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Two Ships In The Dark

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Gen
Galina "Red" Reznikov Sam Healy
30.05.2018
26.07.2018
7
76.775
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17.07.2018 13.703
 
(3) Wolkenbruch

Ein dumpfes Grollen ertönte, als Red die letzte Tomate vom Strauch pflückte und zu den übrigen in eine große Holzkiste legte. Mit den Knien in der feuchten Erde saß sie da und spähte hinauf zum Himmel. Seit dem Morgen hatten starke Winde graue Wolken über die Dächer von Litchfield gejagt. Nun war vom Himmel selbst in alle Richtungen nichts mehr zu sehen. Eine düstere, dichte Masse waberte dort oben vor sich hin, hielt aber noch zurück, was unvermeidlich eintreffen würde. Red störte sich nicht an dem schlechten Wetter, das vielen ihrer Insassinnen garantiert den Tag vermiesen würde, denn die wenigsten waren erpicht auf einen Spaziergang im strömenden Regen. Ihre Laune jedoch würde ihr am heutigen Tag nichts und niemand verhageln können. Es war ein Glück, dass ihr besonderes Dinner heute anstand. Es bot sich als perfekte Erklärung für ihre unübersehbare Hochstimmung an. Sie hatte versucht, sich zu zügeln, doch sie konnte einfach nicht anders als jeden, der sie im Vorbeigehen grüßte oder ihr auch einfach nur wortlos begegnete mit einem breiten Lächeln zu beschenken. Den ganzen Tag schon summte sie Melodien vor sich hin und diesmal tatsächlich als Ausdruck ihrer guten Laune. Wäre das Dinner nicht gewesen, hätten sie die übrigen Frauen am Ende des Tages sicher für verrückt erklärt. Denn der Grund für ihre Euphorie wäre unersichtlich gewesen. Und das blieb er auch besser.
     Red stand auf und stellte mit großer Zufriedenheit fest, dass die Wirkung der Salbe unvermindert anhielt. Als sie sich an diesem Morgen im Bett aufgerichtet hatte, war sie vor Fassungslosigkeit für einen Moment versteinert. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie das letzte Mal aufgestanden war, ohne diesen fiesen, stechenden, vertrauten Schmerz im Rücken zu spüren. Piper hatte sich am gestrigen Abend bereit erklärt, die Salbe für sie aufzutragen. Natürlich hatte ihr ihre Wissbegierde diktiert, Red mit Nachdruck über die Herkunft des roten Döschens zu löchern. Aber Red hatte sich in geheimnisvolles Schweigen gehüllt und Sam Healy im Stillen gedankt. Das tat sie seitdem jedes Mal, wenn sie eine Bewegung machte, die ihr am Tag zuvor noch Schmerzen bereitet hätte. Hätte sie Sam nicht so gut gekannt, wäre sie wohl leicht dem Glauben erlegen, es wäre sein Plan gewesen, sich auf diese Weise in jeden einzelnen ihrer wachen Momente zu schleichen. Dafür war er definitiv nicht raffiniert und berechnend genug. Aber funktioniert hatte es dennoch. Sein Geschenk und dessen Auswirkungen erschwerten es Red in jedem Fall, sich gegen das Kribbeln in ihrer Magengrube aufzulehnen, wann immer es sich bemerkbar machte. Sie konnte spüren, wie die Vernunft, ihre alte, treue Begleiterin, ihr immer mehr entglitt. Red ließ sie ziehen wie auch die Wolken dahin zogen.
     Gerade wollte sie sich nach der Kiste mit den Tomaten bücken, da trug der Wind eine vertraute Stimme an ihre Ohren: „Kann ich helfen?“
     Red hob den Kopf und augenblicklich spiegelte sich in ihrem Gesicht das Lächeln wider, mit welchem Sam Healy jetzt auf sie zukam. Zum Glück war bei diesem Wetter sonst niemand draußen. Red war sich durchaus bewusst, dass sie wie zwei debile Idioten wirken mussten, wenn man sie von außen betrachtete. Sie selbst hatte oft genug beobachtet, wie Menschen sich verhielten, wenn sie einander sehr zugetan waren. Es war ein schönes Gefühl, zweifellos. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass es auch sehr, sehr weich in der Birne machte.
     „Du kommst wie gerufen! Ich wollte gerade die Tomaten reintragen. Wenn du mir da zur Hand gehen könntest...“ Ihr für gewöhnlich eher bissiges Selbst merkte im Stillen an, dass sie nicht nach sich selbst klang. Normalerweise sah sie es nicht gern, wenn Männer ihr Arbeiten abnahm, die sie auch ohne deren Hilfe hätte erledigen können. Sie war selbstständig und unabhängig und das war sie schon vor ihrer Zeit in Litchfield gewesen. Sam ließ sie es jedoch durchgehen. Er war ein Mann und konnte nichts daran ändern, dass er sich vor ihr beweisen und ihr imponieren wollte. Das lag in der Natur. Genau wie die Tatsache, dass sie nicht gerade abgeneigt war, ihm dabei zuzusehen wie er sich bewies.
     „Kein Problem!“ Sam erreichte das Gartentor und trat zu ihr in den umzäunten Bereich. Im Gehen krempelte er sich rasch die Ärmel seines Hemdes hoch. „Ins Gewächshaus, ja?“
     „Ja, bitte!“
     Red beobachtete wie er die große Kiste anhob. Dann ging sie voran durch das Tor, das er hinter sich offen gelassen hatte. Sie wartete bis Sam es ebenfalls passiert hatte, dann schloss sie es wieder. Kaum dass sie das getan hatte, öffnete der Himmel seine Schleusen. Innerhalb eines Wimpernschlages prasselten dicke Tropfen auf die Erde herab und durchnässten alles, was zuvor noch staubtrocken gewesen war.
     Red hastete hinüber zum Gewächshaus, stieß die Tür auf und rettete sich ins trockene Innere. Gleich hinter ihr folgte Sam mit der Kiste. Der Regen hatte große, dunkle Flecken auf seinem hellblauen Hemd hinterlassen und an seiner Stirn klebten ein paar feuchte Strähnen seines silbernen Haares. Red widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und sie beiseite zu streichen. Stattdessen sperrte sie die Nässe aus, indem sie die Tür schloss. Der Lärm des tobenden Gewitters drang weiterhin in das kleine, gläserne Haus, von dem Red nie geglaubt hätte, sie würde sich je darin so wohl fühlen als stünde sie in ihrem eigenen Schlafzimmer, fernab jeglicher Massenschlafsäle und Gemeinschaftsduschen. Der Regen trommelte bedrohlich auf das Dach als habe er dessen Untergang beschlossen.
     „Das war knapp!“, bemerkte Sam und warf Red einen fragenden Blick zu. Erst da fiel ihr auf, dass er ja noch die Kiste in Händen hielt und sie beide nicht hier hinein gestürmt waren, nur um einander verlegen anzusehen.
     „Oh, am besten da drüben...“ Sie deutete auf den fast leeren Holztisch an der Rückwand des Gewächshauses. Während Sam die Kiste darauf abstellte, wischte Red mit ihrem Gartenhandschuh das Gröbste der auf dem Tisch verteilten Blumenerde fort.
     „Die sehen wirklich gut aus.“ Sam musterte die Tomaten, die sich in der Kiste vor ihm tummelten. Sie waren rund, sie waren rot und wären unter ihren Artgenossen im Supermarkt rein äußerlich nicht aufgefallen. Aber natürlich hatte er das nur gesagt, um etwas zu sagen. Und um ihr zu schmeicheln. Red nahm seine Bemühungen wohlwollend zur Kenntnis und lächelte.
     „Wenn du sie kostest, wirst du dich fragen, ob du vorher jemals eine echte Tomate gegessen hast.“
     Erwartungsvoll hob Sam die Brauen. „Darf ich?“
     Red musterte ihn einen Augenblick, dann sagte sie hastig: „Lass mich zuerst probieren, sonst ist das garantiert die erste, ungenießbare Ernte und ich stehe da wie eine eingebildete, ahnungslose Kuh...“
     Sam lachte. Red beugte sich über die Kiste und fischte sich ein vielversprechend wirkendes Exemplar heraus. Sie putzte die Tomate kurz an ihrem feuchten Kapuzenpullover ab, dann biss sie ein Stück heraus. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nicht zu viel versprochen hatte. Die Tomate war knackig und saftig zu gleich, das Fleisch war nicht mehlig, aber der Geschmack intensiv. Mit einem genüsslichen Laut hielt Red dem Mann die Tomate hin. Sam zögerte. Dabei sah er sie genauso verdutzt an wie gestern, als sie ohne zu überlegen ihren Daumen befeuchtet und den Rasierschaum von seiner Haut gewischt hatte. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass er ebenfalls daran dachte. Red gestattete sich nicht, verlegen den Blick zu senken, sondern tat so als sei absolut nichts dabei, sich eine Tomate zu teilen. Es war auch nichts dabei. Wenn man sich nicht gerade im emotionalen Ausnahmezustand befand.
     Endlich hob Sam die Hand und nahm die Tomate entgegen. Red beobachtete ihn genau, während er sie sich in den Mund schob und zu kauen begann. Seine hellblauen Augen weiteten sich und er gab ein ähnlich genussvolles Geräusch von sich wie sie es zuvor getan hatte. Kaum dass sein Mund nicht mehr zu voll zum Sprechen war, setzte er genau dazu an.
     „Oh, wow! Die sind wirklich verdammt lecker, Red. Was...“
     Er verstummte, als Red mit ihrem rechten Daumen über sein Kinn strich. Ein Tropfen Tomatensaft war seinen Lippen entwischt. Red begriff leider viel zu spät, was sie da gerade getan hatte. Schon wieder getan hatte. Sie kam sich vor wie ein unbelehrbares Kind, das einfach nicht aufhören konnte, in eine Kerzenflamme zu fassen, obwohl es genau wusste, dass es sich früher oder später verbrennen würde. Sie musste dringend damit aufhören.
