Two Ships In The Dark
von foxinatrap
Kurzbeschreibung
Ein Jahr ist vergangen seit Sam Healy sich nach einem Selbstmordversuch in psychiatrische Behandlung begab. Für Red war es ein weiteres Jahr in Litchfield. Doch als Sam zurückkehrt, ist alles anders. Red ist sich nicht sicher, ob sie weiter an ihrer Entscheidung festhalten kann, einer Zukunft mit Sam keine Chance zu geben...
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Gen
Galina "Red" Reznikov
Sam Healy
30.05.2018
26.07.2018
7
76.775
9
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26.07.2018
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(7) Kämpfe
Red verlagerte ihr Gewicht vom rechten Bein auf das linke und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Rahmen des Durchgangs zur Küche. Seit einer halben Stunde stand sie auf diesem Posten, den Blick unablässig auf die müden Gesichter der mit ihren Tabletts vorbei schlurfenden Insassinnen gerichtet. Für alle anderen musste es den Anschein haben als überwache sie die Arbeit der Damen bei der Essensausgabe. Nichts hätte Red an diesem Morgen weniger interessieren können. In Gedanken war sie natürlich wieder bei Sam. Um genau zu sein ließ ihr der gestrige Abend mit ihm keine Ruhe mehr. In der Nacht hatte sie sich ewig auf der harten Matratze herumgewälzt und als sie in aller Herrgottsfrühe unter der Dusche gestanden hatte, war ihr in ihrer tiefen Nachdenklichkeit jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen und sie hatte sich in allergrößter Eile anziehen und zurecht machen müssen. Zumindest hatte sie heute an den roten Lippenstift gedacht, den sie am Vortag einfach vergessen hatte aufzulegen. Es war schon merkwürdig, wie die alltäglichsten Dinge und Handgriffe, von denen sie geglaubt hatte, sie wären ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen, auf einmal wieder ihr Bewusstsein beanspruchen mussten, um nicht unter den Tisch zu fallen. Red kam es vor als sei ihr gesamtes Gehirn verstopft, seit ihr Herz beschlossen hatte, zur rund um die Uhr sprudelnden Quelle unberechenbarer Verliebtheit zu werden. Was sich gestern zu später Stunde in ihrem Büro zugetragen hatte, machte es ihr noch schwerer als ohnehin schon, sich auf die Selbstsicherheit und Fassung zu berufen, die sie für gewöhnlich nach außen hin ausstrahlte. Ständig ertappte sie sich dabei, wie sie zurück in den Moment fiel, als Sams Hand unter ihr Oberteil geglitten und dem Verschluss ihres BHs gefährlich nahe gekommen war. Der Gedanke daran jagte ihr auch jetzt einen Schwall brennender Hitze durch sämtliche Teile ihres Körpers. Bis dahin war alles schön gewesen. Sie hatte sich so wohl gefühlt auf seinem Schoß, in seinen Armen, dicht an dicht mit seinem Körper. Doch diese Bewegung seiner Hand hatte sie urplötzlich aus dem tiefen Bad der Wohlgefühle gerissen und ihr den Wind der Realität eiskalt ins Gesicht geschlagen: sie hatte ewig keinen Sex mehr gehabt. Red war umso verwirrter, dass sie diese Erkenntnis so aus der Bahn geworfen hatte, da sie doch erst kurz vorher genau das sogar selbst laut ausgesprochen hatte. Seit ihrer Ankunft in Litchfield war über ein Jahrzehnt vergangen. Es war weder für sie noch für Sam überraschend, dass dieser Zeitraum sich wie eine Wüstenei der Fleischeslust in ihrem Leben ausbreitete. Und es war wie sie gesagt hatte: es hatte sich einiges an Lust in ihr angestaut. Es war eine Sache, sich selbst zu befriedigen, was an diesem gottverdammten Ort ohne jegliche Privatsphäre nicht unbedingt für jeden eine Option war. Aber es war etwas völlig Anderes, von einem anderen Menschen, noch dazu einer Person, der man sich wirklich verbunden fühlte, berührt zu werden. Red wollte es. Sie wollte mit Sam schlafen und diese Stufe der Intimität erreichen. Sie wollte es unbedingt. Doch auch wenn sie es sich selbst nur ungern eingestand, fürchtete sie sich davor. Es fühlte sich an als wäre sie eine Tänzerin, die man nach jahrelanger Ruhepause und ohne Vorwarnung auf eine hell erleuchtete Bühne schob, damit sie einen Saal voll erwartungsvoller Zuschauer unterhielt. Sie wusste nicht, ob sie die Schritte noch drauf hatte.
Als Red merkte, dass ihr Blick glasig geworden und abgedriftet war, löste sie ihn von der fernen Rückwand der Kantine und richtete ihn abermals auf die Reihe der an der Essensausgabe wartenden Insassinnen. Ein Paar dunkelbrauner Augen fesselte sie. Nicky lächelte. Aber nicht einfach nur so. Es hatte etwas Wissendes an sich. Dass Nicky nicht wirklich etwas wusste, erkannte Red daran, dass sie das, was es zu wissen gab, garantiert nicht zum Lächeln gebracht hätte. Ihre Meinung von Sam Healy war nicht die allerbeste und Red konnte es ihr auch nicht wirklich verdenken. Sam hatte einige Vorbehalte gegen bestimmte Typen von Frauen, die schlichtweg unvereinbar mit Nickys Einstellung waren. Red wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie die junge Frau reagiert hätte, wäre sie hinter ihr Geheimnis gekommen. Red nickte ihr stumm zu und war erleichtert, als Nicky keine Anstalten machte, sich zu ihr zu gesellen, sondern mit ihrem Frühstück abzog. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch beobachtete Red, wie ihr Schützling sich einen Weg durch die Tische bahnte und sich schließlich neben Lorna niederließ. Nun war sie fast froh, dass ihre Gedanken derzeit nur ein Thema kannten, denn es war absolut zwecklos sich über Nicky den Kopf zu zerbrechen. Red konnte nicht verhindern, dass die junge Frau ein Auge auf sie hatte. Und Vorsicht im Umgang mit Sam musste sie so oder so walten lassen.
Als Red sich wieder der Warteschlange zuwandte, schreckte sie auf. Die blonde Frau, auf die sie die ganze Zeit gelauert hatte, war gerade dabei, der Essensausgabe mit einem Tablett in den Händen den Rücken zu kehren.
„Chapman!“
Piper fuhr herum und sah drein als habe man sie bei einem dreisten Regelverstoß ertappt. Mit geweiteten Augen starrte sie zu Red herüber. Obwohl sie schon lange zu Reds Familie zählte und sie mittlerweile herausgefunden hatten, wie sie sich gegenseitig zu nehmen hatten, kam es Red von Zeit zu Zeit vor als hätte die junge Frau mehr als nur Respekt vor ihr. Gelegentlich schien sie sich noch immer vor ihr zu fürchten. Red winkte sie ungeduldig heran. Zögernd trat Piper näher.
„Komm doch mal für einen Moment hier rein. Ich muss was mit dir besprechen.“
„Okay...“ Mit einem angestrengten Ausdruck als versuche sie im Stillen herauszufinden, was sie angestellt hatte, passierte Piper die Essensausgabe. Red nahm ihr kurzerhand das volle Tablett weg, schritt durch den Durchgang und stellte es auf einer Küchenzeile ab. Pipers Unbehagen schien noch zu wachsen, als Red sie wortlos hinüber zu ihrem Büro scheuchte. Dort angekommen nahm sie selbst auf dem Stuhl vorm Tisch Platz. Den zweiten, auf welchem Sam ab Vorabend gesessen hatte, hatte sie wieder verschwinden lassen wie die Spur eines Verbrechens.
„Schließ' die Tür.“
Piper tat wie ihr geheißen. Dann stand sie da wie ein Schulmädchen im Büro der Direktorin, verloren und ein wenig eingefallen. Red musterte sie eindringlich. Bis eben war sie noch überzeugt gewesen, dies hier wäre eine gute Idee. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Ihr fiel jedoch auch nichts Anderes ein, das sie hätte tun können, um das endlose Kreisen ihrer Gedanken zu unterbrechen und sie in neue Bahnen zu lenken. Piper schluckte geräuschvoll.
„Wenn es wegen deiner Seife ist – ich schwöre, ich habe sie nicht angerührt! Sie war noch da, als ich-“
„Entspann dich!“, fiel Red ihr ins Wort und fegte mit einer Hand durch die Luft als wolle sie Pipers belangloses Geschwafel damit verscheuchen. Fast hätte sie sich gewünscht, ein verschwundenes Stück Seife wäre ihr größtes Ärgernis dieser Tage gewesen. „Es geht nicht um Seife. Ich muss dir nur...eine Frage stellen.“
Sichtlich erleichtert atmete Piper auf. Die Anspannung löste sich aus ihrem Körper. „Oh, okay. Worum geht’s?“
Red antwortete nicht sofort. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen versuchte sie Risiko und Erkenntnisgewinn dieser Aktion gegeneinander abzuwägen. Natürlich wäre es besser gewesen, gar nicht darüber zu reden. Wo es kein Wort gab, konnte auch kein Gerücht entstehen. Aber wenn man keine Fragen stellte, erhielt man auch keine Antworten. Sie hatte kaum eine Wahl.
„Es wird dir vielleicht etwas...ungewöhnlich vorkommen und...ein wenig privat. Ich möchte lediglich deine ehrliche Meinung dazu wissen. Ich will keine Spekulationen hören. Verstanden?“
Pipers Miene füllte sich zunehmend mit Wissbegierde. Sie nickte. „Schieß' los!“
Red holte noch einmal tief Luft. Dann sprach sie es einfach aus: „Glaubst du, man kann Sex verlernen?“
Stille trat ein. Von außen drängten sich die gedämpften Geräusche aus der Kantine in das beengte Büro. Piper starrte sie an. Das war offensichtlich nichts, womit sie gerechnet hatte. Ihre Erwiderung unterstrich ihre enorme Verwirrung: „Redest du jetzt...von mir?“
Red seufzte. „Nein! Ganz allgemein!“
„Du meinst wie...“ Pipers Augen verengten sich, während sie fieberhaft nach einem passenden Beispiel suchte. „...wie man auch verlernen kann, ein Instrument zu spielen?“
Red zuckte mit einer Schulter. „Mehr oder weniger...ja. Angenommen jemand hatte...lange Zeit keinen Kontakt in dieser Weise mehr mit anderen Menschen...glaubst du, derjenige könnte seine...Fähigkeiten was das betrifft verlieren?“
Mit einem Mal stahl sich ein breites Lächeln auf Pipers Lippen und Red fragte sich, wie sie dieses Gespräch jemals für eine gute Idee hatte halten können. „Geht's hier um dich? Hat Healy dir so eine Art abgefahrenen Sexurlaub fürs Wochenende genehmigt oder sowas?“
Bei der Erwähnung von Sams Namen hätte Red um ein Haar die Beherrschung verloren und Piper achtkantig aus dem Büro gekickt. Glücklicherweise gelang es ihr, diesen Impuls zu unterdrücken. Andernfalls hätte sie Piper auch gleich die ganze Wahrheit auf die Nase binden können.
„Was hatte ich eben über Spekulationen gesagt?“
Das Lächeln in Pipers Gesicht schrumpfte schlagartig zusammen, wollte aber dennoch nicht gänzlich verschwinden. „Entschuldige. Also, ähm...“ Sie widmete sich wieder der Suche nach einer Antwort auf Reds Frage. „Ich...ich glaube nicht, dass man jemals vergessen kann, wie es geht. Denk doch nur mal dran, wie das alles anfängt: vom allerersten Mal an ist und bleibt es doch irgendwie...ein intuitives Ding, oder? Niemand bringt es einem bei, so wie man von den Eltern lernt Fahrrad zu fahren. Gott sei Dank! Du fängst einfach irgendwann an, es zu tun, und je öfter du es tust, umso mehr findest raus...was dir gefällt...“ Ihre Miene wandelte sich von sanft und verträumt zu leicht angeekelt als sähe sie sich in diesem Augenblick von einer besonders unangenehmen Erinnerung heimgesucht. „...und was dir nicht gefällt... Na ja, und irgendwie fängt man ja auch immer nochmal ganz von vorne an, wenn man mit einer völlig neuen Person zusammen ist, findest du nicht? Es ist ein ganz neues Abenteuer – ganz egal mit wie vielen Menschen man vorher geschlafen hat, dann ist es-“
„Deine Antwort lautet also nein“, würgte Red sie schließlich in trockenem Tonfall ab, als sie Pipers blumige Ausführungen nicht länger ertragen konnte. Sie hatte sich so lange keine Gedanken über dieses Thema gemacht, dass es ihr nun sehr schnell Kopfschmerzen bereitete. Zudem kam sie sich allmählich vor als wäre sie noch ein nichts ahnender Teenager, der die gesamten Unannehmlichkeiten der Aufklärung noch vor sich hatte.
Ein wenig ernüchtert ob dieser plötzlichen Unterbrechung nickte Piper. „Das wäre die kurze und sehr unpoetische Version meiner Aussage...aber ja: meine Antwort ist nein.“
„Gut. Danke.“ Red ließ den Blick in eine Ecke des kleinen Raumes sinken und lauschte in sich hinein, um herauszufinden, ob sie sich nun irgendwie besser fühlte. Allerdings bekam sie dazu nicht wirklich Gelegenheit, denn für Piper war die Unterhaltung offenbar noch nicht beendet.
„Gern geschehen. Aber um ehrlich zu sein, bin ich ein bißchen überrascht, dass du mich danach gefragt hast. Ich bin nicht gerade die offensichtlichste Wahl, wenn's um Sextipps geht. Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich nicht auch das eine oder andere darüber wüsste...aber wäre Nicky bei dem Thema nicht die Expertin?“
„Ich hatte meine Gründe, nicht sie danach zu fragen.“ Red deutete mit dem Zeigefinger drohend auf die junge Frau. „Und du wirst ihr nichts hiervon erzählen, niemandem, hörst du?“
Piper hob abwehrend die Hände. „Sicher!“
„Nein, nicht sicher“, zischte Red und erhob sich langsam von ihrem Stuhl. „Versprich es!“
„Okay, ich verspreche es! Ich werde niemandem davon erzählen. Kein Sterbenswort. Aber...“ Piper biss sich auf die Unterlippe und zögerte kurz als wüsste sie nicht, ob sie wirklich fortzufahren sollte. Letztlich tat sie es doch. „Entschuldige, ich bin einfach nur neugierig. Warum machst dir darüber überhaupt Gedanken?“
Red starrte sie an. „Wie bitte?“
„Oh, ich meine nicht, dass du zu alt wärst, um sexuelle Bedürfnisse und Gelüste zu verspüren...“ Ihr fiel wohl selbst auf, dass sie dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden, denn Piper brach ab und presste schuldbewusst die Lippen zusammen.
„Geh einfach und friss dein widerliches Frühstück...“
„Natürlich!“ Damit drehte Piper sich um, riss die Bürotür auf und war verschwunden.
Red sank zurück auf den Stuhl. Mit einem schweren Seufzen stützte sie den Kopf auf beide Hände und stierte gegen die Wand vor sich. Mit Piper zu sprechen, hatte ihr nichts gebracht. Und obgleich sie glaubte, dass Nicky im Grunde nicht viel Anderes dazu gesagt hätte, ahnte Red, dass sie aus einer Unterredung mit ihr erleuchtet rausgegangen wäre. Irgendwie gelang es Nicky immer ohne große Anstrengung und wahrscheinlich sogar ohne es selbst zu beabsichtigen oder zu wissen, bei Red genau die richtigen Schalter an genau den richtigen Stellen umzulegen. Wie ein Bahnwärter, der immer wusste, wann er welche Schranke zu öffnen oder zu schließen hatte, um den jeweiligen Zug ans Ziel zu bringen. Doch diese Schranke würde Red wohl selbst hoch wuchten müssen. Sie schaute hinab auf die Stelle, an der Sams Stuhl vor einigen Stunden noch gestanden hatte. Weder jetzt noch in jenem Moment hätte sie sagen können, was genau eigentlich ihr Problem gewesen war. Wovor hatte sie sich gefürchtet? Davor ihn zu enttäuschen? Oder sich selbst? Davor etwas falsch zu machen? Oder davor, dass es ihr viel zu gut hätte gefallen können? Red wusste ja nicht einmal wie weit sie beide gegangen wären. Sie wusste nur eines: sie hatte Panik bekommen. Aber das lag nicht an Sam. Er hatte nichts falsch gemacht. Ganz im Gegenteil, seine Berührungen waren sehr schön gewesen, sanft und doch fordernd. Das Problem lag bei ihr. Vielleicht brauchte sie einfach nur etwas mehr Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass ein anderer Mensch sie so leicht aus der Fassung bringen konnte. Denn das war tatsächlich etwas, das sie über die Maßen beunruhigte.
Mit gemischten Gefühlen richtete Red sich im Sitzen auf und atmete tief durch. Sie wusste, dass Sam sie niemals dazu gedrängt hätte, ihre Intimität zu intensivieren, solange sie nicht dazu bereit war. Das war gestern noch einmal mehr als deutlich geworden. Das Einzige, was sie drängte, war ihr eigenes Verlangen nach körperlicher Liebe. Durch ihr Zusammensein mit Sam war es wie aus einem langen, tiefen Winterschlaf erwacht und machte sich immer öfter und nachdrücklicher bemerkbar. Red war sich nicht sicher, ob dieses hungrige Biest ihr die Zeit lassen würde, die ihr Verstand brauchte, um sich mit den neuen Umständen zu arrangieren.
Sam haderte mit sich. Zum zweiten Mal seit er sein Büro verlassen hatte, zog er in Erwägung, wieder umzukehren. Eine Insassin, die wohl hinter ihm gelaufen war, wich ihm aus, als er abrupt stehen blieb. Im Vorbeigehen warf sie ihm einen düsteren Blick zu, aber Sam achtete nicht auf sie. Der Korridor war erfüllt von Stimmengewirr und gelegentlichem Gelächter. Der Strom der Frauen in Richtung Kantine war nicht mehr ganz so dicht, das Mittagessen war bereits seit etwa einer Stunde im Gange. Sie zogen an ihm vorbei, ohne dass ihre Gesprächsfetzen oder Blicke ihn erreicht hätten. Sam starrte zur nächsten Ecke, die ihn, wenn er sie nahm, direkt zur Kantine führen würde. Red hatte ihn nicht darum gebeten, ihn heute dort aufzusuchen. Nach dem, was gestern passiert war, hatte sich eine gewisse Unsicherheit in Sams Inneres zurück gestohlen. Sie hatten sich nicht im Streit getrennt, Galina war nicht vor ihm davon gelaufen. Sie hatten sich zum Abschied geküsst und es hatte genauso geschmerzt wie schon am Tag davor. Aber nachdem Red urplötzlich von seinem Schoß aufgestanden war und ihrem zunehmend intimer werdenden Intermezzo damit ein Ende bereitet hatte, war ihr restliches Beisammensein ein wenig merkwürdig gewesen. Sie hatten es nach wie vor beide genossen und sich gut unterhalten und auch weiterhin die eine oder andere Zärtlichkeit ausgetauscht. Doch der Vorfall hatte von da an zwischen ihnen gestanden und sie hatten sich beide große Mühe geben müssen, ihn zu ignorieren. Sam hatte sich seitdem unablässig den Kopf darüber zerbrochen. Ohne zu einem Ergebnis gelangt zu sein. Er glaubte nur zu wissen, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen was, vor allem nicht da Galina ihn dazu aufgefordert hatte, ihr seine Leidenschaft zu beweisen. Sie hatte auch nicht erzürnt gewirkt, als sie sich von ihm gelöst hatte. Sie war keine Frau, die es unter den Teppich kehrte, wenn man ihr etwas antat, das ihr gegen den Strich ging. Also war es wohl nichts, was er getan hatte, weshalb sie auf Abstand gegangen war. Vielleicht war ihr einfach die Lust vergangen. Aber so plötzlich? Und wieso überhaupt? Vielleicht hatte sie ihn aber auch tatsächlich einfach nicht weiter quälen wollen. Doch daran konnte er nicht so recht glauben. Zumal es ihr kurz zuvor noch sichtlich Freude bereitet hatte, ihn mit ihren Berührungen zu triezen. Da war etwas Anderes. Irgendein Grund, den er nicht sehen konnte. Irgendetwas, das mit ihm zu tun hatte. Vielleicht war er ihr einfach zu dick.
