Kleine, rote Winterstiefel
von LetMeTellLies
Kurzbeschreibung
Eine kuschelige Kurzgeschichte für Klein und Groß zum Thema Nikolaus, ein Adventskalendertürchen für die Schreibnacht und ein kleiner Appell zur Weihnachtszeit.
KurzgeschichteFamilie / P12 / Gen
06.12.2018
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Kleine, rote Winterstiefel
Ich muss mir ein Gähnen verkneifen. Das gefühlt Zehnte innerhalb der letzten zwei Minuten. Bin gestern wohl schon wieder zu spät ins Bett gekommen. Allerdings ist im Laden auch nichts los. Kein Wunder. Für ein paar der Schuhe könnte man im wahrsten Sinne des Wortes ein halbes Monatsgehalt auf den Tresen legen. – Die einen tragen ihr Geld um den Hals, die anderen treten es mit Füßen.
Ich beschließe, einen kleinen Gang durch den Verkaufsraum zu machen, vielleicht tut mir die Bewegung ja gut. Außerdem schiele ich gern auf die ausgefallene Weihnachtsdeko. Wofür ich mich zugegebenermaßen schäme, denn auch die ist – wie so ziemlich alles hier – viel zu teuer… Ich bin meiner Freundin wirklich dankbar, dass sie mir den Job in diesem Edelschuppen hier vermittelt hat, aber manchmal frage ich mich schon, ob ich die Richtige dafür bin. Andererseits brauche ich das Geld, und besser, als bis nachts um zwei irgendwelchen betrunkenen Kerlen einen Schnaps nach dem anderen aufzutischen ist es allemal.
Gerade rücke ich das Kleid eines kleinen Engels mit blondem Echthaar und Daunenfederflügelchen zurecht, als mir draußen vor dem Schaufenster ein kleines Mädchen auffällt, dass neugierig durch die Fensterscheiben guckt. Sie ist recht klein und trägt einen dunkelgrünen Anorak, der nicht nur aussieht, als hätten ihn vor ihr schon fünf Geschwister getragen und sei seit der ersten Besitzerin auch nicht gewaschen worden, sondern auch noch zwei Nummern zu groß scheint. Darunter lugen verwaschene Jeans hervor, die in einem ähnlichen Geschäft wie diesem hier vermutlich für fünfhundert Euro weggingen – aber das nur, weil der „used-look“ derartig überzeugend ist, dass er fast schon echt sein könnte… Ich wende meinen Blick ab, drehe mich aber kurz darauf wieder herum, weil das Weihnachtsglockenspiel an der Tür einen Kunden verheißt. Es ist das kleine Mädchen. Ihr hat wohl noch niemand erklärt, dass nicht jeder Laden für jede Kundschaft gedacht ist. Kein Wunder, wahrscheinlich ist sie erst fünf oder sechs Jahre alt. Einen Moment lang bin ich verunsichert, wie ich mit der Situation umgehen soll. Andere an meiner Stelle würden sie vermutlich hinausscheuchen, denn sie könnte ja Kundschaft vergraulen oder einen falschen Eindruck erwecken. Ihr meine „Hilfe bei der Auswahl eines unserer erlesenen Stücke“ anzubieten scheint mir allerdings auch nicht gerade angebracht… Also beschließe ich, so zu tun, als sei sie nicht da. Außer ihr ist ohnehin niemand im Laden.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sie mit großen Augen die Auslegware betrachtet. Draußen, im Schaufenster, sind keine Preise angegeben. Das gehört zur Philosophie. Aber drinnen gibt es schon das ein oder andere Fähnchen. Ihr kleines Gesicht sieht zunehmend verzagter aus. Einen Moment lang noch sehe ich ihr dabei zu, wie sie in einem kleinen Münzbeutel sucht, den sie in einer der tiefen Anoraktaschen bei sich trägt, dann gehe ich auf sie zu. Sie ist so klein, dass ich mich vor ihr auf den Boden hocken muss, um mehr von ihr zu sehen, als nur den Ansatz ihrer dunkelblonden Haare.