     Wortlos wandte sie sich ab, setzte sich auf die Stelle des kaum hüfthohen Tisches, die sie zuvor frei gewischt hatte, und begann die Tomaten eine nach der anderen zu inspizieren, um etwaige faulige, schimmlige oder mit Ungeziefer verseuchte Exemplare aussortieren zu können. Derweil fand Sam seine Sprache wieder, allerdings nur die Hälfte seiner Fassung. Es tat Red fast leid, dass sie bei ihm immer wieder diesen Knopf drückte, der ihn so zuverlässig aus der Bahn warf. Doch irgendwie genoss sie es auch jedes Mal aufs Neue zu sehen, wie viel sie mit einer einzigen, kleinen Berührung bei ihm bewirken konnte.
     Sam räusperte sich. „Also...was zauberst du denn aus diesen prachtvollen Tomaten?“
     In diesem Augenblick war Red wirklich dankbar für seine Angewohnheit, sich über viele belanglose Themen an das Wesentliche heranzutasten. Hätte er sie hier und jetzt um Klartext gebeten, hätte sie keine Antwort parat gehabt. Sie wusste selbst nicht, wo das alles hinführen sollte. Sie wusste nur, es tat gut.
     „Als Hauptspeise serviere ich heute Pasta mit vegetarischer Tomatensauce. Es sei denn einer der Wärter erklärt sich doch noch bereit, heute Abend die Fleischbeilage zu spielen, aber da hege ich keine großen Hoffnungen...“
     Zwar lachte Sam, aber er wirkte etwas verunsichert. Im Stillen verfluchte Red Nicky. Die Blondine hatte genau diesen Witz beim Frühstück gemacht. Red wusste nicht, wie das überhaupt möglich war, da sie Sam Healy stets nur in Uniform sah, doch für eine kurze Weile hatte sie völlig vergessen, dass er selbst ein Wärter war. Eilends fuhr sie fort, damit er sich nicht mit einer Antwort quälen musste.
     „Jedenfalls mache ich die beste, die weltbeste Tomatensauce, wie sie selbst ein Italiener nicht besser zubereiten könnten. Und ich weiß wovon ich spreche, denn der Italiener, der mir dieses Gericht beigebracht hat, spricht kein Wort mehr mit mir, seit er feststellen musste, dass meine Version seine um Längen übertrifft.“
     Als darauf keine Erwiderung folgte, hob Red den Kopf. Sie hielt die Luft an. Sam musterte sie mit einem so sanften, träumerischen Ausdruck, dass sie sich fragen musste, ob ihre letzten Worte ihn überhaupt noch erreicht hatten.
     „Was ist?“
     Nun schien er sich seiner eigenen Miene wieder bewusst zu werden, denn er tat sein Bestes, sie wieder in den Griff zu kriegen. „Ach, ich...ich dachte nur gerade wie froh ich bin, dass ich kein Koch bin. In dieser Hinsicht sollte man sich wirklich nicht mit dir anlegen...“
     Das brachte Red zum Lachen. „Nein! Wirklich nicht!“ Dann ohne das Gefühl zu haben, sie hätte diese Worte vorher überhaupt gedacht, fragte sie: „Bis wann bleibst du heute?“
     Sam freute sich ganz offensichtlich, dass sie das wissen wollte. Da wurde Red bewusst, dass ihrer Frage die übliche Beiläufigkeit gefehlt hatte.
     „Tja, ähm...das hängt wohl davon ab, wie viel Papierkram ich wegschaffen kann.“     
     Das tat es nicht und das wussten sie beide. Es hing allein davon ab, ob sie ihm die Aussicht auf eine weitere Unterhaltung gab oder nicht. Red fragte sich, ob Sam tatsächlich so viel zu tun hatte oder ob er in seinem Büro nur den Samstag totschlug in der Hoffnung auf ein paar kostbare Minuten der Zweisamkeit mit ihr. Red besann sich auf ihre Stärke, einfach alles beiläufig klingen zu lassen, nahm eine Tomate zur Hand und begutachtete sie so gründlich als hätte sie nie etwas Interessanteres zu Gesicht bekommen.
     „Ich hebe dir einen Teller auf. Dann kannst du dich selbst überzeugen.“
     Sie musste Sam nicht ansehen, um zu wissen wie er reagierte. Es überraschte ihn jedes Mal von Neuem, wenn sie einen Schritt auf ihn zu tat. Wenn sie ehrlich war, überraschte sie sich damit auch jedes Mal selbst. Red hatte keinen Schimmer, wie lange sie ihre gespaltene Persönlichkeit noch ertragen würde. Sie war es nicht gewohnt, vor sich selbst auf der Hut sein zu müssen.
     „Danke. Dann kann ich mich nach all der Arbeit ja auf was freuen...“
     Nach dem Austausch eines knappen Lächelns verfielen sie in Schweigen. Red fuhr fort, die Tomaten durch zu sortieren, während Sam keinen Meter von ihr entfernt stand, die Hände in den Hosentaschen verborgen. Red spürte seinen Blick auf sich ruhen. Sie erwiderte ihn kein einziges Mal. Wenn sie es getan hätte, so kam es ihr vor, wäre sie in der Pflicht gewesen, irgendetwas zu sagen. Wenn sie einmal genau darüber nachdachte, fielen ihr unzählige Dinge ein, über die sie mit Sam Healy hätte sprechen können. Umgekehrt war es sicher genauso. Der Grund, weshalb sie sich immer wieder anschwiegen statt sich angeregt zu unterhalten, war der, dass sie es nicht wagten, die eingetretenen, sicheren Pfade zu verlassen, auf denen sie sich all die Jahre über gemeinsam bewegt hatten. Und nicht zuletzt machten es die ungewöhnlichen Umstände, unter denen sie sich kennen gelernt und diese lange Zeit zusammen verbracht hatte, noch zusätzlich schwer, ein normales Gespräch zu führen.
     So schwiegen sie also und lauschten dem Regen, der unverändert energisch auf das lichtdurchlässige Wellblechdach trommelte. Lange kam Sam jedoch nicht damit zurecht. Bevor er das Wort ergriff, hatte Red es förmlich in seinem Schädel rattern hören können.
     „Wie geht es eigentlich deinem Rücken heute?“
     Die Tomate, die Red soeben im schwachen Licht des wolkenverhangenen Tages hatte betrachten wollen, glitt ihr aus den Fingern und plumpste zurück in die Kiste. Ohne Vorwarnung streckte sie die Hände nach Sam aus und ergriff seinen rechten Arm. Wie hatte sie das nur vergessen können? Nachdem sich ihre Dankbarkeit ihm gegenüber seit dem Aufwachen Stunde um Stunde höher geschaukelt hatte, war ihr in der Sekunde, da er endlich vor ihr gestanden hatte, entfallen, dass sie ihm unbedingt danken wollte.
     „Sam! Es ist unglaublich! Jahrelang bin ich nur mit einem Schmerz herumgelaufen und plötzlich habe ich wieder einen Rücken! Danke! Vielen, vielen Dank, Sam!“ In diesem Moment war sie so überwältigt von ihrer Freude darüber, dass sie dem Mann am liebsten beide Handrücken geküsst hätte. Sie konnte wohl von Glück reden, dass er die Hände noch immer in den Hosentaschen hatte.
     Ihre überschwängliche Freude sprang auf ihn über und ein breites Lächeln entblößte seine weißen Zähne. „Gern geschehen, Red. Wirklich gern. Ich bin froh, dass ich dir was Gutes tun konnte.“ Langsam aber sicher wich das Lächeln aus seinem Gesicht, in dem mit einem Mal eine Veränderung vor sich ging. Etwas Tollkühnes lag in seinen Augen. Seine rechte Hand glitt aus der Tasche und strich sanft über die Strähnen roten Haares, die ihr in die Stirn fielen. „Ich bin immer froh, wenn ich...wenn ich dir das Leben hier...ein bißchen erleichtern kann...“
     Red hielt den Atem an. Ihr ganzer Körper versteifte sich, als Sam den kleinen Abstand zwischen ihnen überwand und direkt vor ihr zum Stehen kam. War es der Regen, der da so rauschte? Oder war es das Blut, das ihr aufgeregtes Herz wie wild durch ihre Adern pumpte? Red verkrampfte sich immer mehr, während sich in ihr eine waschechte Panik anbahnte. Es war genau wie gestern, als sie nebeneinander auf dem Sofa in seinem Büro gesessen hatten. Natürlich hatte sie bemerkt, dass Sam für einen kurzen Augenblick ernsthaft versucht gewesen war, sie zu küssen. Es war von Vorteil, dass dieser Mann sich nur allzu leicht entmutigen ließ, so hatte es in jener Situation gereicht, sich lediglich von ihm abzuwenden. Doch jetzt und hier im Gewächshaus war es anders. Er hatte ihr Haar berührt. Das hatte er noch nie getan. Er beschränkte sich auf ihre Schultern, ihre Arme, sichere Stellen, die ihn nur schwerlich in Schwierigkeiten hätten bringen können. Auch ihre Umarmung war nicht von ihm ausgegangen, sondern von Red. Er hatte sie sich vielleicht gewünscht, aber er hätte es nie gewagt, eine solche Intimität vorzuschlagen, geschweige denn sie selbst zu initiieren. Er war ein Feigling, was diese Dinge anging. Er nahm sich nicht einfach, was er wollte. Und doch berührte er ihr Haar. Seine Fingerkuppen strichen über ihre Schläfe, wanderten über ihre Wange. Seine Augen verrieten, dass er den Rest der Welt vergessen hatte. Red prügelte mit all ihrer Willenskraft auf ihr dummes, dummes Herz ein, damit es sie nicht mit voller Wucht ins offene Messer laufen ließ. Es gelang ihr. Aber im Nachhinein kam es ihr vor als wäre der Schmerz viel größer als wenn sie sich dieses Messer in die Brust hätte rammen lassen.
     Ehe Sam die letzten Zentimeter, die sie noch trennten, überwinden konnte, drehte Red den Kopf weg und ließ ihn gegen seine Schulter sinken. Wie erwartet war Sam zu verwirrt und überrascht, um irgendetwas zu sagen. Red starrte zur gläsernen Wand, gegen die der Wind den Regen jetzt in heftigen Salven peitschte. Ein tiefes Donnern rollte über ihre Köpfe hinweg. Der Duft von Sams Rasierwasser stieg Red in die Nase. Sie konnte seinen Herzschlag an ihrer Wange spüren.
