Hinter den Fassaden 2.0
von Izzybuddy
Kurzbeschreibung
*neues Kapitel online* „Vielleicht solltest du über deinen Renteneintritt nachdenken.“ Sprachlos öffnete Chloe die Augen und stemmte sich auf die Ellenbogen. „Bitte was?!“ „Schlafen, essen, schlafen, ab und zu etwas Sightseeing... klingt nach dem perfekten Rentnerleben.“ Nadines Stimme verlor nichts von ihrer Frechheit. Einen Moment starrte Chloe noch zu ihr hinauf, dann verdrehte sie die Augen und ließ sich nach hinten fallen. „Rentnerleben...“, entrüstet wiederholte sie das Wort. „Ich brauche nur etwas Urlaub, das ist alles.“
GeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P16 / MaleSlash
Chloe Frazer
Elena Fisher
Nathan Drake
Victor Sullivan
01.12.2018
01.03.2019
9
36.243
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05.12.2018
6.852
Der Wagen ruckelte, im Vergleich zum Flugzeug zwischen den Wolken deutlich unbequemer über die Schotterstraße, doch das störte die beiden Frauen im Inneren absolut gar nicht. Ausgelassen unterhielten sie sich über Gott und die Welt, sprangen von einem Gesprächsthema zum nächsten und bewunderten dabei die Landschaft, die sie umgab. Das Land war felsig, die Hügel grün und auf den Spitzen der Berge glitzerte der Schnee im Licht der versinkenden Sonne. Der Gebirgszug vor ihnen war atemberaubend schön. Seine scharfen Kanten am Gipfel, die in helles Weiß getaucht waren, liefen in Richtung Tal zunehmend in weichen, braun-grünen Bögen aus. Leichte Schleierwolken umspielten den Sonnenuntergang, der über dem Gebirge das Ende des heutigen Tages verkündete. „In einer halben Stunde sind wir da. Pünktlich zum Einbruch der Nacht.“ In Chloes Stimme lag eine Vorfreude, die Nadine ansteckte. Sie war schon gespannt auf das Dorf, das Chloe als ihr Zuhause gewählt hatte, auf die Menschen, die dort lebten und wenn die Landschaft nur halb so schön war, wie sie es hier war, würde sie wunderschön sein.
Der Wagen fuhr weiterhin über die Schotterstraße, die nun Zusehens mit Schlaglöchern besetzt war. Sie kamen offensichtlich in einen, fern ab von Tourismus gelegen Teil des Landes. Die Anzahl der Gebäude, die auch vorher nicht sehr groß war, nahm weiter ab und so sahen sie nur noch vereinzelt und mit großem Abstand zueinander, immer älter werdende Dörfer. Schließlich, es war bereits dämmrig, hielt Chloe den Wagen an.
Sie schaltete den Motor aus und stieg aus. „Wir sind da. Den Rest müssen wir zu Fuß gehen. Das Dorf ist nicht mit dem Wagen passierbar.“ Auch Nadine stieg aus und war froh um die Möglichkeit ihre Beine ausstrecken zu können, denn dieses lange sitzen sagte ihr nicht wirklich zu. Sie hörte ein entferntes Rauschen, das der Fluss sein musste, den Chloe bereits erwähnt hatte und konnte gut einhundert Meter vor ihnen die ersten Gebäude erkennen. Chloe hatte ihr bereits erzählt, dass das Dorf aus nur zwölf Gebäuden bestand und einundvierzig Einwohner zählte. Mit einem Griff in den hinteren Teil des Wagens holte sie ihre Tasche hervor bevor sie Chloe den ausgetretenen, breiten Pfad entlang folgte.
Circa fünfzig Meter vor dem ersten Gebäude hielt Chloe inne, als sie eine Gestalt auf sie zukommen sah. „Norbu!“, rief sie erfreut, nachdem sie die Person erkannt hatte und lief eilig auf die kleine Gestalt zu. Einen Moment später lag sie in den Armen des älteren Mannes, der sie ebenfalls erfreut begrüßte. „Es ist zu lange her.“, sagte er mit starkem Akzent.
Nadine mochte ihn schon ab der ersten Sekunde. Seine tiefe Stimme, die jene Ruhe des fortgeschrittenen Alters in sich trug, klang angenehm warm. Das kurze Haar war durchsetzt von Silber, die dunklen Augen funkelten freundlich. Er lies Chloe los, wand sich zu Nadine „Willkommen.“ und steckte ihr die Hand entgegen. Nadine ergriff sie, schüttelte sie mit leichtem Druck und erwiderte das offene Lächeln. „Nadine, das ist Norbu. Er ist der Anführer des Dorfes.“ „Norbu, meine Partnerin Nadine.“ Sie vervollständigte ihre Vorstellung durch eine entsprechende Geste. Norbu nickte. „Kommt.... habt ihr Hunger? Sajita hat einen Eintopf gemacht.“ „Großen Hunger.“, gab Nadine zu und sofort drehte sich der Mann um, hob die Hand als Zeichen, dass sie ihm folgen sollten und führte sie in das Dorf.
Der Weg, der nun durch große Steinplatten beschrieben wurde, verlief im leichten Anstieg den Hügel hinauf und wurde bald von einer verwitterten, kniehohen Steinmauer umrahmt. Neugierig sah Nadine sich um, erkannte die Umrisse der Steinbauten, ihre reetgedeckten Dächer und die tanzenden Lichter im Inneren. Vor den Häusern war niemand mehr unterwegs. Der breite Weg war verlassen und auch auf den abzweigenden Wegen ging in der Dunkelheit niemanden mehr durch das Dorf. Norbu blieb vor einem, im Vergleich zu den übrigen Häusern, recht großen Gebäude stehen, drückte die alte Holztür auf und trat ein. Im Inneren war es angenehm warm und gemütlich. Ein Feuer prasselte leise am hinteren Ende des Raumes, ein niedriger Tisch stand nahe davor. Sajita, die sich als Norbus Frau herausstellte, begrüßte sie ebenso herzlich wie es ihr Mann getan hatte und bat sie sich zu setzen.
Sie häufte das Essen in tiefe Schüsseln und reichte diese an ihre Gäste weiter, während sie gespannt den Erzählungen Chloes lauschte, die immer wieder durch Fragen seitens Norbu unterbrochen wurden. Er war äußerst interessiert an den Artefakten und Bauwerken, die sie und Chloe vor kurzem in Indien entdeckt hatten. Immer wieder fragte sich Nadine, wie es sein konnte, dass die beiden älteren Menschen vor ihnen, die sicherlich nur sehr selten ihr Dorf verließen, der englischen Sprache derart mächtig waren. Schließlich stellte sie diese Frage in den Raum und mit einem stolzen Lächeln antwortete Norbu ihr. „Ich habe ihr unsere Sprache gezeigt und sie mir ihre.“ Er deutete mit einer dankbaren Kopfbewegung zu Chloe hinüber. „Ich war vor zwei Jahren für eine recht lange Zeit hier.“, fügte Chloe an, woraufhin Nadine anerkennend nickte.
Einige Zeit später drängte Sajita ihren Mann von den Neuankömmlingen abzulassen und seine Fragen auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie hatte bemerkt, dass die beiden Frauen vor ihr erschöpft und müde waren, weshalb sie Chloe eine Öllampe in die Hand drückte, ihnen eine gute Nacht wünschte und ihren Mann mit einem Blick zu verstehen gab, dass er sie für heute ziehen lassen musste.
Es war nur noch ein kurzer Weg an drei Häusern vorbei, immer weiter den Hügel hinauf, bis Chloe zufrieden ausatmete und die Tür eines kleinen Hauses aufschloss. Sie sagte nichts, als sie eintrat, den Vorraum durchquerte und die Lampe auf einen Tisch stellte. Dann lief sie mit einem Feuerzeug durch den Raum und entzündete auch die übrigen Lampen, die auf Regalen standen oder von Harken an der Decke baumelten. Sanftes Licht huschte durch die Dunkelheit und verdrängte sie in die hintersten Ecken.
Vor Nadine erstreckte sich ein rechteckiger Raum, in dessen Mitte der Tisch thronte, auf dem Chloe die Lampe abgestellt hatte. Der Boden war mit Teppichen aller Art ausgelegt. Rechts in der hinteren Ecke stand ein Bett, daneben eine große Kommode.
Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch durch ein Knacken auf die ihr gegenüber liegende Wand gelenkt. Vierzig Zentimeter in den Boden versunken befand sich dort eine etwa zwei auf zwei Meter große Vertiefung, an deren rückseitigem Ende sich die mit Steinen umrandete Feuerstelle befand. Die Vertiefung selbst war mit etwas Abstand zu den Flammen mit Kissen ausgelegt. Chloe hatte sich auf den Boden gekniet und ein wärmendes Feuer entzündet. Die Temperatur in dieser Höhe war bei weitem angenehmer als jene auf dem Markt in Indien, doch auch wenn sich die Temperatur hier als angenehmer und die Luft als klarer herausstellte so war es, sobald die Sonne verschwunden war, unangenehm kalt. Die Feuerstelle, die mit großen Holzscheiden bestückt war, brachte jedoch innerhalb weniger Minuten eine angenehme Wärme in das Haus.
Als Chloe sich erhob und umdrehte wurden ihre Haare in den rötlich-gelben Schein der Flammen gehüllt. Sanft umspielte das Licht ihre Gesichtszüge. Nadine verschlug es die Sprache bei diesem Anblick. Chloe sah schlicht wunderschön aus. Unsicher, da Nadine nicht reagierte sprach Chloe: „Ich sagte ja, es ist sehr simpel, aber...“ Nadine unterbrach sie: „Es ist perfekt...“ Sie wollte nicht, dass sich Chloe für etwas rechtfertigte oder gar entschuldigte, das weder das Eine noch das Andere benötigte. „...ich verstehe warum du hier her kommst...“ Sie ging auf Chloe zu und küsste sie, bevor sie ihre Stirn an die Chloes legte. „...und ich bin gespannt, was du mir morgen zeigen wirst.“ Nach diesen Worten ging sie an Chloe vorbei und setzte sich auf die Kissen, die mit etwas Abstand im Halbkreis um das Feuer ausgelegt waren. Auch wenn die Vertiefung nur vierzig Zentimeter betrug, konnte man sich recht gut anlehnen und so lies sie sich gegen das Kissen in ihrem Rücken fallen, die Augen auf das Feuer gerichtet. Chloe, die ihr gefolgt war ließ sich ebenfalls in die Kissen sinken und lehnte sich gegen Nadine, bettete ihren Kopf auf der Fläche, die ihr Schlüsselbein umgab und begann gedankenverloren über Nadines Seite zu streichen. Nach einer Zeit, in der sie ihren Gedanken nachhängend dem Tanz der Flammen zugesehen hatten, drückte sie Chloe einen Kuss aufs Haar. „Danke. Danke, dass du mich mitgenommen hast.“, woraufhin sich Chloe als Antwort mit einem Seufzen ein klein wenig näher an sie drückte.
Der Traum verließ sie wie ein Blatt im Herbst den Kontakt zum Baum verliert und im sanften Wind zu Boden sinkt. Je stärker sie sich an ihn zu erinnern versuchte, desto schneller verlies er ihre Erinnerung, bis er binnen weniger Sekunden aus ihrem Gedächtnis verschwunden war. Nadine seufzte, doch im Grunde war es ihr egal. Ihre Aufmerksamkeit war bereits in die Realität zurückgekehrt und so kuschelte sie sich enger an den Körper, der hinter ihr lag. Die Decke weit über sie gezogen, versteckte sie ihre Nase in dem weichen Stoff und umfasste die Finger der Hand, die sie auf ihrem Bauch spürte. Dieses Gefühl war absolut unbeschreiblich: das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich, als wäre sie angekommen.
Doch auch wenn sie es zu verhindern suchte, spürte sie den Drang aufzustehen und so schälte sie sich schließlich aus der Umarmung und setzte sich auf. Ein kurzer Blick zurück, lies sie innehalten. Chloe lag, nun ohne sie als Anlehnung auf dem Bauch, das rechte Bein leicht angezogen und die linke Hand seitlich über ihrem Kopf abgelegt. Nadines Mundwinkel zogen sich unweigerlich nach oben als sie aufstand und Chloe ordentlich zudeckte. Leise schlich sie sich durch das Zimmer, griff sich ihre Sportsachen und verschwand im Bad.