„Suchst du etwas Bestimmtes?“, frage ich.
Sie nickt schüchtern und legt ihre linke Hand verschämt auf den kleinen Münzbeutel. „Ja, ich brauche Winterstiefel“, sagt sie, „In Größe neunundzwanzig.“
„Ich befürchte, da kann ich dir nicht helfen, Kleine. Wir haben hier nur Schuhe für…“, ich komme nicht dazu, den Satz zu beenden, denn aus dem Flur hinterm Tresen, der zu Lagerraum, Küche und Toiletten führt, höre ich einen Zuruf: „Claudia, die Schiffers kommen jeden Moment zu einem Beratungstermin. Würdest du Pumps Größe vierzig raussuchen? Nimm die apfelgrünen aus der letzten Kollektion und ein, zwei andere als Beiwerk.“ Ohje, meine Chefin ist da! Eigenartig, dass ich das Schnalzen ihrer Zehn-Zentimeter-Hacken nicht früher bemerkt habe (selbstverständlich trägt sie ihre eigene Ware zur Schau). Sie wird es sicher wenig belustigen, wenn sie den kleinen Streuner mitten im Verkaufsraum entdeckt.
„Wird erledigt“, rufe ich zurück und stehe auf.
„Du musst jetzt wirklich gehen“, sage ich zu dem kleinen Mädchen, „Frag doch mal bei den großen Läden auf der Hauptstraße, vielleicht findest du da etwas.“ Einen Winter lang würden es wohl auch Billigstiefel mitmachen – schließlich wird die Kleine bis nächstes Jahr ohnehin schon wieder rausgewachsen sein.
„Da war ich schon“, erwidert sie traurig, „Aber die Verkäufern sagt, mir fehlen zwei Euro und drei Cent, wenn ich die nicht mitbringe, will sie mir die Stiefel nicht geben… Ich könnte nur Hausschuhe kaufen, aber meine Mama sagt, der Nikolaus steckt keine Süßigkeiten in Hausschuhe, nur in Stiefel. Aber ich habe doch keine Stiefel!“
„Warum gehst du nicht mit deiner Mama zusammen Stiefel kaufen?“
„Ich hab noch diese hier“, sie deutet auf ihre Halbschuhe. Irgendwann waren sie vielleicht mal rot, oder gar orange, jedenfalls ließen sich zwischen aufgerissenem Kunstleder, Schmutz und Stoff diese Farben erahnen. An ihrem linken Schuh fehlt die Lasche und rechts hat sich die Sohle vorn abgelöst. „Sie möchte keine neuen Schuhe kaufen, wenn ich doch noch die alten tragen kann.“
„Verstehe“, murmle ich.
„Claudia, die Schuhe!“, tönt es hinter mir und ich drehe mich erschrocken um, „T-tut mir Leid, wird sofort erledigt!“, erwidere ich. „Und du musst jetzt wirklich gehen!“, zische ich der Kleinen im Vorbeihuschen zu.
„Aber ich brauche doch die Stiefel!“ Verzagt schaut sie mit großen, braunen Kulleraugen zu mir hinauf.
„Welche Stiefel?“, mischt sich jetzt auch noch meine Chefin ein und zieht eine strenge Miene, „Sie wissen genau, dass Privatsachen hier nichts zu suchen haben!“
„Ich kenne das Mädchen gar nicht“, verteidige ich mich sofort, „Sie… sie kam von der Straße herein und hat im Schaufenster die Schuhe gesehen und dachte, sie könnte hier Schuhe kaufen.“
Das kleine Mädchen fängt herzzerreichend an zu schluchzen. „Ich möchte keinen Ärger machen, wirklich. Aber ich brauche sie doch ganz dringend, für den Nikolaus! Er würde mir vielleicht etwas in die Stiefel stecken, aber wenn ich gar keine Stiefel habe, dann…“ Der Rest des Satzes geht in ihren verzagten Schluchzern unter.