     „Meine Babuschka sagte immer: Es gibt nur zwei Dinge, die die Zeit einfrieren können – Schnee und zu viel Wodka. Na ja, man muss bedenken, sie wuchs in einem kleinen, kalten Dorf ohne Strom auf...“
     Als Red keine Anstalten machte, weiterzusprechen oder sich zu rühren, kam Sam wohl zu dem Schluss, dass er an der Reihe war, etwas zu erwidern. Aus seiner Stimme klang eine seltsame Mischung aus Ernüchterung und Hoffnung. Er war enttäuscht, dass sie den Kuss verhindert hatte. Gleichzeitig schien er zu glauben, ihr Kopf an seiner Schulter sei ein gutes Zeichen. Eine Art Versprechen auf mehr zu einer späteren Zeit. Red wünschte sich, sie hätte ihm seine Naivität und seinen übertriebenen Hang zur Romantik übel nehmen können. Doch sie konnte es nicht. Seit er zurück war, schien sie ihm gar nichts mehr übel nehmen zu können. Sie fühlte sich entwaffnet.
     „Was...soll das bedeuten?“
     Red hätte seinem Herzschlag lieber noch etwas länger gelauscht. Aber sie wusste, sie hatte es schon viel zu lange getan. Langsam hob sie den Kopf und blickte in Sams Augen. Seine Lippen umspielte ein kaum merkliches Lächeln. Er wartete. Und er hoffte. Red hasste sich für ihr rationales Wesen.
     „Es schneit nicht, Sam. Es regnet nur. Die Zeit ist nicht eingefroren.“
     Sams dunkle Brauen zuckten in einem Anflug von Ratlosigkeit. In seinen Augen stand noch immer die Hoffnung. In ihm war sie wie ein Tier, das niemals die Flucht ergriff, ganz gleich wie viele Steine man nach ihm warf. Er verstand nicht, was Red ihm sagen wollte. Was sie eigentlich meinte, war, dass sich nichts geändert hatte. Die Welt außerhalb des Gewächshauses war ihnen noch genauso feindselig gesonnen wie eh und je, diese ganze Sache war genauso unmöglich wie immer. Sie hätte es wohl für ihn buchstabieren müssen. Doch sie tat es nicht. Vielleicht weil sie es ebenso wenig wahrhaben wollte wie er.
     Sanft aber bestimmt schob Red ihn von sich, sodass sie von der Kante des Holztisches gleiten konnte. „Ich muss langsam mit den Vorbereitungen anfangen, sonst wird das heute ein Mitternachtsdinner.“
     Red war froh, dass Sam keinen Blick auf seine Armbanduhr warf. Es stimmte zwar, dass sie einige Zeit brauchen würde, um das Dinner zuzubereiten, aber nicht die vollen sieben Stunden, die bis dahin noch vergehen würden. Sie hätte alle Zeit der Welt gehabt, sich von ihm küssen zu lassen.     Sam schaute zu den verregneten Glasscheiben, die sie umgaben. „Sollten wir nicht besser warten, bis der Regen etwas nachlässt?“
     Red schnaubte. „Ich bin nicht aus Zucker!“
     Sie bereute sofort, das gesagt zu haben. Nicht weil es nicht wahr gewesen wäre. Sie hatte sich nur gründlich im Tonfall vergriffen, es gebellt wie eine genervte Antwort oder einen Befehl, den sie ihren Küchensklaven erteilte. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie wütend war. Nicht auf Sam. Auf sich selbst.
     Genau wie sie es befürchtet hatte, verstand Sam ihre Worte als Angriff. Er stand da wie ein begossener Pudel in seinem feuchten Hemd, das ihm von den nun hängenden Schultern fiel. Es hätte offensichtlicher nicht sein können, dass er keinerlei Durchblick mehr hatte. Je länger Red ihn in diesem erbarmungswürdigen Zustand sah, desto mehr füllte sich ihr Inneres mit Bitterkeit, Frust und Zorn an. Sie musste dringend von hier verschwinden, sonst – das wusste sie genau – würde sie ihm noch mehr antun, das er nicht verdient hatte.
     Wortlos hob Red die Kiste mit den Tomaten vom Tisch.
     „Die kann ich doch nehmen! Wir gehen doch beide zurück...“
     Red schluckte, war sich ihrer eigenen steinernen Miene voll und ganz bewusst. Nach außen hin wirkte sie kalt. Sie wollte es nicht, aber es war ein Abwehrmechanismus, den sie sich im Laufe ihres Lebens angeeignet hatte und jetzt nicht einfach abschalten konnte.     „Du kannst die Tür öffnen. Danke.“
     Einen Moment lang stand Sam noch da und musterte sie. Red erwiderte seinen Blick nicht. Doch ein Teil von ihr hoffte, er würde sie jetzt nicht ziehen lassen. Sie sah ihm nach, dass er es doch tat. Im Grunde hatte sie ihm keine Wahl gelassen. Wahrscheinlich war es sogar besser so.
     Niedergeschlagen trottete Sam voran. Der Regen fiel ins Gewächshaus ein und tränkte die Holzdielen, kaum dass Sam die Tür geöffnet hatte. Statt hinaus zu gehen, blieb er daneben stehen und wandte sich nach Red um. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, trat sie über die Schwelle hinaus in den strömenden Regen. Sobald sie an ihm vorbei war, beschleunigte sie ihre Schritte, was nicht das Geringste mit den kalten, dicken Tropfen zu tun hatte, die sie auf jedem weiteren Meter mehr und mehr durchnässten. Red musste sich nicht umdrehen, um Gewissheit zu haben. Sie hörte, dass Sam ihr nicht folgte.
     Auf den letzten Metern bis zum Eingang des Gefängnistrakts stieß Red sämtliche Flüche in ihrer Muttersprache aus, die ihr einfielen. Und allesamt galten ihr selbst. Mit dem Ellbogen drückte sie die Klinke herunter, mit dem Fuß stieß sie die Tür auf. Als sie sich in den trockenen Flur rettete, war sie kein Stück erleichtert. Etwas außer Atem stellte sie die Holzkiste zu ihren Füßen ab und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür sacken. Mit finsterer Miene strich sie sich das nasse Haar zurück und starrte in den Korridor, der sich vor ihr erstreckte. Dann und wann schlenderten ein paar Frauen von einem Raum in den anderen, aber niemand kam in ihre Nähe, niemand wurde Zeuge des Sturmes, der in ihr mindestens genauso heftig wütete wie das Gewitter draußen.
     Eine Minute verging, bis Red klar wurde, was sie soeben getan hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt vor etwas oder jemandem davon gelaufen war. Sie wollte sich auch gar nicht erinnern. Sie lief niemals vor etwas davon! Wäre es wenigstens ein bis an die Zähne bewaffneter Mafioso mit dem Auftrag, sie zu töten, gewesen. Aber sie hatte die Flucht ergriffen vor Sam Healy, dem butterweichsten, warmherzigsten, verletzlichsten Mann, dem sie je begegnet war. Red stieß geräuschvoll die Luft aus und presste sich für einen Moment die Hände auf das noch feuchte Gesicht. Als sie sie wieder sinken ließ, schüttelte sie den Kopf. Sie konnte nichts daran ändern, dass sie sich nach Sams Nähe sehnte. Aber wenn sie so weitermachte wie bisher, würde es sie selbst früher oder später in den Wahnsinn und Sam in den nächsten tiefen Abgrund treiben. Beides wollte sie auf keinen Fall verantworten. Es war Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
     Als Red sich bückte, um die Kiste wieder anzuheben, fuhr plötzlich ein Schmerz durch ihren Rücken, der ihr nur allzu bekannt vorkam. Sie verzog das Gesicht, fasste sich ans Kreuz und richtete sich langsam wieder auf. Es war wohl Zeit für eine weitere Behandlung mit Sams Salbe. So etwas wie Wunder gab es eben doch nicht. Red lehnte sich abermals an die Wand, um abzuwarten bis der erste Schmerz ein wenig abgeklungen war. Mit glasigem Blick stand sie da und fragte sich, ob sie Sam an diesem verregneten Samstag noch einmal sehen würde. Streng genommen waren sie für den späten Abend verabredet. Sie hatte ihm einen Teller Pasta versprochen. Wenn sie es jedoch aus seiner Sicht betrachtete, hatte dieses Angebot nach dem Ende ihrer Gewächshausepisode stark an Reiz verloren. Die Vorstellung, sie würde ihn erst am Montag wiedersehen, lud ihr ein drückendes, bleiernes Gefühl der Schwere auf die Brust.
     „Du blöde, alte Pute!“, fluchte Red leise, während sie sich ein zweites Mal bückte und die Tomatenkiste hochhievte.
     
     Sam Healy war gründlich verwirrt. Seit einer halben Stunde hockte er in seinem Drehstuhl und starrte mal hierhin, mal dorthin, ohne auch nur ein einziges Objekt in seinem Büro ansatzweise wahrzunehmen. In Händen hielt er noch immer das Handtuch, mit dem er sich Haare und Gesicht abgetrocknet hatte. Eine Viertelstunde lang hatte er noch an der offenen Tür des Gewächshauses gestanden und der längst verschwundenen Red nachgeschaut. Es war ihm klüger erschienen, ihr nicht zu folgen und ihr einen Vorsprung zu lassen. Was immer sie von einem Moment auf den anderen so wütend gemacht hatte, es musste mit ihm zusammenhängen. Sie war bester Laune gewesen, als sie sich vor dem Gewächshaus begegnet waren. Sie hatte diese Tomate mit ihm geteilt, sie hatte ihm über das Kinn gewischt, sie hatte gelacht, sie war ausgelassen gewesen. Er hatte es in den Sand gesetzt.