Kurz darauf stand sie vor der Eingangstür des kleinen Steinhauses und sah auf neun reetgedeckte Dächer, die vor ihr den Hügel hinab das Grün des Grases unterbrachen. Die morgendliche Luft war ausgesprochen kühl und der aufkommende Wind blies ihr über das Gesicht. Sie atmete tief ein und setzte den ersten Schritt nach vorne. Ihr Weg führte sie aus dem Schatten des Hauses auf den Pfad, den sie gestern Abend hinaufgestiegen waren und hinab auf den breiten, mit großen Steinen ausgelegten Weg. Norbu kam ihr lächelnd entgegen und hob zum Gruß die Hand. Nadine tat es ihm gleich und setzte ihren Weg fort, sodass sie wenig später am Ufer des kleinen Flusses stand, der sich gut zweihundert Meter vom Dorf entfernt durch die Felsen schlängelte. Das steinige Flussbett knirschte unter ihren Schuhen als sie flussaufwärts das Land erkundete. Es dauerte nicht lange, da verfiel sie in einen lockeren Laufschritt und lief über saftig grüne Hügel, während die Sonne ihre immer stärker werdenden Strahlen zu ihr hinab schickte. Sie erweiterte stetig ihre Runde und es dauerte einige Zeit, da sie wieder die Dächer des Dorfes vor sich sah. Ihre Schritte verlangsamend schlenderte sie durch das hohe, dichte Schilfgras, das in der Nähe des Flusses wuchs. Die Temperaturen waren innerhalb der Stunde, die sie unterwegs gewesen war, stark gestiegen, wodurch die Sonne auf sie herab brannte und sie froh war als sie das, noch von der Nacht ausgekühlte Haus betrat.
Geräuschvoll fiel die Tür ins Schloss. Chloe, die sich gerade an der Kommode zu schaffen gemacht hatte, sah auf. „Hey.“ „Hey. Wo warst du denn?“, fragte Chloe gut gelaunt. „Joggen.“ „Joggen? Du bist einmal im Urlaub und joggst gleich am ersten Morgen?“ „Ich kann nicht ohne.“, Schultern zuckend streifte Nadine ihre Schuhe ab, ging auf Chloe zu, zog sie zu sich und küsste sie, bevor sie ihre Frage stellte. „Wo und wie kann ich duschen?“ „Hinter dem Haus, im Garten ist eine improvisierte Anlage.“, sie zeigte auf eine Tür, die an der linken Seitenwand im hinteren Teil des Raumes angebracht war.
Auf zwei Vorzüge aus der modernen Welt hatte sie hier oben, fernab aller Technik nicht verzichten wollen und so hatte sie eine Campingdusche und eine portable Toilette in ihrem Haus installiert. Da das Bad jedoch über keinen Abfluss verfügte musste die Dusche in dem kleinen bewachsenen Garten untergebracht werden.
Chloe wusste, Nadine würde sich nicht abschrecken lassen und so wunderte es sie nicht, als diese etwa fünf Minuten später das Haus betrat und recht zufrieden aussah. „Kalt, aber funktional.“ „Warte mal ab, wenn es Winter ist.“, gab Chloe lächelnd zurück.
Das Frühstück bestand aus Keksen, die sie aus dem Supermarkt nahe des Flughafens mitgebracht hatten und kaum waren diese gegessen, begann eine ausgiebige Dorfbegehung. Chloe zeigte ihrer Begleitung die Welt, die sie sich hier in den Bergen aufgebaut hatte. Sie liefen an den alten Gebäuden vorbei, den Fluss entlang zu den Viehweiden und zurück über die Felsen des mächtigen Gebirges. Nadine lernte beinahe jeden Bewohner des Dorfes kennen und wurde sogleich in ein Fußballspiel der Kinder integriert, die sich lachend auf einer freien Fläche in der Dorfmitte ihre Zeit vertrieben. Chloe stand am Rand und beobachte zufrieden das Geschehen. Nadine wirkte so losgelöst und zufrieden, wie noch nie zuvor. Ausgelassen alberte sie mit den Kindern, die im Alter von fünf bis sechzehn Jahren dem Ball nachrannten.
Leise trat eine Person neben sie und sie musste sich nicht umsehen um den Mann zu erkennen. Norbu gesellte sich zu ihr und sah ebenso zufrieden aus, wie sie sich fühlte. „In drei Jahren ist es das erste Mal, dass du jemanden mit hier her bringst...“ Sein Blick war weiterhin auf das Spiel vor ihnen gerichtet. Nadine hatte gerade den Ball erobert und stürmte mit ihm über das Feld, gefolgt von einer aufgescheuchten Kinderschar. „....Sie muss wichtig für dich sein.“ Chloe senkte ihren Blick kurz und lächelte, bevor sie wieder aufsah. Ihr Blick fand Nadine innerhalb einer Sekunde und eine Wärme, die sie bereits die letzten Tage erfüllt hatte, machte sich wieder in ihr breit und Chloe hieß sie herzlich willkommen. „Das ist sie.“
„Es ist schön, dich so glücklich zu sehen.“ Chloe wand sich zu ihm um. Es war erstaunlich, wie sehr sie diesen Mann und seine Meinung schätzte. Chloe schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
„Das Fest ist in zwei Tagen. Werdet ihr hier sein?“ Sie nickte: „Sicher. Ich fahre in die Stadt und besorge die restlichen Dinge.“ Norbu nickte und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich rede mit Sajita und gebe dir eine Liste.“ Damit wand er sich ab und war kaum verschwunden als Nadine etwas außer Atem vor sie trat. „Hey.“ „Hey. Na, die Kids haben dich ja ganz schön herumgescheucht.“ „Vielleicht.“, gab Nadine schmunzelnd zu und begab sich an ihrer Seite den Weg zu dem kleinen Haus hinauf, das Chloes Zuhause war. „In zwei Tagen findet das Dorffest statt. Alle kommen zusammen, es gibt ein riesen Lagerfeuer, Musik und Essen. Norbu fragte ob wir dabei sein möchten?“ „Sehr gerne.“, antwortete Nadine und ihre Augen leuchteten bei dem Gedanken in dieser engen Gemeinschaft derart angenommen zu sein.
„Los Schlafmütze!“, Chloe rüttelte an ihrer Schulter und verschlafen öffnete Nadine die Augen. „Frazer, lass das.“, grummelte sie zur Antwort und schüttelte die Hand auf ihrer Schulter ab. „Frazer?“, irritiert sah Chloe auf sie herab. „So hast du mich schon länger nicht genannt.“ „Du hast mir auch schon länger keinen Grund dazu gegeben.“ „Ich wecke dich doch nur. Du hast geschlafen wie ein Stein. Vorhin ist mir das Proviant runter gefallen und selbst davon bist du nicht wach geworden.“, Chloe schüttelte den Kopf, während Nadine ein Auge öffnete. „Ich habe es gehört, doch ich hatte auf eine schönere Art gewartet, geweckt zu werden.“, seufzend öffnete sie auch das zweite Auge und stemmte sich auf die Ellenbogen. „Wenn das so ist...“, schmunzelte Chloe, während sie sich zu Nadine hinabbeugte und sie liebevoll küsste. „Schon besser.“ Chloe lächelte und stand auf. „Los jetzt, hoch mit dir.“ „Ist ja gut.“, grummelte sie, schaffte es jedoch tatsächlich das Bett zu verlassen. „Wie spät ist es?“ Chloe sah auf ihr Handgelenk: „6.20 Uhr.“ „Bitte?“, ein fassungsloser Blick traf sie. „Du wolltest klettern gehen, also gehen wir klettern. Um 12 brauchen wir auch nicht mehr los.“ „Aber auch nicht um 6.“ Verschlafen fuhr sich Nadine durchs Gesicht. Dann sah sie auf und bemerkte den gepackten Rucksack, der neben Chloe auf dem Tisch lag. „Wie war das mit dem Renteneintritt? Vielleicht solltest du deinen eigenen Rat befolgen.“ Nadines Augen weiteten sich eine Spur, dann schüttelte sie, ein Lächeln unterdrückend, den Kopf. „Gib´ mir 10 Minuten.“, damit verschwand sie im Bad.
Zwei Stunden später hing Chloe mit einer Hand am Felsvorsprung und griff mit der zweiten nach dem Seil, das Nadine ihr zugeworfen hatte. Ihre Finger schlossen sich fest um das dicke Tau und mit großen Zügen kletterte sie an ihm hinauf. „Nicht schlecht.“, gab Nadine zu, den Blick auf das Tal vor ihnen gerichtet. Bewundernd blickten ihre Augen über die Vegetation, die in der nun aufgegangenen Sonne zu Leben erwachte und die Hausdächer des Dorfes, das in der Ferne schwach auszumachen war. „Noch sind wir nicht oben.“, spornte Chloe sie weiter an, nachdem sie ihr eine Wasserflasche aus dem Rucksack, den sie trug, gereicht hatte. „Sklaventreiber.“ Nadine grinste sie breit an, bevor sie an ihr vorbei ging und nach dem nächsten Felsen griff. Es war ein sehr steiler und anspruchsvoller Aufstieg, der sie die moosbewachsenen Steine hinauf führte. Nach einer Biegung, tief in einer Felsspalte verborgen floss Wasser den glatten Stein entlang und fiel mit ohrenbetäubendem Rauschen in die Tiefe. „Schmelzwasser.“, erklärte Chloe hinter ihr und zeigte zum Felsvorsprung über ihnen hinauf. Mit einem langen Sprung in die Senkrechte griff sie nach der Kante und zog sich nach oben. Ein Bein über die Kante schwingend verschwand sie aus Nadines Blickfeld und fand sich auf einem wohlbekannten Plateau wieder. Die schroffen Felsen um sie herum brachten hier und dort vereinzelt Wildblumen hervor, die in den verschiedensten Farben in Richtung Sonne wuchsen. Der Platz wurde vom intensiven Sonnenlicht ausgeleuchtet und war trotz der Höhe nicht allzu kalt. Sie wand sich um, bot Nadine eine Hand an, die diese annahm und zog Nadine nach oben.
Kaum hatte sich Nadine umgedreht, fehlten ihr die Worte. Der Blick ins Tal hinunter und auf die benachbarte Bergformation war unbeschreiblich. Die Sonne strahlte die saftig grünen Hügel unter ihnen aus und lies den Schnee auf den Gipfeln glitzern. Ein kühler Wind strich ihr durch die Haare, während die Sonne sie im Kontrast dazu angenehm warm anstrahlte. „Chloe, es ist wunderschön.“ Die Angesprochene neben ihr nickte. „Von allen Plätzen der Erde, die ich bis jetzt gesehen habe, ist dieser hier mein Liebster...“ Sie strahlte bei diesen Worten mit der Sonne um die Wette. Es war erstaunlich, wie wandelbar diese Frau war, Nadine konnte nur über ihre Veränderung staunen. War sie vor nicht einmal einer Woche noch von einer professionellen Ernsthaftigkeit geprägt gewesen, die es ihr scheinbar verbot tatsächlich sie selbst zu sein, war sie nun losgelöst und voller Freude – und das steckte an. Auch Nadine spürte, wie sie immer öfter loslassen konnte und immer weniger darauf achtete, was wohl andere davon halten könnten. „...und wir haben einen perfekten Tag erwischt.“
Nadines Finger zuckten und fanden ganz unweigerlich den Weg zu Chloes Hand. Es bedurfte keiner Worte.
Sie hatten sich schließlich gesetzt und wie es Nadine vorkam, Stunden lang einfach nur die Aussicht genossen. Doch sie hatte nicht ein einziges Mal das Bedürfnis gehabt auf die Uhr zu sehen, oder wieder hinabzusteigen.
Genau hier und jetzt wollte sie sein. Nachdem ihr Proviant gegessen und das Wasser beinahe ausgetrunken war ,hatte sie sich irgendwann auf den Rücken gelegt, den Rucksack als Lehne genommen und mit dem Gesicht in der Sonne, die Augen geschlossen. Noch nie hatte sie eine solche Stille erlebt. Zwar hörte sie das leise Rauschen des Wasserfalls und auch Chloes Atem, doch das war auch schon alles, das an ihre Ohren drang.