„Das macht doch alles keinen Sinn...“, murmelte Sam ohne es selbst zu merken.
„Vielleicht ist der Sinn des Lebens nicht, den Sinn zu suchen, sondern die Sinnlosigkeit zu akzeptieren und so unseren eigenen Sinn in den Dingen zu erschaffen“, sprach eine monotone Stimme zu seiner Linken und riss ihn aus seinen stark verworrenen Gedanken. Eine ältere Frau mit großen, wässrigen Augen und eingefallenen Wangen hatte neben ihm Halt gemacht. Nun lächelte sie auf sehr beunruhigende Weise und setzte ihren Weg langsam und bedächtig fort. Sam sah ihr nach. Er konnte nicht behaupten, dass ihre Worte ihm irgendwie Klarheit verschafft hätten. Aber eines erkannte er jetzt: er würde des Rätsels Lösung nie erfahren, wenn er die Urheberin des Rätsels nicht danach fragte.
Nicht unbedingt frohen Mutes, aber wenigstens um einiges entschlossener löste Sam sich von der Stelle und ging mit festen Schritten voran. Als er die Kantine betrat, musste er sich nicht lange umschauen, um Red zu finden. Ihr roter Schopf erhob sich aus der sitzenden Menge, in welcher sie an einem der Tische stand, scheinbar im Gespräch mit ihren Mädchen. Sam erinnerte sich sehr wohl an die von ihr aufgestellte Regel, er solle nicht ohne einen guten, plausiblen Vorwand hier aufkreuzen. Er hatte den ganzen Morgen und Vormittag Zeit gehabt sich einen zurechtzulegen und hatte sich dabei einen ausgedacht, der sogar als echter Grund, hierher zu kommen, Bestand hatte. Sein Magen zog sich zusammen und sein Herz begann zu flattern, als er sich so gelassen wie er nur konnte seinen Weg durch die Tische auf die Köchin zu bahnte. Da sie mit dem Rücken zu ihm stand, bemerkte sie ihn als Letzte. Die übrigen Frauen sahen ihn kommen und verstummten, was Red dazu veranlasste, den Kopf zu wenden. Sie freute sich ihn zu sehen, was Sam erleichterte. Doch ihre Miene verriet ihm auch, dass sie den gestrigen Vorfall ebenso wenig vergessen hatte wie er.
„Sam! Hat dir der eine Löffel nicht gereicht?“
Er lachte nervös und machte neben ihr Halt. „So ähnlich. Ich habe gleich den Termin mit Caputo und ich dachte, es könnte nicht schaden, ihm eine kleine Kostprobe mitzubringen.“
Red runzelte die Stirn. „Und welche Foltermethode willst du anwenden, um ihn dazu zu bringen, das Zeug zu probieren?“
Sam wünschte sich, sie hätten ein geheimes Codewort gehabt, das „Lass uns sofort irgendwohin verschwinden, wo wir in Ruhe reden können“ bedeutete. Nur allzu deutlich spürte er die Blicke von Chapman, Morello und Nichols auf sich ruhen, die am nächsten bei Red saßen. Da stand er und tat als wäre alles wie immer, dabei hätte er die Frau direkt vor sich am liebsten an den Schultern gepackt und verzweifelt gefragt, was er falsch gemacht hatte und was er tun musste, um ihr wieder so nah sein zu dürfen. Um eine Antwort verlegen schwieg er. Seine Gedanken waren gerade zu sehr mit ihrer letzten Begegnung beschäftigt, als dass er im Hier und Jetzt schlagfertig hätte sein können. Glücklicherweise kannte Red ihn nach all den Jahren gut genug, um von seinen Augen abzulesen, was seine Lippen nicht aussprachen.
„An mir soll es nicht scheitern. Es ist genug Schleim für alle da!“
„Danke.“
Red bedeutete ihm mit einer Geste, ihr zu folgen. Bevor er das tat, nickte er den Frauen am Tisch noch flüchtig zu. Es verunsicherte ihn ein wenig, wie Nichols ihn ansah. Ihre dunklen Augen bohrten sich in ihn hinein, während ein schiefes Lächeln ihre Lippen umspielte. Hastig schloss Sam zu Red auf.
„Ist mit Nichols alles in Ordnung?“
Red warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. „Was meinst du?“
Sam ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten und senkte die Stimme, damit keine der Insassinnen an den Tischen, die sie nun passierten, etwas mitbekam. „Du hast erwähnt, sie ahnt womöglich etwas. Und eben da hat sich mich angesehen als wenn-“
„Ich sagte, dass sie spürt, dass etwas im Busch ist, nicht dass sie etwas ahnt“, korrigierte ihn Red in beiläufigem Ton als sprächen sie über das Wetter. Sam musterte sie von der Seite und fragte sich einmal mehr, wie sie es immer wieder schaffte, diese Fassade der Kontrolle aufrecht zu erhalten. Denn das, worüber sie sprachen, war nicht einmal annähernd so banal wie das Wetter.
„Wo ist da der Unterschied?“
„Bleib locker, Sam. Sie weiß nichts.“ Red schenkte ihm ein kleines, beschwichtigendes Lächeln, das eine überraschend große Wirkung zeigte. Womöglich hing das aber auch damit zusammen, dass ihm etwas Anderes viel heißer und dringender auf der Seele brannte als Nichols' Gespür und Ahnungen. Aber Sam riss sich zusammen. Ihm war bewusst, dass die vollgestopfte Kantine der denkbar unpassendste Ort für die Unterhaltung war, die er gern geführt hätte. Er musste wenigstens warten, bis sie in der Küche waren, die mehr Sicherheit bot, ehe er einen Versuch wagen konnte, Red auf den Vorfall am Vorabend anzusprechen.
Schweigend brachten sie den Rest des Weges hinter sich. Sam fiel nichts Belangloses und Unverfängliches ein, das er hätte sagen können, und ihm war auch nicht danach. Red schien es ähnlich zu gehen. Kurz bevor sie den Durchgang zur Küche erreichten, betrachtete Sam sie noch einmal. Sie wirkte angespannt und nachdenklich. So wie auch er es seit ihrem letzten Abschied war. Red trat als Erste über die Schwelle und machte sich sogleich daran, ihm die geforderte Kostprobe für Caputo zu beschaffen. Vielleicht bildete Sam es sich nur ein, aber er hatte das Gefühl, sie brächte das schneller hinter sich als sie es sonst getan hätte. Als wollte sie ihn möglichst schnell wieder loswerden. Inzwischen hatte er genug Vertrauen in die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle zu ihm gefasst, um zu wissen, dass sie das nicht aus Abneigung tat. Sie schien sich nur noch nicht sicher zu sein, wie sie nach dem, was gestern zwischen ihnen passiert war, mit ihm umgehen sollte. Wie gern hätte er einfach ganz offen mit ihr darüber gesprochen. So wie normale Paare es getan hätten. Hier und jetzt. Ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob irgendjemand etwas ahnte, spürte oder wusste.
Sam sah zu wie Red etwas braunen Brei aus einem der gerade erst befüllten Behälter in eine Plastikschale füllte. Als das erledigt war, kehrte sie zurück zu der Stelle nah bei der Tür, wo Sam inne gehalten hatte. Er legte seine Hand auf ihre, als sie ihm die Schale überreichte. Red zog ihre nicht sofort weg. Erst richtete sie ihre blauen Augen auf seine. Sam konnte einen Anflug von Bedauern darin ausmachen. Sie ließ die Hand sinken.
„Danke, Red.“
Sie schmunzelte. „Als Zeichen deiner Dankbarkeit kannst du ein Foto von seinem Gesicht schießen, wenn er diesen Dreck runterwürgt...“
Seine Mundwinkel zuckten, doch zu einem richtigen Lächeln brachte er es nicht. Seine Nervosität nahm zu. Er spürte den Moment des Abschieds näherrücken und wusste nicht wie er ihn hätte hinauszögern können. Aber er musste wenigstens erfahren, wie es nun um sie stand. Gerade noch so konnte er sich selbst davon abhalten, Galina direkt zu fragen, ob er sie am Abend sehen könnte.
„Also, die Schale...würde ich heute Abend zurückbringen...wenn das in Ordnung ist?“ Er betonte das Fragezeichen als hinge sein Leben davon ab.
Red verstand. Etwas Sanftes flocht sich durch ihre Züge und ließ Hoffnung in Sam aufkeimen, dass alles mal wieder nur halb so schlimm war wie er es sich ausgemalt hatte. „Ja, das ist in Ordnung.“
„Gut...“ Es war Zeit zu gehen, aber Sam blieb wo er war. Er konnte einfach nicht widerstehen. „Red, wegen...wegen gestern...“
Ihre Augen weiteten sich und sie zog die Brauen zusammen. Es war keine Überraschung, dass sein Leichtsinn sie alarmierte. Hastig schaute sie sich in alle Richtungen um, doch vom Küchenpersonal schenkte ihnen niemand Beachtung. Als ihr Blick sich wieder auf ihn richtete, war längst alles gesagt. Sie brauchte nichts mehr zu erwidern. Sam schluckte schuldbewusst.
„Entschuldige.“ Ob er sich für seine jetzige Unüberlegtheit oder seinen vermutlichen Fehler am gestrigen Abend entschuldigte, wusste er selbst nicht. Sam gab sich einen Ruck. „Also, dann...danke nochmal und...ich berichte dir dann später vom Ausgang der Schlacht.“
Demonstrativ hielt er die mit Brei gefüllte Schale hoch. Härte und Tadel wichen nur sehr langsam aus Reds Gesicht. Fast war es ein Glück, dass sie nicht offen sprechen konnte, sonst hätte Sam sich wohl eine ordentliche Standpauke anhören müssen. Red seufzte.
„Viel Erfolg, Sam.“
„Danke...bis dann.“ Mit dem Gefühl, ihn würde später noch ein langer, hitziger Vortrag über die Bedeutsamkeit von Vorsichtsmaßnahmen erwarten, wandte Sam sich von ihr ab und verließ die Küche. Es war abzusehen gewesen, dass Red nicht während des Hochbetriebs in der Kantine und in Hörweite von anderen über dieses Thema sprechen würde. Dennoch hatte Sam es einfach versuchen müssen. Es wurmte ihn, nicht zu wissen, was in ihr vorging. Der ungelöste Konflikt zwischen ihnen, von dem er nicht mal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob man ihn als solchen bezeichnen sollte, lag Sam im Magen wie eine schwer verdauliche Mahlzeit. Zum Glück fühlte er sich dadurch nicht entmutigt was sein bevorstehendes Gespräch mit Caputo anging. Im Gegenteil, er war jetzt noch entschlossener, den Mann zu verbiegen wie eine Eisenstange. Selbst Sam war nicht naiv genug zu glauben, er hätte seinen Vorgesetzten mit einer Schale ekelhaftem Brei und einem Appell an sein Gewissen umstimmen können. Aber er versprach sich zumindest, ihm ein paar Schuldgefühle einimpfen zu können, die sich mit der Zeit zu einer ausgewachsenen Infektion entwickeln und ihn in nicht allzu fernen Zukunft womöglich noch einmal überdenken lassen würden, ob es richtig war, die Insassinnen mit ungenießbarem Hundefutter abzuspeisen. Mit etwas Glück würde er so später am Abend nicht mit leeren Händen vor Galina stehen. Es konnte bestimmt nicht schaden, einen Anlass zur Freude aus dem Hut zaubern zu können, wenn sie dazu ansetzte, ihrem Ärger über seine Leichtsinnigkeit Luft zu machen.
Eine halbe Stunde später fand Sam sich vor Caputos Büro wieder. Die inzwischen erkaltete Kostprobe in einer Hand, klopfte er mit der freien gegen die Tür. Von drinnen vernahm er ein entnervtes Stöhnen. Nicht gerade die beste Basis für erfolgreiche Verhandlungen. Aber er hatte bereits damit gerechnet, dass der Mann keine Luftsprünge angesichts seines Besuches machen würde.
„Ja, was ist?“, rief Caputo von drinnen.
Sam öffnete die Tür. Dahinter erwartete ihn nicht unbedingt, was er erwartet hatte. Eine Serviette in den Kragen seines Hemdes gesteckt hockte Caputo hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm stand ein Aluminiumbehälter, der einen großen Berg Spaghetti Bolognese beinhaltete. Dem Besteck in seinen Händen nachzuschließen, hatte er eben mit dem Essen anfangen wollen. Als er Sam erblickte, kam es diesem vor als sei er nicht der Erste, der die Mittagspause seines Vorgesetzten an diesem Tag verzögerte.
„Was gibt es denn?“
Sam trat ein und schloss die Tür hinter sich, um gleich klar zu stellen, dass er nicht vorhatte, sich abwimmeln zu lassen. „Wir hatten für heute einen Termin.“
Caputo starrte ihn an. Langsam zogen sich seine Brauen zusammen. Dann wanderte sein Blick zu dem aufgeschlagenen Terminplaner auf seinem Tisch. Er stöhnte.
„Ach ja, natürlich!“ Einen Moment lang sah es so aus als zöge er es ernsthaft in Betracht, Sam wieder wegzuschicken. Doch schließlich seufzte er resignierend, legte das Besteck weg und schob sein Mittagessen beiseite. „Na schön...ich wollte sowieso noch mit Ihnen sprechen. Setzen Sie sich...“
„Danke.“ Sam zog den freien Stuhl vor dem Schreibtisch zurück und nahm Platz. Die Schale mit dem kalten Brei stützte er auf seinem Oberschenkel ab. Er würde sie noch zurückhalten und im richtigen Augenblick einsetzen wie eine Geheimwaffe. Gerade wollte Sam das Wort ergreifen, da kam Caputo ihm zuvor.
„Also, Sam...“ Der Mann lehnte sich in seinem bequemen Chefsessel zurück und musterte ihn eingehend. „Wie läuft es für Sie? Haben Sie sich wieder gut bei uns eingelebt?“
Sam war überrascht, dass er danach fragte. Als er vor einem Monat hergekommen war, um ihn um seine alte Stelle zu bitten, hatte Caputo sofort zugestimmt. Es war kein Geheimnis, dass dieser Mann nie ein sonderlich großer Fan von ihm gewesen war, das hatte selbst Sam gemerkt. Aber Caputo war geradezu erleichtert gewesen, ihn wieder einstellen zu können. Offenbar hatte er Probleme, das passende Personal zu finden. Demnach war es natürlich in seinem Interesse, Sam und alle übrigen Angestellten halten zu können. Doch dass er soweit gehen würde, tatsächlich einmal nach ihrem Befinden zu fragen, hatte Sam nicht erwartet.
„Ja, sehr gut, danke. Ich habe das Gefühl, ich kann hier dieses Mal wirklich etwas bewegen.“
Auf der Stirn seines Gegenübers bildeten sich tiefe Falten und das höfliche Lächeln auf seinen Lippen verlor ein wenig seine Form als wüsste er nicht, wie er diese Aussage zu deuten hatte. „Ja...das klingt doch wunderbar! Aber bewegen Sie nicht zu viel, die tragenden Wände wollten wir schon stehen lassen.“
Caputo lachte über seinen eigenen Scherz. Sam stimmte mit einem halbherzigen Lächeln ein. Im Grunde hatte der Mann ihm gerade, ohne es selbst zu ahnen, geraten, den Grund für seinen Besuch stecken zu lassen und unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Natürlich dachte Sam nicht mal im Traum daran.
„Wo wir gerade davon sprechen-“
„Eine Sache noch!“, fiel Caputo ihm ins Wort, beugte sich nach vorn und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Was halten Sie eigentlich von ihrer Kollegin Miller?“
Sam spürte, dass seine Geduld zur Neige ging. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er nicht im Stande gewesen, sich jetzt Gedanken über irgendetwas Anderes zu machen als die Tatsache, dass die Frau, die er liebte, Tag ein Tag aus Dreck fraß und von der einen Tätigkeit abgehalten wurde, die ihrem eigenen Wortlaut nach „ihr Dasein auf Erden berechtigte“.
„Ich weiß nicht. Ich hab' sie nur zwei oder dreimal kurz gesprochen. Sie scheint in Ordnung zu sein. Aber warum ich eigentlich hier-“
„Sie ist ein echtes Problem.“ Nachdenklich strich sich Caputo mit einer Hand über den Schnurrbart. „Die Insassinnen hassen sie. Ich höre nur Beschwerden! Und sie ist unzuverlässig. Geht nie an ihr Telefon, wenn ich versuche, sie zu erreichen. Und sie kommt ständig zu spät zur Arbeit. Verdammt, wahrscheinlich werd' ich nich' drum rum kommen, einen Ersatz für sie zu suchen.“ Er stieß ein tiefes Seufzen aus als könne er sich keine schlimmere Aufgabe vorstellen. „Wissen Sie wie verdammt schwierig es ist, halbwegs brauchbares Personal für so eine Stelle zu finden? Die Leute mit den richtigen Qualifikationen, die nicht völlig durchgeknallt sind, machen einen großen Bogen um dieses Gefängnis!“
Sam presste die Lippen zusammen und musste sich im Stillen selbst ermahnen, nicht die Nerven zu verlieren. In der Therapie hatte er gelernt, mit Situationen wie diesen umzugehen. Situationen, in denen unsensible Menschen unsensible, unüberlegte Dinge sagten, die ihn früher wochenlang geplagt und sein Selbstbewusstsein aufgeknabbert hätten wie Mäuse einen schmackhaften Käse.
„Vielen Dank auch...“
Die Erkenntnis trat sehr langsam auf Caputos Gesicht. Wenigstens wirkte es so als täte es ihm ein bißchen leid. „Oh...entschuldigen Sie, Sam. So habe ich das nicht gemeint. Sie...Sie machen einen tollen Job. Wirklich. Wir sind froh, Sie hier zu haben.“
Sein Gebrabbel interessierte Sam gar nicht. Caputo hätte ihn nach allen Regeln der Kunst niedermachen oder in den Himmel loben können, es kümmerte ihn nicht. Hier ging es nicht um ihn. Es wurde Zeit, das Gespräch in die Richtung zu lenken, die Sam schon anzusteuern versuchte, seit er sich gesetzt hatte.
„Danke. Aber eigentlich wollte ich mit Ihnen über etwas Wichtiges sprechen.“
Caputo hob die Brauen und setzte eine höchst aufmerksame Miene auf als wollte er damit seinen vorherigen Mangel an Sensibilität ausbügeln. „Schießen Sie los! Ich bin ganz Ohr...“
Nun hob Sam die Plastikschale von seinem Bein und stellte sie zwischen sich und seinem Vorgesetzten auf den Tisch. Die dunklen Augen des Mannes ruhten eine Weile darauf. Dann richtete sie sich fragend auf Sam.
„Was ist das?“
„Das ist das Essen, das die Insassinnen derzeit in der Kantine bekommen.“ Sam konnte zusehen wie Caputo seine abwehrenden Mauern hochfuhr.