Nervös blicke ich zu meiner Chefin hinüber. Was wird sie jetzt mit der Kleinen anstellen?
Zu meiner Überraschung legt sie dem Mädchen einen Arm um die Schulter – und hat dabei nicht einmal Angst, ihr schöner Designeranzug könnte beschmutzt werden. „Da hast du Glück, dass du zu uns gekommen bist“, erklärt sie dem Mädchen, „Ich kenne nämlich zufällig die Cousine vom Nikolaus.“
„Ja, wirklich? Meinst du, sie könnte ihm sagen, dass ich keine Stiefel habe und er steckt es mir in die Halbschuhe?“
„Nein, du hast schon Recht, der Nikolaus braucht Stiefel – Halbschuhe sind doch viel zu klein, um dort Süßigkeiten oder gar Geschenke unterzubringen.“ Ich ziehe den Atem ein, aber meine Chefin redet weiter: „Aber wir sind doch ein Schuhgeschäft! Bei uns bekommst du deine Stiefel, damit der Nikolaus sie auch füllen kann.“
„Ich habe aber nur ganz wenig Geld“, erwidert das Mädchen und knotet nervös auf ihrem kleinen Münzbeutel herum.
„Zeig mal her, wie viel hast du denn?“
Einen Augenblick lang scheint die Kleine mit sich zu ringen, dann offenbart sie das Innere ihres Beutelchens: ein Fünf-Euro-Schein, ein paar Fünzig- und Zwanzig-Cent-Stücke – und jede Menge kleiner bronzener Münzen.
„Ah, dass sieht doch gut aus!“, lügt meine Chefin fröhlich und schiebt einige der Ein- und Zwei-Cent-Stückchen hin und her. Laut zählt sie: „Eins, zwei, vier, fünf, zehn, …“ Schließlich sagt sie: „Dreiundfünfzig! So viele Münzen! Dafür finden wir bestimmt ein paar schöne Stiefel für dich. Was ist denn deine Lieblingsfarbe?“
„Rot.“
„Und deine Schuhgröße?“
„Neunundzwanzig.“
„Ehrlich, so große Füße hast du?“ Meine Chefin mustert die Füße des Mädchens – für Größen hat sie einen Blick, ich wusste nur nicht, dass das auch für Kinderschuhe gilt.
Tatsächlich legt die kleine Kundin ein wenig verlegen den Kopf schief. „Eigentlich achtundzwanzig, aber Mama kauft immer eine Größe größer, damit es auch nächstes Jahr noch passt…“
„Na, dann verrate ich dir mal ein Geheimnis: Ich verkaufe schon sehr, sehr lange Schuhe und kenne mich deswegen sehr gut aus. Du solltest immer genau die Größe tragen, die dir passt – nicht kleiner und auch nicht größer. Dein Schuh ist gerade dann richtig, wenn du noch ein bisschen mit den Zehen wackeln kannst, aber auch gewiss nie herausrutschst. Einverstanden?“
Die Kleine nickt eifrig, „Dann wohl eher achtundzwanzig“, gibt sie zu.
„Prima. Dann nehmen wir jetzt eine Bestellung auf für rote, warme Winterstiefel in der Größe achtundzwanzig.“ Meine Chefin sieht mich erwartungsvoll an. Einen Moment lang stehe ich ratlos herum, bis mir aufgeht, dass ich jetzt wohl das Bestellformular hervorholen soll. Ich verschwinde rasch wieder hinter den Tresen und schreibe fleißig mit – ganz so, wie bei einer richtigen Bestellung.