     Mit einem schweren Seufzen warf Sam das Handtuch auf den Tisch und fuhr sich mit den nun freien Händen übers Gesicht. Dann stützte er das Kinn auf und starrte das nächste Loch in die Luft. Gestern noch hatte er sich vorgenommen, sein Tempo zu drosseln, damit er Red mit seinen Gefühlen nicht überrollen würde wie ein Zug in voller Fahrt. Keine vierundzwanzig Stunden später hatte er schon wieder versucht, sie zu küssen. So sehr Sam sich auch danach sehnte, genau das zu tun, er hatte keine Ahnung, woher er den Mut für einen zweiten Anlauf genommen hatte, nachdem Red bereits den ersten hatte scheitern lassen. Sie war nicht die erste Frau in seinem Leben, die ihn abgewiesen oder hatte zappeln lassen. Doch sie war definitiv die erste, die es schaffte, ihm das Gefühl zu geben, ihn in ein und demselben Moment zu wollen und nicht zu wollen. Als wäre er in einen dieser dämlichen Zwillingsfilme gestolpert, in dem eine Zwillingsschwester verliebt in ihn war und die andere ihn am liebsten zum Teufel jagen wollte. Eigentlich hatte er Galina Reznikov nie für eine wankelmütige Frau gehalten. Sie wusste immer, was sie wollte, und sie kämpfte stets hart, furchtlos und unermüdlich dafür. Konnte es sein, dass sie in dieser einen Angelegenheit unentschlossen war? Oder hatte sie urplötzlich das Interesse an ihm verloren? War er zu aufdringlich gewesen?
     Ein Klopfen an der Tür riss Sam aus dem schwindelerregenden Karussell seiner Gedanken und ließ ihn aufschauen. Ohne dass er seine Erlaubnis erteilt hätte, wurde die Tür von außen geöffnet und eine junge Frau mit blonder Mähne spähte herein. Nicole Nichols tauchte nicht gerade oft auf seiner Schwelle auf. Aber selbst wenn sie eine seiner Lieblinge gewesen wäre, hätte Sam jetzt keinen Hauch von Freude verspürt, sie zu sehen und sich auf eine Unterhaltung einzulassen.
     „Hey, Sie sind ja echt da! Haben Sie 'ne Minute?“
     Wie es der Zufall wollte, fiel sein Blick genau in dem Moment auf sein rechtes Handgelenk. Sein Hemd hing tropfend an der Garderobe, weshalb das grüne Armband nicht wie üblich unter dem Ärmel verborgen blieb. Sieh das Positive. So sehr ihm auch danach war, Nichols mit ein paar genervten Worten aus dem Büro zu werfen, Sam riss sich zusammen. Im Stillen ermahnte er sich selbst. Er war nicht nach Litchfield zurückgekehrt, um Galina Reznikov zu erobern. Sondern um die Aufgaben zu meistern, an denen er hier einst so kläglich gescheitert war. Zumindest hatte er sich das recht erfolgreich eingeredet.
     Nichols wartete auch diesmal nicht auf seine Antwort, schlüpfte ins Büro, ließ die Tür hinter sich offen und nahm wie selbstverständlich auf dem freien Stuhl ihm gegenüber Platz. Sam rang sich kein Lächeln ab, bemühte sich aber zumindest, nicht allzu abweisend zu klingen.
     „Eigentlich bin ich gar nicht hier...“ Seine Augen wanderten über die drei Stapel von Akten, die er auf der rechten Seite des Tisches aufgetürmt hatte. Seit er an diesem Morgen ins Büro gekommen war, hatte er noch keine einzige davon aufgeschlagen. Er war zu beschäftigt damit gewesen, sich Gedanken über die bevorstehende Begegnung mit Red im Gewächshaus zu machen. Er wandte sich an Nichols. „Ich meine, ich bin heute nur hier, um Papierkram zu erledigen. Kann das, was Sie auf dem Herzen haben, vielleicht noch bis Montag warten?“
     Die Insassin runzelte die Stirn. „Wieso? Sie sind hier, auch wenn Sie nicht hier sind, ich bin hier und...na ja, wenn ich das richtig sehe, hatten Sie immerhin Zeit für einen Spaziergang im Regen.“ Ihre dunklen Augen wanderten von seinem noch leicht feuchten Haar über das am Kragen nasse T-Shirt, das er trug, bis zu dem tropfenden Hemd, welches er zum Trocknen über den Garderobenständer gehängt hatte. Schließlich kehrte sie zu seinem Gesicht zurück und zuckte die Achseln. „Ich mein' ja nur...“
     Sam gab sich geschlagen. Er gab ihr nicht gerne nach, aber ihm fehlte die Energie, sich gegen sie aufzulehnen. Mit einem resignierenden Seufzen und einer Geste seiner Hand bedeutete er ihr, ihr Anliegen vorzutragen.
     „Also, es geht um die Suchthilfegruppe. In den letzten paar Wochen is' das irgendwie ganz schön ins Schleifen geraten und...“
     Sams Gedanken trieben davon in einem plätschernden Rinnsal der Sehnsucht, das gelegentlich die Ausmaße eines tosenden Wasserfalls annehmen konnte. Leider immer zu den unpassendsten Gelegenheiten wie es schien. Er dachte an ihr locker verabredetes Treffen am Abend. Sam war hocherfreut gewesen, als Red ihn dazu eingeladen hatte. Alles, was sie zubereitete, war eine Gaumenfreude, doch Sam hätte nur zu gern auf ihre Speisen verzichtet, wenn er dafür einen kleinen Einblick in ihr Innenleben hätte bekommen können. War sie sauer auf ihn? Und wenn ja, bedeutete das, er solle heute Abend lieber einen großen Bogen um die Küche machen? Aber selbst wenn sie ihm das ins Gesicht gesagt hätte, wäre Sam nicht sicher gewesen, ob er es übers Herz gebracht hätte, ihrem Wunsch zu entsprechen und sie erst am Montag wiederzusehen. Nein, er würde hingehen. Auch wenn das bedeutete, dass es zur Pasta einen weiteren Korb gab.
     „...Healy? Mister Healy? Oh, großartig, Sie hören mir gar nich' zu. Jetzt weiß ich, was sie damit meinten, sie wären gar nich' da...“
     Sam blinzelte seinen verklärten Blick fort und musterte die junge Frau vor sich. Sie hatte vollkommen recht: kein einziges ihrer Worte war zu ihm durchgedrungen. Er hätte sich wohl schuldig fühlen sollen. Aber er tat es nicht. Sein Inneres war zum Bersten mit widersprüchlichen und niederschmetternden Gefühlen gefüllt, da war einfach kein Platz mehr. Einen Moment starrte Nichols ihn noch erwartungsvoll an, dann verdrehte sie die Augen und stand auf.
     „Schon kapiert! Ich verzieh mich. Vielleicht können wir dieses anregende Gespräch ja am Montag fortsetzen, aber vergessen Sie nich' ihre Psyche mitzubringen...“
     Sie war schon fast bei der Tür, als Sam plötzlich etwas klar wurde. Die Erkenntnis hatte sehr, sehr lange gebraucht, um durch seine verstopften Gehirnwindungen zu ihm durchzudringen: Nichols war wie eine Tochter für Red. Wahrscheinlich gab es keinen Menschen hier drinnen, der die temperamentvolle Köchin besser kannte.
     „Nichols!“, rief er viel barscher als beabsichtigt. Sie zuckte zusammen und drehte sich mit einem Ausdruck zu ihm um als befürchtete sie einen üblen Anschiss. Sam räusperte sich und schlug einen bemüht freundlichen Tonfall an. „Kann ich Sie etwas fragen?“
     „Sie können mich alles fragen, was Sie wollen. Aber ich kann nich' versprechen, dass ich auf alles antworten werde. Wenn Sie jetzt zum Beispiel fragen würden, wie Lesben Sex haben, dann-“
     Sam wusste ganz genau, dass sie dieses Thema lediglich anschnitt, um ihn zu reizen. Sie hatten in früheren Unterhaltungen bereits zur Genüge festgestellt, dass sie diesbezüglich auf keinen gemeinsamen Nenner kommen konnten. „Das brauche ich wirklich nicht zu wissen.“
     Nichols machte eine wegwerfende Geste. „Keine Sorge, Sie können sich nicht anstecken. Sie haben keine Vagina...soweit ich weiß...“
     Ihre Augen wanderten an ihm herab als habe sie tatsächlich vor, das zu überprüfen. Sam stieß die Luft aus und hatte alle Mühe, nicht auf ihre Provokationen einzugehen. Das wäre ihm früher nicht gelungen. In der Therapie hatte er nicht nur gelernt, sich mit den Dingen zu arrangieren, die ihn an ihm selbst störten, sondern auch an anderen. Dass er etwas von Nichols wollte, machte es ihm noch leichter, nicht zurück zu bellen.
     „Okay, okay! Können wir das vielleicht mal beiseite lassen, nur für einen Augenblick? Ich weiß, unsere Ansichten...unterscheiden sich da ein wenig.“
     Ein breites Grinsen zog sich über das Gesicht der Insassin. „Ein wenig, ja.“ Sie schlenderte zurück zum Schreibtisch und stützte sich mit den Unterarmen auf die Rückenlehne des leeren Stuhls. „Was wollen Sie wissen?“
     Nun, da sie bereit war ihm zuzuhören, war sich Sam mit einem Mal nicht mehr so sicher, ob das hier wirklich eine so gute Idee war. Wie er sein Glück kannte, würde sie ihn auf Anhieb durchschauen. Er zögerte noch kurz. Nur um dann doch seinem Plan zu folgen. Wem wollte er etwas vormachen? Er war viel zu verzweifelt und ratlos, um diese Gelegenheit, etwas Licht ins Dunkel zu bringen, verstreichen zu lassen.
     „Es...ähm...es geht um Red.“
     Nichols senkte die Stimme auf ein verschwörerisches Flüstern. „Glauben Sie, wir haben sie umgedreht?“
     Sam kämpfte gegen den Drang an, die Brauen zu verengen. „Nein, das...das ist nicht das, was ich...nein.“ Er seufzte. „Ich mache mir Sorgen um sie.“
     Die Miene der jungen Frau lieferte keinen Hinweis darauf, ob sie daraus irgendwelche fatalen Schlüsse zog. Streng genommen war es ja Sams Job, sich Sorgen um die Frauen von Litchfield zu machen. Doch wenn er ehrlich war, hätte jedem, der nur etwas genauer hinschaute, schnell auffallen können, dass er sich um manch eine mehr sorgte als um andere.
