinen Spinat kurz, um mein Zimmer zu präsentieren.
„Das ist fast so ordentlich wie bei mir. Was hat Alexa mit dir gemacht?", grinste Elias und ich vergaß meine vorherigen Gedanken wieder. Elias war immer noch Elias und wenn er lächelte, dann... keine Ahnung. Ich habe nicht den Hauch von romantischen oder sexuellen Gefühlen für ihn, sondern einfach eine wahnsinnig ehrliche, tiefe Zuneigung. Ich würde Elias alles anvertrauen. Wahlfamilie und so.

„Sie hat gejammert. Viel und lange."
„Und da bist du zu Hause? Nicht unterwegs? Wenn Henni gejammert hat oder einen von uns zwingen wollte, den Abwasch zu machen, warst du innerhalb von Sekunden weg." Ich schnitt eine Grimasse. Daran konnte ich mich gut erinnern. Ich glaube, Henni und ich wären sehr viel bessere Freundinnen geblieben, wären wir nie zusammengezogen.
„Dasselbe könnte ich dich fragen, mein Lieber.“
„Ich war schon weg. Ich war heute eigentlich voll produktiv. Ich war in der Uni und..."
„Heute ist Sonntag?"
„Dann war das mit der Uni am Freitag. Ähm... ich hab mich mit Max getroffen? Liebe Grüße übrigens."
„Sehr produktiv. Und danke gleichfalls. Sonst noch irgendwelche Errungenschaften?"
„Ich hab mit Tania geschlafen?"
„Noch produktiver", witzelte ich. Elias wackelte mit den Augenbrauen.
„Immerhin habe ich Sex." Ich verdrehte die Augen.
„Ich stehe über solch niederen Trieben", log ich und dann mussten wir irgendwie beide lachen.

***

Tagebucheintrag, 25. November 2018, 21.15 Uhr, Zimmer

Ich vermisse Berlin gerade. In meiner Erinnerung war da immer alles einfach. Kein sich konstant versteckender Elliott, sondern diverse Typen mit nettem Lächeln an meiner Seite, Elias zum... Elias als besten Freund, Henni, Adi, Marie, Katta, Matti, Toni, Nadia, Karim, ich könnte hier ewig weiterschreiben. Natürlich habe ich auch in London meine Menschen. Sogar mehr als Alexa und Sem und François und Benny. Ich muss dafür einfach nur auf meine Handykontakte schauen - suchen wir Kontakte mit englischer Vorwahl. Ala und Alexa (logisch), Anouk, Anton, Brendon (von dem ich ehrlich gesagt, nicht weiß, wer es ist), Cilla, Connie, Don, Ella, Ernest, Fenno - das reicht. Ich kenne so viele Namen und ich wüsste, wen ich frage, wenn ich zu einem Poetry Slam gehen wollte, wer an härtere Drogen kommt (kein Bedarf), wer immer Geheimtipps hat, wer einen notfalls auf Gästelisten bekommt, wo Kochabende stattfinden. Ich schreibe das irgendwie nicht alles auf, aber es ist auch da. Wenn man bedenkt, dass ich seit noch nicht einmal zwei Monaten hier bin, dann kann ich gar nicht so viel Elliott-Trübsal geblasen haben, oder? Ich hab unfassbar viel gemacht und erlebt.

Wenn ich durch mein Tagebuch blättere, klingt das alles so traurig. Und ich glaube, ich muss mich jetzt erst mal selber beruhigen. Das Tagebuch ist ein kleiner, subjektiver Ausschnitt. Nicht mein Leben, nur ein unbedeutend kleiner Teil davon. Älteres Ich, so war ich nicht. Ich schreibe nicht alles auf. Ich war auf kulturellen Veranstaltungen ohne Ende (und nicht nur welche, die von der Uni organisiert wurden, sondern auch auf anderen), ich hab mir von verschiedensten Menschen (siehe oben) die verschiedensten Ecken Londons zeigen lassen, habe Rick & Morty mit François durchgeschaut und war schon ein paar Mal beim Schwimm-Training des Uni-Vereins. Ich habe Bücher gelesen und zumindest das Nötigste für die Uni gemacht. Ich habe entschieden, im Sommersemester einen Französischkurs zu belegen, um François zu ärgern und bin mit Ala zu seltsamen Flohmärkten gegangen. Ich war im Modern Tate (zweimal) und habe überlegt, mich an die lange Schlange des Sherlock Holmes Museums zu stellen. Ich habe mit der Paddington-Statue gekuschelt und mir ein überteuertes Kuscheltier dazu gekauft. Ich habe mit Tamara Tischtennis gespielt (wenn es mal nicht geregnet hat), mit Henni geschrieben, meine Mama für den Sommer eingeladen und halb London erklärt, warum Feminismus immer noch wichtig ist.