„Nett von Ihnen, aber ich bin versorgt.“ Er nickte zu seinen Spaghetti herüber. Der erste Schuss war gefallen, das Feuer eröffnet. Sam rückte auf seinem Stuhl nach vorn und schob die Schale noch etwas weiter auf sein Gegenüber zu.
„Haben Sie das Zeug jemals probiert? Ich habe es gestern getan und ich bin gelinde gesagt schockiert, dass wir diesen Frauen so etwas seit über einem Jahr hier zumuten.“
Caputo rieb sich mit einer Hand die Stirn und warf all seine aufgesetzte Freundlichkeit und Vertraulichkeit über Bord. „Nein, ich habe es nicht probiert. Und ich habe es auch nicht vor.“ Damit schob er die Schale zurück in Sams Richtung. „Das Essen macht sie satt und hält sie am Leben – Mission erfüllt!“
Sam zog die Brauen zusammen und spürte, wie die Wut in ihm zu brodeln begann. „Ich habe mit einigen Insassinnen gesprochen und etliche von ihnen leiden unter körperlichen Beschwerden. Durchfall, Verstopfungen, anhaltende-“
Caputo verzog das Gesicht. „Haben Sie vielleicht auf Stuhlproben genommen? Fuck, das will ich alles nicht hören, Healy! Ich sag es Ihnen gerne noch einmal: das Essen erfüllt seinen Zweck. Nur weil diese Ladies was Besseres gewohnt und sich jetzt zu fein sind-“
„Sie sind sich nicht zu fein, sie sind Menschen, die gern etwas halbwegs Essbares auf ihrem Teller hätten! Was glauben Sie, wie viel es hier drinnen gibt, worüber sie sich freuen können?“
Die Papierserviette streifte die Tischplatte, als Caputo sich noch etwas weiter vorbeugte und in gesenktem, bedrohlichem Tonfall fortfuhr. „Das hätten die sich vielleicht überlegen sollen, bevor sie kriminell wurden.“ Geräuschvoll stieß er die Luft aus, ließ sich zurück in seinen Stuhl sinken und riss sich die Serviette aus dem Kragen. „Das hier ist kein Fünf-Sterne-Hotel! Diese Frauen sitzen hier ihre Strafe ab und es ist nicht Sinn der Sache, dass sie sich dabei gut fühlen.“
Es kostete Sam alle Beherrschung, nicht genauso aus der Haut zu fahren wie Caputo. Genug Groll und Zorn hätte er dafür allemal in sich gehabt. Er atmete tief durch und zwang sich ruhig zu bleiben. Wenn es einen Weg gab, diese Diskussion irgendwann zu gewinnen, nicht heute, aber irgendwann, dann nicht mit Gebrüll. Denn Caputo war von ihnen beiden eindeutig der größere Brüllaffe. Sam bohrte sich in seine dunklen Augen und sprach so ruhig wie es ihm nur möglich war.
„Ich fordere hier keine erstklassige Verköstigung. Ich weiß sehr wohl, dass wir hier von Straftätern sprechen. Ich will diese Frauen nicht belohnen. Ich will ihnen nur ihre menschliche Würde erhalten.“
„Oh, fuck!“, fluchte Caputo und starrte ihn an als hätte Sam zu einer nervigen Friedenshymne angesetzt. „Kommen Sie mir jetzt doch nich' mit Menschenwürde! Fakten auf den Tisch: das Essen schmeckt beschissen!“ Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, wobei einige Stifte einen kleinen Hüpfer machten. „Na und? Meine Mutter konnte auch nicht kochen, aber bin ich deswegen auf die Barrikaden gegangen? Nein! Ich hab' den Mist geschluckt, bis ich selbst entscheiden konnte.“
Sam fixierte ihn mit verengten Augen. Der Drang, ihm irgendetwas in seine selbstgerechte Visage zu schleudern, juckte ihm in den Fingern. Aber er unterdrückte ihn mit aller Macht. Sonst hätte am Ende noch seine fristlose Kündigung zur Debatte gestanden. Und das war das Letzte, was Sam wollte. Das hieß jedoch nicht, dass er nicht weiterhin kämpfen konnte. Es war schließlich sein Job, sich für das Wohlergehen der Frauen von Litchfield einzusetzen. Zumindest sah er das mittlerweile so. Mit der Zeit würde auch Caputo das irgendwann einsehen.
„Gut. Unsere Standpunkte wären damit also geklärt.“
Caputo funkelte ihn an. „Die ganze Sache ist damit geklärt!“
„Das sehe ich ein bißchen anders. Ich werde dran bleiben.“
Ein erneuter, schwerer Seufzer drang aus den Lungen seines Vorgesetzten. Wieder lehnte er sich zu Sam vor und schlug einen geradezu versöhnlichen Tonfall an. „Hören Sie, Sam... Selbst wenn ich wollte, ich könnte nichts an der derzeitigen Verpflegung ändern. Wir haben ein Budget. Und das sagt eindeutig...“ Sein Blick fiel hinab auf den bräunlichen, bröckeligen Brei. „...Schlammcurry statt Sushi.“
Sam starrte ihn an. Mit einem wenig überzeugenden Lächeln streckte Caputo den rechten Arm aus und verpasste ihm einen kumpelhaften Schlag auf die Schulter.
„Nehmen Sie's nicht so schwer, Sam! Machen Sie einfach Ihren Job. Halten Sie die Ladies in Schach und sorgen Sie dafür, dass sich nicht allzu viele von ihnen umbringen...“
Diese Worte waren nur ein weiterer Beweis dafür, mit was für einem gewaltigen Vollidioten Sam es hier zu tun hatte. Abermals musste er sich heftig zusammenreißen, um seine Fassung nicht zu verlieren. „Galina Reznikov hat bereits über Depressionen aufgrund der Verpflegung geklagt.“
Caputos Züge verhärteten sich. Seine Stimme klang kalt und hart, als er antwortete. „Galina Reznikovs Schicksal ist das letzte, mit dem Sie mich zu Tränen rühren können. Und wenn Sie mich dann jetzt bitte entschuldigen würden – ich habe hier noch ein paar echte Probleme zu stemmen...“
Damit zog er sein Mittagessen wieder vor sich und nahm das Besteck zur Hand. Sam stand auf. Und bevor er überhaupt eine Chance hatte, darüber zu reflektieren, ob diese Idee nun gut oder katastrophal schlecht war, hatte er die kleine, gelbe Plastikschale bereits in der Hand und kippte ihren Inhalt über der Pasta aus. Der braune Brei ergoss sich zäh über die Nudeln. Caputo klappte der Mund auf.
„Guten Appetit!“
Sam wartete nicht auf die Explosion. Er schritt zur Tür hinaus, zog diese hinter sich zu und trat den Rückweg zu seinem Büro an. Aus der Ferne hörte er noch Caputos Zetern. Ein Teil von ihm bereute bereits, den Mann derart gereizt zu haben. Ein anderer Teil jedoch, der bei weitem überwog, suhlte sich in Genugtuung und Stolz über seine Tat. Nach dieser Kampfansage würde Caputo jedenfalls nicht mehr glauben, ihn mit hohlen Phrasen und dämlichen Ausreden beschwichtigen zu können. Und Sam war sich einer Sache ganz sicher: Galina würde stolz auf ihn sein.
Es gab nur eines, das fast genauso schlimm war, wie das Fertigessen direkt aus der Hölle Tag für Tag zu servieren: den Speiseplan dafür festzulegen. Als müsste man sich einen Plan ausdenken, jemanden auf grausamste Weise zu foltern, den man gar nicht foltern wollte. Obwohl es gerade mal Mitte der Woche war, hatte Red den heutigen Abend auserkoren, um sich dieser verhassten Aufgabe anzunehmen. Sie hatte das Gefühl, es war der richtige Zeitpunkt. Ihre Laune war ohnehin schon im Eimer – sie war gereizt und verwirrt über ihr eigenes Verhalten bei ihrem letzten Treffen mit Sam und verärgert, weil er es beim Mittag gewagt hatte, sie vor aller Augen genau darauf anzusprechen. So war sie mit Klemmbrett und Bleistift bewaffnet in die Kühlkammer gegangen und stand nun mit finsterer Miene zwischen den Regalen, in denen sich die großen Beutel stapelten, deren durchsichtiges Material freien Blick auf ihren übelerregenden Inhalt ermöglichte. Red blickte hinab auf ihr Klemmbrett und stellte fest, dass sie erst zwei Tage auf dem Vordruck ausgefüllt hatte. Vielleicht war sie gar nicht wirklich deswegen hierher gekommen, sondern vielmehr in der Hoffnung, die kühle Luft hier drinnen würde sich positiv auf ihren überhitzten Kopf auswirken. Sie konnte nicht gerade behaupten, dass das funktionierte.
Seufzend ließ sich Red mit dem Rücken gegen eines der Regale sinken. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Innern bemerkbar, jedes Mal, wenn sie an die nächste Begegnung mit Sam dachte. Noch immer wusste sie nicht, was sie ihm sagen sollte, wenn er fragte, was gestern mit ihr los gewesen sei. Und er würde fragen. Immerhin hatte es ihm so sehr unter den Nägeln gebrannt, dass er beinah riskiert hätte, dass eine handvoll Frauen in der Küche Zeuginnen dieser Unterhaltung geworden wären. Sam hätte sicher nichts gegen die reine Wahrheit gehabt, zumal diese ihm verraten hätte, dass das Problem nicht bei ihm lag. Aber Red wollte sich vor ihm nicht klein und schwach fühlen. Sie stand vor niemandem gern als verletzlich da, ganz egal wie sehr sie der Person vertraute oder sie liebte.
Die Tür zum Kühlraum war gegen einen leeren Putzeimer gelehnt, da sie gelegentlich dazu neigte, zu klemmen und darauf hatte Red es nicht ankommen lassen wollen. So vernahm sie das Geräusch sich nähernder Schritte. Sie hallten durch die entvölkerte Küche. Red atmete tief durch. Dann rief Sam halblaut ihren Namen. Ihren Spitznamen. Wenigstens diese Regel hielt er gewissenhaft ein.
„Hier drüben, Sam!“, rief Red ihm durch den großen Raum zu, indem sie sich halb aus der Kühlkammer lehnte. Der Wärter wandte den Kopf. Mit erhellter Miene und großen Schritten kam Sam auf sie zu. Red zog sich in die Kühlkammer zurück, ehe er sie erreicht hatte, und täuschte mit ihrem Klemmbrett Beschäftigung vor. Kalte Luft wirbelte durch den Raum, als Sam die Tür aufzog und zu ihr hinein trat. Schon aus dem Augenwinkel konnte Red erkennen, dass seine anfängliche Freude, sie zu sehen, sich jetzt unter seine Unsicherheit kauerte wie ein verschrecktes Beutetier unter dichtes Blattwerk.
„Hey...was machst du denn hier?“
Da war er wieder einmal: sein Umweg über die Nichtigkeiten. Red antwortete in kühlem Tonfall. „Ich versuche, eine Speiseabfolge zu erstellen, nach der nicht jeder gleich eine Woche lang über der Kloschüssel hängt...“
Von Sam kam der missglückte Versuch eines Lachens. Sie konnte seine Anspannung förmlich selbst spüren. Er räusperte sich.
„Ich...ich habe dir die Schale wieder mitgebracht.“
Widerwillig riss Red sich vom Anblick eines Beutels im Regal los, dessen Inhalt an die Farbe und Beschaffenheit von Babykotze erinnerte. Als ihr Blick auf die Plastikschale in Sams rechter Hand fiel, war sie überrascht. Sie war vollkommen leer und sauber. Red zog sich die Lesebrille von der Nase und schaute zu Sam auf.
„Ich kann mich nicht entscheiden, ob es wohl ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass dieses Ding leer ist. Entweder hat es Caputo ausgezeichnet geschmeckt und er ist jetzt endgültig von der Genialität der Idee, uns diesen Fraß einzuflößen, überzeugt...oder er hat dir den ganzen Mist vor Wut ins Gesicht geworfen.“
Sam schmunzelte. „Knapp daneben. Ich...ähm...ich habe ihm das Zeug über sein Mittagessen gekippt.“
Red starrte ihn an. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte sie sich noch dagegen wehren. Dann prustete sie los. „Das hast du nicht!“
Sam stimmte in ihr Lachen mit ein. „Doch, das habe ich! Und farblich hat es sehr gut zu seiner Bolognese gepasst...“
Ihr Gelächter wurde noch lauter. Nach Luft schnappend sackte Red mit dem Kopf gegen Sams Schulter. Als sie sich endlich wieder fangen konnte, glitzerten Tränen in ihren Augen. Red richtete sich auf und ehe Sam noch ein Wort sagen konnte, zog sie ihn mit einer Hand in seinem Nacken schon zu sich herunter und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Überraschung und Verwirrung regierten seine Miene, als Red sich wieder von ihm löste. Ihr Ärger war restlos verflogen. Doch das lag nicht allein an der göttlichen Vorstellung von Caputos Visage, als Sam ihm seine Mahlzeit mit diesem widerlichen Brei versaut hatte. In dieser Kurzschlussreaktion sah Red einmal mehr, wie vernarrt dieser Mann in sie war. Red warf das Klemmbrett achtlos ins Regal und strich ihm mit beiden Händen über die Wangen.
„Du bist verrückt, Sam Healy.“
Das brachte ihn wieder zum Lächeln, wenn es auch etwas matt wirkte. „Ich fürchte nur, das sieht Caputo genauso. Er ist stinksauer. Ich hoffe, ich habe uns nicht alle Chancen darauf versaut, in der Sache irgendetwas zu reißen...“
Red zuckte die Achseln. „Du weißt, ich glaube nicht daran, dass sich hier etwas ändern wird. Aber dass du dir solche Mühe gibst, ist schön. Es ist ziemlich lange her, dass ein Mann seine Komfortzone für mich verlassen hat...“
„Ich würde alles für dich tun, Galina.“
Die Erwähnung ihres Namens, den er nur in trauter Zweisamkeit verwenden durfte, erinnerte Red an die Situation beim Mittagessen. Ihr Ärger darüber hatte sich aufgelöst und konnte auch nicht wieder aufleben. Dennoch zwang sie sich dazu, die Sache anzusprechen. Es wäre nicht gut für sie beide gewesen, hätte sie angefangen, Nachsicht walten zu lassen. So schön und leicht und wundervoll sich das zwischen ihnen auch zu großen Teilen anfühlte, die Realität des Ganzen blieb, dass es äußerst riskant war. Red ließ die Hände auf Sams Brust sinken und besann sich auf einen ernsten Tonfall.
„Ich weiß, Sam. Aber du solltest dich vor allem darauf konzentrieren, keine Aufmerksamkeit zu erregen.“
Seine Miene verriet, dass er genau wusste, wovon sie sprach. Schuldbewusst senkte er den Blick. Doch Red umfasste sein Kinn und zwang ihn, ihr weiter in die Augen zu blicken.
„Ich weiß, es ist schwer für dich. Mir geht es genauso. Du wirst dich einfach zusammenreißen müssen, mein Lieber! Denkst du, du schaffst das?“
Sam nickte. „Ja. Das schaffe ich. Versprochen...“
„Gut.“ Red küsste ihn kurz und zart. Er atmete hörbar auf. Trotzdem wirkte er immer noch als würde ihn etwas belasten. Nervosität kribbelte in Reds Eingeweiden, denn sie fürchtete, er würde nun auf das Thema kommen, das sie ihn bei ihrem letzten Gespräch nicht hatte anschneiden lassen.
„Caputo ist verdammt stur.“
Das war absolut nicht das, was Red erwartet hatte. Es überraschte sie, dass er mit den Gedanken noch bei diesem blöden Lackaffen war, nachdem sie sich eben versöhnt und geküsst hatten. Im Grunde hätte Red froh sein müssen, dass ihn etwas Anderes scheinbar mehr beschäftigte. Doch nun, da sie sich den ganzen Tag wegen dieser ungeklärten Angelegenheit zwischen ihnen gequält und sogar Piper um Rat gefragt hatte, wollte sie es auch endlich aus der Welt schaffen.
„Du hättest hören sollen, was dieser selbstgerechte Mistkerl alles von sich gegeben-“
„Sam“, würgte Red ihn ab und grub die Finger in sein Hemd. „Ich weiß deine Bemühungen wirklich sehr zu schätzen, aber etwas...Anderes würde mir noch viel, viel besser gefallen...“
„Ach...und was?“, fragte er atemlos als könnte er sich das nicht selbst beantworten.
„Wenn du jetzt endlich die Klappe halten und mich küssen würdest...“
Sam legte die Arme um sie und führte ihre Lippen zusammen. Die Plastikschale, die er noch immer festgehalten hatte, schlug laut klappernd auf den Boden der Kühlkammer, ohne dass es einen von ihnen interessiert hätte. Red spürte, wie sie sich mehr und mehr fallen und ihre Gelüste die Führung übernehmen ließ. Es war ganz ähnlich dem Gefühl, das sie am Abend zuvor erfüllt hatte, bis zu jenem Augenblick, als sie sich Sam plötzlich entzogen hatte. In dieser Sekunde genoss sie es so sehr, ihm so nah zu sein und seine Begierde zu spüren, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass das noch einmal passieren würde. Beschwören konnte sie es jedoch nicht. Sam schien etwas ganz Ähnliches zu denken, denn ehe sie beide ihre Umgebung und Probleme vollends ausblenden konnten, unterbrach er den Kuss und blickte Red mit einem Anflug von Besorgnis tief in die Augen.
„Galina, ich...ich muss dich noch etwas fragen...“
Red schluckte, gestattete sich aber nicht, den Blick abzuwenden, obwohl sie es nur zu gern getan hätte. „Du willst wissen, was gestern mit mir los war.“
„Ja...“, gab er mit leiser Stimme zu. In diesem einzelnen, kleinen Wort schwang eine beachtliche Menge von Furcht mit, er könnte sie damit verärgern. Red lächelte matt und streichelte mit ihrer rechten Hand seinen Nacken. Er war so gut zu ihr. So unglaublich gut. Sie konnte sich nicht erinnern, in ihrem Leben jemals mit mehr Rücksicht behandelt worden zu sein. Kein Mann hatte sich vor ihm so viele Gedanken über ihre Empfindungen und sonstigen inneren Vorgänge gemacht – sie waren wie bei vielen Frauen einfach als Befindlichkeiten abgestempelt worden. Aber Sam war da anders. Red mochte eine stolze, starke Frau sein. Doch wenn es einen Mann gab, dem sie ihre gelegentliche Schwäche offen zeigen konnte, dann war es dieser, der hier vor ihr stand.
„Ehrlich gesagt weiß ich es selbst nicht so genau. Ich...hatte plötzlich das Gefühl...nicht mehr zu wissen, wie man...“ Unwillkürlich musste Red lachen. Auch auf Sams Lippen zeigte sich ein kleines, wenn auch verwirrtes Lächeln. „Weißt du was ich Piper heute gefragt habe?“
„Nein, was?“
„Ob man Sex verlernen kann.“ Red lachte über ihre eigene, kleine Dummheit.
