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Kurzbeschreibung
GeschichteHumor, Liebesgeschichte / P12 / Gen
01.03.2019
28.02.2021
74
63.572
1
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24.04.2019 1.795
 
Tagebucheintrag, 14. November 2018, 10.30 Uhr, Green Park

Ich sitze jetzt seit einer Stunde hier. Elliotts vielleicht-Freund ist nicht aufgetaucht. Dabei habe ich doch sogar den Hut auf. Wäre er hier, hätte er mich unmöglich übersehen können. Richtig? Und ich hätte ihn auch nicht übersehen. Ich habe meinen Blick konstant zwischen Underground und Ausgang gehabt und mir gestern mehrere Stunden lang die Fotos angeschaut. Ich habe sie sogar dabei.

Aber gut. Eine Stunde warte ich, habe ich entschieden, und die ist jetzt vorbei. Ich muss noch zur Uni. Und dann muss ich Schlaf aufholen und zumindest ein bisschen Sport machen. Elliott suchen ist irgendwie ein Full-time-job geworden, aber bevor ich aufgehe wie ein Kloß, wird wohl die Uni noch ein bisschen leiden müssen.

Und nach Sport und Uni muss ich ins Nickle's. Was heißt „muss“? Vor genau einem Monat habe ich Elliott da getroffen. Und an irgendetwas müssen sich meine unrealistischen Hoffnungen ja festklammern, richtig?

Falls er nicht im Nickle's ist, steigt wieder irgendwo eine Party und ich vertraue darauf, dass mein Handy mich dann da hin führen wird. Und dann werde ich wieder trinken, bis ich irgendwen genauso lieb habe wie Elliott. Vermutlich François. Und dann wird der Abend trotzdem nett.

Was fragst du, späteres Ich? Ob ich zum Frühstück schon getrunken habe? Aber ja (nur ein bisschen übrigens, ich wollte nicht riskieren, Elliotts Freund wegen ein bisschen Morgenfrustration zu verpassen - im Nachhinein hätte ich auch gleich Jesús selbstgemachten Kartoffelschnaps kippen können).

***

14. November 2018, 23 Uhr, Club

"Du siehst gut aus", sagte Sem und nachdem ich ihn kurz überrascht von so viel Ehrlichkeit angestarrt hatte, fing ich an zu lachen.
"Uuuund du bist high", schlussfolgerte und nahm mir meine Sonnenbrille ab, um einen Blick auf meine sehr roten Augen zu werfen. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Augen nach ein paar Zügen mehr wohl explodiert wären. Ich musste noch lauter lachen und presste dann einen Finger auf meine Lippen, um mich zum Schweigen zu bringen. Hat natürlich nicht geholfen. Als ich mich wieder einbekommen hatte, nahm ich die Sonnenbrille wieder an mich. Mein Besuch im Nickle's war nicht erfolgreich verlaufen, aber jetzt - nach ein paar Bier vor Ort und einem Zwischenstopp bei François - ging es mir wieder ganz gut.

"Ich bin ein Vampir, meine Augen sind sehr empfindlich, deswegen die Sonnenbrille", sagte ich im Flüsterton, "und ich warte, bis ich wieder down, wayyy doown, bin und fange erst dann an zu trinken." Er schmunzelte und Ich wusste auf einmal, warum ich ihn so liebte. Er verurteilte nicht. Egal, was ich machte. Wenn ich zum Beispiel high und betrunken mit einem Bier in der Hand vor ihm stand und behauptete, nicht zu trinken, war er komplett okay damit.

"Und du bist mit François hier. Hat das einen besonderen Grund?" Ich machte große Augen und versuchte, ein weiteres aufgeregtes Kichern zu unterdrücken. Es klappte nicht.
"Gut“, entschied Sem, „Es war schön, dich zu sehen, Tara. Kommst du zu mir, wenn du wieder wayyy doown bist?" Und mit diesen Worten zwinkerte er mir zu, ging wieder zu seiner Freundin und überließ mich meinem Lachanfall. Der nur noch schlimmer wurde, als ich ihn da mit Emma sah. Und Emmas verwirrt, irritierten Blick. Sem und Emma. Was zur Hölle?