Ein leises Rascheln von Kleidung verriet ihr, dass sich die Frau an ihrer Seite bewegte und so verwunderte es sie nicht, als sie eine Sekunde später spürte, wie sich ein Schatten vor die Sonne schob. Sanft berührten Fingerspitzen ihren Kieferknochen und strichen an ihm entlang. Die Berührung ließ sie lächeln, während sie langsam die Lider öffnete und Augen wie leuchtendes Meer vor sich sah. „Wenn mich jetzt jemand weckt, garantiere ich für nichts...“, flüsterte sie und strich Chloe eine Haarsträhne zurück hinter das Ohr. Das Lächeln, das Chloe ihr schenkte stellte alles in den Schatten, das Nadine bisher gesehen hatte und eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Sie hob ihre Hände zu Chloes Gesicht und umfasste es, bevor sie sich nach oben streckte und ihre Lippen auf Chloes legte.
„Wir sollten langsam zurück. Ich möchte dir noch etwas zeigen.“, durchbrach Chloe die erneute Stille, die sich nach diesem Kuss über sie gelegt hatte, während sie weiterhin mit Nadines Fingergliedern in ihrer Hand spielte. „Ich glaube, nichts kann das hier überbieten.“ „Vermutlich nicht...“, gab Chloe ihr Recht, erhob sich dennoch. „...aber du wirst es trotzdem mögen.“
Wenig später standen sie erneut mit den Rucksäcken auf dem Plateau und Chloe wand sich zur Felswand um. „Hier entlang.“ Sie ging einige Schritte am Fels entlang, bis sie sich durch einen kleinen Spalt zwängte und aus Nadines Sicht verschwand. Neugierig folgte sie ihr in das dunkle Nichts, das sich zwischen den gewaltigen Felsen auftat. Nur die Strahlen der Taschenlampen erhellten ihre Umgebung und das Rauschen, das draußen nur leise an ihre Ohren gedrungen war, wurde nun zunehmend lauter. „Wohin gehen wir?“ „Du erinnerst dich an den Wasserfall?“ Nadine nickte bevor ihr klar wurde, dass Chloe es in der Dunkelheit nicht sehen konnte und beeilte sich ein „Ja“ anzufügen. „Er existiert nicht nur an der Oberfläche.“ Chloe hatte es kaum ausgesprochen, da bog sie um eine Ecke. Als Nadine sie eingeholt hatte, öffnete sich vor ihr, nur durch einen kleinen Durchgang von ihr getrennt, eine Höhle, die durch einfallendes Sonnenlicht erhellt wurde. In ihrer Mitte fielen unschätzbar große Wassermassen in die Tiefe herab, schlugen etwa zwanzig Meter unter ihnen auf Fels und verloren sich in der Dunkelheit. Die Vielzahl der einzelnen Wassertropfen, die wild umher flog, brach das einfallende Licht und hunderte kleiner Regenbögen spiegelten sich in ihrer Oberfläche.
Chloe betrat die Höhle durch den Spalt und bedeutete ihr es ihr gleich zutun. „Beeindruckend, oder?“, fragte Chloe sie, die Augen wie gebannt auf das Wasser gerichtet. „Es ist der Wahnsinn.“, antwortete Nadine und lies ihren Blick staunend auf der Höhlendecke ruhen, aus der das Wasser schoss.
Der Abstieg ging ihnen leicht von der Hand, auch wenn Chloe nun spürte, wie ihre Muskeln langsam ermüdeten. Es lag noch eine Stunde Fußweg vor ihnen, bis sie wieder vor der Holztür standen, die den Eingang zu Chloes Haus beschrieb und kaum hatte sie diese erreicht, berührte die untergehende Sonne den Gipfel des Gebirges. „Chloe!“, Norbus Stimme rief laut den Weg hinauf und die Angesprochene drehte sich um. „Norbu, alles in Ordnung?“ „Ich habe dich heute früh verpasst. Hier ist die Liste für Morgen.“ „Wir waren klettern... oben am Wasserfall.“, erklärte Chloe und nahm das Stück Papier entgegen, das Norbu ihr reichte. „Na, da habt ihr euch ja den perfekten Tag ausgesucht. Habt noch einen schönen Abend.“ Damit wand er sich ab. „Ihr auch!“, rief Chloe ihm hinterher und folgte Nadine ins Haus. „Was hast du da?“, fragte diese, nachdem sie ihre Jacke und Schuhe ausgezogen hatte. „Norbu hat mich gebeten für das Fest einkaufen zu gehen.“ „Na, dann steht ja unser Programm für Morgen schon.“ Nadine warf ihren Rucksack auf den Tisch und bald darauf waren sie im Garten verschwunden um sich die Spuren des Tages vom Körper zu waschen.
Chloe schloss die Hand fest um die Tragegriffe der Tasche und hievte sie aus dem Wagen. Für vierzig Personen einzukaufen war anstrengender gewesen, als sie es geglaubt hatte. Auch wenn sie nur die Lebensmittel gekauft hatten, die das Dorf nicht selbst durch Anbau oder Viehzucht hervorbrachte, waren die fünf Taschen im Kofferraum zum Bersten gefüllt. Es kostete sie eine gewisse Anstrengung, bis sie schließlich alles vom Auto den Weg hinauf zu Norbu getragen hatten. Während Nadine den Kindern einen Ball zuwarf, den sie in ihre Richtung geschossen hatten, verriet ihr ein Blick auf ihr Handgelenk, dass sie noch gut vier Stunden Zeit hatten, bis der einsetzende Sonnenuntergang das Dorffest eröffnen würde.
Nadine trat neben ihr in das Haus, während Chloe an die Zeit nach dem Fest dachte. Sie wollte unbedingt ihr Vorhaben einlösen und Nate und seine Familie besuchen. Sie hatte sie zu lange nicht gesehen, als dass sie es noch länger aufschieben wollte. Doch wenn sie daran dachte aufzubrechen, wollte sie nicht alleine gehen. Sie wollte Nadine mitnehmen, sie ihren Freunden vorstellen und hoffen, dass sie sich alle auf einem neutralen Level neu kennen lernen könnten. Doch sie wusste, dass Nadine skeptisch sein würde. „Wie lange sollen wir eigentlich hier bleiben?“, fragte sie daher und Nadine sah ihr kurz verwirrt entgegen. „Wie meinst du das? Ich bin gerne hier.“ „Ich auch. Doch ich muss immer wieder an Elena und Nate denken. Und an Cassie. Ich habe sie wirklich schon lange nicht gesehen.“ Nadine schwieg. „Ich möchte sie besuchen und ich hoffe, dass du mitkommst.“ Augenblicklich sah Chloe wie sich ihr gegenüber versteifte. „Das ist keine gute Idee.“ „Komm schon Nadine, es ist nur ein kurzer Besuch.“ „Es ist besser, wenn du alleine gehst.“, wehrte Nadine ab. „Warum denn?“ „Das letzte Mal als ich Nathan Drake sah, hielt er mir eine Pistole an den Kopf.“ „Das ist ewig her.“ Doch Nadine wehrte weiterhin ab und auch wenn Chloe alles versuchte, half dies nicht sie umzustimmen.
Im Gegenteil, Nadine sperrte sich Zusehens: „Chloe, lass es einfach!“ Die Stimme, die Chloe traf war kalt und abweisend. „Nadine, ich versteh es nicht. Wo ist das Problem?!“ „Offensichtlich, dass du ein ´Nein` nicht akzeptieren kannst.“, sie sprach ruhig, doch mit wahrnehmbar unterdrückter Wut und Chloe konnte nur den Kopf schütteln. So kamen sie einfach nicht weiter. „Nadine, ich bitte dich doch nur für zwei oder drei Tage mitzukommen. Es sind meine Freunde.“ „Die versucht haben mich umzubringen. Wie oft willst du es noch hören?“ Chloe legte den Kopf schief. „Sam kennst du mittlerweile. Und auch Nate ist anders als wie du ihn kennengelernt hast. Wenn wir mal ehrlich sind: du hast ihnen auch nicht gerade Blumen geschenkt.“ Wütend schnaubte Nadine durch die Nase und wand sich zum Gehen. Der Ausdruck in ihren Augen ließ Chloe an Ort und Stelle verweilen. Sie wusste nicht mehr weiter und hielt Nadine nicht auf. Irgendwie war ihr klar gewesen, dass ihr erster Streit nicht lange auf sich warten lassen würde, dennoch hatte sie nicht so bald damit gerechnet.
Nadine öffnete die Tür und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus, während Chloe frustriert auf die ins Schloss fallende Tür sah. Warum sperrte sie sich so? Es war im Prinzip nur ein kurzer Trip zu Nate, Elena und Cassie – nichts besonderes. Es waren ihre Freunde, die einzigen Freunde, auf die sie sich tatsächlich verlassen konnte. Hätte Nadine wenigstens einen vernünftigen Grund, sie würde es akzeptieren und sie in Ruhe lassen. Doch darauf zu beharren, Nate und Sam hatten sie töten wollen, war kein Grund. Dieser Vorfall lag Jahre zurück und entstand aus einer unglücklichen Situation heraus. Weder sie noch die beiden Männer waren heute noch die gleichen, die sie damals gewesen waren - mit Sam kam sie mittlerweile sogar ganz gut zurecht. Chloe lies sich schwerfällig auf die Kissenlandschaft sinken, während das Gedankenkarussell weiterhin seine Runden drehte: irgendeinen tiefer liegenden Grund musste Nadine haben.
Mit energischen Schritten ging Nadine durch das Dorf. Die spielenden Kinder, die den Ball zur Seite gelegt hatten und nun zwischen den Hühnern tobten, beachtete sie dieses Mal nicht und auch das große Feuer, das in der Dorfmitte angezündet worden war, lies sie nicht innehalten. Sie wollte einfach nur weg. Die Ecke, in die Chloe sie gedrängt hatte mochte sie absolut gar nicht und so suchte sie das Weite. Ihre Füße trugen sie ganz automatisch hinunter zum Fluss und kaum vernahm sie das Rauschen des Wassers, verlangsamten sich ihre Schritte. Gegen den Sturm in ihrer Brust ankämpfend lief sie noch einige Zeit am Ufer entlang, bis sie wieder eine gedankliche Grundordnung hergestellt hatte. Mit einem Seufzen ließ sie sich auf einen Felsen sinken und sah dem Wasser zu, wie es in der Mitte des Flusses rasend, an seinen Ausläufern träge das Flussbett hinabrann. Warum fiel es ihr nur so unfassbar schwer? Chloe hatte Recht, mit allem. Es wäre nur für eine kurze Zeit, es waren ihre Freunde. Nadine wusste, wie wichtig es für Chloe war, dass sie mit ihr ging und sie nochmals, auf andere Art kennenlernte.
Doch genau das war das Problem. Menschen waren nicht ihr Ding. Sie konnte sie kaum einschätzen. Im Beruf hatte sie sich auf die professionelle Ebene verlassen können, wodurch es ihr absolut egal war, was andere von ihr hielten. Ihren Job führte sie stets gewissenhaft und effektiv durch. Sie wusste, was sie konnte und inwiefern sie zu handeln hatte. Doch sobald Menschen in einer emotionalen Beziehung zu ihr standen, war sie schlicht verloren. Eine ansonsten unbekannte Unsicherheit befiel sie, sodass es kaum eine Situation gab, aus der sie mit einem befreiten Gefühl austrat. Viel mehr ging sie immer wieder Gesprächsverläufe durch und verlor sich beinahe in ihrer Analyse.
Ihre schlichte Antwort darauf war entsprechende Situationen zu meiden und bisher funktionierte dies ausgesprochen gut. Sie beschränkte sich auf die professionellen Beziehungen, die jobbedingten Interaktionen mit Menschen und führte ihre Organisation eine Zeit lang mit harter und erfolgreicher Hand. Bis Chloe kam und mit ihr auch die emotionale Beziehung wieder in ihr Leben trat. Sie betrat beinahe vollkommen unbekanntes Gelände und fand sich ohne Kompass und Karte auf dieser riesigen Ebene, die sich da vor ihr auftat, kaum zurecht. Dennoch wusste sie, dass sie Chloe vertrauen konnte. Aber wie es mit Nate, Sam und Elena war, wusste sie nicht und das ängstigte sie. Erschwerend kam hinzu, dass sie mit ihnen bereits eine Vorgeschichte hatte und diese definitiv nicht von positiver Natur war. Es war also doppelt schwer auf eine positive Reaktion der Menschen zu hoffen, die Chloe so viel bedeuteten.
Hier im Dorf war es ihr leichter gefallen. Sie hatte weder eine Vorgeschichte mit den Bewohnern, noch Grund zu der Annahme, sie könnten sie nicht mögen.