     „Warum?“
     „Sie wirkt irgendwie...verändert.“
     Nichols' rechter Mundwinkel zuckte. „Sie meinen heißer als sonst.“
     Sam spürte die Hitzewelle über sich hinweg schwappen und hoffte inständig, sie würde sich nicht auf seinen Wangen zeigen. „Nein!“ Er ließ es klingen als sei dies der abwegigste Gedanke der Welt. Am liebsten hätte er die Augen gesenkt, um dem bohrenden Blick des braunen Paares zu entgehen, aber das wäre wohl viel zu auffällig gewesen. So hielt er Nichols' Blick weiter tapfer stand. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn längst verstanden hatte, es jedoch viel zu sehr genoss, ihn zu quälen, um das zuzugeben. „Ich habe vorhin mit ihr gesprochen und sie wirkte ein wenig...wütend.“
     „Auf Sie?“
     Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass dieses Gespräch in eine gefährliche Richtung verlief. Nichols hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie überhaupt nach Red zu fragen, war dumm gewesen. Er konnte ihr nicht die Wahrheit über die Situation zwischen ihnen sagen, doch um eine aufschlussreiche Antwort zu erhalten, hätte er das tun müssen. Unsicher wie er sich aus der Schlinge winden sollte, ruderte Sam zurück.
     „Nein, nicht auf mich. Eher...so allgemein.“
     Nichols kniff die Augen zusammen und rieb sich mit einer Hand das Kinn. „Ein wenig wütend...so allgemein...“ Sie gab ein nachdenkliches Brummen von sich. Dann plötzlich riss sie die Augen auf als hätte sie ein erhellender Blitz getroffen. „Oh, klar! Jetzt weiß ich was los is'!“
     Mit einem Mal wie elektrisiert richtete sich Sam im Sitzen auf und beugte sich wissbegierig zu ihr vor. „Sie wissen es?“
     Die erhellte Miene fiel von Nichols' Gesicht wie eine Maske. „Das war sarkastisch.“
     Enttäuscht sank Sam zurück gegen die Rückenlehne seines Stuhls. „Natürlich...“
     Nichols richtete sich auf und zuckte mit den Schultern. „Sorry, Mister! Ich kenne Red vielleicht ziemlich gut, aber manchmal is' es leichter ihr Russisch zu verstehen als das was sie tut.“ Sie stutzte. „Und ich sprech' nich' mal Russisch...“
     Sam wünschte, er hätte sie gar nicht erst nach Red gefragt. Zu wissen, dass nicht mal eine ihrer engsten Vertrauten wusste, wie man sie dann und wann zu nehmen und zu deuten hatte, war ziemlich entmutigend. Für eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm und fast immer aussprach, was sie dachte, gab Red ihm erstaunlich viele knifflige Rätsel auf.
     „Es gibt nur zwei Dinge, die die Zeit einfrieren können – Schnee und zu viel Wodka...“
     Sam war gar nicht bewusst, dass er das laut gesagt hatte, bis Nichols' verwirrt das Wort ergriff. „Also...falls das 'n Witz is', versteh' ich ihn nich'.“
     Sam zuckte mit den Schultern und konnte ein leises, leicht verzweifeltes Lachen nicht unterdrücken. „Ich auch nicht...“
     „Okay...“ Mit hochgezogenen Brauen entfernte sich Nichols im Rückwärtsgang vom Tisch als wäre es nicht ratsam, Sam in seinem derzeitigen Zustand den Rücken zuzukehren. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie hinaus auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu.
     Kaum dass sie weg war, entwich seinen Lungen ein weiterer langer, tiefer Seufzer. Eine Weile wanderte sein Blick ziellos durchs Büro. Irgendwie zog ihn das leere Sofa ihm gegenüber dabei wie magnetisch an. Es stand nur da, so wie immer. Doch nach dem gestrigen Vorfall darauf – oder vielmehr nach dem Vorfallen, der es nicht geschafft hatte, ein Vorfall zu werden – kam es ihm vor wie ein Denkmal für seine Feigheit und Unfähigkeit. Verstimmt drehte sich Sam auf dem Stuhl weg, sodass er das Sofa nicht mehr sehen konnte.
     Abermals streiften seine Augen das grüne Armband. Er nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und rieb das Material. Unterdessen fragte er sich, was an diesem Samstag das Positive war. Er musste nicht lange nach der Antwort suchen. Schon spürte er, wie sich seine Lippen zu einem kleinen Lächeln kräuselten, als ihm wieder einfiel, wie Galina im Gewächshaus den Kopf gesenkt und sich an seine Schulter geschmiegt hatte. Die Erinnerung wurde etwas getrübt von der Tatsache, dass sie das wohl vor allem getan hatte, um dem Kuss zu entgehen, den er ihr fast gegeben hätte. Aber war das wirklich ein schlechtes Zeichen? Sie hätte das auch ganz anders bewerkstelligen können. Mit einer Ohrfeige, einer klaren Ansage oder einem fluchtartigen Aufbruch. Alles Dinge, die er schon erlebt hatte. Red war zwar geflohen, allerdings nicht als unmittelbare Reaktion auf seinen Annäherungsversuch. Sie hatte den Kuss verhindert, aber wenn Sam genau darüber nachdachte, war sie in keinster Weise abweisend gewesen. Sie hatte ihn nicht weggestoßen oder war zurückgeschreckt. Sie hatte sich vorgebeugt und an ihn gelehnt. Das tat doch niemand, der weg wollte.
     Sam lächelte. Seit Red das Gewächshaus verlassen hatte, war sein Magen von einem flauen Gefühl erfüllt gewesen. Nun gesellte sich ein leichtes Kribbeln dazu, das – wie er sich kannte – bis zum Abend bereits wieder seinen gesamten Körper mit einem hoffnungsvollen Glühen infiziert haben würde.

     Red hockte an einem der metallenen Zubereitungstische und blickte finster in den großen Küchenraum. Die übrigen Frauen, die Dienst hatten, waren in einer Ecke versammelt, so weit weg von ihr wie möglich. Seit sie aus dem Garten hierher zurückgekommen war, hatte Red keine einzelne Gelegenheit ausgelassen, um ihre Mitinsassinnen zur Schnecke zu machen. Selbst Norma, die Red im Grunde immer ertragen konnte, da sie sie nur einfach nicht anzusehen brauchte, wenn sie von ihr keinen Kommentar haben wollte, hatte sich vor ihr zurückgezogen. Sie war eine der wenigen, die jetzt nicht nur herumstanden und tuschelten. Stattdessen reinigte sie eher halbherzig einen der Herde. Sie war die Einzige, die es noch wagte, hin und wieder zu Red hinüber zu spähen. Alle anderen vermieden das strikt. Aber natürlich sprachen sie trotzdem über Red. Sie konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Am Morgen war sie noch die personifizierte Freude gewesen. Nun brodelte sie schon seit Stunden vor sich hin wie ein Kochtopf, der kurz vor der Explosion stand.
     Missmutig löste sich Red von Norma, die schon zum hundertsten Mal über dieselbe, saubere Stelle wischte, während sie sie beobachtete. Vor ihr auf dem Tisch stand die Kiste mit den frisch geernteten Tomaten. Das Schneidebrett war leer, das Messer daneben unberührt. Sie hatte die Vorspeisensuppe fertig und den Kuchen hatte sie in den Ofen geschoben. Seitdem saß sie hier und tat gar nichts mehr. Die ersten beiden Speisen hatte sie beängstigend energisch zubereitet und so schnell wie wahrscheinlich nie zuvor in ihrem Leben. Es war die Wut auf sich selbst gewesen, die sie so angetrieben hatte. Jetzt war dieses Gefühl abgeflaut. Zurück blieb nur bedrückendes Bedauern. Seit Stunden reflektierte sie in Gedanken über die Ereignisse im Gewächshaus, sezierte ihr eigenes Verhalten und wog jeden einzelnen Aspekt davon genau ab, um herauszufinden, ob sie sich richtig oder falsch verhalten hatte. Sie war diesbezüglich zu keinem Schluss gekommen.
     Red nahm eine Tomate aus der Kiste. Gedankenversunken drehte sie sie in den Fingern. Es gab so viele Rezepte auf der Welt, in denen Tomaten eine große Rolle spielten. Und es gab so viele, in denen sie absolut nichts verloren hatten. Mit manchen Zutaten waren Tomaten eben inkompatibel. Es passte einfach nicht zusammen. Egal wie man zubereitete oder würzte. Es konnte nicht gut gehen...
     „Hey, Red. Wie läuft's mit dem Hackbraten?“
     Nickys Stimme holte sie nur langsam zurück in die Realität. Red hatte sie gar nicht kommen sehen. Als sie jetzt aufschaute, blickte sie in das vertraute, schiefe Lächeln der jungen Frau.
     „Vielleicht sind sie einfach inkompatibel...“
     Nicky hob die Brauen. „Wer?“
     „Die Tomaten.“
     Das Lächeln verschwand aus Nickys Gesicht und hinterließ eine Spur von Verwirrung. „Klar! Passiert mir auch ständig, dass ich zwei Früchte derselben Art habe, die einfach nich'-“
     „Tomaten sind keine Früchte, sie sind Gemüse. Fruchtgemüse, um ganz genau zu sein.“
     Nicky starrte sie an mit einer Mischung aus Belustigung und Genervtheit. Red senkte den Blick und legte die Tomate aus ihrer Hand vor sich auf das Schneidebrett. Es tat ihr leid, dass sie so eklig zu ihrem Schützling war, aber sie konnte einfach nicht anders. Ihre Situation war über die Maßen frustrierend und sie konnte nicht einmal zu Sam Healy, dem Berater in allen Lebenslagen, gehen, um das Problem zu diskutieren. Denn er war Teil des Problems.
     Unsicher, ob sie darüber erfreut sein sollte, sah Red zu, wie Nicky sich auf einem Stuhl neben ihr niederließ. Gleich darauf verlegte Red sich wieder auf die Betrachtung der Tomate. Sie hatte das ungute Gefühl, Nicky hätte ihr nur einmal tief in die Augen schauen müssen, um zu wissen, was in ihrem Innern vor sich ging.
     „Mann, was heute nur mit allen los? Muss an diesem beschissenen Wetter liegen...“
     Red schnaubte, ehe sie sich besinnen konnte. „Blödsinn! Das Wetter hat rein gar nichts damit zu tun!“
     Nicky grinste. „Na, dann liegt's wohl an den Tomaten, was?“
     Red funkelte sie an. Es wäre wohl das Beste gewesen, sie hätte sich einfach in der Kühlkammer eingesperrt und jeglichen sozialen Kontakt gemieden, bis die dunklen Wolken über ihrem Gemüt sich verzogen und sie wieder die Kontrolle über ihre Gefühle erlangt hätte. Jedoch war sie sich nicht sicher, ob sie dann nicht hätte erfrieren müssen.
     „Bist du nur gekommen, um meinen ohnehin schon stark strapazierten Nerven den Rest zu geben?“
     Dass Nickys Blick daraufhin hinüber zu Norma wanderte, die sie zweifellos die ganze Zeit über beobachtete, besänftigte Red auch nicht gerade. Es hätte sie kein bißchen gewundert, hätte sie es Norma zu verdanken, dass Nicky hier angetanzt war, um ihr auf den Zahn zu fühlen. In ihrer Gruppe gaben alle aufeinander Acht und für gewöhnlich war Red sehr stolz darauf. Jetzt gerade hätte sie aber gut und gerne darauf verzichten können. Ein Boxsack wäre ihr gelegener gekommen.
     Nicky sah sie wieder an. „Ganz ruhig, Red. Ich bin's – die gute, alte Nicky.“ Sie setzte ein breites Lächeln auf. „Ich bin nur gekommen, um 'n bißchen zu plaudern und zu gucken, ob ich dir vielleicht helfen-“
     „Dein kleines Fickhäschen wird nicht zu meinem Dinner kommen!“, fiel Red ihr abermals ins Wort.
     „Okay!“, gab Nicky mit nicht weniger Nachdruck zurück und schüttelte leicht den Kopf, wobei ihr eine dicke Strähne ihres wilden Haares ins Gesicht fiel. Sie strich sie zurück und atmete tief durch. „Wie gesagt: ich wollte dir nur-“
     „Gut. Dann mach dich nützlich und hilf mir, diese verdammten Tomaten zu schneiden.“ Damit drückte Red ihr das unbenutzte Messer in die Hand und schob ihr das Schneidebrett unter die Nase. Nicky befand es wohl für klüger, sich nicht zu widersetzen, denn sie fing sofort an, die einzelne Tomate, die Red herausgepickt hatte, klein zu schneiden. Neben ihr stützte Red das Kinn auf eine Hand und streifte zum wiederholten Male die Umgebung mit einem desinteressierten, düsteren Blick. Sie sah wie sich die Frauen in der Ecke gerade noch rechtzeitig abwandten, als Red in ihre Richtung schaute, aber es war ihr egal. Nach einer Weile blieben ihre Augen an einer Stelle nah bei dem Durchgang zur Kantine hängen. Genau dort hatten Sam und sie gestanden, als sie sich zum ersten Mal umarmt hatten. Eine Umarmung, die von ihr ausgegangen war. Eigentlich hatte es dazu keinen Anlass gegeben, doch in jenem Moment hatte sie befürchtet, Sam Healy könnte ihr diese Intimität abschlagen. Es war der erste Tag nach einem Jahr der Trennung gewesen, an dem sie sich wiedergesehen hatten. Es hätte doch sein können, dass Sam als ein anderer zurückgekehrt wäre. Als ein Mann, der sich niemals auf eine Insassin einlassen würde. Aber er war noch immer derselbe. Er hatte ihr nichts abgeschlagen, hatte sie nicht auflaufen lassen. Reds Eingeweide zogen sich zusammen bei dem Gedanken, wie schrecklich er sich fühlen musste, nachdem er nun bereits zweimal bei ihr abgeblitzt war.
     „Hey, kennst du den schon: es gibt nur zwei Dinge, die die Zeit einfrieren können – Schnee und zu viel Wodka.“
     Blinzelnd tauchte Red aus den Untiefen ihres zähflüssigen Gedankensumpfs auf und starrte die junge Frau an. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was Nicky soeben gesagt hatte. „Woher hast du das?“
     „Healy“, gab Nicky mit einem Schulterzucken zurück. Dann verengte sie nachdenklich die Brauen. „Aber ich glaube, er hat die Pointe versaut, weil dieser Scheiß keinen verdammten Sinn ergibt!“
     Sie lachte, verstummte aber sehr bald wieder, als sie bemerkte, dass Red nicht mal mit dem Mundwinkel zuckte. Tatsächlich war Red nie weniger nach lachen zumute gewesen. Von einer unguten Vorahnung beschlichen rückte sie näher an Nicky heran, ließ ihren Blick einmal flüchtig durch die Küche rasen und bohrte ihn dann in die braunen Augen der jungen Frau.
     „Warum hat er mit dir gesprochen?“
     Nicky wirkte zunehmend verwirrt und besorgt. Red war bewusst, dass sie nicht gerade einen guten Job leistete, was das Verbergen ihres emotionalen Ausnahmezustands betraf. Aber die Pferde waren schon mit ihr durchgegangen und ließen sich nicht aufhalten, nur weil sie es vielleicht gerne wollte.
     „Weil...ich ihn drum gebeten habe? Wegen der Sache mit der Suchthilfegruppe. Aber irgendwie war er ziemlich durch den Wind.“ Sie zuckte die Achseln und schob sich ein Stück Tomate in den Mund, ehe sie in die Kiste griff und drei weitere herausholte. „Oh, und er wollte wissen, was mit dir nich' stimmt...“
     Reds Brauen zogen sich zusammen und unter ihrer Kochschürze wurde ihr auf einen Schlag so heiß als hätte sie einen voll beheizten Ofen aufgerissen. „Was? Was soll mit mir nicht stimmen? Warum denkt er, dass mit mir was nicht stimmt?“
     „Keine Ahnung!“ Diese Worte klangen fast nach einem Hilferuf. Wie um das zu bestätigen, huschte Nickys Blick kurzzeitig zu Norma. Red hielt sich nicht damit auf, ebenfalls zu ihr zu schauen, um ihr ratloses Schulterzucken zu bezeugen. Stattdessen beugte sie sich noch etwas weiter zu Nicky vor und intensivierte ihren bohrenden Blick.
     „Was hat er gesagt?“
     „Dass du wohl irgendwie wütend warst, als ihr euch vorhin unterhalten habt.“ Nickys Unbehagen schlug urplötzlich in Belustigung um und sie lächelte schelmisch. „Ich glaub' ja, dass er in Wahrheit nur Schiss hat, dass wir dich umpolen. Du weißt doch, Lesben sind nich' gerade sein-“
     Red ließ sie den Satz nicht beenden. Ihr Blick fiel auf das Schneidebrett. Es hätte aber ebenso gut ein Schmetterling oder ein Törtchen sein können, sie hätte aus allem einen Grund gemacht, um aus der Haut zu fahren. Sam dachte, dass mit ihr etwas nicht stimmte! Und das beschäftigte ihn scheinbar so sehr, dass er sogar das Risiko einging, mit einer anderen Insassin darüber zu sprechen. Nicky war natürlich nicht irgendwer. Aber es war nur zu Sams und Reds Bestem, wenn ihr aufblühendes Verhältnis eine Sache zwischen ihnen beiden blieb.
     „Was treibst du da, Nicky? Schneid sie nicht so! Hast du in deinem ganzen Leben noch kein Messer gehalten?“
     Als Red ihr ungestüm das scharfe Messer entriss, hob Nicky blitzschnell die Hände als wolle sie sich ergeben. „Wow, er hatte recht! Mit dir stimmt wirklich was nich'!“
     Red zog das Schneidebrett zu sich heran und hackte mit mehr Kraft als Verstand auf die Tomaten darauf ein. „Mir geht es ausgezeichnet, vielen Dank!“
     Nicky kniff die Augen zusammen, jetzt schien auch sie mit ihrer Geduld am Ende zu sein. „Dann sind wir heute wohl einfach nich' kompatibel.“ Sie erhob sich. „Sag Bescheid, wenn du die alte Tomate hier“, sie deutete auf ihr Gesicht, „wieder ertragen kannst...“
     Noch ehe sie sich auch nur zwei Schritte entfernen konnte, rief Red ihren Namen. Sie wusste sehr wohl, wie unerträglich sie zuweilen sein konnte, wenn sie schlechte Laune hatte. Aber nun da Nicky drauf und dran war zu gehen, merkte Red, dass es ihr ganz gut getan hatte, mit ihr hier zu sitzen. Wenn sie jetzt wieder allein gelassen wurde, würde sie nur wieder in ihrem eigenen Saft schmoren, ohne dabei irgendeine Erkenntnis zu gewinnen.
     Beim Klang ihres Namens blieb Nicky stehen. Nur widerwillig drehte sie sich um und erwiderte Reds nun sanften, reuevollen Blick.
     „Es tut mir leid. Setz dich wieder hin. Bitte.“
     Nicky stieß einen Seufzer aus, tat aber wie ihr geheißen. Eine Weile saßen sie reglos und schweigend da. Red blickte auf das Massaker auf dem Schneidebrett und schob mit der Messerspitze die Tomatenstückchen hin und her. Sie spürte, dass Nicky sie genau beobachtete.
     „Red, willst du mir nich' sagen, was du hast? Heute morgen bist du noch durch die Gegend gehüpft wie 'n Flummi auf Koks und jetzt sitzt du hier wie...wie 'ne faulige Tomate.“
     Red bedachte sie mit einem ermahnenden Blick. „Hör auf mit dem Tomatenunsinn, bitte.“
     „Meinetwegen...“ Ungeduldig umschloss Nicky mit einer Hand ihren Unterarm. „Aber dann sag mir endlich was mit dir los ist!“
     Red vermied es auch weiterhin, ihr länger als unbedingt nötig in die Augen zu schauen. Wie war es nur möglich, dass ihre gesamte, bruchsichere Außenhülle innerhalb von drei Tagen zerlegt wurde wie ein Baugerüst, das keiner mehr brauchte?