„Dann muss ich noch deinen Namen wissen.“
„Felicitas.“
„Felicitas, ein sehr schöner Name. Das bedeutet ‚die Glückliche‘, wusstest du das?“
Die Kleine macht große Augen, „Ehrlich?“
Meine Chefin nickt, „Ja. – Sind wir jetzt so weit, Claudia?“
Ich nicke und blicke auf meinen halbleeren Bestellzettel. Eigentlich steht nur darauf: „Winterstiefel, rot, Größe 28, Preis: 53 Cent, und als Anschrift ‚Felicitas‘.“
„Sehr gut, dann kommst du morgen wieder her und holst dir deine Stiefel ab. Und ich richte meiner Cousine aus, dass sie dem Nikolaus sagen soll, dass deine Stiefel hier auf dich warten, dann geht auch nichts schief!“
„Oh, das ist ganz, ganz toll!“, juchzt das Mädchen begeistert und fällt meiner Chefin in die Arme.
„Überhaupt kein Problem. Dann bis morgen, ja?“
Sie nickt eifrig und hopst dann fröhlich aus dem Laden – sehr zur Verwunderung der Schiffers, die ihr völlig entgeistert hinterherblicken. Ich wette, dass Frau Schiffer beinahe ihre schöne Gucci-Leder-Handtasche in eine Pfütze hätte fallen lassen.
„Herr und Frau Schiffer, schön, dass Sie da sind“, sagt meine Chefin und schüttelt den Neuankömmlingen die Hand, „Meine höchst kompetente Mitarbeiterin Claudia Jäckel wird sich heute gern um sie kümmern. Ich habe leider noch eine sehr dringende Bestellung zu erledigen.“ Damit nimmt sie mir den Bestellblock aus der Hand und verschwindet. Vermutlich, um rote Winterstiefel in der Größe achtundzwanzig zu kaufen – und ein paar Geschenke vom „Nikolaus“.
Tatsächlich steht am nächsten Morgen ein Paar niegelnagelneuer roter Winterstiefel auf einem kleinen Tisch direkt neben dem Tresen. Dabei steht ein Brief:
"Liebe Felicitas,
gut, dass du mir Bescheid gesagt hast, wo deine Stiefel sind. Wenn du möchtest, stell deine Stiefel auch nächstes Jahr wieder hierher, dann weiß ich gleich, wo ich sie finde.
Liebe Grüße,
Dein Nikolaus"
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Einen schönen Nikolaus
wünscht LMTL
Ich muss mir ein Gähnen verkneifen. Das gefühlt Zehnte innerhalb der letzten zwei Minuten. Bin gestern wohl schon wieder zu spät ins Bett gekommen. Allerdings ist im Laden auch nichts los. Kein Wunder. Für ein paar der Schuhe könnte man im wahrsten Sinne des Wortes ein halbes Monatsgehalt auf den Tresen legen. – Die einen tragen ihr Geld um den Hals, die anderen treten es mit Füßen.
Ich beschließe, einen kleinen Gang durch den Verkaufsraum zu machen, vielleicht tut mir die Bewegung ja gut. Außerdem schiele ich gern auf die ausgefallene Weihnachtsdeko. Wofür ich mich zugegebenermaßen schäme, denn auch die ist – wie so ziemlich alles hier – viel zu teuer… Ich bin meiner Freundin wirklich dankbar, dass sie mir den Job in diesem Edelschuppen hier vermittelt hat, aber manchmal frage ich mich schon, ob ich die Richtige dafür bin. Andererseits brauche ich das Geld, und besser, als bis nachts um zwei irgendwelchen betrunkenen Kerlen einen Schnaps nach dem anderen aufzutischen ist es allemal.