Nadine starrte weiterhin auf das Wasser, das endlos an ihr vorbeizog, sich in Wirbeln verfing und hinab ins Tal rauschte. Sollte sie anecken und die Personen, die Chloe so wichtig waren, weiter gegen sich aufbringen, wusste sie, Chloe würde enttäuscht sein. Sie sah beinahe ihre sonst so strahlend blauen Augen stumpf zu ihr blicken, die Traurigkeit fest in ihnen verankert. Niedergeschlagen schloss sie die Augen, während sie den Kopf hängen lies und versuchte das Bild aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie wollte nicht für diesen Anblick verantwortlich sein, der da in ihr aufstieg.
Nach einer Weile, sie wusste nicht wie lange sie dort gesessen hatte, hörte sie Schritte auf sich zukommen. Sie musste sich nicht umdrehen um zu wissen wer es war. Die Schritte verstummten schließlich und Chloe nahm neben Nadine auf dem Felsen Platz.
„Ich möchte mich entschuldigen.“, begann sie und zog mit der Aussage Nadines Aufmerksamkeit auf sich. „Es war falsch, dich zu drängen. Du hast sicher gute Gründe für deine Entscheidung, auch wenn ich sie im Moment noch nicht nachvollziehen kann.“ Sie schwieg und wartete.
Nadine benötigte eine Weile, bis auch sie etwas sagte. „Ich weiß, dass es dir wichtig ist, dass ich mit dir komme...“, begann sie schließlich, brach jedoch wieder ab, da sie schlicht nicht wusste, wie sie sich erklären sollte. Doch Chloe wartete, nicht ungeduldig oder drängend, sie wartete einfach. „...doch ich bin nicht gut mit Menschen...du solltest die Zeit mit ihnen genießen...ich will dir das nicht kaputt machen.“, sie wusste, es war eine miserable Erklärung, doch es war das Beste, das sie momentan zu Stande brachte, doch Chloe schien zu verstehen: „Wenn du dir Sorgen machst, sie könnten dich nicht akzeptieren oder mögen...“ Sie suchte ihren Blick und sprach erst weiter, als sie sich des Blickkontaktes zu Nadine sicher war. „....sie werden dich akzeptieren und es ist mir völlig egal, ob sie dich mögen oder nicht. Ich mag dich. Das zählt.“, stellte sie klar und sah wie Nadine mit sich rang um ihre Aussage annehmen zu können. „Es ist mein Ernst, Nadine. Aber ich verstehe, wenn du lieber hier bleiben oder auch woanders hingehen möchtest.“ Nadine sah ihr weiterhin in die Augen. Sie wollte nicht, dass Chloe sie allein ließ und ohne sie ging. Es war verrückt. Sie hatte sich immer für den Einzelgänger-Typ gehalten und hatte nie geglaubt, sie könnte für jemanden derart intensiv fühlen. Nicht gedacht, sie könnte jemanden nur bei der Vorstellung seines Gehens so sehr vermissen. Doch wenn sie jetzt darüber nachdachte was sie noch weniger wollte als zu Nate zu fahren, dann war es ohne Chloe hier zu bleiben.
Ihre Gesichtszüge entspannten sich und ein leichtes Lächeln zierte sie. „Egal, hm?“ „Absolut.“ „Dann begleite ich dich.“ Nadine suchte mit ihrer Hand nach Chloes und verschränkte ihre Finger miteinander, genoss das Gefühl der Gewissheit, dass sie darüber nicht mehr streiten würden.
Sie saßen noch eine Zeit lang dort am Ufer des Flusses und sahen dem Wasser zu, beobachteten seine weißen Schaumkronen und den wilden Tanz, den einige herabfallende Blätter auf ihnen vollführen. Die Sonne ging nun langsam unter und versank majestätisch hinter den weißen Gipfeln der Berge.
„Ich habe eine Bitte.“ Chloe ergriff plötzlich das Wort, sprach zunächst Richtung Boden, bevor sie den Blick hob. „Lauf nicht weg. Lass uns über die Dinge reden...und damit meine ich keinen Smalltalk.“ Nadine verstand nicht was sie meinte und das musste Chloe ihr ansehen, denn sie sprach weiter: „Ich möchte nicht, dass wir die Dinge, die uns beschäftigen totschweigen. Ich möchte deine Gedanken hören, wenn du dazu bereit bist...“ Nadine atmete tief ein. „...und ich möchte, dass du weißt, dass du nicht mehr alleine sein musst, wenn du es nicht willst.“ Chloe übte während ihrer Worte leichten Druck auf ihre noch immer verschränkten Hände aus, während Nadine, die bei diesen Worten von einer plötzlichen Unruhe heimgesucht wurde, den Bick von den blauen Augen abwandte und ziellos geradeaus starrte. Sie hörte die Worte, sie spürte die Worte. Worte, die ihr so unfassbar viel bedeuteten, dass sie Angst vor ihnen bekam. Sollte sie Chloes Worte annehmen, sie als Wahrheit anerkennen und später feststellen müssen, dass ihr Wahrheitsgehalt nichts mehr als verrauchende Asche war...sie würde vergehen. Die scheinbar bevorstehende Enttäuschung und der daraus resultierende Schmerz machten ihr Angst. Und doch wusste sie im Grunde, dass Chloe ihres Vertrauens würdig war. „Chloe ich...“ ihre Stimme versagte. Während sie sich räusperte sprach Chloe. „Du musst darauf nichts sagen.“ „Ich möchte es aber. Du verdienst es...es ist nur... ich habe keine Erfahrung mit solchen Situationen.“ Dabei sah sie auf ihre Finger herab, die fest mit Chloes verschlugen waren. Chloe hatte gesagt, sie würde ihre Gedanken hören wollen. Den Sprung, den sie im Inneren nun über ihren eigenen Schatten machen musste, war immens, doch sie sprang. „Es ist nicht so einfach für mich deine Worte anzunehmen und darauf zu vertrauen, dass du es Ernst meinst.“ Chloe zog die Augenbraun zusammen und Nadine setzte erklärend nach: „Versteh´ mich bitte nicht falsch. Ich vertraue dir. Mehr als jedem anderen, doch es ist wie eine Mauer, die mich in meinen Gedanken gefangen hält... und die sind nicht wirklich...“ Es dauerte einen Moment, bis sie das richtige Wort gefunden hatte: „...hoffnungsvoll.“
Stille.
Nadine, die sich noch immer nicht wagte den Blick auf Chloe zu richten, spürte nach bangen Momenten eine warme, leicht raue Fingerkuppe, die ihr Kinn anhob und zu sich zog. Sie gehorchte und ließ sich von dem Finger leiten, hob den Blick und sah in ein Augenpaar, das derart verständnisvoll war, dass sie irritiert den Blick erwiderte. „Ich kann dir nicht versprechen, dass wir Bestand haben. Ich kann dir auch nicht versprechen, dich nie zu verletzten, denn selbst wenn es niemals meine Absicht sein wird, so kann ich nicht ausschließen, dass du dich irgendwann durch mich verletzt fühlst.“ Sie sah Nadine fest in die Augen, ihre Handfläche ersetzte ihre Fingerkuppe und sie strich mit dem Daumen ihren Wangenknochen entlang. „Aber ich verspreche dir, dass ich dich nicht hintergehen werde.“ Nadine durchfuhr ein wohliger Schauer der Zuneigung und auch wenn sie sich fragte, was Chloe nur dazu trieb ihre Energie und Zuneigung in sie zu stecken, konnte es sie nicht davon abbringen, sie zu sich heranzuziehen und zu küssen. Egal was es war, sie war schlicht froh darüber. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, jemand interessiere sich einzig und alleine für sie. Den Druck ihrer Lippen auf Chloes verstärkend, hielt sie die junge Frau an sich gepresst. Sie öffnete ihren Mund, intensivierte das Spiel, das sie begonnen hatte und versuchte die Gefühle, die sie mit Worten nicht zu beschreiben wusste, zu zeigen.
Chloe verstand und führte das nonverbale Gespräch, das ihre Lippen miteinander führten, mit gleicher Intensität fort. Eigentlich war sie nie der Typ für große Reden gewesen, zumindest nicht für Reden dieser Art, doch Nadine veränderte sie sich – Stück für Stück, ohne es zu beabsichtigen und es war ihr ein großes Anliegen gewesen, Nadine so offen gegenüber zu treten. Mit etwas Zeit und Geduld würde Nadine sich vielleicht ebenfalls öffnen können und ihr einen kleinen Einblick in ihr Leben und ihre Gedanken gewähren.
Bevor der Kuss aufreizend werden konnte, beendete Chloe ihn. Nach einem Blick in die braunen Augen, die ihr wie strahlende, geheime Tore in eine ihr noch unbekannte Welt entgegenfunkelten, richtete sie sich auf. Ihre Füße trafen nach einem kurzen Fall auf den steinigen Untergrund und die kleinen Kiesel knirschten unter ihren Schuhsohlen. „Möchtest du noch hier bleiben?“ Sie ahnte, dass Nadine noch einen Moment alleine sein wollte und wurde nach einem kurzen Moment, in dem Nadine überlegte, durch ein Nicken bestätigt. „Okay...“ Sie drückte ihre Hand noch einmal, bevor sie sie los lies und sich zum Gehen wandte. Doch nur eine Sekunde später spürte sie erneut Nadines Hand auf ihrer und ein Ruck zog sie zu dem Felsen zurück, auf dem sie gerade noch gesessen hatte. Ehe sie sich versah spürte sie erneut die weichen Lippen, die sacht über ihre tanzten. „Danke.“ Nadine sprach mit geschlossen Augen, während sie ihre Stirn an Chloes lehnte. Chloe spürte ihre Fingerspitzen über ihren Nacken gleiten und eine Gänsehaut überzog augenblicklich ihren Körper. Diese Nähe war nervenaufreibend und entspannend zugleich. Doch besonders war es eine absolute Wohltat ihr so nahe zu sein und sich ihrer Aufmerksamkeit und Zuneigung so sicher sein zu können. Sie kostete dieses Gefühl vollkommen aus und konzentrierte sich ausschließlich auf die Person vor ihr und die Empfindungen, die sie in ihr hervorrief.
Einige Herzschläge später löste sie sich schließlich von Nadine, schloss einen Moment die Augen, bevor sie sie wieder öffnete und zwei Schritte zurücktrat, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Erst dann wandte sie sich ab. „...bis gleich.“ Das knirschende Geräusch der Steine begleitete sie ein Stück den Fluss entlang, bis sie sich nach links wandte. Der Wind strich ihr kühl durch die Haare, während ihre Schritte sie stetig in Richtung des Dorfes trugen, doch es störte sie nicht. Lächelnd schloss sie kurz die Augen um das Gefühl in sich aufzunehmen. Die Erleichterung über Nadines Reaktion durchspülte ihren Körper ebenso warm, wie die Sonne nun auf ihre Haut schien. Es war mehr als sie sich erhofft hatte.
Sie bemerkte den fragenden Blick der besorgten Nachbarin, die das Weggehen der beiden Frauen zuvor beobachtete hatte, als sie auf ihr Haus zuschritt. Sie sah zu ihr hinüber und nickte, dann lächelte sie und auch Amita lächelte sie an, bevor sie sich wieder daran machte, die Pflanzen auf ihrem Grundstück zu schneiden.
Eine Stunde später standen sie bereit für den Abend in der Mitte des Zimmers. Das Versinken der Sonne würde zwar noch etwas dauern, doch bereits jetzt herrschte geschäftiges Treiben im Dorf. „Bereit?“, fragte Nadine. „Bereit.“, bestätigte sie, nahm die Hand, die Nadine ihr entgegenstreckte an und sie ließ sie auch nicht los, als sie den Weg hinabstiegen und den Dorfplatz betraten. Es war das erste Mal, dass sie sich der Dorfgemeinschaft so zeigten, doch ausnahmslos jeder schien sich für sie zu freuen. Sie wurden herzlichst begrüßt und fanden schnell ihren Platz nahe am Feuer, über dem bereits Fleisch geschmort wurde. Die Gespräche waren locker und auch Nadine, die kaum ein Wort verstand, konnte sich irgendwie mit Händen, Füßen und etwas Hilfestellung durch Chloe verständlich machen.
Die Sonne versank langsam am Horizont und die großen Feuerstellen und Fackeln erhellten die Szenerie. Ausgelassen unterhielten sich die Menschen und fröhliches Lachen hallte durch die aufkommende Nacht. Norbu holte schließlich eine Art kleine Gitarre hervor und begann zu spielen, während er von verschiedenen Bewohnern durch Trommeln und Flöten begleitet wurde. Beinahe gleichzeitig mit den ersten Tönen begannen die Dorfbewohner sich zur Musik zu bewegen und ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Nadine hatte noch nie zuvor so viele unbeschwerte Menschen auf einem Fleck gesehen und auch wenn sie etwas abseits am Feuer stand, nahm sie das Geschehen in sich auf. Und auch wenn das Treiben um sie herum bunt und ausgelassen war, so sah sie nur einen einzigen Menschen tatsächlich an. Ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse lagen einzig und alleine auf Chloe. Während sie sie beobachtete, jedes Lächeln in sich aufnahm und jede Bewegung registrierte, spürte sie deutlich einen wohligen Schauer durch ihren Körper strömen. Ihr Mund trocknete aus und es fiel ihr schwer zu schlucken, während ihr Blick wie magnetisch von ihr angezogen wurde. Das Kribbeln in ihrem Magen nahm stetig zu. Langsam begriff sie, dass sie über das Stadium des verliebt seins nun endgültig hinaus war.
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Der Wagen fuhr weiterhin über die Schotterstraße, die nun Zusehens mit Schlaglöchern besetzt war. Sie kamen offensichtlich in einen, fern ab von Tourismus gelegen Teil des Landes. Die Anzahl der Gebäude, die auch vorher nicht sehr groß war, nahm weiter ab und so sahen sie nur noch vereinzelt und mit großem Abstand zueinander, immer älter werdende Dörfer. Schließlich, es war bereits dämmrig, hielt Chloe den Wagen an.
Sie schaltete den Motor aus und stieg aus. „Wir sind da. Den Rest müssen wir zu Fuß gehen. Das Dorf ist nicht mit dem Wagen passierbar.“ Auch Nadine stieg aus und war froh um die Möglichkeit ihre Beine ausstrecken zu können, denn dieses lange sitzen sagte ihr nicht wirklich zu. Sie hörte ein entferntes Rauschen, das der Fluss sein musste, den Chloe bereits erwähnt hatte und konnte gut einhundert Meter vor ihnen die ersten Gebäude erkennen. Chloe hatte ihr bereits erzählt, dass das Dorf aus nur zwölf Gebäuden bestand und einundvierzig Einwohner zählte. Mit einem Griff in den hinteren Teil des Wagens holte sie ihre Tasche hervor bevor sie Chloe den ausgetretenen, breiten Pfad entlang folgte.
Circa fünfzig Meter vor dem ersten Gebäude hielt Chloe inne, als sie eine Gestalt auf sie zukommen sah. „Norbu!“, rief sie erfreut, nachdem sie die Person erkannt hatte und lief eilig auf die kleine Gestalt zu. Einen Moment später lag sie in den Armen des älteren Mannes, der sie ebenfalls erfreut begrüßte. „Es ist zu lange her.“, sagte er mit starkem Akzent.
Nadine mochte ihn schon ab der ersten Sekunde. Seine tiefe Stimme, die jene Ruhe des fortgeschrittenen Alters in sich trug, klang angenehm warm. Das kurze Haar war durchsetzt von Silber, die dunklen Augen funkelten freundlich. Er lies Chloe los, wand sich zu Nadine „Willkommen.“ und steckte ihr die Hand entgegen. Nadine ergriff sie, schüttelte sie mit leichtem Druck und erwiderte das offene Lächeln. „Nadine, das ist Norbu. Er ist der Anführer des Dorfes.“ „Norbu, meine Partnerin Nadine.“ Sie vervollständigte ihre Vorstellung durch eine entsprechende Geste. Norbu nickte. „Kommt.... habt ihr Hunger? Sajita hat einen Eintopf gemacht.“ „Großen Hunger.“, gab Nadine zu und sofort drehte sich der Mann um, hob die Hand als Zeichen, dass sie ihm folgen sollten und führte sie in das Dorf.
Der Weg, der nun durch große Steinplatten beschrieben wurde, verlief im leichten Anstieg den Hügel hinauf und wurde bald von einer verwitterten, kniehohen Steinmauer umrahmt. Neugierig sah Nadine sich um, erkannte die Umrisse der Steinbauten, ihre reetgedeckten Dächer und die tanzenden Lichter im Inneren. Vor den Häusern war niemand mehr unterwegs. Der breite Weg war verlassen und auch auf den abzweigenden Wegen ging in der Dunkelheit niemanden mehr durch das Dorf. Norbu blieb vor einem, im Vergleich zu den übrigen Häusern, recht großen Gebäude stehen, drückte die alte Holztür auf und trat ein. Im Inneren war es angenehm warm und gemütlich. Ein Feuer prasselte leise am hinteren Ende des Raumes, ein niedriger Tisch stand nahe davor. Sajita, die sich als Norbus Frau herausstellte, begrüßte sie ebenso herzlich wie es ihr Mann getan hatte und bat sie sich zu setzen.
Sie häufte das Essen in tiefe Schüsseln und reichte diese an ihre Gäste weiter, während sie gespannt den Erzählungen Chloes lauschte, die immer wieder durch Fragen seitens Norbu unterbrochen wurden. Er war äußerst interessiert an den Artefakten und Bauwerken, die sie und Chloe vor kurzem in Indien entdeckt hatten. Immer wieder fragte sich Nadine, wie es sein konnte, dass die beiden älteren Menschen vor ihnen, die sicherlich nur sehr selten ihr Dorf verließen, der englischen Sprache derart mächtig waren. Schließlich stellte sie diese Frage in den Raum und mit einem stolzen Lächeln antwortete Norbu ihr. „Ich habe ihr unsere Sprache gezeigt und sie mir ihre.“ Er deutete mit einer dankbaren Kopfbewegung zu Chloe hinüber. „Ich war vor zwei Jahren für eine recht lange Zeit hier.“, fügte Chloe an, woraufhin Nadine anerkennend nickte.
Einige Zeit später drängte Sajita ihren Mann von den Neuankömmlingen abzulassen und seine Fragen auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie hatte bemerkt, dass die beiden Frauen vor ihr erschöpft und müde waren, weshalb sie Chloe eine Öllampe in die Hand drückte, ihnen eine gute Nacht wünschte und ihren Mann mit einem Blick zu verstehen gab, dass er sie für heute ziehen lassen musste.
Es war nur noch ein kurzer Weg an drei Häusern vorbei, immer weiter den Hügel hinauf, bis Chloe zufrieden ausatmete und die Tür eines kleinen Hauses aufschloss. Sie sagte nichts, als sie eintrat, den Vorraum durchquerte und die Lampe auf einen Tisch stellte. Dann lief sie mit einem Feuerzeug durch den Raum und entzündete auch die übrigen Lampen, die auf Regalen standen oder von Harken an der Decke baumelten. Sanftes Licht huschte durch die Dunkelheit und verdrängte sie in die hintersten Ecken.
Vor Nadine erstreckte sich ein rechteckiger Raum, in dessen Mitte der Tisch thronte, auf dem Chloe die Lampe abgestellt hatte. Der Boden war mit Teppichen aller Art ausgelegt. Rechts in der hinteren Ecke stand ein Bett, daneben eine große Kommode.
Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch durch ein Knacken auf die ihr gegenüber liegende Wand gelenkt. Vierzig Zentimeter in den Boden versunken befand sich dort eine etwa zwei auf zwei Meter große Vertiefung, an deren rückseitigem Ende sich die mit Steinen umrandete Feuerstelle befand. Die Vertiefung selbst war mit etwas Abstand zu den Flammen mit Kissen ausgelegt. Chloe hatte sich auf den Boden gekniet und ein wärmendes Feuer entzündet. Die Temperatur in dieser Höhe war bei weitem angenehmer als jene auf dem Markt in Indien, doch auch wenn sich die Temperatur hier als angenehmer und die Luft als klarer herausstellte so war es, sobald die Sonne verschwunden war, unangenehm kalt. Die Feuerstelle, die mit großen Holzscheiden bestückt war, brachte jedoch innerhalb weniger Minuten eine angenehme Wärme in das Haus.
Als Chloe sich erhob und umdrehte wurden ihre Haare in den rötlich-gelben Schein der Flammen gehüllt. Sanft umspielte das Licht ihre Gesichtszüge. Nadine verschlug es die Sprache bei diesem Anblick. Chloe sah schlicht wunderschön aus. Unsicher, da Nadine nicht reagierte sprach Chloe: „Ich sagte ja, es ist sehr simpel, aber...“ Nadine unterbrach sie: „Es ist perfekt...“ Sie wollte nicht, dass sich Chloe für etwas rechtfertigte oder gar entschuldigte, das weder das Eine noch das Andere benötigte. „...ich verstehe warum du hier her kommst...“ Sie ging auf Chloe zu und küsste sie, bevor sie ihre Stirn an die Chloes legte. „...und ich bin gespannt, was du mir morgen zeigen wirst.“ Nach diesen Worten ging sie an Chloe vorbei und setzte sich auf die Kissen, die mit etwas Abstand im Halbkreis um das Feuer ausgelegt waren. Auch wenn die Vertiefung nur vierzig Zentimeter betrug, konnte man sich recht gut anlehnen und so lies sie sich gegen das Kissen in ihrem Rücken fallen, die Augen auf das Feuer gerichtet. Chloe, die ihr gefolgt war ließ sich ebenfalls in die Kissen sinken und lehnte sich gegen Nadine, bettete ihren Kopf auf der Fläche, die ihr Schlüsselbein umgab und begann gedankenverloren über Nadines Seite zu streichen. Nach einer Zeit, in der sie ihren Gedanken nachhängend dem Tanz der Flammen zugesehen hatten, drückte sie Chloe einen Kuss aufs Haar. „Danke. Danke, dass du mich mitgenommen hast.“, woraufhin sich Chloe als Antwort mit einem Seufzen ein klein wenig näher an sie drückte.
Der Traum verließ sie wie ein Blatt im Herbst den Kontakt zum Baum verliert und im sanften Wind zu Boden sinkt. Je stärker sie sich an ihn zu erinnern versuchte, desto schneller verlies er ihre Erinnerung, bis er binnen weniger Sekunden aus ihrem Gedächtnis verschwunden war. Nadine seufzte, doch im Grunde war es ihr egal. Ihre Aufmerksamkeit war bereits in die Realität zurückgekehrt und so kuschelte sie sich enger an den Körper, der hinter ihr lag. Die Decke weit über sie gezogen, versteckte sie ihre Nase in dem weichen Stoff und umfasste die Finger der Hand, die sie auf ihrem Bauch spürte. Dieses Gefühl war absolut unbeschreiblich: das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich, als wäre sie angekommen.
Doch auch wenn sie es zu verhindern suchte, spürte sie den Drang aufzustehen und so schälte sie sich schließlich aus der Umarmung und setzte sich auf. Ein kurzer Blick zurück, lies sie innehalten. Chloe lag, nun ohne sie als Anlehnung auf dem Bauch, das rechte Bein leicht angezogen und die linke Hand seitlich über ihrem Kopf abgelegt. Nadines Mundwinkel zogen sich unweigerlich nach oben als sie aufstand und Chloe ordentlich zudeckte. Leise schlich sie sich durch das Zimmer, griff sich ihre Sportsachen und verschwand im Bad.
Kurz darauf stand sie vor der Eingangstür des kleinen Steinhauses und sah auf neun reetgedeckte Dächer, die vor ihr den Hügel hinab das Grün des Grases unterbrachen. Die morgendliche Luft war ausgesprochen kühl und der aufkommende Wind blies ihr über das Gesicht. Sie atmete tief ein und setzte den ersten Schritt nach vorne. Ihr Weg führte sie aus dem Schatten des Hauses auf den Pfad, den sie gestern Abend hinaufgestiegen waren und hinab auf den breiten, mit großen Steinen ausgelegten Weg. Norbu kam ihr lächelnd entgegen und hob zum Gruß die Hand. Nadine tat es ihm gleich und setzte ihren Weg fort, sodass sie wenig später am Ufer des kleinen Flusses stand, der sich gut zweihundert Meter vom Dorf entfernt durch die Felsen schlängelte. Das steinige Flussbett knirschte unter ihren Schuhen als sie flussaufwärts das Land erkundete. Es dauerte nicht lange, da verfiel sie in einen lockeren Laufschritt und lief über saftig grüne Hügel, während die Sonne ihre immer stärker werdenden Strahlen zu ihr hinab schickte. Sie erweiterte stetig ihre Runde und es dauerte einige Zeit, da sie wieder die Dächer des Dorfes vor sich sah. Ihre Schritte verlangsamend schlenderte sie durch das hohe, dichte Schilfgras, das in der Nähe des Flusses wuchs. Die Temperaturen waren innerhalb der Stunde, die sie unterwegs gewesen war, stark gestiegen, wodurch die Sonne auf sie herab brannte und sie froh war als sie das, noch von der Nacht ausgekühlte Haus betrat.
Geräuschvoll fiel die Tür ins Schloss. Chloe, die sich gerade an der Kommode zu schaffen gemacht hatte, sah auf. „Hey.“ „Hey. Wo warst du denn?“, fragte Chloe gut gelaunt. „Joggen.“ „Joggen? Du bist einmal im Urlaub und joggst gleich am ersten Morgen?“ „Ich kann nicht ohne.“, Schultern zuckend streifte Nadine ihre Schuhe ab, ging auf Chloe zu, zog sie zu sich und küsste sie, bevor sie ihre Frage stellte. „Wo und wie kann ich duschen?“ „Hinter dem Haus, im Garten ist eine improvisierte Anlage.“, sie zeigte auf eine Tür, die an der linken Seitenwand im hinteren Teil des Raumes angebracht war.
Auf zwei Vorzüge aus der modernen Welt hatte sie hier oben, fernab aller Technik nicht verzichten wollen und so hatte sie eine Campingdusche und eine portable Toilette in ihrem Haus installiert. Da das Bad jedoch über keinen Abfluss verfügte musste die Dusche in dem kleinen bewachsenen Garten untergebracht werden.
Chloe wusste, Nadine würde sich nicht abschrecken lassen und so wunderte es sie nicht, als diese etwa fünf Minuten später das Haus betrat und recht zufrieden aussah. „Kalt, aber funktional.“ „Warte mal ab, wenn es Winter ist.“, gab Chloe lächelnd zurück.
Das Frühstück bestand aus Keksen, die sie aus dem Supermarkt nahe des Flughafens mitgebracht hatten und kaum waren diese gegessen, begann eine ausgiebige Dorfbegehung. Chloe zeigte ihrer Begleitung die Welt, die sie sich hier in den Bergen aufgebaut hatte. Sie liefen an den alten Gebäuden vorbei, den Fluss entlang zu den Viehweiden und zurück über die Felsen des mächtigen Gebirges. Nadine lernte beinahe jeden Bewohner des Dorfes kennen und wurde sogleich in ein Fußballspiel der Kinder integriert, die sich lachend auf einer freien Fläche in der Dorfmitte ihre Zeit vertrieben. Chloe stand am Rand und beobachte zufrieden das Geschehen. Nadine wirkte so losgelöst und zufrieden, wie noch nie zuvor. Ausgelassen alberte sie mit den Kindern, die im Alter von fünf bis sechzehn Jahren dem Ball nachrannten.
Leise trat eine Person neben sie und sie musste sich nicht umsehen um den Mann zu erkennen. Norbu gesellte sich zu ihr und sah ebenso zufrieden aus, wie sie sich fühlte. „In drei Jahren ist es das erste Mal, dass du jemanden mit hier her bringst...“ Sein Blick war weiterhin auf das Spiel vor ihnen gerichtet. Nadine hatte gerade den Ball erobert und stürmte mit ihm über das Feld, gefolgt von einer aufgescheuchten Kinderschar. „....Sie muss wichtig für dich sein.“ Chloe senkte ihren Blick kurz und lächelte, bevor sie wieder aufsah. Ihr Blick fand Nadine innerhalb einer Sekunde und eine Wärme, die sie bereits die letzten Tage erfüllt hatte, machte sich wieder in ihr breit und Chloe hieß sie herzlich willkommen. „Das ist sie.“
„Es ist schön, dich so glücklich zu sehen.“ Chloe wand sich zu ihm um. Es war erstaunlich, wie sehr sie diesen Mann und seine Meinung schätzte. Chloe schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
„Das Fest ist in zwei Tagen. Werdet ihr hier sein?“ Sie nickte: „Sicher. Ich fahre in die Stadt und besorge die restlichen Dinge.“ Norbu nickte und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich rede mit Sajita und gebe dir eine Liste.“ Damit wand er sich ab und war kaum verschwunden als Nadine etwas außer Atem vor sie trat. „Hey.“ „Hey. Na, die Kids haben dich ja ganz schön herumgescheucht.“ „Vielleicht.“, gab Nadine schmunzelnd zu und begab sich an ihrer Seite den Weg zu dem kleinen Haus hinauf, das Chloes Zuhause war. „In zwei Tagen findet das Dorffest statt. Alle kommen zusammen, es gibt ein riesen Lagerfeuer, Musik und Essen. Norbu fragte ob wir dabei sein möchten?“ „Sehr gerne.“, antwortete Nadine und ihre Augen leuchteten bei dem Gedanken in dieser engen Gemeinschaft derart angenommen zu sein.
„Los Schlafmütze!“, Chloe rüttelte an ihrer Schulter und verschlafen öffnete Nadine die Augen. „Frazer, lass das.“, grummelte sie zur Antwort und schüttelte die Hand auf ihrer Schulter ab. „Frazer?“, irritiert sah Chloe auf sie herab. „So hast du mich schon länger nicht genannt.“ „Du hast mir auch schon länger keinen Grund dazu gegeben.“ „Ich wecke dich doch nur. Du hast geschlafen wie ein Stein. Vorhin ist mir das Proviant runter gefallen und selbst davon bist du nicht wach geworden.“, Chloe schüttelte den Kopf, während Nadine ein Auge öffnete. „Ich habe es gehört, doch ich hatte auf eine schönere Art gewartet, geweckt zu werden.“, seufzend öffnete sie auch das zweite Auge und stemmte sich auf die Ellenbogen. „Wenn das so ist...“, schmunzelte Chloe, während sie sich zu Nadine hinabbeugte und sie liebevoll küsste. „Schon besser.“ Chloe lächelte und stand auf. „Los jetzt, hoch mit dir.“ „Ist ja gut.“, grummelte sie, schaffte es jedoch tatsächlich das Bett zu verlassen. „Wie spät ist es?“ Chloe sah auf ihr Handgelenk: „6.20 Uhr.“ „Bitte?“, ein fassungsloser Blick traf sie. „Du wolltest klettern gehen, also gehen wir klettern. Um 12 brauchen wir auch nicht mehr los.“ „Aber auch nicht um 6.“ Verschlafen fuhr sich Nadine durchs Gesicht. Dann sah sie auf und bemerkte den gepackten Rucksack, der neben Chloe auf dem Tisch lag. „Wie war das mit dem Renteneintritt? Vielleicht solltest du deinen eigenen Rat befolgen.“ Nadines Augen weiteten sich eine Spur, dann schüttelte sie, ein Lächeln unterdrückend, den Kopf. „Gib´ mir 10 Minuten.“, damit verschwand sie im Bad.
Zwei Stunden später hing Chloe mit einer Hand am Felsvorsprung und griff mit der zweiten nach dem Seil, das Nadine ihr zugeworfen hatte. Ihre Finger schlossen sich fest um das dicke Tau und mit großen Zügen kletterte sie an ihm hinauf. „Nicht schlecht.“, gab Nadine zu, den Blick auf das Tal vor ihnen gerichtet. Bewundernd blickten ihre Augen über die Vegetation, die in der nun aufgegangenen Sonne zu Leben erwachte und die Hausdächer des Dorfes, das in der Ferne schwach auszumachen war. „Noch sind wir nicht oben.“, spornte Chloe sie weiter an, nachdem sie ihr eine Wasserflasche aus dem Rucksack, den sie trug, gereicht hatte. „Sklaventreiber.“ Nadine grinste sie breit an, bevor sie an ihr vorbei ging und nach dem nächsten Felsen griff. Es war ein sehr steiler und anspruchsvoller Aufstieg, der sie die moosbewachsenen Steine hinauf führte. Nach einer Biegung, tief in einer Felsspalte verborgen floss Wasser den glatten Stein entlang und fiel mit ohrenbetäubendem Rauschen in die Tiefe. „Schmelzwasser.“, erklärte Chloe hinter ihr und zeigte zum Felsvorsprung über ihnen hinauf. Mit einem langen Sprung in die Senkrechte griff sie nach der Kante und zog sich nach oben. Ein Bein über die Kante schwingend verschwand sie aus Nadines Blickfeld und fand sich auf einem wohlbekannten Plateau wieder. Die schroffen Felsen um sie herum brachten hier und dort vereinzelt Wildblumen hervor, die in den verschiedensten Farben in Richtung Sonne wuchsen. Der Platz wurde vom intensiven Sonnenlicht ausgeleuchtet und war trotz der Höhe nicht allzu kalt. Sie wand sich um, bot Nadine eine Hand an, die diese annahm und zog Nadine nach oben.
Kaum hatte sich Nadine umgedreht, fehlten ihr die Worte. Der Blick ins Tal hinunter und auf die benachbarte Bergformation war unbeschreiblich. Die Sonne strahlte die saftig grünen Hügel unter ihnen aus und lies den Schnee auf den Gipfeln glitzern. Ein kühler Wind strich ihr durch die Haare, während die Sonne sie im Kontrast dazu angenehm warm anstrahlte. „Chloe, es ist wunderschön.“ Die Angesprochene neben ihr nickte. „Von allen Plätzen der Erde, die ich bis jetzt gesehen habe, ist dieser hier mein Liebster...“ Sie strahlte bei diesen Worten mit der Sonne um die Wette. Es war erstaunlich, wie wandelbar diese Frau war, Nadine konnte nur über ihre Veränderung staunen. War sie vor nicht einmal einer Woche noch von einer professionellen Ernsthaftigkeit geprägt gewesen, die es ihr scheinbar verbot tatsächlich sie selbst zu sein, war sie nun losgelöst und voller Freude – und das steckte an. Auch Nadine spürte, wie sie immer öfter loslassen konnte und immer weniger darauf achtete, was wohl andere davon halten könnten. „...und wir haben einen perfekten Tag erwischt.“
Nadines Finger zuckten und fanden ganz unweigerlich den Weg zu Chloes Hand. Es bedurfte keiner Worte.
Sie hatten sich schließlich gesetzt und wie es Nadine vorkam, Stunden lang einfach nur die Aussicht genossen. Doch sie hatte nicht ein einziges Mal das Bedürfnis gehabt auf die Uhr zu sehen, oder wieder hinabzusteigen.
Genau hier und jetzt wollte sie sein. Nachdem ihr Proviant gegessen und das Wasser beinahe ausgetrunken war ,hatte sie sich irgendwann auf den Rücken gelegt, den Rucksack als Lehne genommen und mit dem Gesicht in der Sonne, die Augen geschlossen. Noch nie hatte sie eine solche Stille erlebt. Zwar hörte sie das leise Rauschen des Wasserfalls und auch Chloes Atem, doch das war auch schon alles, das an ihre Ohren drang.
Ein leises Rascheln von Kleidung verriet ihr, dass sich die Frau an ihrer Seite bewegte und so verwunderte es sie nicht, als sie eine Sekunde später spürte, wie sich ein Schatten vor die Sonne schob. Sanft berührten Fingerspitzen ihren Kieferknochen und strichen an ihm entlang. Die Berührung ließ sie lächeln, während sie langsam die Lider öffnete und Augen wie leuchtendes Meer vor sich sah. „Wenn mich jetzt jemand weckt, garantiere ich für nichts...“, flüsterte sie und strich Chloe eine Haarsträhne zurück hinter das Ohr. Das Lächeln, das Chloe ihr schenkte stellte alles in den Schatten, das Nadine bisher gesehen hatte und eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Sie hob ihre Hände zu Chloes Gesicht und umfasste es, bevor sie sich nach oben streckte und ihre Lippen auf Chloes legte.
„Wir sollten langsam zurück. Ich möchte dir noch etwas zeigen.“, durchbrach Chloe die erneute Stille, die sich nach diesem Kuss über sie gelegt hatte, während sie weiterhin mit Nadines Fingergliedern in ihrer Hand spielte. „Ich glaube, nichts kann das hier überbieten.“ „Vermutlich nicht...“, gab Chloe ihr Recht, erhob sich dennoch. „...aber du wirst es trotzdem mögen.“
Wenig später standen sie erneut mit den Rucksäcken auf dem Plateau und Chloe wand sich zur Felswand um. „Hier entlang.“ Sie ging einige Schritte am Fels entlang, bis sie sich durch einen kleinen Spalt zwängte und aus Nadines Sicht verschwand. Neugierig folgte sie ihr in das dunkle Nichts, das sich zwischen den gewaltigen Felsen auftat. Nur die Strahlen der Taschenlampen erhellten ihre Umgebung und das Rauschen, das draußen nur leise an ihre Ohren gedrungen war, wurde nun zunehmend lauter. „Wohin gehen wir?“ „Du erinnerst dich an den Wasserfall?“ Nadine nickte bevor ihr klar wurde, dass Chloe es in der Dunkelheit nicht sehen konnte und beeilte sich ein „Ja“ anzufügen. „Er existiert nicht nur an der Oberfläche.“ Chloe hatte es kaum ausgesprochen, da bog sie um eine Ecke. Als Nadine sie eingeholt hatte, öffnete sich vor ihr, nur durch einen kleinen Durchgang von ihr getrennt, eine Höhle, die durch einfallendes Sonnenlicht erhellt wurde. In ihrer Mitte fielen unschätzbar große Wassermassen in die Tiefe herab, schlugen etwa zwanzig Meter unter ihnen auf Fels und verloren sich in der Dunkelheit. Die Vielzahl der einzelnen Wassertropfen, die wild umher flog, brach das einfallende Licht und hunderte kleiner Regenbögen spiegelten sich in ihrer Oberfläche.
Chloe betrat die Höhle durch den Spalt und bedeutete ihr es ihr gleich zutun. „Beeindruckend, oder?“, fragte Chloe sie, die Augen wie gebannt auf das Wasser gerichtet. „Es ist der Wahnsinn.“, antwortete Nadine und lies ihren Blick staunend auf der Höhlendecke ruhen, aus der das Wasser schoss.
Der Abstieg ging ihnen leicht von der Hand, auch wenn Chloe nun spürte, wie ihre Muskeln langsam ermüdeten. Es lag noch eine Stunde Fußweg vor ihnen, bis sie wieder vor der Holztür standen, die den Eingang zu Chloes Haus beschrieb und kaum hatte sie diese erreicht, berührte die untergehende Sonne den Gipfel des Gebirges. „Chloe!“, Norbus Stimme rief laut den Weg hinauf und die Angesprochene drehte sich um. „Norbu, alles in Ordnung?“ „Ich habe dich heute früh verpasst. Hier ist die Liste für Morgen.“ „Wir waren klettern... oben am Wasserfall.“, erklärte Chloe und nahm das Stück Papier entgegen, das Norbu ihr reichte. „Na, da habt ihr euch ja den perfekten Tag ausgesucht. Habt noch einen schönen Abend.“ Damit wand er sich ab. „Ihr auch!“, rief Chloe ihm hinterher und folgte Nadine ins Haus. „Was hast du da?“, fragte diese, nachdem sie ihre Jacke und Schuhe ausgezogen hatte. „Norbu hat mich gebeten für das Fest einkaufen zu gehen.“ „Na, dann steht ja unser Programm für Morgen schon.“ Nadine warf ihren Rucksack auf den Tisch und bald darauf waren sie im Garten verschwunden um sich die Spuren des Tages vom Körper zu waschen.
Chloe schloss die Hand fest um die Tragegriffe der Tasche und hievte sie aus dem Wagen. Für vierzig Personen einzukaufen war anstrengender gewesen, als sie es geglaubt hatte. Auch wenn sie nur die Lebensmittel gekauft hatten, die das Dorf nicht selbst durch Anbau oder Viehzucht hervorbrachte, waren die fünf Taschen im Kofferraum zum Bersten gefüllt. Es kostete sie eine gewisse Anstrengung, bis sie schließlich alles vom Auto den Weg hinauf zu Norbu getragen hatten. Während Nadine den Kindern einen Ball zuwarf, den sie in ihre Richtung geschossen hatten, verriet ihr ein Blick auf ihr Handgelenk, dass sie noch gut vier Stunden Zeit hatten, bis der einsetzende Sonnenuntergang das Dorffest eröffnen würde.
Nadine trat neben ihr in das Haus, während Chloe an die Zeit nach dem Fest dachte. Sie wollte unbedingt ihr Vorhaben einlösen und Nate und seine Familie besuchen. Sie hatte sie zu lange nicht gesehen, als dass sie es noch länger aufschieben wollte. Doch wenn sie daran dachte aufzubrechen, wollte sie nicht alleine gehen. Sie wollte Nadine mitnehmen, sie ihren Freunden vorstellen und hoffen, dass sie sich alle auf einem neutralen Level neu kennen lernen könnten. Doch sie wusste, dass Nadine skeptisch sein würde. „Wie lange sollen wir eigentlich hier bleiben?“, fragte sie daher und Nadine sah ihr kurz verwirrt entgegen. „Wie meinst du das? Ich bin gerne hier.“ „Ich auch. Doch ich muss immer wieder an Elena und Nate denken. Und an Cassie. Ich habe sie wirklich schon lange nicht gesehen.“ Nadine schwieg. „Ich möchte sie besuchen und ich hoffe, dass du mitkommst.“ Augenblicklich sah Chloe wie sich ihr gegenüber versteifte. „Das ist keine gute Idee.“ „Komm schon Nadine, es ist nur ein kurzer Besuch.“ „Es ist besser, wenn du alleine gehst.“, wehrte Nadine ab. „Warum denn?“ „Das letzte Mal als ich Nathan Drake sah, hielt er mir eine Pistole an den Kopf.“ „Das ist ewig her.“ Doch Nadine wehrte weiterhin ab und auch wenn Chloe alles versuchte, half dies nicht sie umzustimmen.
Im Gegenteil, Nadine sperrte sich Zusehens: „Chloe, lass es einfach!“ Die Stimme, die Chloe traf war kalt und abweisend. „Nadine, ich versteh es nicht. Wo ist das Problem?!“ „Offensichtlich, dass du ein ´Nein` nicht akzeptieren kannst.“, sie sprach ruhig, doch mit wahrnehmbar unterdrückter Wut und Chloe konnte nur den Kopf schütteln. So kamen sie einfach nicht weiter. „Nadine, ich bitte dich doch nur für zwei oder drei Tage mitzukommen. Es sind meine Freunde.“ „Die versucht haben mich umzubringen. Wie oft willst du es noch hören?“ Chloe legte den Kopf schief. „Sam kennst du mittlerweile. Und auch Nate ist anders als wie du ihn kennengelernt hast. Wenn wir mal ehrlich sind: du hast ihnen auch nicht gerade Blumen geschenkt.“ Wütend schnaubte Nadine durch die Nase und wand sich zum Gehen. Der Ausdruck in ihren Augen ließ Chloe an Ort und Stelle verweilen. Sie wusste nicht mehr weiter und hielt Nadine nicht auf. Irgendwie war ihr klar gewesen, dass ihr erster Streit nicht lange auf sich warten lassen würde, dennoch hatte sie nicht so bald damit gerechnet.
Nadine öffnete die Tür und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus, während Chloe frustriert auf die ins Schloss fallende Tür sah. Warum sperrte sie sich so? Es war im Prinzip nur ein kurzer Trip zu Nate, Elena und Cassie – nichts besonderes. Es waren ihre Freunde, die einzigen Freunde, auf die sie sich tatsächlich verlassen konnte. Hätte Nadine wenigstens einen vernünftigen Grund, sie würde es akzeptieren und sie in Ruhe lassen. Doch darauf zu beharren, Nate und Sam hatten sie töten wollen, war kein Grund. Dieser Vorfall lag Jahre zurück und entstand aus einer unglücklichen Situation heraus. Weder sie noch die beiden Männer waren heute noch die gleichen, die sie damals gewesen waren - mit Sam kam sie mittlerweile sogar ganz gut zurecht. Chloe lies sich schwerfällig auf die Kissenlandschaft sinken, während das Gedankenkarussell weiterhin seine Runden drehte: irgendeinen tiefer liegenden Grund musste Nadine haben.
Mit energischen Schritten ging Nadine durch das Dorf. Die spielenden Kinder, die den Ball zur Seite gelegt hatten und nun zwischen den Hühnern tobten, beachtete sie dieses Mal nicht und auch das große Feuer, das in der Dorfmitte angezündet worden war, lies sie nicht innehalten. Sie wollte einfach nur weg. Die Ecke, in die Chloe sie gedrängt hatte mochte sie absolut gar nicht und so suchte sie das Weite. Ihre Füße trugen sie ganz automatisch hinunter zum Fluss und kaum vernahm sie das Rauschen des Wassers, verlangsamten sich ihre Schritte. Gegen den Sturm in ihrer Brust ankämpfend lief sie noch einige Zeit am Ufer entlang, bis sie wieder eine gedankliche Grundordnung hergestellt hatte. Mit einem Seufzen ließ sie sich auf einen Felsen sinken und sah dem Wasser zu, wie es in der Mitte des Flusses rasend, an seinen Ausläufern träge das Flussbett hinabrann. Warum fiel es ihr nur so unfassbar schwer? Chloe hatte Recht, mit allem. Es wäre nur für eine kurze Zeit, es waren ihre Freunde. Nadine wusste, wie wichtig es für Chloe war, dass sie mit ihr ging und sie nochmals, auf andere Art kennenlernte.
Doch genau das war das Problem. Menschen waren nicht ihr Ding. Sie konnte sie kaum einschätzen. Im Beruf hatte sie sich auf die professionelle Ebene verlassen können, wodurch es ihr absolut egal war, was andere von ihr hielten. Ihren Job führte sie stets gewissenhaft und effektiv durch. Sie wusste, was sie konnte und inwiefern sie zu handeln hatte. Doch sobald Menschen in einer emotionalen Beziehung zu ihr standen, war sie schlicht verloren. Eine ansonsten unbekannte Unsicherheit befiel sie, sodass es kaum eine Situation gab, aus der sie mit einem befreiten Gefühl austrat. Viel mehr ging sie immer wieder Gesprächsverläufe durch und verlor sich beinahe in ihrer Analyse.
Ihre schlichte Antwort darauf war entsprechende Situationen zu meiden und bisher funktionierte dies ausgesprochen gut. Sie beschränkte sich auf die professionellen Beziehungen, die jobbedingten Interaktionen mit Menschen und führte ihre Organisation eine Zeit lang mit harter und erfolgreicher Hand. Bis Chloe kam und mit ihr auch die emotionale Beziehung wieder in ihr Leben trat. Sie betrat beinahe vollkommen unbekanntes Gelände und fand sich ohne Kompass und Karte auf dieser riesigen Ebene, die sich da vor ihr auftat, kaum zurecht. Dennoch wusste sie, dass sie Chloe vertrauen konnte. Aber wie es mit Nate, Sam und Elena war, wusste sie nicht und das ängstigte sie. Erschwerend kam hinzu, dass sie mit ihnen bereits eine Vorgeschichte hatte und diese definitiv nicht von positiver Natur war. Es war also doppelt schwer auf eine positive Reaktion der Menschen zu hoffen, die Chloe so viel bedeuteten.
Hier im Dorf war es ihr leichter gefallen. Sie hatte weder eine Vorgeschichte mit den Bewohnern, noch Grund zu der Annahme, sie könnten sie nicht mögen.
Nadine starrte weiterhin auf das Wasser, das endlos an ihr vorbeizog, sich in Wirbeln verfing und hinab ins Tal rauschte. Sollte sie anecken und die Personen, die Chloe so wichtig waren, weiter gegen sich aufbringen, wusste sie, Chloe würde enttäuscht sein. Sie sah beinahe ihre sonst so strahlend blauen Augen stumpf zu ihr blicken, die Traurigkeit fest in ihnen verankert. Niedergeschlagen schloss sie die Augen, während sie den Kopf hängen lies und versuchte das Bild aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie wollte nicht für diesen Anblick verantwortlich sein, der da in ihr aufstieg.
Nach einer Weile, sie wusste nicht wie lange sie dort gesessen hatte, hörte sie Schritte auf sich zukommen. Sie musste sich nicht umdrehen um zu wissen wer es war. Die Schritte verstummten schließlich und Chloe nahm neben Nadine auf dem Felsen Platz.
„Ich möchte mich entschuldigen.“, begann sie und zog mit der Aussage Nadines Aufmerksamkeit auf sich. „Es war falsch, dich zu drängen. Du hast sicher gute Gründe für deine Entscheidung, auch wenn ich sie im Moment noch nicht nachvollziehen kann.“ Sie schwieg und wartete.
Nadine benötigte eine Weile, bis auch sie etwas sagte. „Ich weiß, dass es dir wichtig ist, dass ich mit dir komme...“, begann sie schließlich, brach jedoch wieder ab, da sie schlicht nicht wusste, wie sie sich erklären sollte. Doch Chloe wartete, nicht ungeduldig oder drängend, sie wartete einfach. „...doch ich bin nicht gut mit Menschen...du solltest die Zeit mit ihnen genießen...ich will dir das nicht kaputt machen.“, sie wusste, es war eine miserable Erklärung, doch es war das Beste, das sie momentan zu Stande brachte, doch Chloe schien zu verstehen: „Wenn du dir Sorgen machst, sie könnten dich nicht akzeptieren oder mögen...“ Sie suchte ihren Blick und sprach erst weiter, als sie sich des Blickkontaktes zu Nadine sicher war. „....sie werden dich akzeptieren und es ist mir völlig egal, ob sie dich mögen oder nicht. Ich mag dich. Das zählt.“, stellte sie klar und sah wie Nadine mit sich rang um ihre Aussage annehmen zu können. „Es ist mein Ernst, Nadine. Aber ich verstehe, wenn du lieber hier bleiben oder auch woanders hingehen möchtest.“ Nadine sah ihr weiterhin in die Augen. Sie wollte nicht, dass Chloe sie allein ließ und ohne sie ging. Es war verrückt. Sie hatte sich immer für den Einzelgänger-Typ gehalten und hatte nie geglaubt, sie könnte für jemanden derart intensiv fühlen. Nicht gedacht, sie könnte jemanden nur bei der Vorstellung seines Gehens so sehr vermissen. Doch wenn sie jetzt darüber nachdachte was sie noch weniger wollte als zu Nate zu fahren, dann war es ohne Chloe hier zu bleiben.
Ihre Gesichtszüge entspannten sich und ein leichtes Lächeln zierte sie. „Egal, hm?“ „Absolut.“ „Dann begleite ich dich.“ Nadine suchte mit ihrer Hand nach Chloes und verschränkte ihre Finger miteinander, genoss das Gefühl der Gewissheit, dass sie darüber nicht mehr streiten würden.
Sie saßen noch eine Zeit lang dort am Ufer des Flusses und sahen dem Wasser zu, beobachteten seine weißen Schaumkronen und den wilden Tanz, den einige herabfallende Blätter auf ihnen vollführen. Die Sonne ging nun langsam unter und versank majestätisch hinter den weißen Gipfeln der Berge.
„Ich habe eine Bitte.“ Chloe ergriff plötzlich das Wort, sprach zunächst Richtung Boden, bevor sie den Blick hob. „Lauf nicht weg. Lass uns über die Dinge reden...und damit meine ich keinen Smalltalk.“ Nadine verstand nicht was sie meinte und das musste Chloe ihr ansehen, denn sie sprach weiter: „Ich möchte nicht, dass wir die Dinge, die uns beschäftigen totschweigen. Ich möchte deine Gedanken hören, wenn du dazu bereit bist...“ Nadine atmete tief ein. „...und ich möchte, dass du weißt, dass du nicht mehr alleine sein musst, wenn du es nicht willst.“ Chloe übte während ihrer Worte leichten Druck auf ihre noch immer verschränkten Hände aus, während Nadine, die bei diesen Worten von einer plötzlichen Unruhe heimgesucht wurde, den Bick von den blauen Augen abwandte und ziellos geradeaus starrte. Sie hörte die Worte, sie spürte die Worte. Worte, die ihr so unfassbar viel bedeuteten, dass sie Angst vor ihnen bekam. Sollte sie Chloes Worte annehmen, sie als Wahrheit anerkennen und später feststellen müssen, dass ihr Wahrheitsgehalt nichts mehr als verrauchende Asche war...sie würde vergehen. Die scheinbar bevorstehende Enttäuschung und der daraus resultierende Schmerz machten ihr Angst. Und doch wusste sie im Grunde, dass Chloe ihres Vertrauens würdig war. „Chloe ich...“ ihre Stimme versagte. Während sie sich räusperte sprach Chloe. „Du musst darauf nichts sagen.“ „Ich möchte es aber. Du verdienst es...es ist nur... ich habe keine Erfahrung mit solchen Situationen.“ Dabei sah sie auf ihre Finger herab, die fest mit Chloes verschlugen waren. Chloe hatte gesagt, sie würde ihre Gedanken hören wollen. Den Sprung, den sie im Inneren nun über ihren eigenen Schatten machen musste, war immens, doch sie sprang. „Es ist nicht so einfach für mich deine Worte anzunehmen und darauf zu vertrauen, dass du es Ernst meinst.“ Chloe zog die Augenbraun zusammen und Nadine setzte erklärend nach: „Versteh´ mich bitte nicht falsch. Ich vertraue dir. Mehr als jedem anderen, doch es ist wie eine Mauer, die mich in meinen Gedanken gefangen hält... und die sind nicht wirklich...“ Es dauerte einen Moment, bis sie das richtige Wort gefunden hatte: „...hoffnungsvoll.“
Stille.
Nadine, die sich noch immer nicht wagte den Blick auf Chloe zu richten, spürte nach bangen Momenten eine warme, leicht raue Fingerkuppe, die ihr Kinn anhob und zu sich zog. Sie gehorchte und ließ sich von dem Finger leiten, hob den Blick und sah in ein Augenpaar, das derart verständnisvoll war, dass sie irritiert den Blick erwiderte. „Ich kann dir nicht versprechen, dass wir Bestand haben. Ich kann dir auch nicht versprechen, dich nie zu verletzten, denn selbst wenn es niemals meine Absicht sein wird, so kann ich nicht ausschließen, dass du dich irgendwann durch mich verletzt fühlst.“ Sie sah Nadine fest in die Augen, ihre Handfläche ersetzte ihre Fingerkuppe und sie strich mit dem Daumen ihren Wangenknochen entlang. „Aber ich verspreche dir, dass ich dich nicht hintergehen werde.“ Nadine durchfuhr ein wohliger Schauer der Zuneigung und auch wenn sie sich fragte, was Chloe nur dazu trieb ihre Energie und Zuneigung in sie zu stecken, konnte es sie nicht davon abbringen, sie zu sich heranzuziehen und zu küssen. Egal was es war, sie war schlicht froh darüber. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, jemand interessiere sich einzig und alleine für sie. Den Druck ihrer Lippen auf Chloes verstärkend, hielt sie die junge Frau an sich gepresst. Sie öffnete ihren Mund, intensivierte das Spiel, das sie begonnen hatte und versuchte die Gefühle, die sie mit Worten nicht zu beschreiben wusste, zu zeigen.
Chloe verstand und führte das nonverbale Gespräch, das ihre Lippen miteinander führten, mit gleicher Intensität fort. Eigentlich war sie nie der Typ für große Reden gewesen, zumindest nicht für Reden dieser Art, doch Nadine veränderte sie sich – Stück für Stück, ohne es zu beabsichtigen und es war ihr ein großes Anliegen gewesen, Nadine so offen gegenüber zu treten. Mit etwas Zeit und Geduld würde Nadine sich vielleicht ebenfalls öffnen können und ihr einen kleinen Einblick in ihr Leben und ihre Gedanken gewähren.
Bevor der Kuss aufreizend werden konnte, beendete Chloe ihn. Nach einem Blick in die braunen Augen, die ihr wie strahlende, geheime Tore in eine ihr noch unbekannte Welt entgegenfunkelten, richtete sie sich auf. Ihre Füße trafen nach einem kurzen Fall auf den steinigen Untergrund und die kleinen Kiesel knirschten unter ihren Schuhsohlen. „Möchtest du noch hier bleiben?“ Sie ahnte, dass Nadine noch einen Moment alleine sein wollte und wurde nach einem kurzen Moment, in dem Nadine überlegte, durch ein Nicken bestätigt. „Okay...“ Sie drückte ihre Hand noch einmal, bevor sie sie los lies und sich zum Gehen wandte. Doch nur eine Sekunde später spürte sie erneut Nadines Hand auf ihrer und ein Ruck zog sie zu dem Felsen zurück, auf dem sie gerade noch gesessen hatte. Ehe sie sich versah spürte sie erneut die weichen Lippen, die sacht über ihre tanzten. „Danke.“ Nadine sprach mit geschlossen Augen, während sie ihre Stirn an Chloes lehnte. Chloe spürte ihre Fingerspitzen über ihren Nacken gleiten und eine Gänsehaut überzog augenblicklich ihren Körper. Diese Nähe war nervenaufreibend und entspannend zugleich. Doch besonders war es eine absolute Wohltat ihr so nahe zu sein und sich ihrer Aufmerksamkeit und Zuneigung so sicher sein zu können. Sie kostete dieses Gefühl vollkommen aus und konzentrierte sich ausschließlich auf die Person vor ihr und die Empfindungen, die sie in ihr hervorrief.
Einige Herzschläge später löste sie sich schließlich von Nadine, schloss einen Moment die Augen, bevor sie sie wieder öffnete und zwei Schritte zurücktrat, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Erst dann wandte sie sich ab. „...bis gleich.“ Das knirschende Geräusch der Steine begleitete sie ein Stück den Fluss entlang, bis sie sich nach links wandte. Der Wind strich ihr kühl durch die Haare, während ihre Schritte sie stetig in Richtung des Dorfes trugen, doch es störte sie nicht. Lächelnd schloss sie kurz die Augen um das Gefühl in sich aufzunehmen. Die Erleichterung über Nadines Reaktion durchspülte ihren Körper ebenso warm, wie die Sonne nun auf ihre Haut schien. Es war mehr als sie sich erhofft hatte.
Sie bemerkte den fragenden Blick der besorgten Nachbarin, die das Weggehen der beiden Frauen zuvor beobachtete hatte, als sie auf ihr Haus zuschritt. Sie sah zu ihr hinüber und nickte, dann lächelte sie und auch Amita lächelte sie an, bevor sie sich wieder daran machte, die Pflanzen auf ihrem Grundstück zu schneiden.
Eine Stunde später standen sie bereit für den Abend in der Mitte des Zimmers. Das Versinken der Sonne würde zwar noch etwas dauern, doch bereits jetzt herrschte geschäftiges Treiben im Dorf. „Bereit?“, fragte Nadine. „Bereit.“, bestätigte sie, nahm die Hand, die Nadine ihr entgegenstreckte an und sie ließ sie auch nicht los, als sie den Weg hinabstiegen und den Dorfplatz betraten. Es war das erste Mal, dass sie sich der Dorfgemeinschaft so zeigten, doch ausnahmslos jeder schien sich für sie zu freuen. Sie wurden herzlichst begrüßt und fanden schnell ihren Platz nahe am Feuer, über dem bereits Fleisch geschmort wurde. Die Gespräche waren locker und auch Nadine, die kaum ein Wort verstand, konnte sich irgendwie mit Händen, Füßen und etwas Hilfestellung durch Chloe verständlich machen.
Die Sonne versank langsam am Horizont und die großen Feuerstellen und Fackeln erhellten die Szenerie. Ausgelassen unterhielten sich die Menschen und fröhliches Lachen hallte durch die aufkommende Nacht. Norbu holte schließlich eine Art kleine Gitarre hervor und begann zu spielen, während er von verschiedenen Bewohnern durch Trommeln und Flöten begleitet wurde. Beinahe gleichzeitig mit den ersten Tönen begannen die Dorfbewohner sich zur Musik zu bewegen und ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Nadine hatte noch nie zuvor so viele unbeschwerte Menschen auf einem Fleck gesehen und auch wenn sie etwas abseits am Feuer stand, nahm sie das Geschehen in sich auf. Und auch wenn das Treiben um sie herum bunt und ausgelassen war, so sah sie nur einen einzigen Menschen tatsächlich an. Ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse lagen einzig und alleine auf Chloe. Während sie sie beobachtete, jedes Lächeln in sich aufnahm und jede Bewegung registrierte, spürte sie deutlich einen wohligen Schauer durch ihren Körper strömen. Ihr Mund trocknete aus und es fiel ihr schwer zu schlucken, während ihr Blick wie magnetisch von ihr angezogen wurde. Das Kribbeln in ihrem Magen nahm stetig zu. Langsam begriff sie, dass sie über das Stadium des verliebt seins nun endgültig hinaus war.
tbc