     „Geht nicht.“
     „Wieso nich'?“
     Der Seufzer den Red daraufhin ausstieß, fühlte sich an wie die Summe aller Seufzer, die seit Sam Healys Rückkehr nach Litchfield ihre Lungen verlassen hatten. „Aus diversen Gründen, die ich dir nicht nennen kann.“ Sie musterte Nickys verständnislose Miene. „Außerdem bist du zu jung.“
     Das brachte Nicky zum Lachen. Sie brauchte eine Weile, um sich wieder zu fangen. „Also, das muss aber 'n ziemlich krasser Scheiß sein, dass ich dafür zu jung bin! Na ja, um Sex kann's dann ja schon mal nich' gehen...“
     Red verdrehte die Augen. „Denkst du denn nie an was Anderes?“
     Nickys Grinsen wurde nur noch breiter. „Solltest du vielleicht auch mal versuchen. Darüber nachzudenken, macht nämlich mit Abstand am meisten Spaß...“
     Ihr Blick schweifte ab und ihr Ausdruck ließ vermuten, dass sie bereits wieder mitten dabei war. Red legte das Messer weg und betrachtete die junge Frau von der Seite. Es wäre gelogen gewesen, hätte sie behauptet, sie wüsste nicht, was Nicky meinte. Auch in Reds Leben hatte es eine Zeit gegeben, in der sie sich oft und gerne der Fleischeslust hingegeben hatte. Aber je älter sie geworden war, desto mehr hatte diese schöne Nebensache an Bedeutung verloren. Die Arbeit, die Kinder, die Kriminalität. Und jetzt das Gefängnis. Red hatte sich daran gewöhnt, von niemandem berührt zu werden. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie es sich nicht gewünscht hätte. Über die Jahre in Litchfield hatte sie gelernt, dieses Bedürfnis zu unterdrücken und sich nicht allzu sehr davon peinigen zu lassen. Doch Sam Healy war zurück. Und solang er hier war, würde ihre Sehnsucht nach körperlicher und menschlicher Nähe täglich gefüttert werden wie ein Masttier, bis sie eines Tages außer Kontrolle geriet und weder Vernunft noch Furcht sie würden zügeln können. Kontrollverluste wollte Red grundsätzlich vermeiden. So wie es derzeit aussah, war sie aber drauf und dran, sich genau in einen solchen hinein zu manövrieren. Sie konnte Sam nicht weiterhin ständig neue Hoffnungen machen, nur um ihn dann doch wieder vor den Kopf zu stoßen und auf Abstand zu gehen. Das hielten sie beide nicht aus. Wenn sie sich diese lästigen Gefühle schon nicht aus der Brust schneiden konnte, dann wollte sie wenigstens bestimmen können, wo, wann und wie sie sich entluden. Dieses Sache musste sich doch irgendwie managen lassen. Wie oft hatte sie miterlebt, dass sich Insassinnen auf Wärter eingelassen hatten? Sie zählte sechzehn Fälle, die ihr auf Anhieb einfielen. Zugegeben waren dies alles Geschichten, die kein gutes Ende genommen hatten, was man schon allein daran erkannte, dass Red über sie Bescheid wusste. Doch aus Fehlern konnte man bekanntlich lernen.
     Als Red das Messer wieder zur Hand nahm, fühlte sie sich von neuem Mut durchströmt. Sie war aus Russland geflohen, hatte sich ein neues Leben in den Staaten aufgebaut, drei Söhne großgezogen, eine Ehe überlebt und sich in einem Gefängnis voller missgünstiger, intriganter Frauen an die Spitze hochgearbeitet. Es wäre doch gelacht gewesen, wenn sie es da nicht auch hinbekommen hätte, ihre Gefühle für einen in die Jahre gekommenen Romantiker in den Griff zu kriegen.
     „Erzähl mir von deiner neuen Flamme“, sagte Red, nahm eine Tomate aus der Kiste und schnitt sie schnell, gekonnt und sauber in Stücke. „Wie hieß sie noch gleich?“
     Da sie keine Antwort erhielt, schaute Red auf. Nickys dunkle Augen verengten sich zu argwöhnischen Schlitzen, während sie versuchte herauszufinden, was in den letzten zwei Minuten passiert war, dass Red plötzlich aus ihrem Loch gekrochen kam. Red hob eine Braue.
     „Also, wie heißt sie?“
     „Francine...“, antwortete Nicky mit misstrauischem Unterton. „Welchen Plan bist du jetzt wieder am Schmieden, he?“
     „Plan?“ Red ließ es völlig unschuldig klingen. „Ich plane gar nichts. Ich schneide lediglich Tomaten.“
     
     Die Flure waren größtenteils entvölkert, die abendliche Ruhe war eingekehrt. Von draußen trommelte noch immer der Regen gegen die Fenster. Abgesehen von einer kurzen Pause am Nachmittag hatte es ununterbrochen geschüttet. Allerdings hatte sich das tobende Unwetter mittlerweile in ein angenehmes Plätschern verwandelt, von dem Sam nicht befürchten musste, dass es ihn auf dem Weg vom Ausgang zum Auto bis auf die Knochen durchnässen würde. Doch bevor er sich hinaus in die kühle Abendluft begeben würde, gab es noch eine letzte Station, an der er Halt machen musste. Musste und wollte. Wenngleich er sich sicher seit seiner Prüfungszeit im Studium nicht mehr so sehr vor einem bevorstehenden Ereignis gefürchtet hatte wie vor diesem späten Treffen mit Red. In seinem Kopf schwirrten selbstverständlich unzählige schöne Szenarien umher, aber nach dem Ausgang ihrer letzten Begegnung war es Sam unmöglich gewesen, an die Betrachtung dieser Sache mit seinem üblichen Maß an Blauäugigkeit heranzugehen. Zeitgleich war er Aufprall im Gewächshaus aber auch nicht hart genug gewesen, um ihn die Lage wirklich realistisch betrachten zu lassen. Denn dann hätte er davon ausgehen müssen, dass Red die Gelegenheit nutzen würde, um ihm ein zweites Mal klar zu machen, dass es für sie keine Zukunft gab. Dieser Gedanke hatte in seinem Bewusstsein keinerlei Überlebenschance. Er klammerte sich weiterhin an seine Hoffnung, obwohl dieser Kurs sich bisher nicht als sonderlich erfolgversprechend erwiesen hatte.
     Auf dem Weg zur Küche begegnete Sam nur fünf Frauen, die allesamt auf dem Weg in ihre Schlafsäle zu sein schienen. Er nickte ihnen zu und versuchte, sich wie immer zu geben. Das war nicht gerade leicht, denn er wurde das Gefühl nicht los, sie alle könnten ihm genau ansehen, wohin er unterwegs war, was er dort wollte und weshalb er sich davor fürchtete. Seine Nervosität erreichte ihren Höhepunkt, als er die menschenleere Kantine betrat. Kurz hinter der Schwelle hielt Sam inne. Er wischte seine feuchten Hände an seiner Hose ab und zupfte den Kragen seines Hemdes zurecht, auch wenn es albern war. Was Galina tun oder nicht tun würde, hing sicher nicht von seinem jetzigen Erscheinungsbild ab. Erst recht nicht von einem schief sitzenden Kragen. Die Augen auf den aus der Küche fallenden Lichtschein gerichtet atmete Sam mehrmals tief durch, um sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen. Sein Herz interessierte das wenig, es verspottete ihn nur und schlug noch etwas schneller. Schließlich rang er sich dazu durch, seinen Weg fortzusetzen. Seine eigenen Schritte hörte er schon gar nicht mehr, so laut pochte ihm sein Herz jetzt in den Ohren.
     Bereits beim Betreten der Küche stieg ihm ein köstlicher Duft in die Nase. Er musste nicht lange suchen, um Galina zu finden. Ihre kleine Gestalt saß an einem langen Zubereitungstisch, dessen metallene Oberfläche im Licht der Deckenlampen so sauber glänzte als käme er geradewegs vom Fließband. Sie hatte den Kopf auf beide Hände gestützt und blickte auf einen mit einer umgedrehten Schüssel abgedeckten Teller vor ihr. Wie sie so dahockte, machte sie einen recht verlorenen Eindruck. Sam hätte noch gerne länger da gestanden und den roten Schimmer ihrer Haar betrachtet, doch er brachte es nicht übers Herz, sie länger so zu sehen. Er bildete es sich nicht nur ein: sie war niedergeschlagen. Weil sie glaubte, er käme nicht mehr?
     „Guten Abend. Wie lief das Dinner?“
     Red wandte den Kopf. Ihre Miene erhellte sich und das Lächeln, das sich auf ihren Lippen ausbreitete, fegte im Bruchteil einer Sekunde alle Sorgen, Zweifel und Ängste fort, die sich im Laufe des Tages in Sam angesammelt und ihn zunehmend belastet hatten. Hastig stand sie auf.
     „Du bist gekommen.“ Kaum dass sie das gesagt hatte, schien Red es zu bereuen, denn es war ein eindeutiger Beweis für ihr Bedauern, wäre er nicht wie verabredet erschienen. Sie fasste sich wie immer sehr schnell wieder. „Das Dinner war ein voller Erfolg. Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich für das Überleben dieser Portion hart kämpfen musste.“
     Sie deutete auf den Teller auf dem Tisch und Sam lachte. Deutlich erleichtert kam er auf sie zu und nahm am Kopfende des Tisches Platz, wo der abgedeckte Teller und das gewohnte Plastikbesteck auf ihn warteten. Seine Jacke und Tasche legte er auf dem nächsten Stuhl ab und vergaß von da an, dass diese Dinge existierten. Red ließ sich schräg neben ihm nieder, sie lächelte noch immer. Sie war tatsächlich erleichtert, erfreut ihn zu sehen. Von ihrer vorherigen Wut und Ablehnung war nichts mehr zu spüren.
     „Danke, Red. Es riecht auf jeden Fall schon mal sehr verlockend.“
     Red streckte die Hände aus und nahm die Schüssel vom Teller. Darunter verbargen sich Spaghetti bedeckt von einer roten, unscheinbaren Soße. „Kein Grund mir zu danken. Wenn ich nicht koche, sterbe ich. Und bitte keine Komplimente bevor du nicht probiert hast. Also, los...“
     Schmunzelnd nahm Sam Löffel und Gabel zur Hand. Doch dann ließ er beides wieder sinken und schaute zu ihr auf. „Hast du überhaupt etwas davon gegessen?“
     Sie antwortete in einem Tonfall, der nicht selbstverständlicher hätte klingen können: „Natürlich! Eine Figur wie meine kommt nicht vom Kochen allein...“
     Sam öffnete den Mund, ehe er darüber nachdenken konnte, was herauskommen würde. Er war machtlos dagegen. Es war ein Gedanke, der ihm wie in einer Dauerschleife durch den Kopf hallte, wann immer er sie sah. „Ich finde dich wunderschön.“
     Ihre erste Reaktion war pure Verblüffung. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich trauen würde, so etwas laut auszusprechen, ohne dass sie ihn zuvor ermutigt hatte. Sam hatte es selbst auch nicht erwartet. Schon fürchtete er, er hätte abermals den einen tollpatschigen Schritt zu viel getan, der alles ruinieren würde. Doch dann kehrte das Lächeln auf Galinas rote Lippen zurück. Sie war wirklich wunderschön.