Sam hob überrascht die Brauen. „Du denkst, du hast es verlernt?“
Red machte eine unentschlossene Bewegung mit dem Kopf. „Piper sagt, das geht nicht. Nun ja...nach einem halben Jahrhundert ohne Sex fühlt es sicher allerdings anders an...“
„So lang war es nun auch wieder nicht.“
Red runzelte die Stirn, dann streifte sie seine Hände von sich und kehrte ihm, mehr um ihn zu triezen als ihn wirklich zu bestrafen, den Rücken zu. „Du kannst ja gerne mal zehn Jahre lang keusch leben. Mal sehen wie du es dann siehst.“
Sam legte unverzüglich wieder die Arme um sie und zog sie fest an sich. „Kommt gar nicht in Frage.“ Er beugte sich etwas tiefer herab und küsste sie am Hals. Dann streiften seine Lippen ihr linkes Ohr und er flüsterte: „Nicht jetzt, wo ich endlich das hier mit dir tun kann...“
Red keuchte, als seine warme, feuchte Zunge über ihre Haut leckte. Er zog den Stoff ihres grauen Oberteils beiseite, bis sich seine Finger im Träger ihres BHs verhakten. Eine Welle des Wohlgefühls schwemmte über Red hinweg. Sie schloss die Augen, als er begann die nun freie Haut mit Küssen zu bedecken. Ihre Knie wurden weich und instinktiv streckte sie die Hand nach vorn aus. Als sie eine der kalten Stangen des Regals zu fassen bekam, hob sie die Lider. Erst da wurde ihr allmählich klar, was gerade geschah und worauf es zwangsläufig hinauslaufen musste. Zwei Herzschläge lang zog sich ihr Inneres zusammen als sei sie sich einer drohenden Gefahr bewusst geworden. Aber diesmal ließ Red sich nicht davon beeindrucken. Das Gefühl verschwand ebenso schnell und plötzlich wie es sie überfallen hatte. Die Barriere fiel. Und endlich konnte sie sich ganz fallen lassen. Red griff nach Sams rechter Hand, die auf ihrer Schulter geruht hatte und legte sie auf ihre Hüfte. Sein Atem kräuselte sich auf ihrer Haut, als er innehielt, um abzuwarten, was sie vorhatte. Nicht ein Hauch von Scham überkam sie, als Red seine Hand langsam aber zielstrebig in ihren Schritt führte. Wie erstarrt ruhten seine Finger auf der Stelle. Sie könnte spüren, dass er sich verkrampfte.
„Galina...bist du sicher?“
Sie brauchte nicht erst lange in sich hinein zu lauschen, um eine Antwort darauf zu finden. Diese brannte deutlich zwischen ihren Beinen. Die Lust, die sich in diesen vielen Jahren völliger Ebbe angestaut hatte, ließ keinen Raum mehr für Zweifel. Red drehte ihren Kopf so weit es ging und zog Sams mit ihrer freien Hand zu sich herab. Anfangs küsste er sie noch zögernd als erwartete er, dass sie sich jeden Augenblick wieder von ihm lösen würde, um ihm doch noch eine Antwort zu geben. Als er begriff, dass er keine wörtliche erhalten würde, drückte er seine Lippen fester auf ihre. Die Luft wurde ihnen bald knapp und sie trennten ihre Münder. Ein Verlangen so groß und wild wie Red es noch nie zuvor in seinen blauen, unschuldigen Augen gesehen hatte, blitzte nun darin auf.
Sam drückte sie so nah an sich, dass sie seine Härte an ihrem Gesäß spüren konnte. Endlich begann seine rechte Hand sich wieder zu bewegen. Er ließ sie unter ihrer hervor gleiten, die sie erst in ihre Intimsphäre geführt hatte, und schob sie langsam und bedächtig erst in ihre Hose, dann in ihre Unterhose. Red kam es vor als erwachte in diesem Moment ein Teil von ihr, der bei ihrer Einweisung in Litchfield in eine separate Zelle gesperrt worden und somit in völlige Vergessenheit geraten war. Sie stöhnte, als Sams Finger über ihre Vagina strichen.
„Das ist so...unhygienisch...“, keuchte Red mit Blick auf das gut gefüllte Regal vor sich. Wäre ihr Verstand nicht so vernebelt von der pulsierenden Lust in ihrem Körper gewesen, hätte sie sich wohl ernsthaft an dieser Tatsache stören können. „Und ich sage immer...fick nicht da, wo du isst...“
„Aber du isst hier nicht...“, gab Sam schwer atmend zurück.
Red stieß ein atemloses Lachen aus und legte den Kopf zurück. Sie bekam die Worte immer schwerer zu fassen, während Sams Hand sie so gekonnt verwöhnte als hätte er damit nie etwas Anderes getan. Es war nicht nur so gut, weil sie so lange keiner mehr berührt hatte. Er schien einfach genau zu wissen, wie er sie um den Verstand bringen konnte.
„Nein, ich...ich...lagere hier nur das sogenannte...“ Sie stöhnte auf und krallte sich an seinem rechten Ärmel fest. „...Essen. Das ist als würde man...in einem Kühlschrank ficken.“
Sams Wange drückte sich an ihre rechte Schläfe. „Entschuldige, aber dein Sinn für Hygiene...ist mir gerade scheißegal...“
Diese ungewohnte Vulgarität aus seinem Mund verstärkte ihre Erregung noch zusätzlich. Red spürte, dass sie die Ekstase fast erreicht hatte. Mit geschlossenen Augen ließ sie Sam weiter darauf hinarbeiten. Doch als sie kurz davor stand, packte sie plötzlich seine rechte Hand und verhinderte jede weitere Bewegung.
„Warte. Ich will dich ansehen...wenn ich komme...“
Widerstandslos zog Sam seine Hand aus ihrer Hose. Red drehte sich zu ihm um. Sie hatte längst gefühlt, dass er ebenso erregt war wie sie, daher überraschte sie der Anblick der Röte in seinem Gesicht nicht im Mindesten. Red lehnte sich mit dem Rücken gegen das Regal und zog Sam mit sich. Sie ließ ihn nur langsam zu ihren Lippen finden. Es war nicht seine Art, andere Menschen auf die Folter zu spannen, aber in dieser Situation hätte sie sich das nur allzu gern gefallen lassen. Während sie sich küssten, hielt Red seine Hand fest, um zu verhindern, dass er gleich da weitermachte, wo er aufgehört hatte. Sie wartete, bis sie es nicht mehr länger aushielt. Dann ließ sie los und ihn gewähren. Sam schob seine Rechte zurück in ihre Hose. Ihre Blicke trafen sich, ihr schwerer Atem vermischte sich. Sie hatte alle Mühe, die Augen bis zuletzt offen zu halten. Dann übertrat sie den Punkt jeglicher Kontrolle und klammerte sich an Sam, der sie mit einem Arm festhielt. Sie vergaß einfach alles – ihre Umgebung, die Gefahren, ihre Feinde und jeden Zweifel, den sie je daran gehabt hatte, dass ein Verhältnis mit Sam Healy eine hervorragende Idee war.
Red stieß ein langes, lautes Stöhnen vollendeter Befriedigung aus.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als ihr Verstand langsam aber sicher aus dem Zustand völliger Betäubung erwachte. Red hob die Lider. Sams blaue Augen bargen einen Ausdruck tief empfundener Zufriedenheit in sich. Das Lächeln, das sich nun auf Reds Lippen ausbreitete, fühlte sich an wie das größte, breiteste, wärmste und schönste, das sie je zur Schau getragen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass auch nur eine einzige Insassin dieses Gefängnisses je einen besseren Orgasmus an diesem verfluchten Ort erlebt hatte.
„Das war...erschreckend gut...“
Sam lachte und zog die Hand aus ihrer Hose. „Sollte ich beleidigt sein, dass du so überrascht klingst?“
„Nein. Was gibt es Besseres als die Erwartungen anderer zu übertreffen?“ Red strich über seine Brust und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich bin jedenfalls sehr froh, dass du es getan hast...“
Die Selbstzufriedenheit und der Stolz in seinen Zügen erreichten allmählich ein kritisches Ausmaß. Hätte Red nicht gewusst, dass es ebenso leicht war, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, wie ihn in luftige Höhen zu heben, hätte sie ihn jetzt wohl gebremst. Doch sie gönnte ihm seinen Triumph. Hier und jetzt hätte sie ihm so ziemlich alles gegönnt.
„Ich bin froh, dass du es mich hast tun lassen“, flüsterte Sam und führte ihre Lippen zusammen. Red gab sich seiner Zärtlichkeit hin und genoss das Echo des Orgasmus, das durch ihren Körper vibrierte wie die verstärkten Bassklänge aus einer Musikanlage. Mittlerweile war sie froh, dass die unbändige Lust sie beide ausgerechnet in der Kühlkammer überkommen hatte. Andernfalls wäre sie wohl längst unter Sams Berührungen verglüht.
Als der Kuss endete, hob Red die rechte Hand und tat ihr bestes, die Spuren ihres roten Lippenstifts, die sie in Sams Gesicht hinterlassen hatte, zu beseitigen. „Lass uns in mein Büro gehen. Da ist es doch ein wenig gemütlicher...“
Aus dem Regal nahm Red ihr Klemmbrett und vom Boden hob sie die Plastikschale auf, die Sam hatte fallen lassen. Als sie sich wieder aufrichtete, bedachte sie ihn mit einem strengen Blick.
„Und wehe du fasst mit dieser Hand irgendetwas in meiner Küche an bevor du sie nicht gewaschen hast!“
Sam schmunzelte. „Schon gut. Wie wichtig dir Hygiene ist, habe ich jetzt auch verstanden.“
Red sog noch ein letztes Mal die kühle Luft tief in ihre Lungen ein. Dann ging sie hinüber zur Tür, schob den Putzeimer mit einem Fuß zur Seite und trat hinaus in die Küche. Das laute Klatschen eines einzelnen Paares von Händen ließ Red versteinern. Auf einer der Arbeitsflächen saß locker im Schneidersitz eine junge Frau. Ein schiefes Lächeln zierte ihre Lippen, doch ihre dunklen Augen verrieten, dass es absolut freudlos war. Nicky beendete ihren Applaus und ließ die Hände sinken.
„Wow! Beeindruckend! Wirklich beeindruckend!“
„Scheiße...“, murmelte Red, während sich die Realität mit aller Grausamkeit in ihr Bewusstsein zwängte und die ganze, vorherige, süße Leichtigkeit gnadenlos platt trampelte.
Langsam streckte Nicky die Beine aus und glitt von der Küchenzeile. Ihr Blick galt nun nicht länger Red. Er ruhte mit einem gewissen Genuss auf Sam, der hinter Red zum Stehen gekommen war. „Also, Healy, ich muss ja zugeben, ich dachte immer, ich wüsste all das langweilige Zeug über Ihr langweiliges Leben, das es so zu wissen gibt. Aber...wie's scheint, stecken ja ungeahnte Fähigkeiten in Ihnen...“
Red wandte den Kopf. Aus großen Augen starrte Sam zu der Insassin hinüber, sein Mund stand leicht offen und seine Züge konnten sich nicht zwischen Überraschung, Entsetzen und Verzweiflung entscheiden.
„Sam.“ Red musste seine Hand ergreifen, um ihn aus der Schockstarre zu reißen und seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Du gehst jetzt besser.“
Seine blauen Augen sahen sie an als wollte er sie bitten, ihn zu kneifen, ihn wach zu rütteln und ihm zu versichern, dass das nur ein böser Traum gewesen war. Als Red das nicht tat, schloss er endlich den Mund und schluckte so laut, man hätte es wohl in ganz Litchfield hören können. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob es richtig war, jetzt zu gehen. Aber Red wusste es besser. Sie nickte bekräftigend und schob ihn mit beiden Händen in Richtung Ausgang. Sein Widerwille war genauso stark wie ihr Wunsch, ihn nicht wegschicken zu müssen. Doch alles andere wäre Wahnsinn gewesen. Mit einem verlorenen Ausdruck riss Sam sich von ihr los. Er warf Nicky noch einen letzten Blick zu. Dann schritt er hinüber zu einem der Herde, vor dem er vorhin scheinbar Tasche und Jacke abgelegt hatte, hob beides auf und verließ schweigend die Küche. Red wartete, bis die Finsternis der Kantine ihn verschluckt hatte. Dann richteten sich ihre Augen auf Nicky. Die junge Frau lehnte nun mit verschränkten Armen an der Küchenzeile ihr gegenüber. Red dachte nicht daran, sich beschämt, verlegen oder ertappt zu zeigen. Sie hielt das Kinn hoch, die Schultern gerade und ihren ganzen Stolz aufrecht. Nicht eine Sekunde klammerte sie sich an die alberne Hoffnung, sie könnte Nicky mit Erklärungen, Ausflüchten oder beschwichtigenden Worten die Wut austreiben, die nur allzu offensichtlich in ihr kochte. Ein Streit war unvermeidbar. Davor fürchtete Red sich nicht. Sie hatten sich schon oft gestritten, heftig und ausdauernd. Das Einzige, was ihr Angst machte, war, dass sie bei diesem Kampf zum ersten Mal mehr zu verlieren hatte, als lediglich ihr gutes Verhältnis zu ihrem Schützling. Hierbei ging es um mehr. Um das Kostbarste, was sie seit langer, langer Zeit besessen hatte.
„Du hast vielleicht Nerven, Mädchen, dich hier rein zu schleichen und mich zu bespitzeln...“
„Ich hab' Nerven?“ Nicky lachte ungläubig. „Du hast Nerven! Bist du bescheuert, Red?“
Bei dieser Frage hatte sich ihre Stimme fast überschlagen, so laut war sie mit einem Mal geworden. Red zuckte nicht einmal mit der Wimper. Reglos stand sie da und sah zu wie sich Nickys Brust unter heftigen, schnellen Atemzügen hob und senkte. Als sie fortfuhr, senkte sie ihre Stimme fast bis auf ein Flüstern und kam langsam auf Red zu.
„Jeder hätte hier reinkommen und hören können, was ich gehört hab'. Wenn ich nich' ich wäre, sondern irgendeine andere Bitch, wüsste morgen früh das ganze Scheißgefängnis Bescheid!“
Red hielt nicht länger an sich. Nickys Wut sprang nun auf sie über und vereinte sich mit der, die sowieso schon in ihr selbst gebrodelt hatte. Es war ihr egal, wer da vor ihr stand. Sie sah nur die Bedrohung des einen Menschen in dieser Einrichtung, den sie nicht so beschützen konnte wie ihre restliche Familie hier drinnen.
„Das geht dich einen Scheiß an! Wann habe ich dir je vorgeschrieben, wen du ficken darfst und wen nicht?“
Nickys Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie kaum eine handbreit entfernt von ihr stehen blieb. „Aber ich hab' auch nie mit 'nem Wärter gevögelt. Und schon gar nich' mit so 'nem Arschloch!“
Diese Beleidigung prallte einfach an Red ab. Nicky konnte so schlecht von ihm reden wie sie wollte, sie konnte ihn so sehr hassen wie sie wollte. Das Problem lag ganz woanders. „Was willst du, Nicky? Ich kann machen was ich will und mit wem ich will.“
„Nicht mit ihm!“, fauchte Nicky und musste sich arg zusammenreißen, um nicht wieder so laut zu werden, dass sie ihren Konflikt gleich über Lautsprecher hätten austragen können. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Als sie die Lider wieder hob, war es ihr tatsächlich gelungen, ihren Zorn für den Moment hinten anzustellen und einer Spur von Sorge einen kleinen Platz in ihrer düsteren Miene frei zu schaufeln. „Red...ich kann total verstehen, dass dich das mit dem Essen fertig macht. Ich weiß, wie viel dir die Arbeit in der Küche bedeutet.“ Nun glitt ihr Ausdruck in maßlose Verständnislosigkeit ab. „Aber is' es das echt wert, mit diesem Penner rumzumachen? Ich mein'...ich erkenn dich gar nich' wieder, so bist du doch nich'!“
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Red wohl darüber gelacht. Natürlich. Nicky glaubte, dass hinter all dem ein Plan steckte. Weil Red immer einen Plan hatte und sie vor fast nichts zurückschreckte, um zu bekommen, was sie wollte. Doch dass Sam Healy ihr einziges Objekt der Begierde in dieser Sache war, daran verschwendete Nicky keinen Gedanken.
„Hier geht es nicht um die Küche.“
Nicky starrte sie an, die dunklen Brauen in Verwirrung verengt, die Augen fragend in ihre gebohrt. „Worum dann? Erklär' mir diesen Scheiß!“
„Ganz einfach: es geht um ihn.“
Eine schleichende Erkenntnis machte sich in den Zügen der jungen Frau breit. Doch als sie den Mund aufmachte, wurde klar, dass sie überhaupt nichts begriffen hatte. „Ach, du meinst...du willst ihn anschmieren und loswerden?“
Allein der Gedanke daran jagte eine Kälte durch Reds gesamten Körper als hätte man sie in ein Eisbecken gestoßen. Unwillkürlich packte sie Nicky vorne am Shirt und zog sie so nah an sich, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. „Ich liebe ihn!“
Nie zuvor hatten die braunen Augen Red auf diese Weise angesehen. Da waren nach wie vor Verwirrung und Wut. Aber auch ein Anflug von Abscheu. Es tat weh, diesen Ausdruck in dem vertrauten, geliebten Gesicht ihres Schützlings zu sehen. Doch Red war auch froh, dass die Wahrheit raus war. Die Konsequenz legte sich schwer und belastend auf ihre Brust, gleichzeitig löste sich jedoch auch das Gewicht, welches ihr die Heimlichtuerei gegenüber Nicky bis dahin auferlegt hatte. Letztendlich tauschte sie wohl nur ein Übel gegen ein anderes aus.
Nicky schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf, ohne eine Sekunde den Blick von ihren Augen zu lassen. „Du bist verrückt...“
Red löste die Hand von ihrem Shirt und ließ sie sinken. „Vielleicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich kann nichts dagegen tun. Jetzt weißt du es. Mach damit was du willst. Ich kann dich nicht aufhalten.“
Abermals hob sie die Hand. Diesmal allerdings, um Nicky die wilde, blonde Mähne über die Schulter zu streichen. Sie legte alle Zärtlichkeit und Zuneigung, die sie für die junge Frau empfand, in diese Geste. Nach allem, was sie wusste, war es gut möglich, dass es die letzte sein würde. Als sie noch einmal das Wort ergriff, sprach Red in einem Ton zu ihr, den sie ihr gegenüber nur in den düstersten Momenten ihrer gemeinsamen Geschichte angeschlagen hatte: „Aber nur damit du es weißt: wenn du redest, steht dein Wort gegen meines. Und wenn Sam dennoch ins Gefängnis wandert...verlierst du mich. Und mir fällt nicht eine einzige Sache ein, die tun dann noch tun könntest, um mich zurück zu kriegen.“
Red ertrug es nicht länger, ihr ins Gesicht zu blicken. Sie ließ Nicky stehen, ging hinüber in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich. Mit dem Rücken lehnte sie sich dagegen. Sie lauschte. Ein paar Augenblicke später konnte sie die Schritte der jungen Frau hören. Sie kamen nicht auf sie zu. Sie entfernten sich von ihr. Red hatte gedacht, sie würde aufatmen. Stattdessen schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie fing nicht an zu weinen. Aber sie musste sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch sacken lassen, um nicht in sich zusammenzufallen wie ein Haus, aus dem man auf einen Schlag alle tragenden Wände gerissen hatte. Eine Hand auf ihre Brust gedrückt rang Red nach Luft. Ein Moment, nur ein süßer, kurzer Moment der Sorglosigkeit und Unachtsamkeit und plötzlich bestand die Gefahr, dass die beiden Menschen, die ihr diesen Ort am erträglichsten und darüber hinaus beinah schon heimisch machten, auf einen Schlag zu verlieren. Niemals hätte Red sagen können, welcher Verlust sie mehr getroffen hätte: der von Nicky oder der von Sam. Nicky oder Sam.
Red wünschte sich, es hätte keinen von beiden treffen müssen. Doch die Erbarmungslosigkeit des Lebens war ihr viel zu vertraut, als dass sie an diese Möglichkeit hätte glauben können.
Nicky oder Sam – für heute waren beide fort. Red hatte keine Ahnung, wie sie die Nacht überstehen sollte, nach der sich zeigen würde, wer ihr am nächsten Tag erhalten bleiben sollte.
Red verlagerte ihr Gewicht vom rechten Bein auf das linke und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Rahmen des Durchgangs zur Küche. Seit einer halben Stunde stand sie auf diesem Posten, den Blick unablässig auf die müden Gesichter der mit ihren Tabletts vorbei schlurfenden Insassinnen gerichtet. Für alle anderen musste es den Anschein haben als überwache sie die Arbeit der Damen bei der Essensausgabe. Nichts hätte Red an diesem Morgen weniger interessieren können. In Gedanken war sie natürlich wieder bei Sam. Um genau zu sein ließ ihr der gestrige Abend mit ihm keine Ruhe mehr. In der Nacht hatte sie sich ewig auf der harten Matratze herumgewälzt und als sie in aller Herrgottsfrühe unter der Dusche gestanden hatte, war ihr in ihrer tiefen Nachdenklichkeit jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen und sie hatte sich in allergrößter Eile anziehen und zurecht machen müssen. Zumindest hatte sie heute an den roten Lippenstift gedacht, den sie am Vortag einfach vergessen hatte aufzulegen. Es war schon merkwürdig, wie die alltäglichsten Dinge und Handgriffe, von denen sie geglaubt hatte, sie wären ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen, auf einmal wieder ihr Bewusstsein beanspruchen mussten, um nicht unter den Tisch zu fallen. Red kam es vor als sei ihr gesamtes Gehirn verstopft, seit ihr Herz beschlossen hatte, zur rund um die Uhr sprudelnden Quelle unberechenbarer Verliebtheit zu werden. Was sich gestern zu später Stunde in ihrem Büro zugetragen hatte, machte es ihr noch schwerer als ohnehin schon, sich auf die Selbstsicherheit und Fassung zu berufen, die sie für gewöhnlich nach außen hin ausstrahlte. Ständig ertappte sie sich dabei, wie sie zurück in den Moment fiel, als Sams Hand unter ihr Oberteil geglitten und dem Verschluss ihres BHs gefährlich nahe gekommen war. Der Gedanke daran jagte ihr auch jetzt einen Schwall brennender Hitze durch sämtliche Teile ihres Körpers. Bis dahin war alles schön gewesen. Sie hatte sich so wohl gefühlt auf seinem Schoß, in seinen Armen, dicht an dicht mit seinem Körper. Doch diese Bewegung seiner Hand hatte sie urplötzlich aus dem tiefen Bad der Wohlgefühle gerissen und ihr den Wind der Realität eiskalt ins Gesicht geschlagen: sie hatte ewig keinen Sex mehr gehabt. Red war umso verwirrter, dass sie diese Erkenntnis so aus der Bahn geworfen hatte, da sie doch erst kurz vorher genau das sogar selbst laut ausgesprochen hatte. Seit ihrer Ankunft in Litchfield war über ein Jahrzehnt vergangen. Es war weder für sie noch für Sam überraschend, dass dieser Zeitraum sich wie eine Wüstenei der Fleischeslust in ihrem Leben ausbreitete. Und es war wie sie gesagt hatte: es hatte sich einiges an Lust in ihr angestaut. Es war eine Sache, sich selbst zu befriedigen, was an diesem gottverdammten Ort ohne jegliche Privatsphäre nicht unbedingt für jeden eine Option war. Aber es war etwas völlig Anderes, von einem anderen Menschen, noch dazu einer Person, der man sich wirklich verbunden fühlte, berührt zu werden. Red wollte es. Sie wollte mit Sam schlafen und diese Stufe der Intimität erreichen. Sie wollte es unbedingt. Doch auch wenn sie es sich selbst nur ungern eingestand, fürchtete sie sich davor. Es fühlte sich an als wäre sie eine Tänzerin, die man nach jahrelanger Ruhepause und ohne Vorwarnung auf eine hell erleuchtete Bühne schob, damit sie einen Saal voll erwartungsvoller Zuschauer unterhielt. Sie wusste nicht, ob sie die Schritte noch drauf hatte.
Als Red merkte, dass ihr Blick glasig geworden und abgedriftet war, löste sie ihn von der fernen Rückwand der Kantine und richtete ihn abermals auf die Reihe der an der Essensausgabe wartenden Insassinnen. Ein Paar dunkelbrauner Augen fesselte sie. Nicky lächelte. Aber nicht einfach nur so. Es hatte etwas Wissendes an sich. Dass Nicky nicht wirklich etwas wusste, erkannte Red daran, dass sie das, was es zu wissen gab, garantiert nicht zum Lächeln gebracht hätte. Ihre Meinung von Sam Healy war nicht die allerbeste und Red konnte es ihr auch nicht wirklich verdenken. Sam hatte einige Vorbehalte gegen bestimmte Typen von Frauen, die schlichtweg unvereinbar mit Nickys Einstellung waren. Red wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie die junge Frau reagiert hätte, wäre sie hinter ihr Geheimnis gekommen. Red nickte ihr stumm zu und war erleichtert, als Nicky keine Anstalten machte, sich zu ihr zu gesellen, sondern mit ihrem Frühstück abzog. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch beobachtete Red, wie ihr Schützling sich einen Weg durch die Tische bahnte und sich schließlich neben Lorna niederließ. Nun war sie fast froh, dass ihre Gedanken derzeit nur ein Thema kannten, denn es war absolut zwecklos sich über Nicky den Kopf zu zerbrechen. Red konnte nicht verhindern, dass die junge Frau ein Auge auf sie hatte. Und Vorsicht im Umgang mit Sam musste sie so oder so walten lassen.
Als Red sich wieder der Warteschlange zuwandte, schreckte sie auf. Die blonde Frau, auf die sie die ganze Zeit gelauert hatte, war gerade dabei, der Essensausgabe mit einem Tablett in den Händen den Rücken zu kehren.
„Chapman!“
Piper fuhr herum und sah drein als habe man sie bei einem dreisten Regelverstoß ertappt. Mit geweiteten Augen starrte sie zu Red herüber. Obwohl sie schon lange zu Reds Familie zählte und sie mittlerweile herausgefunden hatten, wie sie sich gegenseitig zu nehmen hatten, kam es Red von Zeit zu Zeit vor als hätte die junge Frau mehr als nur Respekt vor ihr. Gelegentlich schien sie sich noch immer vor ihr zu fürchten. Red winkte sie ungeduldig heran. Zögernd trat Piper näher.
„Komm doch mal für einen Moment hier rein. Ich muss was mit dir besprechen.“
„Okay...“ Mit einem angestrengten Ausdruck als versuche sie im Stillen herauszufinden, was sie angestellt hatte, passierte Piper die Essensausgabe. Red nahm ihr kurzerhand das volle Tablett weg, schritt durch den Durchgang und stellte es auf einer Küchenzeile ab. Pipers Unbehagen schien noch zu wachsen, als Red sie wortlos hinüber zu ihrem Büro scheuchte. Dort angekommen nahm sie selbst auf dem Stuhl vorm Tisch Platz. Den zweiten, auf welchem Sam ab Vorabend gesessen hatte, hatte sie wieder verschwinden lassen wie die Spur eines Verbrechens.
„Schließ' die Tür.“
Piper tat wie ihr geheißen. Dann stand sie da wie ein Schulmädchen im Büro der Direktorin, verloren und ein wenig eingefallen. Red musterte sie eindringlich. Bis eben war sie noch überzeugt gewesen, dies hier wäre eine gute Idee. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Ihr fiel jedoch auch nichts Anderes ein, das sie hätte tun können, um das endlose Kreisen ihrer Gedanken zu unterbrechen und sie in neue Bahnen zu lenken. Piper schluckte geräuschvoll.
„Wenn es wegen deiner Seife ist – ich schwöre, ich habe sie nicht angerührt! Sie war noch da, als ich-“
„Entspann dich!“, fiel Red ihr ins Wort und fegte mit einer Hand durch die Luft als wolle sie Pipers belangloses Geschwafel damit verscheuchen. Fast hätte sie sich gewünscht, ein verschwundenes Stück Seife wäre ihr größtes Ärgernis dieser Tage gewesen. „Es geht nicht um Seife. Ich muss dir nur...eine Frage stellen.“
Sichtlich erleichtert atmete Piper auf. Die Anspannung löste sich aus ihrem Körper. „Oh, okay. Worum geht’s?“
Red antwortete nicht sofort. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen versuchte sie Risiko und Erkenntnisgewinn dieser Aktion gegeneinander abzuwägen. Natürlich wäre es besser gewesen, gar nicht darüber zu reden. Wo es kein Wort gab, konnte auch kein Gerücht entstehen. Aber wenn man keine Fragen stellte, erhielt man auch keine Antworten. Sie hatte kaum eine Wahl.
„Es wird dir vielleicht etwas...ungewöhnlich vorkommen und...ein wenig privat. Ich möchte lediglich deine ehrliche Meinung dazu wissen. Ich will keine Spekulationen hören. Verstanden?“
Pipers Miene füllte sich zunehmend mit Wissbegierde. Sie nickte. „Schieß' los!“
Red holte noch einmal tief Luft. Dann sprach sie es einfach aus: „Glaubst du, man kann Sex verlernen?“
Stille trat ein. Von außen drängten sich die gedämpften Geräusche aus der Kantine in das beengte Büro. Piper starrte sie an. Das war offensichtlich nichts, womit sie gerechnet hatte. Ihre Erwiderung unterstrich ihre enorme Verwirrung: „Redest du jetzt...von mir?“
Red seufzte. „Nein! Ganz allgemein!“
„Du meinst wie...“ Pipers Augen verengten sich, während sie fieberhaft nach einem passenden Beispiel suchte. „...wie man auch verlernen kann, ein Instrument zu spielen?“
Red zuckte mit einer Schulter. „Mehr oder weniger...ja. Angenommen jemand hatte...lange Zeit keinen Kontakt in dieser Weise mehr mit anderen Menschen...glaubst du, derjenige könnte seine...Fähigkeiten was das betrifft verlieren?“
Mit einem Mal stahl sich ein breites Lächeln auf Pipers Lippen und Red fragte sich, wie sie dieses Gespräch jemals für eine gute Idee hatte halten können. „Geht's hier um dich? Hat Healy dir so eine Art abgefahrenen Sexurlaub fürs Wochenende genehmigt oder sowas?“
Bei der Erwähnung von Sams Namen hätte Red um ein Haar die Beherrschung verloren und Piper achtkantig aus dem Büro gekickt. Glücklicherweise gelang es ihr, diesen Impuls zu unterdrücken. Andernfalls hätte sie Piper auch gleich die ganze Wahrheit auf die Nase binden können.
„Was hatte ich eben über Spekulationen gesagt?“
Das Lächeln in Pipers Gesicht schrumpfte schlagartig zusammen, wollte aber dennoch nicht gänzlich verschwinden. „Entschuldige. Also, ähm...“ Sie widmete sich wieder der Suche nach einer Antwort auf Reds Frage. „Ich...ich glaube nicht, dass man jemals vergessen kann, wie es geht. Denk doch nur mal dran, wie das alles anfängt: vom allerersten Mal an ist und bleibt es doch irgendwie...ein intuitives Ding, oder? Niemand bringt es einem bei, so wie man von den Eltern lernt Fahrrad zu fahren. Gott sei Dank! Du fängst einfach irgendwann an, es zu tun, und je öfter du es tust, umso mehr findest raus...was dir gefällt...“ Ihre Miene wandelte sich von sanft und verträumt zu leicht angeekelt als sähe sie sich in diesem Augenblick von einer besonders unangenehmen Erinnerung heimgesucht. „...und was dir nicht gefällt... Na ja, und irgendwie fängt man ja auch immer nochmal ganz von vorne an, wenn man mit einer völlig neuen Person zusammen ist, findest du nicht? Es ist ein ganz neues Abenteuer – ganz egal mit wie vielen Menschen man vorher geschlafen hat, dann ist es-“
„Deine Antwort lautet also nein“, würgte Red sie schließlich in trockenem Tonfall ab, als sie Pipers blumige Ausführungen nicht länger ertragen konnte. Sie hatte sich so lange keine Gedanken über dieses Thema gemacht, dass es ihr nun sehr schnell Kopfschmerzen bereitete. Zudem kam sie sich allmählich vor als wäre sie noch ein nichts ahnender Teenager, der die gesamten Unannehmlichkeiten der Aufklärung noch vor sich hatte.
Ein wenig ernüchtert ob dieser plötzlichen Unterbrechung nickte Piper. „Das wäre die kurze und sehr unpoetische Version meiner Aussage...aber ja: meine Antwort ist nein.“
„Gut. Danke.“ Red ließ den Blick in eine Ecke des kleinen Raumes sinken und lauschte in sich hinein, um herauszufinden, ob sie sich nun irgendwie besser fühlte. Allerdings bekam sie dazu nicht wirklich Gelegenheit, denn für Piper war die Unterhaltung offenbar noch nicht beendet.
„Gern geschehen. Aber um ehrlich zu sein, bin ich ein bißchen überrascht, dass du mich danach gefragt hast. Ich bin nicht gerade die offensichtlichste Wahl, wenn's um Sextipps geht. Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich nicht auch das eine oder andere darüber wüsste...aber wäre Nicky bei dem Thema nicht die Expertin?“
„Ich hatte meine Gründe, nicht sie danach zu fragen.“ Red deutete mit dem Zeigefinger drohend auf die junge Frau. „Und du wirst ihr nichts hiervon erzählen, niemandem, hörst du?“
Piper hob abwehrend die Hände. „Sicher!“
„Nein, nicht sicher“, zischte Red und erhob sich langsam von ihrem Stuhl. „Versprich es!“
„Okay, ich verspreche es! Ich werde niemandem davon erzählen. Kein Sterbenswort. Aber...“ Piper biss sich auf die Unterlippe und zögerte kurz als wüsste sie nicht, ob sie wirklich fortzufahren sollte. Letztlich tat sie es doch. „Entschuldige, ich bin einfach nur neugierig. Warum machst dir darüber überhaupt Gedanken?“
Red starrte sie an. „Wie bitte?“
„Oh, ich meine nicht, dass du zu alt wärst, um sexuelle Bedürfnisse und Gelüste zu verspüren...“ Ihr fiel wohl selbst auf, dass sie dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden, denn Piper brach ab und presste schuldbewusst die Lippen zusammen.
„Geh einfach und friss dein widerliches Frühstück...“
„Natürlich!“ Damit drehte Piper sich um, riss die Bürotür auf und war verschwunden.
Red sank zurück auf den Stuhl. Mit einem schweren Seufzen stützte sie den Kopf auf beide Hände und stierte gegen die Wand vor sich. Mit Piper zu sprechen, hatte ihr nichts gebracht. Und obgleich sie glaubte, dass Nicky im Grunde nicht viel Anderes dazu gesagt hätte, ahnte Red, dass sie aus einer Unterredung mit ihr erleuchtet rausgegangen wäre. Irgendwie gelang es Nicky immer ohne große Anstrengung und wahrscheinlich sogar ohne es selbst zu beabsichtigen oder zu wissen, bei Red genau die richtigen Schalter an genau den richtigen Stellen umzulegen. Wie ein Bahnwärter, der immer wusste, wann er welche Schranke zu öffnen oder zu schließen hatte, um den jeweiligen Zug ans Ziel zu bringen. Doch diese Schranke würde Red wohl selbst hoch wuchten müssen. Sie schaute hinab auf die Stelle, an der Sams Stuhl vor einigen Stunden noch gestanden hatte. Weder jetzt noch in jenem Moment hätte sie sagen können, was genau eigentlich ihr Problem gewesen war. Wovor hatte sie sich gefürchtet? Davor ihn zu enttäuschen? Oder sich selbst? Davor etwas falsch zu machen? Oder davor, dass es ihr viel zu gut hätte gefallen können? Red wusste ja nicht einmal wie weit sie beide gegangen wären. Sie wusste nur eines: sie hatte Panik bekommen. Aber das lag nicht an Sam. Er hatte nichts falsch gemacht. Ganz im Gegenteil, seine Berührungen waren sehr schön gewesen, sanft und doch fordernd. Das Problem lag bei ihr. Vielleicht brauchte sie einfach nur etwas mehr Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass ein anderer Mensch sie so leicht aus der Fassung bringen konnte. Denn das war tatsächlich etwas, das sie über die Maßen beunruhigte.
Mit gemischten Gefühlen richtete Red sich im Sitzen auf und atmete tief durch. Sie wusste, dass Sam sie niemals dazu gedrängt hätte, ihre Intimität zu intensivieren, solange sie nicht dazu bereit war. Das war gestern noch einmal mehr als deutlich geworden. Das Einzige, was sie drängte, war ihr eigenes Verlangen nach körperlicher Liebe. Durch ihr Zusammensein mit Sam war es wie aus einem langen, tiefen Winterschlaf erwacht und machte sich immer öfter und nachdrücklicher bemerkbar. Red war sich nicht sicher, ob dieses hungrige Biest ihr die Zeit lassen würde, die ihr Verstand brauchte, um sich mit den neuen Umständen zu arrangieren.
Sam haderte mit sich. Zum zweiten Mal seit er sein Büro verlassen hatte, zog er in Erwägung, wieder umzukehren. Eine Insassin, die wohl hinter ihm gelaufen war, wich ihm aus, als er abrupt stehen blieb. Im Vorbeigehen warf sie ihm einen düsteren Blick zu, aber Sam achtete nicht auf sie. Der Korridor war erfüllt von Stimmengewirr und gelegentlichem Gelächter. Der Strom der Frauen in Richtung Kantine war nicht mehr ganz so dicht, das Mittagessen war bereits seit etwa einer Stunde im Gange. Sie zogen an ihm vorbei, ohne dass ihre Gesprächsfetzen oder Blicke ihn erreicht hätten. Sam starrte zur nächsten Ecke, die ihn, wenn er sie nahm, direkt zur Kantine führen würde. Red hatte ihn nicht darum gebeten, ihn heute dort aufzusuchen. Nach dem, was gestern passiert war, hatte sich eine gewisse Unsicherheit in Sams Inneres zurück gestohlen. Sie hatten sich nicht im Streit getrennt, Galina war nicht vor ihm davon gelaufen. Sie hatten sich zum Abschied geküsst und es hatte genauso geschmerzt wie schon am Tag davor. Aber nachdem Red urplötzlich von seinem Schoß aufgestanden war und ihrem zunehmend intimer werdenden Intermezzo damit ein Ende bereitet hatte, war ihr restliches Beisammensein ein wenig merkwürdig gewesen. Sie hatten es nach wie vor beide genossen und sich gut unterhalten und auch weiterhin die eine oder andere Zärtlichkeit ausgetauscht. Doch der Vorfall hatte von da an zwischen ihnen gestanden und sie hatten sich beide große Mühe geben müssen, ihn zu ignorieren. Sam hatte sich seitdem unablässig den Kopf darüber zerbrochen. Ohne zu einem Ergebnis gelangt zu sein. Er glaubte nur zu wissen, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen was, vor allem nicht da Galina ihn dazu aufgefordert hatte, ihr seine Leidenschaft zu beweisen. Sie hatte auch nicht erzürnt gewirkt, als sie sich von ihm gelöst hatte. Sie war keine Frau, die es unter den Teppich kehrte, wenn man ihr etwas antat, das ihr gegen den Strich ging. Also war es wohl nichts, was er getan hatte, weshalb sie auf Abstand gegangen war. Vielleicht war ihr einfach die Lust vergangen. Aber so plötzlich? Und wieso überhaupt? Vielleicht hatte sie ihn aber auch tatsächlich einfach nicht weiter quälen wollen. Doch daran konnte er nicht so recht glauben. Zumal es ihr kurz zuvor noch sichtlich Freude bereitet hatte, ihn mit ihren Berührungen zu triezen. Da war etwas Anderes. Irgendein Grund, den er nicht sehen konnte. Irgendetwas, das mit ihm zu tun hatte. Vielleicht war er ihr einfach zu dick.
„Das macht doch alles keinen Sinn...“, murmelte Sam ohne es selbst zu merken.
„Vielleicht ist der Sinn des Lebens nicht, den Sinn zu suchen, sondern die Sinnlosigkeit zu akzeptieren und so unseren eigenen Sinn in den Dingen zu erschaffen“, sprach eine monotone Stimme zu seiner Linken und riss ihn aus seinen stark verworrenen Gedanken. Eine ältere Frau mit großen, wässrigen Augen und eingefallenen Wangen hatte neben ihm Halt gemacht. Nun lächelte sie auf sehr beunruhigende Weise und setzte ihren Weg langsam und bedächtig fort. Sam sah ihr nach. Er konnte nicht behaupten, dass ihre Worte ihm irgendwie Klarheit verschafft hätten. Aber eines erkannte er jetzt: er würde des Rätsels Lösung nie erfahren, wenn er die Urheberin des Rätsels nicht danach fragte.
Nicht unbedingt frohen Mutes, aber wenigstens um einiges entschlossener löste Sam sich von der Stelle und ging mit festen Schritten voran. Als er die Kantine betrat, musste er sich nicht lange umschauen, um Red zu finden. Ihr roter Schopf erhob sich aus der sitzenden Menge, in welcher sie an einem der Tische stand, scheinbar im Gespräch mit ihren Mädchen. Sam erinnerte sich sehr wohl an die von ihr aufgestellte Regel, er solle nicht ohne einen guten, plausiblen Vorwand hier aufkreuzen. Er hatte den ganzen Morgen und Vormittag Zeit gehabt sich einen zurechtzulegen und hatte sich dabei einen ausgedacht, der sogar als echter Grund, hierher zu kommen, Bestand hatte. Sein Magen zog sich zusammen und sein Herz begann zu flattern, als er sich so gelassen wie er nur konnte seinen Weg durch die Tische auf die Köchin zu bahnte. Da sie mit dem Rücken zu ihm stand, bemerkte sie ihn als Letzte. Die übrigen Frauen sahen ihn kommen und verstummten, was Red dazu veranlasste, den Kopf zu wenden. Sie freute sich ihn zu sehen, was Sam erleichterte. Doch ihre Miene verriet ihm auch, dass sie den gestrigen Vorfall ebenso wenig vergessen hatte wie er.
„Sam! Hat dir der eine Löffel nicht gereicht?“
Er lachte nervös und machte neben ihr Halt. „So ähnlich. Ich habe gleich den Termin mit Caputo und ich dachte, es könnte nicht schaden, ihm eine kleine Kostprobe mitzubringen.“
Red runzelte die Stirn. „Und welche Foltermethode willst du anwenden, um ihn dazu zu bringen, das Zeug zu probieren?“
Sam wünschte sich, sie hätten ein geheimes Codewort gehabt, das „Lass uns sofort irgendwohin verschwinden, wo wir in Ruhe reden können“ bedeutete. Nur allzu deutlich spürte er die Blicke von Chapman, Morello und Nichols auf sich ruhen, die am nächsten bei Red saßen. Da stand er und tat als wäre alles wie immer, dabei hätte er die Frau direkt vor sich am liebsten an den Schultern gepackt und verzweifelt gefragt, was er falsch gemacht hatte und was er tun musste, um ihr wieder so nah sein zu dürfen. Um eine Antwort verlegen schwieg er. Seine Gedanken waren gerade zu sehr mit ihrer letzten Begegnung beschäftigt, als dass er im Hier und Jetzt schlagfertig hätte sein können. Glücklicherweise kannte Red ihn nach all den Jahren gut genug, um von seinen Augen abzulesen, was seine Lippen nicht aussprachen.
„An mir soll es nicht scheitern. Es ist genug Schleim für alle da!“
„Danke.“
Red bedeutete ihm mit einer Geste, ihr zu folgen. Bevor er das tat, nickte er den Frauen am Tisch noch flüchtig zu. Es verunsicherte ihn ein wenig, wie Nichols ihn ansah. Ihre dunklen Augen bohrten sich in ihn hinein, während ein schiefes Lächeln ihre Lippen umspielte. Hastig schloss Sam zu Red auf.
„Ist mit Nichols alles in Ordnung?“
Red warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. „Was meinst du?“
Sam ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten und senkte die Stimme, damit keine der Insassinnen an den Tischen, die sie nun passierten, etwas mitbekam. „Du hast erwähnt, sie ahnt womöglich etwas. Und eben da hat sich mich angesehen als wenn-“
„Ich sagte, dass sie spürt, dass etwas im Busch ist, nicht dass sie etwas ahnt“, korrigierte ihn Red in beiläufigem Ton als sprächen sie über das Wetter. Sam musterte sie von der Seite und fragte sich einmal mehr, wie sie es immer wieder schaffte, diese Fassade der Kontrolle aufrecht zu erhalten. Denn das, worüber sie sprachen, war nicht einmal annähernd so banal wie das Wetter.
„Wo ist da der Unterschied?“
„Bleib locker, Sam. Sie weiß nichts.“ Red schenkte ihm ein kleines, beschwichtigendes Lächeln, das eine überraschend große Wirkung zeigte. Womöglich hing das aber auch damit zusammen, dass ihm etwas Anderes viel heißer und dringender auf der Seele brannte als Nichols' Gespür und Ahnungen. Aber Sam riss sich zusammen. Ihm war bewusst, dass die vollgestopfte Kantine der denkbar unpassendste Ort für die Unterhaltung war, die er gern geführt hätte. Er musste wenigstens warten, bis sie in der Küche waren, die mehr Sicherheit bot, ehe er einen Versuch wagen konnte, Red auf den Vorfall am Vorabend anzusprechen.
Schweigend brachten sie den Rest des Weges hinter sich. Sam fiel nichts Belangloses und Unverfängliches ein, das er hätte sagen können, und ihm war auch nicht danach. Red schien es ähnlich zu gehen. Kurz bevor sie den Durchgang zur Küche erreichten, betrachtete Sam sie noch einmal. Sie wirkte angespannt und nachdenklich. So wie auch er es seit ihrem letzten Abschied war. Red trat als Erste über die Schwelle und machte sich sogleich daran, ihm die geforderte Kostprobe für Caputo zu beschaffen. Vielleicht bildete Sam es sich nur ein, aber er hatte das Gefühl, sie brächte das schneller hinter sich als sie es sonst getan hätte. Als wollte sie ihn möglichst schnell wieder loswerden. Inzwischen hatte er genug Vertrauen in die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle zu ihm gefasst, um zu wissen, dass sie das nicht aus Abneigung tat. Sie schien sich nur noch nicht sicher zu sein, wie sie nach dem, was gestern zwischen ihnen passiert war, mit ihm umgehen sollte. Wie gern hätte er einfach ganz offen mit ihr darüber gesprochen. So wie normale Paare es getan hätten. Hier und jetzt. Ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob irgendjemand etwas ahnte, spürte oder wusste.
Sam sah zu wie Red etwas braunen Brei aus einem der gerade erst befüllten Behälter in eine Plastikschale füllte. Als das erledigt war, kehrte sie zurück zu der Stelle nah bei der Tür, wo Sam inne gehalten hatte. Er legte seine Hand auf ihre, als sie ihm die Schale überreichte. Red zog ihre nicht sofort weg. Erst richtete sie ihre blauen Augen auf seine. Sam konnte einen Anflug von Bedauern darin ausmachen. Sie ließ die Hand sinken.
„Danke, Red.“
Sie schmunzelte. „Als Zeichen deiner Dankbarkeit kannst du ein Foto von seinem Gesicht schießen, wenn er diesen Dreck runterwürgt...“
Seine Mundwinkel zuckten, doch zu einem richtigen Lächeln brachte er es nicht. Seine Nervosität nahm zu. Er spürte den Moment des Abschieds näherrücken und wusste nicht wie er ihn hätte hinauszögern können. Aber er musste wenigstens erfahren, wie es nun um sie stand. Gerade noch so konnte er sich selbst davon abhalten, Galina direkt zu fragen, ob er sie am Abend sehen könnte.
„Also, die Schale...würde ich heute Abend zurückbringen...wenn das in Ordnung ist?“ Er betonte das Fragezeichen als hinge sein Leben davon ab.
Red verstand. Etwas Sanftes flocht sich durch ihre Züge und ließ Hoffnung in Sam aufkeimen, dass alles mal wieder nur halb so schlimm war wie er es sich ausgemalt hatte. „Ja, das ist in Ordnung.“
„Gut...“ Es war Zeit zu gehen, aber Sam blieb wo er war. Er konnte einfach nicht widerstehen. „Red, wegen...wegen gestern...“
Ihre Augen weiteten sich und sie zog die Brauen zusammen. Es war keine Überraschung, dass sein Leichtsinn sie alarmierte. Hastig schaute sie sich in alle Richtungen um, doch vom Küchenpersonal schenkte ihnen niemand Beachtung. Als ihr Blick sich wieder auf ihn richtete, war längst alles gesagt. Sie brauchte nichts mehr zu erwidern. Sam schluckte schuldbewusst.
„Entschuldige.“ Ob er sich für seine jetzige Unüberlegtheit oder seinen vermutlichen Fehler am gestrigen Abend entschuldigte, wusste er selbst nicht. Sam gab sich einen Ruck. „Also, dann...danke nochmal und...ich berichte dir dann später vom Ausgang der Schlacht.“
Demonstrativ hielt er die mit Brei gefüllte Schale hoch. Härte und Tadel wichen nur sehr langsam aus Reds Gesicht. Fast war es ein Glück, dass sie nicht offen sprechen konnte, sonst hätte Sam sich wohl eine ordentliche Standpauke anhören müssen. Red seufzte.
„Viel Erfolg, Sam.“
„Danke...bis dann.“ Mit dem Gefühl, ihn würde später noch ein langer, hitziger Vortrag über die Bedeutsamkeit von Vorsichtsmaßnahmen erwarten, wandte Sam sich von ihr ab und verließ die Küche. Es war abzusehen gewesen, dass Red nicht während des Hochbetriebs in der Kantine und in Hörweite von anderen über dieses Thema sprechen würde. Dennoch hatte Sam es einfach versuchen müssen. Es wurmte ihn, nicht zu wissen, was in ihr vorging. Der ungelöste Konflikt zwischen ihnen, von dem er nicht mal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob man ihn als solchen bezeichnen sollte, lag Sam im Magen wie eine schwer verdauliche Mahlzeit. Zum Glück fühlte er sich dadurch nicht entmutigt was sein bevorstehendes Gespräch mit Caputo anging. Im Gegenteil, er war jetzt noch entschlossener, den Mann zu verbiegen wie eine Eisenstange. Selbst Sam war nicht naiv genug zu glauben, er hätte seinen Vorgesetzten mit einer Schale ekelhaftem Brei und einem Appell an sein Gewissen umstimmen können. Aber er versprach sich zumindest, ihm ein paar Schuldgefühle einimpfen zu können, die sich mit der Zeit zu einer ausgewachsenen Infektion entwickeln und ihn in nicht allzu fernen Zukunft womöglich noch einmal überdenken lassen würden, ob es richtig war, die Insassinnen mit ungenießbarem Hundefutter abzuspeisen. Mit etwas Glück würde er so später am Abend nicht mit leeren Händen vor Galina stehen. Es konnte bestimmt nicht schaden, einen Anlass zur Freude aus dem Hut zaubern zu können, wenn sie dazu ansetzte, ihrem Ärger über seine Leichtsinnigkeit Luft zu machen.
Eine halbe Stunde später fand Sam sich vor Caputos Büro wieder. Die inzwischen erkaltete Kostprobe in einer Hand, klopfte er mit der freien gegen die Tür. Von drinnen vernahm er ein entnervtes Stöhnen. Nicht gerade die beste Basis für erfolgreiche Verhandlungen. Aber er hatte bereits damit gerechnet, dass der Mann keine Luftsprünge angesichts seines Besuches machen würde.
„Ja, was ist?“, rief Caputo von drinnen.
Sam öffnete die Tür. Dahinter erwartete ihn nicht unbedingt, was er erwartet hatte. Eine Serviette in den Kragen seines Hemdes gesteckt hockte Caputo hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm stand ein Aluminiumbehälter, der einen großen Berg Spaghetti Bolognese beinhaltete. Dem Besteck in seinen Händen nachzuschließen, hatte er eben mit dem Essen anfangen wollen. Als er Sam erblickte, kam es diesem vor als sei er nicht der Erste, der die Mittagspause seines Vorgesetzten an diesem Tag verzögerte.
„Was gibt es denn?“
Sam trat ein und schloss die Tür hinter sich, um gleich klar zu stellen, dass er nicht vorhatte, sich abwimmeln zu lassen. „Wir hatten für heute einen Termin.“
Caputo starrte ihn an. Langsam zogen sich seine Brauen zusammen. Dann wanderte sein Blick zu dem aufgeschlagenen Terminplaner auf seinem Tisch. Er stöhnte.
„Ach ja, natürlich!“ Einen Moment lang sah es so aus als zöge er es ernsthaft in Betracht, Sam wieder wegzuschicken. Doch schließlich seufzte er resignierend, legte das Besteck weg und schob sein Mittagessen beiseite. „Na schön...ich wollte sowieso noch mit Ihnen sprechen. Setzen Sie sich...“
„Danke.“ Sam zog den freien Stuhl vor dem Schreibtisch zurück und nahm Platz. Die Schale mit dem kalten Brei stützte er auf seinem Oberschenkel ab. Er würde sie noch zurückhalten und im richtigen Augenblick einsetzen wie eine Geheimwaffe. Gerade wollte Sam das Wort ergreifen, da kam Caputo ihm zuvor.
„Also, Sam...“ Der Mann lehnte sich in seinem bequemen Chefsessel zurück und musterte ihn eingehend. „Wie läuft es für Sie? Haben Sie sich wieder gut bei uns eingelebt?“
Sam war überrascht, dass er danach fragte. Als er vor einem Monat hergekommen war, um ihn um seine alte Stelle zu bitten, hatte Caputo sofort zugestimmt. Es war kein Geheimnis, dass dieser Mann nie ein sonderlich großer Fan von ihm gewesen war, das hatte selbst Sam gemerkt. Aber Caputo war geradezu erleichtert gewesen, ihn wieder einstellen zu können. Offenbar hatte er Probleme, das passende Personal zu finden. Demnach war es natürlich in seinem Interesse, Sam und alle übrigen Angestellten halten zu können. Doch dass er soweit gehen würde, tatsächlich einmal nach ihrem Befinden zu fragen, hatte Sam nicht erwartet.
„Ja, sehr gut, danke. Ich habe das Gefühl, ich kann hier dieses Mal wirklich etwas bewegen.“
Auf der Stirn seines Gegenübers bildeten sich tiefe Falten und das höfliche Lächeln auf seinen Lippen verlor ein wenig seine Form als wüsste er nicht, wie er diese Aussage zu deuten hatte. „Ja...das klingt doch wunderbar! Aber bewegen Sie nicht zu viel, die tragenden Wände wollten wir schon stehen lassen.“
Caputo lachte über seinen eigenen Scherz. Sam stimmte mit einem halbherzigen Lächeln ein. Im Grunde hatte der Mann ihm gerade, ohne es selbst zu ahnen, geraten, den Grund für seinen Besuch stecken zu lassen und unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Natürlich dachte Sam nicht mal im Traum daran.
„Wo wir gerade davon sprechen-“
„Eine Sache noch!“, fiel Caputo ihm ins Wort, beugte sich nach vorn und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Was halten Sie eigentlich von ihrer Kollegin Miller?“
Sam spürte, dass seine Geduld zur Neige ging. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er nicht im Stande gewesen, sich jetzt Gedanken über irgendetwas Anderes zu machen als die Tatsache, dass die Frau, die er liebte, Tag ein Tag aus Dreck fraß und von der einen Tätigkeit abgehalten wurde, die ihrem eigenen Wortlaut nach „ihr Dasein auf Erden berechtigte“.
„Ich weiß nicht. Ich hab' sie nur zwei oder dreimal kurz gesprochen. Sie scheint in Ordnung zu sein. Aber warum ich eigentlich hier-“
„Sie ist ein echtes Problem.“ Nachdenklich strich sich Caputo mit einer Hand über den Schnurrbart. „Die Insassinnen hassen sie. Ich höre nur Beschwerden! Und sie ist unzuverlässig. Geht nie an ihr Telefon, wenn ich versuche, sie zu erreichen. Und sie kommt ständig zu spät zur Arbeit. Verdammt, wahrscheinlich werd' ich nich' drum rum kommen, einen Ersatz für sie zu suchen.“ Er stieß ein tiefes Seufzen aus als könne er sich keine schlimmere Aufgabe vorstellen. „Wissen Sie wie verdammt schwierig es ist, halbwegs brauchbares Personal für so eine Stelle zu finden? Die Leute mit den richtigen Qualifikationen, die nicht völlig durchgeknallt sind, machen einen großen Bogen um dieses Gefängnis!“
Sam presste die Lippen zusammen und musste sich im Stillen selbst ermahnen, nicht die Nerven zu verlieren. In der Therapie hatte er gelernt, mit Situationen wie diesen umzugehen. Situationen, in denen unsensible Menschen unsensible, unüberlegte Dinge sagten, die ihn früher wochenlang geplagt und sein Selbstbewusstsein aufgeknabbert hätten wie Mäuse einen schmackhaften Käse.
„Vielen Dank auch...“
Die Erkenntnis trat sehr langsam auf Caputos Gesicht. Wenigstens wirkte es so als täte es ihm ein bißchen leid. „Oh...entschuldigen Sie, Sam. So habe ich das nicht gemeint. Sie...Sie machen einen tollen Job. Wirklich. Wir sind froh, Sie hier zu haben.“
Sein Gebrabbel interessierte Sam gar nicht. Caputo hätte ihn nach allen Regeln der Kunst niedermachen oder in den Himmel loben können, es kümmerte ihn nicht. Hier ging es nicht um ihn. Es wurde Zeit, das Gespräch in die Richtung zu lenken, die Sam schon anzusteuern versuchte, seit er sich gesetzt hatte.
„Danke. Aber eigentlich wollte ich mit Ihnen über etwas Wichtiges sprechen.“
Caputo hob die Brauen und setzte eine höchst aufmerksame Miene auf als wollte er damit seinen vorherigen Mangel an Sensibilität ausbügeln. „Schießen Sie los! Ich bin ganz Ohr...“
Nun hob Sam die Plastikschale von seinem Bein und stellte sie zwischen sich und seinem Vorgesetzten auf den Tisch. Die dunklen Augen des Mannes ruhten eine Weile darauf. Dann richtete sie sich fragend auf Sam.
„Was ist das?“
„Das ist das Essen, das die Insassinnen derzeit in der Kantine bekommen.“ Sam konnte zusehen wie Caputo seine abwehrenden Mauern hochfuhr.
„Nett von Ihnen, aber ich bin versorgt.“ Er nickte zu seinen Spaghetti herüber. Der erste Schuss war gefallen, das Feuer eröffnet. Sam rückte auf seinem Stuhl nach vorn und schob die Schale noch etwas weiter auf sein Gegenüber zu.
„Haben Sie das Zeug jemals probiert? Ich habe es gestern getan und ich bin gelinde gesagt schockiert, dass wir diesen Frauen so etwas seit über einem Jahr hier zumuten.“
Caputo rieb sich mit einer Hand die Stirn und warf all seine aufgesetzte Freundlichkeit und Vertraulichkeit über Bord. „Nein, ich habe es nicht probiert. Und ich habe es auch nicht vor.“ Damit schob er die Schale zurück in Sams Richtung. „Das Essen macht sie satt und hält sie am Leben – Mission erfüllt!“
Sam zog die Brauen zusammen und spürte, wie die Wut in ihm zu brodeln begann. „Ich habe mit einigen Insassinnen gesprochen und etliche von ihnen leiden unter körperlichen Beschwerden. Durchfall, Verstopfungen, anhaltende-“
Caputo verzog das Gesicht. „Haben Sie vielleicht auf Stuhlproben genommen? Fuck, das will ich alles nicht hören, Healy! Ich sag es Ihnen gerne noch einmal: das Essen erfüllt seinen Zweck. Nur weil diese Ladies was Besseres gewohnt und sich jetzt zu fein sind-“
„Sie sind sich nicht zu fein, sie sind Menschen, die gern etwas halbwegs Essbares auf ihrem Teller hätten! Was glauben Sie, wie viel es hier drinnen gibt, worüber sie sich freuen können?“
Die Papierserviette streifte die Tischplatte, als Caputo sich noch etwas weiter vorbeugte und in gesenktem, bedrohlichem Tonfall fortfuhr. „Das hätten die sich vielleicht überlegen sollen, bevor sie kriminell wurden.“ Geräuschvoll stieß er die Luft aus, ließ sich zurück in seinen Stuhl sinken und riss sich die Serviette aus dem Kragen. „Das hier ist kein Fünf-Sterne-Hotel! Diese Frauen sitzen hier ihre Strafe ab und es ist nicht Sinn der Sache, dass sie sich dabei gut fühlen.“
Es kostete Sam alle Beherrschung, nicht genauso aus der Haut zu fahren wie Caputo. Genug Groll und Zorn hätte er dafür allemal in sich gehabt. Er atmete tief durch und zwang sich ruhig zu bleiben. Wenn es einen Weg gab, diese Diskussion irgendwann zu gewinnen, nicht heute, aber irgendwann, dann nicht mit Gebrüll. Denn Caputo war von ihnen beiden eindeutig der größere Brüllaffe. Sam bohrte sich in seine dunklen Augen und sprach so ruhig wie es ihm nur möglich war.
„Ich fordere hier keine erstklassige Verköstigung. Ich weiß sehr wohl, dass wir hier von Straftätern sprechen. Ich will diese Frauen nicht belohnen. Ich will ihnen nur ihre menschliche Würde erhalten.“
„Oh, fuck!“, fluchte Caputo und starrte ihn an als hätte Sam zu einer nervigen Friedenshymne angesetzt. „Kommen Sie mir jetzt doch nich' mit Menschenwürde! Fakten auf den Tisch: das Essen schmeckt beschissen!“ Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, wobei einige Stifte einen kleinen Hüpfer machten. „Na und? Meine Mutter konnte auch nicht kochen, aber bin ich deswegen auf die Barrikaden gegangen? Nein! Ich hab' den Mist geschluckt, bis ich selbst entscheiden konnte.“
Sam fixierte ihn mit verengten Augen. Der Drang, ihm irgendetwas in seine selbstgerechte Visage zu schleudern, juckte ihm in den Fingern. Aber er unterdrückte ihn mit aller Macht. Sonst hätte am Ende noch seine fristlose Kündigung zur Debatte gestanden. Und das war das Letzte, was Sam wollte. Das hieß jedoch nicht, dass er nicht weiterhin kämpfen konnte. Es war schließlich sein Job, sich für das Wohlergehen der Frauen von Litchfield einzusetzen. Zumindest sah er das mittlerweile so. Mit der Zeit würde auch Caputo das irgendwann einsehen.
„Gut. Unsere Standpunkte wären damit also geklärt.“
Caputo funkelte ihn an. „Die ganze Sache ist damit geklärt!“
„Das sehe ich ein bißchen anders. Ich werde dran bleiben.“
Ein erneuter, schwerer Seufzer drang aus den Lungen seines Vorgesetzten. Wieder lehnte er sich zu Sam vor und schlug einen geradezu versöhnlichen Tonfall an. „Hören Sie, Sam... Selbst wenn ich wollte, ich könnte nichts an der derzeitigen Verpflegung ändern. Wir haben ein Budget. Und das sagt eindeutig...“ Sein Blick fiel hinab auf den bräunlichen, bröckeligen Brei. „...Schlammcurry statt Sushi.“
Sam starrte ihn an. Mit einem wenig überzeugenden Lächeln streckte Caputo den rechten Arm aus und verpasste ihm einen kumpelhaften Schlag auf die Schulter.
„Nehmen Sie's nicht so schwer, Sam! Machen Sie einfach Ihren Job. Halten Sie die Ladies in Schach und sorgen Sie dafür, dass sich nicht allzu viele von ihnen umbringen...“
Diese Worte waren nur ein weiterer Beweis dafür, mit was für einem gewaltigen Vollidioten Sam es hier zu tun hatte. Abermals musste er sich heftig zusammenreißen, um seine Fassung nicht zu verlieren. „Galina Reznikov hat bereits über Depressionen aufgrund der Verpflegung geklagt.“
Caputos Züge verhärteten sich. Seine Stimme klang kalt und hart, als er antwortete. „Galina Reznikovs Schicksal ist das letzte, mit dem Sie mich zu Tränen rühren können. Und wenn Sie mich dann jetzt bitte entschuldigen würden – ich habe hier noch ein paar echte Probleme zu stemmen...“
Damit zog er sein Mittagessen wieder vor sich und nahm das Besteck zur Hand. Sam stand auf. Und bevor er überhaupt eine Chance hatte, darüber zu reflektieren, ob diese Idee nun gut oder katastrophal schlecht war, hatte er die kleine, gelbe Plastikschale bereits in der Hand und kippte ihren Inhalt über der Pasta aus. Der braune Brei ergoss sich zäh über die Nudeln. Caputo klappte der Mund auf.
„Guten Appetit!“
Sam wartete nicht auf die Explosion. Er schritt zur Tür hinaus, zog diese hinter sich zu und trat den Rückweg zu seinem Büro an. Aus der Ferne hörte er noch Caputos Zetern. Ein Teil von ihm bereute bereits, den Mann derart gereizt zu haben. Ein anderer Teil jedoch, der bei weitem überwog, suhlte sich in Genugtuung und Stolz über seine Tat. Nach dieser Kampfansage würde Caputo jedenfalls nicht mehr glauben, ihn mit hohlen Phrasen und dämlichen Ausreden beschwichtigen zu können. Und Sam war sich einer Sache ganz sicher: Galina würde stolz auf ihn sein.
Es gab nur eines, das fast genauso schlimm war, wie das Fertigessen direkt aus der Hölle Tag für Tag zu servieren: den Speiseplan dafür festzulegen. Als müsste man sich einen Plan ausdenken, jemanden auf grausamste Weise zu foltern, den man gar nicht foltern wollte. Obwohl es gerade mal Mitte der Woche war, hatte Red den heutigen Abend auserkoren, um sich dieser verhassten Aufgabe anzunehmen. Sie hatte das Gefühl, es war der richtige Zeitpunkt. Ihre Laune war ohnehin schon im Eimer – sie war gereizt und verwirrt über ihr eigenes Verhalten bei ihrem letzten Treffen mit Sam und verärgert, weil er es beim Mittag gewagt hatte, sie vor aller Augen genau darauf anzusprechen. So war sie mit Klemmbrett und Bleistift bewaffnet in die Kühlkammer gegangen und stand nun mit finsterer Miene zwischen den Regalen, in denen sich die großen Beutel stapelten, deren durchsichtiges Material freien Blick auf ihren übelerregenden Inhalt ermöglichte. Red blickte hinab auf ihr Klemmbrett und stellte fest, dass sie erst zwei Tage auf dem Vordruck ausgefüllt hatte. Vielleicht war sie gar nicht wirklich deswegen hierher gekommen, sondern vielmehr in der Hoffnung, die kühle Luft hier drinnen würde sich positiv auf ihren überhitzten Kopf auswirken. Sie konnte nicht gerade behaupten, dass das funktionierte.
Seufzend ließ sich Red mit dem Rücken gegen eines der Regale sinken. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Innern bemerkbar, jedes Mal, wenn sie an die nächste Begegnung mit Sam dachte. Noch immer wusste sie nicht, was sie ihm sagen sollte, wenn er fragte, was gestern mit ihr los gewesen sei. Und er würde fragen. Immerhin hatte es ihm so sehr unter den Nägeln gebrannt, dass er beinah riskiert hätte, dass eine handvoll Frauen in der Küche Zeuginnen dieser Unterhaltung geworden wären. Sam hätte sicher nichts gegen die reine Wahrheit gehabt, zumal diese ihm verraten hätte, dass das Problem nicht bei ihm lag. Aber Red wollte sich vor ihm nicht klein und schwach fühlen. Sie stand vor niemandem gern als verletzlich da, ganz egal wie sehr sie der Person vertraute oder sie liebte.
Die Tür zum Kühlraum war gegen einen leeren Putzeimer gelehnt, da sie gelegentlich dazu neigte, zu klemmen und darauf hatte Red es nicht ankommen lassen wollen. So vernahm sie das Geräusch sich nähernder Schritte. Sie hallten durch die entvölkerte Küche. Red atmete tief durch. Dann rief Sam halblaut ihren Namen. Ihren Spitznamen. Wenigstens diese Regel hielt er gewissenhaft ein.
„Hier drüben, Sam!“, rief Red ihm durch den großen Raum zu, indem sie sich halb aus der Kühlkammer lehnte. Der Wärter wandte den Kopf. Mit erhellter Miene und großen Schritten kam Sam auf sie zu. Red zog sich in die Kühlkammer zurück, ehe er sie erreicht hatte, und täuschte mit ihrem Klemmbrett Beschäftigung vor. Kalte Luft wirbelte durch den Raum, als Sam die Tür aufzog und zu ihr hinein trat. Schon aus dem Augenwinkel konnte Red erkennen, dass seine anfängliche Freude, sie zu sehen, sich jetzt unter seine Unsicherheit kauerte wie ein verschrecktes Beutetier unter dichtes Blattwerk.
„Hey...was machst du denn hier?“
Da war er wieder einmal: sein Umweg über die Nichtigkeiten. Red antwortete in kühlem Tonfall. „Ich versuche, eine Speiseabfolge zu erstellen, nach der nicht jeder gleich eine Woche lang über der Kloschüssel hängt...“
Von Sam kam der missglückte Versuch eines Lachens. Sie konnte seine Anspannung förmlich selbst spüren. Er räusperte sich.
„Ich...ich habe dir die Schale wieder mitgebracht.“
Widerwillig riss Red sich vom Anblick eines Beutels im Regal los, dessen Inhalt an die Farbe und Beschaffenheit von Babykotze erinnerte. Als ihr Blick auf die Plastikschale in Sams rechter Hand fiel, war sie überrascht. Sie war vollkommen leer und sauber. Red zog sich die Lesebrille von der Nase und schaute zu Sam auf.
„Ich kann mich nicht entscheiden, ob es wohl ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass dieses Ding leer ist. Entweder hat es Caputo ausgezeichnet geschmeckt und er ist jetzt endgültig von der Genialität der Idee, uns diesen Fraß einzuflößen, überzeugt...oder er hat dir den ganzen Mist vor Wut ins Gesicht geworfen.“
Sam schmunzelte. „Knapp daneben. Ich...ähm...ich habe ihm das Zeug über sein Mittagessen gekippt.“
Red starrte ihn an. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte sie sich noch dagegen wehren. Dann prustete sie los. „Das hast du nicht!“
Sam stimmte in ihr Lachen mit ein. „Doch, das habe ich! Und farblich hat es sehr gut zu seiner Bolognese gepasst...“
Ihr Gelächter wurde noch lauter. Nach Luft schnappend sackte Red mit dem Kopf gegen Sams Schulter. Als sie sich endlich wieder fangen konnte, glitzerten Tränen in ihren Augen. Red richtete sich auf und ehe Sam noch ein Wort sagen konnte, zog sie ihn mit einer Hand in seinem Nacken schon zu sich herunter und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Überraschung und Verwirrung regierten seine Miene, als Red sich wieder von ihm löste. Ihr Ärger war restlos verflogen. Doch das lag nicht allein an der göttlichen Vorstellung von Caputos Visage, als Sam ihm seine Mahlzeit mit diesem widerlichen Brei versaut hatte. In dieser Kurzschlussreaktion sah Red einmal mehr, wie vernarrt dieser Mann in sie war. Red warf das Klemmbrett achtlos ins Regal und strich ihm mit beiden Händen über die Wangen.
„Du bist verrückt, Sam Healy.“
Das brachte ihn wieder zum Lächeln, wenn es auch etwas matt wirkte. „Ich fürchte nur, das sieht Caputo genauso. Er ist stinksauer. Ich hoffe, ich habe uns nicht alle Chancen darauf versaut, in der Sache irgendetwas zu reißen...“
Red zuckte die Achseln. „Du weißt, ich glaube nicht daran, dass sich hier etwas ändern wird. Aber dass du dir solche Mühe gibst, ist schön. Es ist ziemlich lange her, dass ein Mann seine Komfortzone für mich verlassen hat...“
„Ich würde alles für dich tun, Galina.“
Die Erwähnung ihres Namens, den er nur in trauter Zweisamkeit verwenden durfte, erinnerte Red an die Situation beim Mittagessen. Ihr Ärger darüber hatte sich aufgelöst und konnte auch nicht wieder aufleben. Dennoch zwang sie sich dazu, die Sache anzusprechen. Es wäre nicht gut für sie beide gewesen, hätte sie angefangen, Nachsicht walten zu lassen. So schön und leicht und wundervoll sich das zwischen ihnen auch zu großen Teilen anfühlte, die Realität des Ganzen blieb, dass es äußerst riskant war. Red ließ die Hände auf Sams Brust sinken und besann sich auf einen ernsten Tonfall.
„Ich weiß, Sam. Aber du solltest dich vor allem darauf konzentrieren, keine Aufmerksamkeit zu erregen.“
Seine Miene verriet, dass er genau wusste, wovon sie sprach. Schuldbewusst senkte er den Blick. Doch Red umfasste sein Kinn und zwang ihn, ihr weiter in die Augen zu blicken.
„Ich weiß, es ist schwer für dich. Mir geht es genauso. Du wirst dich einfach zusammenreißen müssen, mein Lieber! Denkst du, du schaffst das?“
Sam nickte. „Ja. Das schaffe ich. Versprochen...“
„Gut.“ Red küsste ihn kurz und zart. Er atmete hörbar auf. Trotzdem wirkte er immer noch als würde ihn etwas belasten. Nervosität kribbelte in Reds Eingeweiden, denn sie fürchtete, er würde nun auf das Thema kommen, das sie ihn bei ihrem letzten Gespräch nicht hatte anschneiden lassen.
„Caputo ist verdammt stur.“
Das war absolut nicht das, was Red erwartet hatte. Es überraschte sie, dass er mit den Gedanken noch bei diesem blöden Lackaffen war, nachdem sie sich eben versöhnt und geküsst hatten. Im Grunde hätte Red froh sein müssen, dass ihn etwas Anderes scheinbar mehr beschäftigte. Doch nun, da sie sich den ganzen Tag wegen dieser ungeklärten Angelegenheit zwischen ihnen gequält und sogar Piper um Rat gefragt hatte, wollte sie es auch endlich aus der Welt schaffen.
„Du hättest hören sollen, was dieser selbstgerechte Mistkerl alles von sich gegeben-“
„Sam“, würgte Red ihn ab und grub die Finger in sein Hemd. „Ich weiß deine Bemühungen wirklich sehr zu schätzen, aber etwas...Anderes würde mir noch viel, viel besser gefallen...“
„Ach...und was?“, fragte er atemlos als könnte er sich das nicht selbst beantworten.
„Wenn du jetzt endlich die Klappe halten und mich küssen würdest...“
Sam legte die Arme um sie und führte ihre Lippen zusammen. Die Plastikschale, die er noch immer festgehalten hatte, schlug laut klappernd auf den Boden der Kühlkammer, ohne dass es einen von ihnen interessiert hätte. Red spürte, wie sie sich mehr und mehr fallen und ihre Gelüste die Führung übernehmen ließ. Es war ganz ähnlich dem Gefühl, das sie am Abend zuvor erfüllt hatte, bis zu jenem Augenblick, als sie sich Sam plötzlich entzogen hatte. In dieser Sekunde genoss sie es so sehr, ihm so nah zu sein und seine Begierde zu spüren, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass das noch einmal passieren würde. Beschwören konnte sie es jedoch nicht. Sam schien etwas ganz Ähnliches zu denken, denn ehe sie beide ihre Umgebung und Probleme vollends ausblenden konnten, unterbrach er den Kuss und blickte Red mit einem Anflug von Besorgnis tief in die Augen.
„Galina, ich...ich muss dich noch etwas fragen...“
Red schluckte, gestattete sich aber nicht, den Blick abzuwenden, obwohl sie es nur zu gern getan hätte. „Du willst wissen, was gestern mit mir los war.“
„Ja...“, gab er mit leiser Stimme zu. In diesem einzelnen, kleinen Wort schwang eine beachtliche Menge von Furcht mit, er könnte sie damit verärgern. Red lächelte matt und streichelte mit ihrer rechten Hand seinen Nacken. Er war so gut zu ihr. So unglaublich gut. Sie konnte sich nicht erinnern, in ihrem Leben jemals mit mehr Rücksicht behandelt worden zu sein. Kein Mann hatte sich vor ihm so viele Gedanken über ihre Empfindungen und sonstigen inneren Vorgänge gemacht – sie waren wie bei vielen Frauen einfach als Befindlichkeiten abgestempelt worden. Aber Sam war da anders. Red mochte eine stolze, starke Frau sein. Doch wenn es einen Mann gab, dem sie ihre gelegentliche Schwäche offen zeigen konnte, dann war es dieser, der hier vor ihr stand.
„Ehrlich gesagt weiß ich es selbst nicht so genau. Ich...hatte plötzlich das Gefühl...nicht mehr zu wissen, wie man...“ Unwillkürlich musste Red lachen. Auch auf Sams Lippen zeigte sich ein kleines, wenn auch verwirrtes Lächeln. „Weißt du was ich Piper heute gefragt habe?“
„Nein, was?“
„Ob man Sex verlernen kann.“ Red lachte über ihre eigene, kleine Dummheit.
Sam hob überrascht die Brauen. „Du denkst, du hast es verlernt?“
Red machte eine unentschlossene Bewegung mit dem Kopf. „Piper sagt, das geht nicht. Nun ja...nach einem halben Jahrhundert ohne Sex fühlt es sicher allerdings anders an...“
„So lang war es nun auch wieder nicht.“
Red runzelte die Stirn, dann streifte sie seine Hände von sich und kehrte ihm, mehr um ihn zu triezen als ihn wirklich zu bestrafen, den Rücken zu. „Du kannst ja gerne mal zehn Jahre lang keusch leben. Mal sehen wie du es dann siehst.“
Sam legte unverzüglich wieder die Arme um sie und zog sie fest an sich. „Kommt gar nicht in Frage.“ Er beugte sich etwas tiefer herab und küsste sie am Hals. Dann streiften seine Lippen ihr linkes Ohr und er flüsterte: „Nicht jetzt, wo ich endlich das hier mit dir tun kann...“
Red keuchte, als seine warme, feuchte Zunge über ihre Haut leckte. Er zog den Stoff ihres grauen Oberteils beiseite, bis sich seine Finger im Träger ihres BHs verhakten. Eine Welle des Wohlgefühls schwemmte über Red hinweg. Sie schloss die Augen, als er begann die nun freie Haut mit Küssen zu bedecken. Ihre Knie wurden weich und instinktiv streckte sie die Hand nach vorn aus. Als sie eine der kalten Stangen des Regals zu fassen bekam, hob sie die Lider. Erst da wurde ihr allmählich klar, was gerade geschah und worauf es zwangsläufig hinauslaufen musste. Zwei Herzschläge lang zog sich ihr Inneres zusammen als sei sie sich einer drohenden Gefahr bewusst geworden. Aber diesmal ließ Red sich nicht davon beeindrucken. Das Gefühl verschwand ebenso schnell und plötzlich wie es sie überfallen hatte. Die Barriere fiel. Und endlich konnte sie sich ganz fallen lassen. Red griff nach Sams rechter Hand, die auf ihrer Schulter geruht hatte und legte sie auf ihre Hüfte. Sein Atem kräuselte sich auf ihrer Haut, als er innehielt, um abzuwarten, was sie vorhatte. Nicht ein Hauch von Scham überkam sie, als Red seine Hand langsam aber zielstrebig in ihren Schritt führte. Wie erstarrt ruhten seine Finger auf der Stelle. Sie könnte spüren, dass er sich verkrampfte.
„Galina...bist du sicher?“
Sie brauchte nicht erst lange in sich hinein zu lauschen, um eine Antwort darauf zu finden. Diese brannte deutlich zwischen ihren Beinen. Die Lust, die sich in diesen vielen Jahren völliger Ebbe angestaut hatte, ließ keinen Raum mehr für Zweifel. Red drehte ihren Kopf so weit es ging und zog Sams mit ihrer freien Hand zu sich herab. Anfangs küsste er sie noch zögernd als erwartete er, dass sie sich jeden Augenblick wieder von ihm lösen würde, um ihm doch noch eine Antwort zu geben. Als er begriff, dass er keine wörtliche erhalten würde, drückte er seine Lippen fester auf ihre. Die Luft wurde ihnen bald knapp und sie trennten ihre Münder. Ein Verlangen so groß und wild wie Red es noch nie zuvor in seinen blauen, unschuldigen Augen gesehen hatte, blitzte nun darin auf.
Sam drückte sie so nah an sich, dass sie seine Härte an ihrem Gesäß spüren konnte. Endlich begann seine rechte Hand sich wieder zu bewegen. Er ließ sie unter ihrer hervor gleiten, die sie erst in ihre Intimsphäre geführt hatte, und schob sie langsam und bedächtig erst in ihre Hose, dann in ihre Unterhose. Red kam es vor als erwachte in diesem Moment ein Teil von ihr, der bei ihrer Einweisung in Litchfield in eine separate Zelle gesperrt worden und somit in völlige Vergessenheit geraten war. Sie stöhnte, als Sams Finger über ihre Vagina strichen.
„Das ist so...unhygienisch...“, keuchte Red mit Blick auf das gut gefüllte Regal vor sich. Wäre ihr Verstand nicht so vernebelt von der pulsierenden Lust in ihrem Körper gewesen, hätte sie sich wohl ernsthaft an dieser Tatsache stören können. „Und ich sage immer...fick nicht da, wo du isst...“
„Aber du isst hier nicht...“, gab Sam schwer atmend zurück.
Red stieß ein atemloses Lachen aus und legte den Kopf zurück. Sie bekam die Worte immer schwerer zu fassen, während Sams Hand sie so gekonnt verwöhnte als hätte er damit nie etwas Anderes getan. Es war nicht nur so gut, weil sie so lange keiner mehr berührt hatte. Er schien einfach genau zu wissen, wie er sie um den Verstand bringen konnte.
„Nein, ich...ich...lagere hier nur das sogenannte...“ Sie stöhnte auf und krallte sich an seinem rechten Ärmel fest. „...Essen. Das ist als würde man...in einem Kühlschrank ficken.“
Sams Wange drückte sich an ihre rechte Schläfe. „Entschuldige, aber dein Sinn für Hygiene...ist mir gerade scheißegal...“
Diese ungewohnte Vulgarität aus seinem Mund verstärkte ihre Erregung noch zusätzlich. Red spürte, dass sie die Ekstase fast erreicht hatte. Mit geschlossenen Augen ließ sie Sam weiter darauf hinarbeiten. Doch als sie kurz davor stand, packte sie plötzlich seine rechte Hand und verhinderte jede weitere Bewegung.
„Warte. Ich will dich ansehen...wenn ich komme...“
Widerstandslos zog Sam seine Hand aus ihrer Hose. Red drehte sich zu ihm um. Sie hatte längst gefühlt, dass er ebenso erregt war wie sie, daher überraschte sie der Anblick der Röte in seinem Gesicht nicht im Mindesten. Red lehnte sich mit dem Rücken gegen das Regal und zog Sam mit sich. Sie ließ ihn nur langsam zu ihren Lippen finden. Es war nicht seine Art, andere Menschen auf die Folter zu spannen, aber in dieser Situation hätte sie sich das nur allzu gern gefallen lassen. Während sie sich küssten, hielt Red seine Hand fest, um zu verhindern, dass er gleich da weitermachte, wo er aufgehört hatte. Sie wartete, bis sie es nicht mehr länger aushielt. Dann ließ sie los und ihn gewähren. Sam schob seine Rechte zurück in ihre Hose. Ihre Blicke trafen sich, ihr schwerer Atem vermischte sich. Sie hatte alle Mühe, die Augen bis zuletzt offen zu halten. Dann übertrat sie den Punkt jeglicher Kontrolle und klammerte sich an Sam, der sie mit einem Arm festhielt. Sie vergaß einfach alles – ihre Umgebung, die Gefahren, ihre Feinde und jeden Zweifel, den sie je daran gehabt hatte, dass ein Verhältnis mit Sam Healy eine hervorragende Idee war.
Red stieß ein langes, lautes Stöhnen vollendeter Befriedigung aus.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als ihr Verstand langsam aber sicher aus dem Zustand völliger Betäubung erwachte. Red hob die Lider. Sams blaue Augen bargen einen Ausdruck tief empfundener Zufriedenheit in sich. Das Lächeln, das sich nun auf Reds Lippen ausbreitete, fühlte sich an wie das größte, breiteste, wärmste und schönste, das sie je zur Schau getragen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass auch nur eine einzige Insassin dieses Gefängnisses je einen besseren Orgasmus an diesem verfluchten Ort erlebt hatte.
„Das war...erschreckend gut...“
Sam lachte und zog die Hand aus ihrer Hose. „Sollte ich beleidigt sein, dass du so überrascht klingst?“
„Nein. Was gibt es Besseres als die Erwartungen anderer zu übertreffen?“ Red strich über seine Brust und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich bin jedenfalls sehr froh, dass du es getan hast...“
Die Selbstzufriedenheit und der Stolz in seinen Zügen erreichten allmählich ein kritisches Ausmaß. Hätte Red nicht gewusst, dass es ebenso leicht war, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, wie ihn in luftige Höhen zu heben, hätte sie ihn jetzt wohl gebremst. Doch sie gönnte ihm seinen Triumph. Hier und jetzt hätte sie ihm so ziemlich alles gegönnt.
„Ich bin froh, dass du es mich hast tun lassen“, flüsterte Sam und führte ihre Lippen zusammen. Red gab sich seiner Zärtlichkeit hin und genoss das Echo des Orgasmus, das durch ihren Körper vibrierte wie die verstärkten Bassklänge aus einer Musikanlage. Mittlerweile war sie froh, dass die unbändige Lust sie beide ausgerechnet in der Kühlkammer überkommen hatte. Andernfalls wäre sie wohl längst unter Sams Berührungen verglüht.
Als der Kuss endete, hob Red die rechte Hand und tat ihr bestes, die Spuren ihres roten Lippenstifts, die sie in Sams Gesicht hinterlassen hatte, zu beseitigen. „Lass uns in mein Büro gehen. Da ist es doch ein wenig gemütlicher...“
Aus dem Regal nahm Red ihr Klemmbrett und vom Boden hob sie die Plastikschale auf, die Sam hatte fallen lassen. Als sie sich wieder aufrichtete, bedachte sie ihn mit einem strengen Blick.
„Und wehe du fasst mit dieser Hand irgendetwas in meiner Küche an bevor du sie nicht gewaschen hast!“
Sam schmunzelte. „Schon gut. Wie wichtig dir Hygiene ist, habe ich jetzt auch verstanden.“
Red sog noch ein letztes Mal die kühle Luft tief in ihre Lungen ein. Dann ging sie hinüber zur Tür, schob den Putzeimer mit einem Fuß zur Seite und trat hinaus in die Küche. Das laute Klatschen eines einzelnen Paares von Händen ließ Red versteinern. Auf einer der Arbeitsflächen saß locker im Schneidersitz eine junge Frau. Ein schiefes Lächeln zierte ihre Lippen, doch ihre dunklen Augen verrieten, dass es absolut freudlos war. Nicky beendete ihren Applaus und ließ die Hände sinken.
„Wow! Beeindruckend! Wirklich beeindruckend!“
„Scheiße...“, murmelte Red, während sich die Realität mit aller Grausamkeit in ihr Bewusstsein zwängte und die ganze, vorherige, süße Leichtigkeit gnadenlos platt trampelte.
Langsam streckte Nicky die Beine aus und glitt von der Küchenzeile. Ihr Blick galt nun nicht länger Red. Er ruhte mit einem gewissen Genuss auf Sam, der hinter Red zum Stehen gekommen war. „Also, Healy, ich muss ja zugeben, ich dachte immer, ich wüsste all das langweilige Zeug über Ihr langweiliges Leben, das es so zu wissen gibt. Aber...wie's scheint, stecken ja ungeahnte Fähigkeiten in Ihnen...“
Red wandte den Kopf. Aus großen Augen starrte Sam zu der Insassin hinüber, sein Mund stand leicht offen und seine Züge konnten sich nicht zwischen Überraschung, Entsetzen und Verzweiflung entscheiden.
„Sam.“ Red musste seine Hand ergreifen, um ihn aus der Schockstarre zu reißen und seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Du gehst jetzt besser.“
Seine blauen Augen sahen sie an als wollte er sie bitten, ihn zu kneifen, ihn wach zu rütteln und ihm zu versichern, dass das nur ein böser Traum gewesen war. Als Red das nicht tat, schloss er endlich den Mund und schluckte so laut, man hätte es wohl in ganz Litchfield hören können. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob es richtig war, jetzt zu gehen. Aber Red wusste es besser. Sie nickte bekräftigend und schob ihn mit beiden Händen in Richtung Ausgang. Sein Widerwille war genauso stark wie ihr Wunsch, ihn nicht wegschicken zu müssen. Doch alles andere wäre Wahnsinn gewesen. Mit einem verlorenen Ausdruck riss Sam sich von ihr los. Er warf Nicky noch einen letzten Blick zu. Dann schritt er hinüber zu einem der Herde, vor dem er vorhin scheinbar Tasche und Jacke abgelegt hatte, hob beides auf und verließ schweigend die Küche. Red wartete, bis die Finsternis der Kantine ihn verschluckt hatte. Dann richteten sich ihre Augen auf Nicky. Die junge Frau lehnte nun mit verschränkten Armen an der Küchenzeile ihr gegenüber. Red dachte nicht daran, sich beschämt, verlegen oder ertappt zu zeigen. Sie hielt das Kinn hoch, die Schultern gerade und ihren ganzen Stolz aufrecht. Nicht eine Sekunde klammerte sie sich an die alberne Hoffnung, sie könnte Nicky mit Erklärungen, Ausflüchten oder beschwichtigenden Worten die Wut austreiben, die nur allzu offensichtlich in ihr kochte. Ein Streit war unvermeidbar. Davor fürchtete Red sich nicht. Sie hatten sich schon oft gestritten, heftig und ausdauernd. Das Einzige, was ihr Angst machte, war, dass sie bei diesem Kampf zum ersten Mal mehr zu verlieren hatte, als lediglich ihr gutes Verhältnis zu ihrem Schützling. Hierbei ging es um mehr. Um das Kostbarste, was sie seit langer, langer Zeit besessen hatte.
„Du hast vielleicht Nerven, Mädchen, dich hier rein zu schleichen und mich zu bespitzeln...“
„Ich hab' Nerven?“ Nicky lachte ungläubig. „Du hast Nerven! Bist du bescheuert, Red?“
Bei dieser Frage hatte sich ihre Stimme fast überschlagen, so laut war sie mit einem Mal geworden. Red zuckte nicht einmal mit der Wimper. Reglos stand sie da und sah zu wie sich Nickys Brust unter heftigen, schnellen Atemzügen hob und senkte. Als sie fortfuhr, senkte sie ihre Stimme fast bis auf ein Flüstern und kam langsam auf Red zu.
„Jeder hätte hier reinkommen und hören können, was ich gehört hab'. Wenn ich nich' ich wäre, sondern irgendeine andere Bitch, wüsste morgen früh das ganze Scheißgefängnis Bescheid!“
Red hielt nicht länger an sich. Nickys Wut sprang nun auf sie über und vereinte sich mit der, die sowieso schon in ihr selbst gebrodelt hatte. Es war ihr egal, wer da vor ihr stand. Sie sah nur die Bedrohung des einen Menschen in dieser Einrichtung, den sie nicht so beschützen konnte wie ihre restliche Familie hier drinnen.
„Das geht dich einen Scheiß an! Wann habe ich dir je vorgeschrieben, wen du ficken darfst und wen nicht?“
Nickys Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie kaum eine handbreit entfernt von ihr stehen blieb. „Aber ich hab' auch nie mit 'nem Wärter gevögelt. Und schon gar nich' mit so 'nem Arschloch!“
Diese Beleidigung prallte einfach an Red ab. Nicky konnte so schlecht von ihm reden wie sie wollte, sie konnte ihn so sehr hassen wie sie wollte. Das Problem lag ganz woanders. „Was willst du, Nicky? Ich kann machen was ich will und mit wem ich will.“
„Nicht mit ihm!“, fauchte Nicky und musste sich arg zusammenreißen, um nicht wieder so laut zu werden, dass sie ihren Konflikt gleich über Lautsprecher hätten austragen können. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Als sie die Lider wieder hob, war es ihr tatsächlich gelungen, ihren Zorn für den Moment hinten anzustellen und einer Spur von Sorge einen kleinen Platz in ihrer düsteren Miene frei zu schaufeln. „Red...ich kann total verstehen, dass dich das mit dem Essen fertig macht. Ich weiß, wie viel dir die Arbeit in der Küche bedeutet.“ Nun glitt ihr Ausdruck in maßlose Verständnislosigkeit ab. „Aber is' es das echt wert, mit diesem Penner rumzumachen? Ich mein'...ich erkenn dich gar nich' wieder, so bist du doch nich'!“
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Red wohl darüber gelacht. Natürlich. Nicky glaubte, dass hinter all dem ein Plan steckte. Weil Red immer einen Plan hatte und sie vor fast nichts zurückschreckte, um zu bekommen, was sie wollte. Doch dass Sam Healy ihr einziges Objekt der Begierde in dieser Sache war, daran verschwendete Nicky keinen Gedanken.
„Hier geht es nicht um die Küche.“
Nicky starrte sie an, die dunklen Brauen in Verwirrung verengt, die Augen fragend in ihre gebohrt. „Worum dann? Erklär' mir diesen Scheiß!“
„Ganz einfach: es geht um ihn.“
Eine schleichende Erkenntnis machte sich in den Zügen der jungen Frau breit. Doch als sie den Mund aufmachte, wurde klar, dass sie überhaupt nichts begriffen hatte. „Ach, du meinst...du willst ihn anschmieren und loswerden?“
Allein der Gedanke daran jagte eine Kälte durch Reds gesamten Körper als hätte man sie in ein Eisbecken gestoßen. Unwillkürlich packte sie Nicky vorne am Shirt und zog sie so nah an sich, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. „Ich liebe ihn!“
Nie zuvor hatten die braunen Augen Red auf diese Weise angesehen. Da waren nach wie vor Verwirrung und Wut. Aber auch ein Anflug von Abscheu. Es tat weh, diesen Ausdruck in dem vertrauten, geliebten Gesicht ihres Schützlings zu sehen. Doch Red war auch froh, dass die Wahrheit raus war. Die Konsequenz legte sich schwer und belastend auf ihre Brust, gleichzeitig löste sich jedoch auch das Gewicht, welches ihr die Heimlichtuerei gegenüber Nicky bis dahin auferlegt hatte. Letztendlich tauschte sie wohl nur ein Übel gegen ein anderes aus.
Nicky schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf, ohne eine Sekunde den Blick von ihren Augen zu lassen. „Du bist verrückt...“
Red löste die Hand von ihrem Shirt und ließ sie sinken. „Vielleicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich kann nichts dagegen tun. Jetzt weißt du es. Mach damit was du willst. Ich kann dich nicht aufhalten.“
Abermals hob sie die Hand. Diesmal allerdings, um Nicky die wilde, blonde Mähne über die Schulter zu streichen. Sie legte alle Zärtlichkeit und Zuneigung, die sie für die junge Frau empfand, in diese Geste. Nach allem, was sie wusste, war es gut möglich, dass es die letzte sein würde. Als sie noch einmal das Wort ergriff, sprach Red in einem Ton zu ihr, den sie ihr gegenüber nur in den düstersten Momenten ihrer gemeinsamen Geschichte angeschlagen hatte: „Aber nur damit du es weißt: wenn du redest, steht dein Wort gegen meines. Und wenn Sam dennoch ins Gefängnis wandert...verlierst du mich. Und mir fällt nicht eine einzige Sache ein, die tun dann noch tun könntest, um mich zurück zu kriegen.“
Red ertrug es nicht länger, ihr ins Gesicht zu blicken. Sie ließ Nicky stehen, ging hinüber in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich. Mit dem Rücken lehnte sie sich dagegen. Sie lauschte. Ein paar Augenblicke später konnte sie die Schritte der jungen Frau hören. Sie kamen nicht auf sie zu. Sie entfernten sich von ihr. Red hatte gedacht, sie würde aufatmen. Stattdessen schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie fing nicht an zu weinen. Aber sie musste sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch sacken lassen, um nicht in sich zusammenzufallen wie ein Haus, aus dem man auf einen Schlag alle tragenden Wände gerissen hatte. Eine Hand auf ihre Brust gedrückt rang Red nach Luft. Ein Moment, nur ein süßer, kurzer Moment der Sorglosigkeit und Unachtsamkeit und plötzlich bestand die Gefahr, dass die beiden Menschen, die ihr diesen Ort am erträglichsten und darüber hinaus beinah schon heimisch machten, auf einen Schlag zu verlieren. Niemals hätte Red sagen können, welcher Verlust sie mehr getroffen hätte: der von Nicky oder der von Sam. Nicky oder Sam.
Red wünschte sich, es hätte keinen von beiden treffen müssen. Doch die Erbarmungslosigkeit des Lebens war ihr viel zu vertraut, als dass sie an diese Möglichkeit hätte glauben können.
Nicky oder Sam – für heute waren beide fort. Red hatte keine Ahnung, wie sie die Nacht überstehen sollte, nach der sich zeigen würde, wer ihr am nächsten Tag erhalten bleiben sollte.