Und dann schaffte der Abend es doch tatsächlich, Elliott kurz aus meinen Gedanken zu drängen. Ich hatte Spaß, einen Pegel, der hart an der Grenze war, und mehr braucht es ja eigentlich nicht. Bis...

"Sorry, I'll be back. Just a second", sagte ich unnötig aufwendig und verschwand zur Bar, ohne auf François' (sicherlich sehr aufgeschlossene) Antwort zu warten. Ich hatte lange nicht mehr so wackelig auf meinen Beinen gestanden. Und das lag im Moment nicht mal am Alkohol. Nervös fuhr ich mir durch die Haare, zupfte das an meinem Pulli rum und versuchte, meine Nervosität zu unterdrücken. Dann tippte ich ihm auf die Schulter. Er drehte sich um.

Gleicher Hut, gleiche Größe, komplett anderer Typ.
Hellere, längere Haare, kein Bart, dunklere Augen, verschlosseneres Gesicht, auf den zweiten Blick zu schmal, keine Wangenknochen. Also weniger Wangenknochen. Nicht keine Wangenknochen. Das wäre ja gruselig gewesen.

"Sorry", murmelte ich und spürte mein ganzes Selbstbewusstsein wieder zurück in meine Adern rauschen. Elliott einfach so zu finden, wäre ja auch zu einfach gewesen. Und zu romantisch. Vor einem Monat hatten wir uns getroffen. Ich will nicht kennengelernt sagen, schließlich haben wir das ja eigentlich nie so wirklich.
"I thought you were a friend of mine. Because of the hat and stuff", platzte es mit einem entschuldigenden Lächeln aus mir heraus. Ich nahm einen großen Schluck Bier, bestellte mir ein neues und packte sicherheitshalber noch zwei Shots dazu. Mir war wirklich egal, was Leute von mir dachten. Der Hutträger beobachtete mich amüsiert.

"Sorry", wiederholte ich meine Aussage, kippte erst den einen und dann den anderen Shot, klopfte auf die Bar, tippte mir an den Kopf und ging mit dem neuen Bier zurück zu François. Ich überlegte, noch einmal zum Nickle's zu gehen. Aber ich wollte nicht. Weil ich bis zu einem gewissen Grad nicht mehr daran glaubte, Elliott wiederzufinden. Oder weil die dritte Enttäuschung heute vielleicht doch eine zu viel wäre. Und wie traurig wäre es, den Abend verstreichen zu lassen, um allein in einer leeren Bar zu hocken und mit dem Barkeeper (Charlie, das enthusiastischste Barmitglied hatte Schicht) Shot um Shot zu kippen? Ich war schließlich kein männlicher Action-Held mit Alkohol- und Frauenproblemen. Ich hatte ganz einfach zu viel Angst davor, dass meine Hoffnungen wieder enttäuscht wurden. Ah. Negative Gedanken. Ob François ein bisschen Gras mit reingeschmuggelt hat?

Ich hoffte wirklich, dass ich François nicht nur mochte, weil er eine sehr sichere Grasquelle war.

"Wanna get shots?", fragte ich durch den Lärm und sah wie François mich verwirrt musterte. Falls er tatsächlich was von mir wollte, würde er offiziell als schüchternster Franzose ins Guiness-Buch der Rekorde eingehen. Warum heißt es eigentlich Guiness-Buch? Hat das was mit dem Bier zu tun?
"Always", zitierte er Snape (vermutlich ohne es zu wissen).

Und hier, meine Damen und Herren, hätten wir die erste kleine (oder große) Lücke des Abends – ich weiß wirklich nicht, wie viel ich verpasst habe, das könnten zwei Minuten oder zwei Stunden sein.
Zwei Shots und dann nochmal zwei Shots schienen keine gute Idee gewesen zu sein. Vielleicht habe ich einen weiteren Shotbachelor gemacht. Vielleicht habe ich mich an einer Orgie auf der Clubtoilette beteiligt. Vielleicht habe ich Elliott wiedergefunden. Ich werde es nie wissen. Es sei denn, ich frage François. Oder andere Zeugen.

Jedenfalls saß ich irgendwann auf der Toilette und presste mir die Hände in das glühende Gesicht. Alkohol ist spannend. Ich habe wirklich viel Erfahrung gesammelt und trotzdem weiß ich bis heute nie, ob der Abend entspannt wird oder wann und warum er kippen könnte. Wo François war, wusste ich übrigens auch nicht und als ich die Toilette verlies, war er war auch nirgendwo zu sehen, also gammelte ich mich schwer übersehbar an die Bar und begann mir eine Kippe zu drehen. Der Typ mit Hut, der nicht Elliott war, kam zu mir geschlendert.

"You're the girl, that was looking for her mate, weren't you?“ Ich sah ihn an und suchte nach Ähnlichkeiten. Naja. Hut halt.Ich klopfte die Zigarette auf die Theke und stopfte noch ein bisschen Tabak nach.
"Right. You were the guy, that wasn't the guy I was looking for", scherzte ich. Kennt ihr diese Tumblr-Leute, die sich gerne darüber aufregen, dass ihnen ihr witty comeback immer erst im Nachhinein einfällt? Ich war das Gegenteil und kann ihnen aus Erfahrung sagen, dass die witty comebacks nicht immer gut ankommen. Außerdem beobachtete ich beunruhigt meine Entwicklung zur Lisa, die immer unnötig englische Vokabeln in ihre Sätze (und Gedanken) einbaut. Kann man witty comeback vernünftig ins Deutsche übersetzen? Oder work in progress? Oder oblivious? Gut, dass ich in London war und nicht in Australien.
"Yup", brachte er etwas eingeschüchtert hervor. Ich sah den Barmann an und überlegte, ob ich noch ein Bier trinken sollte oder ob ich dann kotzen würde. Vielleicht hatte ich ja schon gekotzt. Ich hasste Blackouts.

"You didn't find the guy, did you?", mutmaßte er, als ich keinerlei Anstalten machte, wegzugehen. Ich bot ihm die fertig gedrehte Zigarette an. Er lächelte und nahm sie mir ab.
"Obviously", murmelte ich und bestellte mir das Bier. Als er kurz seine Stirn runzelte, verdreifachte sich die Ähnlichkeit zu Elliott. Ich schaute mich noch einmal nach François um, entdeckte aber nur Sem, der mit seiner Freundin kuschelte (also dieser Kuscheltanz, der ja mal so überhaupt nicht in einen Techno-Club passt). Kitschig.
Dann entschied ich, mit dem Kerl hier zu schlafen. Mein letztes Mal Sex war (zumindest meines Wissens nach, aber ganz so doll schätze ich meine rar gesäten Blackouts jetzt doch nicht ein) im September gewesen. Und was besseres als den hier hatte ich ja sowieso nicht und würde ich wohl heute auch nicht mehr finden. Ich würde einfach jede Menge Dummheiten sagen und vielleicht würde er dann noch mal die Stirn runzeln. Und dadurch aussehen wie Elliott. Ich legte das Papier für meine Zigarette auf den Tisch und streute Tabak rein.

"I'm being mean again, right?", fragte ich und versuchte, nicht allzu frustriert auszusehen.
"Intimidating. Maybe a bit scary." Ich schmunzelte. Er sah gut und in bisschen wie Elliott aus. Und scheinbar war er nett. Das musste reichen. Ich hatte schon weniger attraktive Leute gedatet. Die hatten dann aber immer das Lächeln gehabt. Oh, ich darf jetzt nicht zu viel überdenken. Seit wann ist überdenken denn ein Problem von mir?
"Was that a compliment?" Mir war gesagt worden, dass ich generell eine sehr flirty Ausstrahlung hatte. Nur absichtlich unaufällig flirten konnte ich nicht.
"You're a bit feminist, aren't you?" Ich nickte.
"Not only a bit. It would be quite stupid for a woman to be against equality of the sexes", begann ich einen Monolog, den ich besonders wenn ich getrunken hatte mit großer Leidenschaft halten konnte.

Aber es schien ihn nicht gestört zu haben, denn nach einer weiteren kleinen Erinnerungslücke hatte ich eine Wand im Rücken und knutschte mit ihm rum. Jap. Ich finde auch, dass ich eine fragwürdige geworden Persönlichkeit bin. Schon bevor wir den Club verließen, hatte ich panische Angst davor, wieder auszunüchtern (und hielt mit dementsprechenden Massen an Alkohol dagegen).

Aber was soll ich sagen? Ich hatte 31 Tage lang gesucht.
Das ist 'ne ziemlich lange Zeit.
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