Und im Tagebuch lebe ich halt meine Gefühlskrise aus. Denke ich. Zumindest erklärt das mein Gejammer und die Tatsache, dass ich bereits eine Seite nur mit Hüten vollgemalt habe, die ich vermutlich besser rausreißen sollte. Eigentlich sollte ich das ganze Tagebuch wegschmeißen.
Vielleicht fange ich mit den ausgedruckten Fotos an und heb mir das Tagebuch für später auf. Falls meine Gefühle mal wieder hochkochen. Obwohl ich meistens traurig bin, „hochkochen" ist wohl nicht das richtige Wort. Für den Fall, dass ich meine negativen Gefühle (weniger positiven Gefühle?) mal wieder loswerden muss, behalte ich das Tagebuch. Vorerst.

Ich glaube, ich rufe Marie an. Marie ist eins dieser unfassbar ruhigen Mädchen, die in der Schule immer alles gewusst haben und die Pflichtlektüre des Deutsch-Leistungskurses vehement gegen meine Vorwürfe verteidigt haben. Ich mochte Marie immer. Also nicht immer, aber wir haben in jedem Lektürekurs geredet. Über die Bücher. Und Marie war immer so klug und voller Hintergrundwissen und hat sich immer so gefreut, wenn ich mich mit ihr angelegt habe, um meinen weniger intellektuellen Standpunkt würdevoll zu vertreten. Und dann hat sie mir immer Bücher mitgebracht, um meine „herrlich unvoreingenommene Meinung" (Zitat Ende) dazu zu hören. Das will ich jetzt. Ich hab zu lange nur noch langweilige Sachbücher durchgeblättert.

***

Tagebucheintrag, 25. November 2018, 21.34 Uhr, Zimmer

Da Marie sehr schnell antwortet, muss ich mir morgen „Schuld und Sühne" von Dostojewski ausleihen. Das schreibe ich mir nur auf, damit ich nicht aus Versehen eins der fünfzig anderen dicken, dicken, dicken, dicken Bücher von Dostojewski ausleihe. Oder Dostojewski mit Bulgakov verwechsle. Oder einem der fünfzig anderen Autoren, die Marie in dem fünfminütigen Gespräch unauffällig hat fallen lassen. Sie gibt gerne an, das hatte ich mit meiner rosaroten-Vergangenheitsbrille vergessen. Aaaaber ich hab jetzt gute Laune und bin motiviert und selbst, wenn ich nicht feiern gehe, sondern vielleicht nur die Staffel Gilmore Girls zu Ende schaue, morgen mache ich was. Also mehr als nur zur Uni zu gehen. Wobei das für mich schon mal nicht schlecht ist.

Also, Älteres Ich, natürlich habe ich getrunken und gekifft und Elliott hinterhergeheult, aber nicht nur. Das hier ist ein Ausschnitt meines Lebens, aber das bin nicht ich und ich habe gerade Angst, dass du das hier irgendwann mal liest und über das ganze Drama, all die guten London-Erinnerunen vergisst. Davon gibt es nämlich unfassbar viele. Okay?

PS: Ich hoffe, du bist entweder glücklich mit Elliott und seinem Hut oder über die beiden hinweg.
PPS: Ich höre jetzt auf zu schreiben, weil ich mir gerade einen Joint gebaut habe.
PPPS: Ich schaue jetzt Adventure Time und ignoriere Alexa und ihr Herumgejammere.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast