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Black Feather

von Ala5ka
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Sci-Fi / P16 / Gen
OC (Own Character)
06.10.2018
18.05.2022
2
5.366
2
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18.05.2022 3.350
 
Kapitel 1


-Paranoia-




KLÖNK

Der Neuling hielt sich die Nase und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Erster Tag und du versaust den wichtigsten Eindruck, gut gemacht Noah, dachte er sich.

Drei seiner neuen Kollegen sahen von ihren Workstations auf. Zwei grinsten, einer runzelte die Stirn. Dann erhob sich einer der grinsenden vom Stuhl und öffnete die gläserne Tür, die Noah von seinem neuen Arbeitsplatz trennte. „Machen Sie sich nichts draus, ist uns allen schon einmal passiert.“, begrüßte er ihn freundlich und hielt ihm die Hand entgegen. „Smith ist mein Name. Ich nehme an, Sie wollen zu uns?“

„Noah Parker“, murmelte Noah beschämt und schüttelte die Hand, dabei fiel Smith auf, dass der junge Mann augmentiert war.

„Massachusetts?“, fragte Smith unbeirrt.

„Edinburgh“, erwiderte Noah und lächelte unsicher, nachdem auch er gemerkt hatte, dass der Wissenschaftler etwas länger die Argumentierungen begutachtete.

„Data Science?“

„Master in Artificial Intelligence.“

„Willkommen bei uns.“ Smith ging ein Stück zur Seite und ließ Noah vorbei. „Der mit der Glatze ist Jones und der Zottelige ist Walish.“

Die beiden Wissenschaftler hoben begrüßend die Hände, doch ihre Nasen steckten tief in ihrer Arbeit.

Dann führte Smith Noah zu seinem Arbeitsplatz und der Neuling bemerkte, dass dort gerade so viel Platz auf seinem Schreibtisch war, dass nur die drei Monitore und die dazugehörige Tastatur Raum hatten. Parker bewunderte das hochmoderne Equipment und stellte fest, dass allein die Monitore so viel gekostet haben durften, wie zwei Semester seines Studiums.

„Sollten Sie Fragen haben, helfen wir Ihnen gerne.“ Smith lächelte. „Solange diese natürlich Ihrer Sicherheitsfreigabe entsprechen“, fügte er noch augenzwinkernd hinzu. Dann ging er wieder zu seiner Workstation.

Noah schaltete den Computer ein und seufzend begann er mit seinem ersten Arbeitstag.

~~~

Gegen Abend, eine halbe Stunde vor Feierabend, hörte Noah von Jones ein leises Fluchen. Zuerst reagierte er nicht darauf, doch als der Wissenschaftler mit der Glatze aufsprang und „Shut Down“ brüllte, sahen alle hoch, als sich alle Bildschirme mit einem Schlag abschalteten und es totenstill wurde.

„Verflucht, Jones, was ist passiert?!“, schimpfte Smith und erhob sich ebenfalls von seinem Stuhl.

SCAR hat überreagiert.“ Aufgebracht beugte sich Jones wieder über seiner Tastatur und tippte ein paar Mal energisch auf eine Taste.

„Scar?“, fragte Noah leise, doch niemand schenkte ihm Beachtung.

Walish, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte, knirschte mit seinen Zähnen und sah zur Uhr. „Letzte Datenspeicherung war um 16 Uhr.“

„Okay. Rücksetzten auf 15 Uhr“, befahl Smith und begann hektisch auf seiner Tastatur zu tippen.

Noah fühlte sich komplett verloren, aber nicht nur, weil er der Situation nicht folgen konnte, sondern weil er Angst hatte, etwas falsch gemacht zu haben, das ihn in größeren Schwierigkeiten bringen könnte. Das hier war GTG, Global Tactic Group, nicht irgendeine kleine Softwareschmiede. Diese Firma verwaltete mehrere Millionen an Militärbudget. Das Militär sah genau auf ihre Finger.

„Kann ich helfen?“, fragte er also und sah zu Smith rüber, der jetzt jede Ruhe verlor. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

Immer noch reagierte keiner auf den Neuling und so legte er beide Arme auf den Tisch und versuchte still zu sein, da scheinbar keiner seine Hilfe in Anspruch nehmen wollte.

Eine geschlagene Stunde später sah Smith auf und bemerkte, dass Noah teilnahmslos auf die blinkenden Statusleuchten des Servers starrte.

„Parker, es gibt heute nichts mehr für Sie zu tun“, sagte er. „Gehen Sie und machen Sie sich einen schönen Abend.“

Wortlos stand Noah auf und ging. Erst am Ausgang erhielt er sein Handy und Portemonnaies zurück. Er verließ das Gebäude mit einem mulmigen Gefühl.

~~~

Noahs Wohnung war nur eine viertel Stunde von der Firma entfernt und so beschloss er an diesem kühlen Herbsttag zu laufen.  Dicke Wolken versperrten die Sicht auf die Sterne und Parker vermutete, dass es bald regnen würde. Also zog er seine Jacke fester zu und atmete tief durch. Er hoffte, dass er morgen keine Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten bekommen würde, hatte aber auch Hoffnung, dass sein Team das Problem – was es auch immer sein mochte – geregelt bekam. So lächelte er leicht, während er seine Nase in den Kragen senkte.

Nein. Eigentlich sollte er sich freuen, dass er diesen Job hatte. Probleme kamen und gingen, so war das doch schon immer gewesen, oder? Doch die größte Herausforderung war, als Augmentierter diesen Job überhaupt zu bekommen. Nach dem „Zwischenfall“ hatte man in diesem Bereich Augmentierte zwangsweise beurlaubt, da Blut an ihren Finger klebte, doch nicht bei Parker. Er hatte sich die Augs teilweise selbst angebracht und war somit aus diesem grausamen Spiel raus gewesen. Schon als kleiner Junge wünschte er sich einen verbesserten Arm und als dann die Zukunft diese Möglichkeit mit sich brachte, hatte er keine Sekunde damit verschwendet darüber nachzudenken, ob das nun eine gute oder eine schlechte Idee war. Er tat es einfach.

Sein Vater war überhaupt nicht begeistert gewesen. Im Gegenteil: er versuchte damals alles, um ihm diese „Flausen“ aus dem Kopf zu treiben, aber Noahs Entscheidung stand bereits fest und mit dem Geld, welches er zu seinem 18. Geburtstag bekam und in den restlichen Jahren gespart hatte, verwirklichte er seinen Traum.

Sein kybernetischer Arm war nun ein Teil seines Lebens geworden und auch wenn die Leute ihn misstrauisch beäugten, war ihm das egal. Er war stolz darauf. Plus, er hatte einen sicheren Job beim Militär.

Langsam erreichte Parker die Eingangstür eines riesigen Mehrfamilienhauses, welches nicht von wohlhabenden Menschen bewohnt wurde und kramte den Schlüssel aus seiner Jackentasche. Noch lebte er hier, aber wenn er seinen neuen Job eine Weile gemacht hatte, könnte er sich bald eine bessere Bleibe leisten und aus diesem stinkenden Loch ausziehen. Der junge Mann blickte noch einmal über seine Schulter, dann betrat er den kalten Flur.

Die alte Holztreppe knarrte laut unter seinen Schuhen, als er diese, immer eine Stufe auslassend, mit großen Schritten erklomm. Seine Wohnung war im dritten Stock und kurz, als er vor der grauen Haustür stand, hatte er das Gefühl, dass ihn jemand von hinten beobachtete. Ein eiskalter Schauer lief Noah über den Rücken. Er holte kurz Luft und drehte sich dann ohne zu zögern um.

Niemand war da – wie erwartet – doch das Gefühl verschwand nicht, auch wenn er sich nun über das Geländer beugte und die Stufen hinunterblickte. Kurz warf er einen Blick aus dem kleinen Fenster, welches die Aussicht auf einen kleinen Innenhof gewährte, der zu dieser Jahreszeit besonders trostlos schien.

Nichts – nicht einmal ein kleiner Vogel, der durch die Büsche huschte.

Noah drückte eilig den Schlüssel ins Schloss, riss die Tür auf und stolperte in seine Wohnung.

Ein leises Geräusch aus dem Wohnzimmer ließ ihn erneut hochfahren.

Eine schwarze Katze tapste in den Flur und blieb stehen, als Noah sie aufatmend ansah.

„Verflucht, du hast du mich erschreckt, Mae“, bemerkte der junge Mann und ging in die Hocke, um die Katze mit einer Streicheleinheit zu begrüßen. Mae rieb ihren Kopf an seinem rechten Bein, schnurrte und schien dann auch wieder das Interesse zu verlieren. Sie wich Noahs Hand aus, die er gerade hob, um sie auf den kleinen Kopf zu legen und verzog sich in das Schlafzimmer. Der junge Mann sah ihr nach und seufzte erneut. Katzen.

Langsam erhob er sich wieder und zog die Jacke aus. Er legte sie quer auf die Kommode, die den bereits schmalen Flurgang noch enger machte und schlüpfte aus seinen Stiefeln.

Er lief in die Küche, öffnete den kleinen Kühlschrank und holte sich eine Flasche Bier heraus. Sein nächstes Ziel war die Couch, auf die er sich fallen ließ und schnaubte. „Mae, du wirst nicht glauben, was heute, ausgerechnet an meinem ersten Tag, passiert ist“, sagte er an seine Katze gerichtet, die gerade durch die Tür huschte. Viel Aufmerksamkeit schenkte sie ihm weiterhin nicht. Sie sprang auf die Fensterbank, um nach draußen zu schauen.

Eine Weile saß Noah da und die Müdigkeit kroch in seine Augen. Er bemerkte nicht, wie er langsam einschlief – kein Wunder, der Traum, den er hatte, fühlte sich auch zu wirklich an.

Er verweilte immer noch auf seiner Couch und ein wohliges Gefühl ummantelte ihn. Sein Atem ging gleichmäßig und ruhig und noch nie in seinem Leben hatte er sich sicherer gefühlt als jetzt. Immer noch hielt er die kühle Bierflasche in seiner Hand, richtete seinen Blick nach vorne und erkannte, wie eine Frau sich vor ihm aufbaute. Als erstes stand sie nur einfach da und beobachtete ihn aus ihrer Dunkelheit heraus. Ihr Gesicht war verschwommen und schien seltsam mit der Umgebung zu verschmelzen. Die Augen waren unheimlich schwarz und schienen direkt durch ihn hindurchzublicken. Ein Schauer durchlief Noah. Nun mischte sich das wohlige Gefühl mit Angst. Es war ein seltsames Erlebnis.

Im nächsten Moment streckte die unbekannte Frau ihren Arm nach ihm aus und schien sich Mühe zu geben, seine Hand zu ergreifen, doch es sah danach aus, als würde diese zu weit entfernt sein.

„Was willst du?“, fragte Noah, doch seine Stimme war zu leise. Sie musterte ihn nur starr. Also versuchte er es ein weiteres Mal und rief der Unbekannten zu: „Was willst du? Ich kann dich nicht erreichen!“

Die schemenhafte Frau antwortete in einer Sprache, die er zunächst nicht verstand. Doch dann begriff er, dass ihre Sprache nicht menschlich, sondern abstrakt war.

Nun streckte auch er seine Hand in ihre Richtung und wollte aufstehen, doch etwas drückte ihn zurück auf die Couch. „Ich kann nicht!“

Die Frau senkte ihren Arm und nickte kurz. Sie schien selbst verwundert zu sein, dass Noah sie wahrnahm. Dann hob sie erneut ihre Hand, als wolle sie sich verabschieden und Noah schreckte aus seinem Traum.  

Verschwitzt starrte er in die Dunkelheit und sah immer noch die Silhouette vor sich. Angestrengt verengte er seine Augen zu Schlitzen, konnte aber die Figur nicht mehr einfangen. Nach einem Blinzeln war sie auch schon verschwunden. Müde rieb er sich die trockenen Augen und seufzte. Was ein beschissener Tag, dachte er, erhob sich aus der Couch und lief ins Schlafzimmer, wo er sich, noch angezogen ins Bett fallen ließ. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es gerade 21 Uhr spät war und doch wiegte die Müdigkeit schwer in seinen Knochen. Murmelnd drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Neben ihm, hopste Mae auf das Bett und schnurrte monoton, während sie ihren Kopf an seine Schulter rieb. Noah schloss die Augen und alles wurde schwarz.

~~~

Am nächsten Morgen schien die Sonne und zeigte sich ein letztes Mal von ihrer warmen Seite, bevor sie dem Winter den Vortritt ließ.

Im Bus dachte Noah erneut über seinen merkwürdigen Traum nach und desto länger er über die Frau grübelte, desto öfters erkannte er ihre Silhouette an verschiedenen Stellen seiner Umgebung. Die Emotion, welche er in seinem Traum so intensiv verspürt hatte, ließ ihn nicht los. Immer wieder überkam ihn eine kurze Welle dieses Gefühls und wenn er gleichzeitig an die Frau dachte, verstärkte sich die Erinnerung. Es dauerte jedoch nicht lange, da schlug diese Emotion in Paranoia um. Walish war der Erste, dem es auffiel.

„Alles okay?“, frage er, als Noah und er in der provisorischen Küche standen. Gerade war Mittagspause und die anderen Kollegen hatte sich draußen zum Rauchen getroffen. Walish und Noah waren die einzigen Nichtraucher in der Gruppe und trafen sich dementsprechend in der Küche, um ihren Koffeinhaushalt zu stillen. „Du wirkst unruhig.“

„Nein, alles gut“, murmelte Noah und umklammerte seine Kaffeetasse so fest, dass seine Finger verkrampften und zitterten. „Schlecht geschlafen, das ist alles.“

Walish nickte nachdenklich und beobachtete den Neuling durch seine gelbgrünen Augen. „Ich weiß, die Arbeit hier kann anfangs überfordernd sein. Das legt sich aber wieder. Du hast ja noch Schonfrist.“ Er ließ eine Hand schwer auf Noahs Schulter fallen und tätschelte diese. „Das wird schon.“

Noah zuckte zusammen, nickte eifrig und wandte sich von ihm ab. Erst als Walish ihn allein in der Küche zurückließ, richtete er seinen Blick aus dem Fenster und beobachtete die Blätter beim Fallen. Vermutlich hatte Walish recht. Ich bin gestresst und wie man weiß, lässt Stress den Körper und die Seele verrücktspielen. Das legt sich schon wieder.

Er lockerte die verkrampfte Hand um seine Tasse und dachte schon sich damit abgefunden zu haben, bis er sie erneut erblickte. Das Blut gefror in seinen Adern und der junge Mann erstarrte.

Da stand sie. Draußen, vielleicht 20 Meter von ihm entfernt und erwiderte seinen Blick mit sanften Augen. Die Menschen um sie herum, die sich an ihr vorbeidrängten, ignorierte sie. Ihre Hand hob sich und ihre Finger reckten in Noahs Richtung. Ihre vollen Lippen bewegten sich, doch Noah verstand nicht, was sie sagte. Viel konnte er nicht erkennen, dafür stand sie zu weit entfernt von ihm. Sie trug einen langen schwarzen Mantel. Ihre Finger glänzten schwarz metallisch.

Erneut begannen Noahs Hände zu zittern. Auch wenn er sich vor ihr aus welchen Gründen auch immer fürchtete, schien sie eine gewisse Anziehung auf ihn auszuüben. Der Neuling riss sich aus der Erstarrung, griff nach seiner Jacke, die auf der Lehne eines Stuhles hing und stürmte nach draußen. Noch bevor er durch die Tür lief, hatte sie sich von ihm abgewandt und verschwand in der Menschenmasse.

Als Noah vor der großen Eingangstür stand und mit verrückten Augen nach der Frau Ausschau hielt, bemerkte Smith ihn, warf die fast ausgerauchte Zigarette auf dem Boden und trat die Asche beim Vorbeigehen aus, als er in Noahs Richtung lief. „Mein Gott, Mr Parker. Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen. Geht es Ihnen gut?“, fragte er ruhig.

Jones und Walish standen zusammen und sahen zu den beiden hinüber. Wenn sich Noah nicht irrte, erkannte er eine argwöhnische Miene in Walishs Gesichtsausdruck. Jones wirkte eher gleichgültig.

„Mir geht es prima“, zischte der Neuling durch seine zusammengebissenen Zähne.

„Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, dann können Sie ruhig mit mir reden“, sagte Smith immer noch mit der gleichen Ruhe in seiner Stimme, doch Noah erkannte einen harten Unterton darin. Es war keine Bitte. Also riss sich der ITler zusammen, atmete durch und hob seinen Blick, um Smith direkt in die Augen zu sehen. „Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne. Die Person sollte eigentlich nicht hier sein.“

„Wo dann?“, wollte Smith forsch wissen.

„East Ham“, log Noah schnell und nickte. „Eigentlich in East Ham.“

„Ein Bekannter?“

„Bekannte“, verbesserte Noah ihn unüberlegt.

Smith nickte und zwang sich ein Lächeln auf. „Walish meinte, dass Sie aufgewühlt wirken. Reißen Sie sich etwas zusammen. Es liegt noch viel Arbeit vor uns, die bis Ende der Woche erledigt sein muss.“ Damit war das Gespräch beendet und Smith pfiff die anderen beiden zu sich. „An die Arbeit, Leute.“

~~~

Die Arbeit bot Ablenkung von den wirren Gedanken, die sich in Noahs Kopf ausbreiteten. Er konnte selbst nicht einordnen, warum ihn dieser Traum so sehr beschäftigte. Es war immerhin nicht sein erster gewesen. Und dennoch. Irgendetwas schien anders.

Auf dem Heimweg beschloss er einen Umweg zu machen. Dass sie heute Mittag erschienen war, durfte kein Zufall gewesen sein. Das hatte etwas zu bedeuten. Es musste etwas bedeuten. Ich muss meinen Kopf freibekommen, dachte er und ein paar Minuten später fand er sich zusammen mit einem Moscow Mule in einer Lounge wieder. Er saß am Tresen und zählte die unzähligen Alkoholflaschen, die hinter dem Barkeeper darauf warteten, von einen der Gäste bestellt zu werden, hinter ihnen hing ein riesiger Spiegel, der sein müdes Gesicht reflektierte. Obwohl er letzte Nacht früh ins Bett gegangen war, hatte er dunkle Augenringe, die er mit seiner rechten Handfläche rieb. Nur für einen kurzen Moment zweifelte er an seiner Entscheidung, dass Jobangebote jemals angenommen zu haben, dann jedoch fiel ihm wieder ein, welche großartigen Möglichkeiten sich ihm damit boten und die Selbstzweifel verflogen. Ja, ein enormer Druck lastete auf ihm, jeder Fehler war teuer, aber wenn er seine Arbeit weiterhin gewissenhaft und gut erledigte, vielleicht würde er aufsteigen und irgendwann sein eigenes Team leiten? Das war jedenfalls sein Plan. Überforderung war normal, vor allem, wenn man einen neuen Lebensabschnitt begann. Walish hatte Recht, auch das würde sich zu Zeiten legen.

Dieser Gedanke entspannte ihn und zum ersten Mal an diesem Tag hatte er das Gefühl, die Kontrolle zu besitzen. Er nahm einen großen Schluck aus der Messingtasse und nickte dem Barkeeper zu, um zu bestätigen, dass der Moscow Mule zufriedenstellend war. Der Barkeeper nickte zurück und wandte sich dann einem anderen Gast zu, der den Zeigefinger hob, um auf sich aufmerksam zu machen. Noah beobachtete die goldene Flüssigkeit in seiner Tasse und lauschte dem leisen Klirren der Eiswürfel, die gegen das Messing des Gefäßes schlugen. Seine Augen wanderten hinauf zum Spiegel und ein weiteres Mal verkrampfte seine Hand, als er nur für einen kurzen Moment aus dem Augenwinkel eine Frau im hintersten Abteil der Lounge erkannte, die ihm das allbekannte Gefühl von Unsicherheit und Kontrollverlust gab. Noah zügelte im gleichen Augenblick seine Neugier und drehte sich nicht zu ihr herum. Stattdessen versuchte er unauffällig seinen Kopf zur Seite zu neigen und über die Schulter zu schauen. Aber natürlich erkannte er so nichts. Also ließ er seinen Blick schweifen und tat so, als würde er nur die Lounge betrachten, doch als sich ihre Blicke trafen, konnte er den seinen nicht mehr von ihr abwenden. Ihre vollen Lippen lächelten ihn an und seltsamerweise winkte sie ihn zu sich. Noah zögerte kurz, dann ergriff er die Messingtasse und bewegte sich auf die Frau zu.

Sie saß im weniger beleuchteten Teil der Lounge und erwartete den jungen Mann mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. Sie war genau wie er augmentiert. An den Armen und Fingern jedenfalls. Mehr konnte er nicht erkennen. Ihre Iris leuchtete grüngrau. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, der aus der Nähe wie aus Carbonfaser schien.

Etwas schüchtern setzte er sich nun neben sie auf die blaue Couch und stellte sein Getränk auf den kleinen Tisch ab. Sie selbst hatte eine kleine weiße Tasse vor sich. Noah roch darin einen Früchtetee.

„Ich will nicht aufdringlich sein, aber mir ist aufgefallen, dass Sie mir den ganzen Tag zu folgen scheinen“, sagte Noah dann, ohne sich höflich zu begrüßen. Dieser Fehler war ihm peinlich, Röte stieg in sein Gesicht.

Die Frau lächelte immer noch und nickte leicht. „Bitte verzeihen Sie, wenn ich Verwirrung gestiftet habe. Ich hielt Sie für einen Bekannten, nun ja, wie wir sehen, habe ich mir geirrt.“

Noah schnaubte kurz. „Lustig, ich hatte das gleiche Gefühl.“

Still musterten die beiden sich, bevor die Frau erneut das Wort ergriff. „Ich bin neu hier, in Westminster, kenne hier kaum einen.“

„Woher kommen Sie?“, fragte Noah.

Die Augen der Frau wanderten nach links oben, als würde sie nachdenken, bevor sie mit „Singapur.“ antwortete.

Noah nickte und nachdem er einen Schluck genommen hatte, sagte er: „Cool. Was machen Sie hier?“

„Finanzgeschäfte, Hedgefonds.“

„Wo genau?“

Die Frau lachte leise. „Um genau zu sein, überall.“

Noah wagte es nicht, weiter forsch zu sein und lehnte sich zurück. „Ich arbeite in der Tech-Branche.“

„Oh, ein Nerd.“ Die Frau lächelte immer noch.

„Vielleicht“, antworte der ITler schüchtern und starrte auf sein Getränk. „Ich bin außerdem Noah.“ Er hob die Hand und reichte sie der Frau.

Sie ergriff sie und ihr Druck war sanft. „Scarlett Walsh.“

~~~

Den restlichen Abend verbrachten sie noch in der Lounge, bevor Noah sich von ihr verabschiedete und ankündigte, dass er am nächsten Tag früh auf den Beinen sein müsse. Scarlett hatte Verständnis und so stand der junge Mann auf und machte sich auf dem Weg nach Hause.

Bis zu seiner Wohnung war es nicht mehr weit und Noah suchte seinen Schlüssel in der Jackentasche. Als er den Blick wieder hob und weiterlaufen wollte, entdeckte er im Augenwinkel eine Silhouette, die im Schatten, zwischen zwei Bäumen stand und ihn aus sicherer Entfernung beobachtete. Kurz vermutete Noah, dass es Scarlett war, doch ihm fiel in der gleichen Sekunde, in der er die Figur sah, auf, dass diese weniger zierlich war, wie die Frau, die er in der Lounge getroffen hatte. Nein, es musste sich um einen Mann handeln. Das Lauftempo des ITlers erhöhte sich, doch immer wieder erschien dieser Schatten im Winkel seiner Augen. Fast joggend, kam er endlich an, riss die Türe auf, versperrte diese zwei Mal, kontrollierte vier Mal und drückte seinen Rücken dagegen. Panisch und paranoid kramte er sein Handy aus der anderen Jackentasche und rief seinen Vater an.
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