Gerade rücke ich das Kleid eines kleinen Engels mit blondem Echthaar und Daunenfederflügelchen zurecht, als mir draußen vor dem Schaufenster ein kleines Mädchen auffällt, dass neugierig durch die Fensterscheiben guckt. Sie ist recht klein und trägt einen dunkelgrünen Anorak, der nicht nur aussieht, als hätten ihn vor ihr schon fünf Geschwister getragen und sei seit der ersten Besitzerin auch nicht gewaschen worden, sondern auch noch zwei Nummern zu groß scheint. Darunter lugen verwaschene Jeans hervor, die in einem ähnlichen Geschäft wie diesem hier vermutlich für fünfhundert Euro weggingen – aber das nur, weil der „used-look“ derartig überzeugend ist, dass er fast schon echt sein könnte… Ich wende meinen Blick ab, drehe mich aber kurz darauf wieder herum, weil das Weihnachtsglockenspiel an der Tür einen Kunden verheißt. Es ist das kleine Mädchen. Ihr hat wohl noch niemand erklärt, dass nicht jeder Laden für jede Kundschaft gedacht ist. Kein Wunder, wahrscheinlich ist sie erst fünf oder sechs Jahre alt. Einen Moment lang bin ich verunsichert, wie ich mit der Situation umgehen soll. Andere an meiner Stelle würden sie vermutlich hinausscheuchen, denn sie könnte ja Kundschaft vergraulen oder einen falschen Eindruck erwecken. Ihr meine „Hilfe bei der Auswahl eines unserer erlesenen Stücke“ anzubieten scheint mir allerdings auch nicht gerade angebracht… Also beschließe ich, so zu tun, als sei sie nicht da. Außer ihr ist ohnehin niemand im Laden.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sie mit großen Augen die Auslegware betrachtet. Draußen, im Schaufenster, sind keine Preise angegeben. Das gehört zur Philosophie. Aber drinnen gibt es schon das ein oder andere Fähnchen. Ihr kleines Gesicht sieht zunehmend verzagter aus. Einen Moment lang noch sehe ich ihr dabei zu, wie sie in einem kleinen Münzbeutel sucht, den sie in einer der tiefen Anoraktaschen bei sich trägt, dann gehe ich auf sie zu. Sie ist so klein, dass ich mich vor ihr auf den Boden hocken muss, um mehr von ihr zu sehen, als nur den Ansatz ihrer dunkelblonden Haare.
„Suchst du etwas Bestimmtes?“, frage ich.
Sie nickt schüchtern und legt ihre linke Hand verschämt auf den kleinen Münzbeutel. „Ja, ich brauche Winterstiefel“, sagt sie, „In Größe neunundzwanzig.“
„Ich befürchte, da kann ich dir nicht helfen, Kleine. Wir haben hier nur Schuhe für…“, ich komme nicht dazu, den Satz zu beenden, denn aus dem Flur hinterm Tresen, der zu Lagerraum, Küche und Toiletten führt, höre ich einen Zuruf: „Claudia, die Schiffers kommen jeden Moment zu einem Beratungstermin. Würdest du Pumps Größe vierzig raussuchen? Nimm die apfelgrünen aus der letzten Kollektion und ein, zwei andere als Beiwerk.“ Ohje, meine Chefin ist da! Eigenartig, dass ich das Schnalzen ihrer Zehn-Zentimeter-Hacken nicht früher bemerkt habe (selbstverständlich trägt sie ihre eigene Ware zur Schau). Sie wird es sicher wenig belustigen, wenn sie den kleinen Streuner mitten im Verkaufsraum entdeckt.
„Wird erledigt“, rufe ich zurück und stehe auf.
„Du musst jetzt wirklich gehen“, sage ich zu dem kleinen Mädchen, „Frag doch mal bei den großen Läden auf der Hauptstraße, vielleicht findest du da etwas.“ Einen Winter lang würden es wohl auch Billigstiefel mitmachen – schließlich wird die Kleine bis nächstes Jahr ohnehin schon wieder rausgewachsen sein.
„Da war ich schon“, erwidert sie traurig, „Aber die Verkäufern sagt, mir fehlen zwei Euro und drei Cent, wenn ich die nicht mitbringe, will sie mir die Stiefel nicht geben… Ich könnte nur Hausschuhe kaufen, aber meine Mama sagt, der Nikolaus steckt keine Süßigkeiten in Hausschuhe, nur in Stiefel. Aber ich habe doch keine Stiefel!“
„Warum gehst du nicht mit deiner Mama zusammen Stiefel kaufen?“
„Ich hab noch diese hier“, sie deutet auf ihre Halbschuhe. Irgendwann waren sie vielleicht mal rot, oder gar orange, jedenfalls ließen sich zwischen aufgerissenem Kunstleder, Schmutz und Stoff diese Farben erahnen. An ihrem linken Schuh fehlt die Lasche und rechts hat sich die Sohle vorn abgelöst. „Sie möchte keine neuen Schuhe kaufen, wenn ich doch noch die alten tragen kann.“
„Verstehe“, murmle ich.
„Claudia, die Schuhe!“, tönt es hinter mir und ich drehe mich erschrocken um, „T-tut mir Leid, wird sofort erledigt!“, erwidere ich. „Und du musst jetzt wirklich gehen!“, zische ich der Kleinen im Vorbeihuschen zu.
„Aber ich brauche doch die Stiefel!“ Verzagt schaut sie mit großen, braunen Kulleraugen zu mir hinauf.
„Welche Stiefel?“, mischt sich jetzt auch noch meine Chefin ein und zieht eine strenge Miene, „Sie wissen genau, dass Privatsachen hier nichts zu suchen haben!“
„Ich kenne das Mädchen gar nicht“, verteidige ich mich sofort, „Sie… sie kam von der Straße herein und hat im Schaufenster die Schuhe gesehen und dachte, sie könnte hier Schuhe kaufen.“
Das kleine Mädchen fängt herzzerreichend an zu schluchzen. „Ich möchte keinen Ärger machen, wirklich. Aber ich brauche sie doch ganz dringend, für den Nikolaus! Er würde mir vielleicht etwas in die Stiefel stecken, aber wenn ich gar keine Stiefel habe, dann…“ Der Rest des Satzes geht in ihren verzagten Schluchzern unter.
Nervös blicke ich zu meiner Chefin hinüber. Was wird sie jetzt mit der Kleinen anstellen?
Zu meiner Überraschung legt sie dem Mädchen einen Arm um die Schulter – und hat dabei nicht einmal Angst, ihr schöner Designeranzug könnte beschmutzt werden. „Da hast du Glück, dass du zu uns gekommen bist“, erklärt sie dem Mädchen, „Ich kenne nämlich zufällig die Cousine vom Nikolaus.“
„Ja, wirklich? Meinst du, sie könnte ihm sagen, dass ich keine Stiefel habe und er steckt es mir in die Halbschuhe?“
„Nein, du hast schon Recht, der Nikolaus braucht Stiefel – Halbschuhe sind doch viel zu klein, um dort Süßigkeiten oder gar Geschenke unterzubringen.“ Ich ziehe den Atem ein, aber meine Chefin redet weiter: „Aber wir sind doch ein Schuhgeschäft! Bei uns bekommst du deine Stiefel, damit der Nikolaus sie auch füllen kann.“
„Ich habe aber nur ganz wenig Geld“, erwidert das Mädchen und knotet nervös auf ihrem kleinen Münzbeutel herum.
„Zeig mal her, wie viel hast du denn?“
Einen Augenblick lang scheint die Kleine mit sich zu ringen, dann offenbart sie das Innere ihres Beutelchens: ein Fünf-Euro-Schein, ein paar Fünzig- und Zwanzig-Cent-Stücke – und jede Menge kleiner bronzener Münzen.
„Ah, dass sieht doch gut aus!“, lügt meine Chefin fröhlich und schiebt einige der Ein- und Zwei-Cent-Stückchen hin und her. Laut zählt sie: „Eins, zwei, vier, fünf, zehn, …“ Schließlich sagt sie: „Dreiundfünfzig! So viele Münzen! Dafür finden wir bestimmt ein paar schöne Stiefel für dich. Was ist denn deine Lieblingsfarbe?“
„Rot.“
„Und deine Schuhgröße?“
„Neunundzwanzig.“
„Ehrlich, so große Füße hast du?“ Meine Chefin mustert die Füße des Mädchens – für Größen hat sie einen Blick, ich wusste nur nicht, dass das auch für Kinderschuhe gilt.
Tatsächlich legt die kleine Kundin ein wenig verlegen den Kopf schief. „Eigentlich achtundzwanzig, aber Mama kauft immer eine Größe größer, damit es auch nächstes Jahr noch passt…“
„Na, dann verrate ich dir mal ein Geheimnis: Ich verkaufe schon sehr, sehr lange Schuhe und kenne mich deswegen sehr gut aus. Du solltest immer genau die Größe tragen, die dir passt – nicht kleiner und auch nicht größer. Dein Schuh ist gerade dann richtig, wenn du noch ein bisschen mit den Zehen wackeln kannst, aber auch gewiss nie herausrutschst. Einverstanden?“
Die Kleine nickt eifrig, „Dann wohl eher achtundzwanzig“, gibt sie zu.
„Prima. Dann nehmen wir jetzt eine Bestellung auf für rote, warme Winterstiefel in der Größe achtundzwanzig.“ Meine Chefin sieht mich erwartungsvoll an. Einen Moment lang stehe ich ratlos herum, bis mir aufgeht, dass ich jetzt wohl das Bestellformular hervorholen soll. Ich verschwinde rasch wieder hinter den Tresen und schreibe fleißig mit – ganz so, wie bei einer richtigen Bestellung.
„Dann muss ich noch deinen Namen wissen.“
„Felicitas.“
„Felicitas, ein sehr schöner Name. Das bedeutet ‚die Glückliche‘, wusstest du das?“
Die Kleine macht große Augen, „Ehrlich?“
Meine Chefin nickt, „Ja. – Sind wir jetzt so weit, Claudia?“
Ich nicke und blicke auf meinen halbleeren Bestellzettel. Eigentlich steht nur darauf: „Winterstiefel, rot, Größe 28, Preis: 53 Cent, und als Anschrift ‚Felicitas‘.“
„Sehr gut, dann kommst du morgen wieder her und holst dir deine Stiefel ab. Und ich richte meiner Cousine aus, dass sie dem Nikolaus sagen soll, dass deine Stiefel hier auf dich warten, dann geht auch nichts schief!“
„Oh, das ist ganz, ganz toll!“, juchzt das Mädchen begeistert und fällt meiner Chefin in die Arme.
„Überhaupt kein Problem. Dann bis morgen, ja?“
Sie nickt eifrig und hopst dann fröhlich aus dem Laden – sehr zur Verwunderung der Schiffers, die ihr völlig entgeistert hinterherblicken. Ich wette, dass Frau Schiffer beinahe ihre schöne Gucci-Leder-Handtasche in eine Pfütze hätte fallen lassen.
„Herr und Frau Schiffer, schön, dass Sie da sind“, sagt meine Chefin und schüttelt den Neuankömmlingen die Hand, „Meine höchst kompetente Mitarbeiterin Claudia Jäckel wird sich heute gern um sie kümmern. Ich habe leider noch eine sehr dringende Bestellung zu erledigen.“ Damit nimmt sie mir den Bestellblock aus der Hand und verschwindet. Vermutlich, um rote Winterstiefel in der Größe achtundzwanzig zu kaufen – und ein paar Geschenke vom „Nikolaus“.
Tatsächlich steht am nächsten Morgen ein Paar niegelnagelneuer roter Winterstiefel auf einem kleinen Tisch direkt neben dem Tresen. Dabei steht ein Brief:
"Liebe Felicitas,
gut, dass du mir Bescheid gesagt hast, wo deine Stiefel sind. Wenn du möchtest, stell deine Stiefel auch nächstes Jahr wieder hierher, dann weiß ich gleich, wo ich sie finde.
Liebe Grüße,
Dein Nikolaus"
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Einen schönen Nikolaus
wünscht LMTL