     „Koste die Pasta, Sam.“
     Erst als sie das sagte, fiel ihm wieder ein, dass dies der offizielle Grund für ihr Treffen war. Sam war froh, dass seine Hände etwas zu tun hatten, denn bei jeder anderen Unterhaltung mit Red kamen sie ihm stets nutzlos und überflüssig vor. Langsam drehte er die Spaghetti auf dem Löffel auf.
     „Du wärst nicht die erste Frau, die ich kenne, die so damit beschäftigt ist, alle anderen zu bekochen und satt zu machen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse völlig vergisst.“
     Ein amüsiertes Funkeln trat in Reds blaue Augen. „Mach dir darum keine Sorgen. Ich stelle immer sicher, dass meine Bedürfnisse zur Genüge befriedigt werden...“
     Während sie das sagte, streckte sie die linke Hand aus und drückte kurz seinen Arm. Sam hätte schwören können, dass die Temperatur auf einen Schlag um zwanzig Grad gestiegen war. Er wusste nicht wie ihm geschah. War dies noch dieselbe Frau, die ihn am Morgen ohne ein Wort des Abschieds im Gewächshaus stehen gelassen hatte?
     Die aufgerollten Nudeln rutschten ihm von der Gabel und er musste von vorn anfangen. Während Sam sie noch einmal aufdrehte, vermied er es entschieden, Galina anzusehen. Sonst wäre das mit dem Essen wohl nie etwas geworden. Er spürte, dass sie ihn ununterbrochen beobachtete. Da saß er und war ihr hilflos ausgeliefert. Sie hatte ihn so gründlich verwirrt, dass er keinen Schimmer gehabt hatte, was ihn hier in der Küche erwarten würde. Derweil schien sie dieses Mal ganz genau zu wissen, was sie tat. Vielleicht verfolgte sie sogar irgendein Ziel. Sam bezweifelte stark, dass es ihm irgendetwas gebracht hätte, zu wissen, welches das war. Es hätte ihn wohl eher vollständig in ein Nervenbündel verwandelt.
     Endlich schob er sich die Gabel in den Mund. Er nahm wahr, dass das Gericht vorzüglich schmeckte. Doch es kam ihm vor, als könne er es bei all der Aufregung und dem Rausch der Gefühle nicht annähernd so würdigen wie es das verdient hätte.
     „Mmmm...Red, das...das ist...unglaublich!“, verkündete er noch während er kaute. Nun konnte er ihren Blick nicht länger meiden und war froh, dass er es nicht mehr tat. Seine Worte hatten Reds Augen zum Glänzen gebracht, wenn auch ihre Erwiderung sehr bescheiden und nüchtern klang.
     „Danke, danke. Aber eigentlich ist es ganz simpel.“ Sie senkte die Stimme und warf einen Blick durch den Raum als müsste sie befürchten, dass sie belauscht wurden. Sams Herz machte einen Hüpfer, als sie näher zu ihm heranrückte. Ihr Ausdruck war mit einem Mal bitterernst. „Willst du wissen, was mein Geheimnis ist?“
     Sam schluckte geräuschvoll seinen letzten Bissen. „Was ist es?“
     „Ich erzähle jedem, der meine Pasta isst, sie sei die beste der Welt, und sie glauben es mir.“
     Einen Augenblick lang starrten sie einander an. Dann begannen sie gleichzeitig zu lachen. Sam wusste nicht einmal, ob es ihr Ernst gewesen war oder nicht. Aber das spielte auch keine Rolle. Alles war so perfekt. Dieser Moment hätte nicht schöner, nicht vollkommener sein können. Er war so schön, dass es fast unheimlich war. Sam war jedoch viel zu tief darin versunken, als dass er auch nur eine Sekunde an der Harmonie hätte zweifeln können.
     Obwohl das Essen köstlich schmeckte und er für sein Leben gerne aß, war sein Verlangen, sich wieder der Pasta zuzuwenden sehr gering. Er wollte sich nicht von Galinas strahlenden Augen lösen und diesem wundervollen Moment damit ein Ende bereiten. Doch was hätte er sagen, was tun können, um ihn zu verlängern? Er wusste es nicht. So kapitulierte er und machte sich daran eine zweite Gabel aufzurollen.
     Red schien es nicht zu stören, dass keiner von ihnen etwas sagte. Jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen, lächelte sie. Offenbar bereitete es ihr große Freude, zuzusehen wie andere Menschen die von ihr zubereiteten Speisen aßen. Natürlich, sie war die geborene Köchin. Es erfüllte sie. So wie es ihn erfüllte, wenn er merkte, dass er im Leben eines anderen Menschen tatsächlich etwas bewegen konnte, dass er helfen konnte. Aus irgendeinem Grund hatte er ihre Tätigkeit noch nie auf diese Weise betrachtet. Jetzt tat er es und das steigerte sein Bedauern darüber, dass er nichts gegen die Beschneidung ihrer Arbeit in der Küche tun konnte, ins Unermessliche. Zur Sprache brachte er es dennoch nicht. Galina machte so einen zufriedenen Eindruck und Sam wollte auf keinen Fall irgendetwas tun, das die schöne Stimmung zwischen ihnen zerstören könnte.
     „Und? Wie war dein Tag?“, fragte Red schließlich in beiläufigem Tonfall, als Sam fast aufgegessen hatte. „Hast du den Berg an Papieren bezwingen können?“
     Sam ließ die Gabel sinken und lächelte matt. „Ich fürchte, es war eher umgekehrt.“
     Es stimmte, dass er nicht viel geschafft hatte. Das lag vor allem daran, dass er es nicht mal versucht hatte. Nach ihrer morgendlichen Begegnung im Gewächshaus war es ihm schlichtweg unmöglich gewesen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Am frühen Nachmittag hatte er es dann aufgegeben, sich dazu zwingen zu wollen. Immerhin war es Samstag und er wäre nicht einmal hier gewesen, hätte es seine Gefühle für Galina Reznikov nicht gegeben.
     Red vollführte eine wegwerfende Geste. „Was soll's! Nach Feierabend und an freien Tagen sollte man sich nicht den Kopf über die Arbeit zerbrechen. Das vergiftet nur die Seele.“
     Sam rang sich ein Lächeln ab, doch beim Gedanken an den morgigen Tag wurde ihm das Herz schwer. Sonntag. Er würde zu Hause bleiben müssen. Er würde von morgens bis abends an Galina denken und sie doch nicht sehen können. Unmöglich. Schon für seinen freiwilligen Dienstantritt an einem Samstag hatte er eine Menge schiefer Blicke geerntet. Es wäre ihm auch aufdringlich vorgekommen, Red an jedem einzelnen Tag der Woche aufzusuchen, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. So gern er es auch täte, er durfte nicht vergessen, dass sie nüchtern betrachtet nur eine Insassin und ein Wärter waren. Sam spürte, wie sich ein dumpfes Gefühl von Traurigkeit in seine von Wärme und Freude erfüllte Brust schlich, und bemühte sich, diese trüben Gedanken zu verscheuchen. Er aß absichtlich noch nicht auf, denn solange das nicht geschehen war, gab es für ihn auch keinen Grund zu gehen.
     „Deine Arbeit scheint dir jedenfalls sehr gut zu tun...wenn man sie dich denn machen lässt.“
     Wie erwartet huschte bei diesen Worten ein Anflug von Bedauern über Reds Gesicht, doch sie ließ sich nicht von dieser Emotion ergreifen. Stattdessen kräuselten sich ihre Lippen zu einem seligen Lächeln. „Ja, das tut sie. Wenn ich koche, habe ich das Gefühl, genau das Richtige zu tun. Und wenn es nur ein Topf Haferbrei ist. Es berechtigt mein Dasein auf Erden.“
     Inzwischen waren Sams Hände mit dem Plastikbesteck auf den kühlen Metalltisch gesunken und das restliche Essen vor ihm in Vergessenheit geraten. Er hätte Stunden, sogar Tage hier sitzen und ihren Ausführungen über ihre große Leidenschaft lauschen können. Nicht weil er sich fürs Kochen interessierte. Es gab einfach nichts Anderes auf der Welt, das ihre Augen so zum Funkeln bringen konnte wie dieses Thema. Sein Blick tastete sich ihre weichen Züge entlang, störte sich nicht an der kleinen, sichelförmigen Narbe auf ihrer rechten Wange. Nur ein Teil ihrer gemeinsamen Geschichte, ein weiterer Beweis für ihre unerschütterliche Stärke und ein Makel, der sie niemals hätte entstellen können.
     Es grenzte an ein Wunder, dass Sam in diesem Moment die Notbremse zog. Er war drauf und dran gewesen, sich zum zweiten Mal an diesem Tag von seiner Sehnsucht davontragen zu lassen. Irgendetwas in seinem Innern hatte die Gefahr rechtzeitig erkannt und ihn zurückgehalten. Eilig senkte er den Blick auf seinen Teller. Mit dem Löffel kratzte er die restlichen Spaghetti zusammen.
     „Das war wirklich köstlich, Red. Kompliment an die Küchenchefin!“
     „Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat.“ Red legte das Besteck auf den leeren Teller und schob ihn beiseite. Nun da dieser Vorwand für ihr Beisammensein verbraucht war, mussten sie sich etwas Neues einfallen lassen, um eine Verlängerung zu rechtfertigen. Oder sie würden sich verabschieden müssen. Sam wollte noch nicht gehen. Nicht jetzt, wo endlich einmal alles so harmonisch zu sein schien.
     „Hast du schon Pläne fürs nächste Dinner?“
     Red schmunzelte. „Ich plane das nächste Dinner immer schon bevor das letzte verdaut ist. Aber lass dich überraschen...“
     Sam nickte. Und stand wieder vor der Frage, was um Himmels willen er tun konnte, um zu verhindern, dass Red sich erheben und verabschieden würde. So griff er zum nächstbesten Thema, das ihm in den Sinn kam.
     „Hey, dieses Sprichwort von deiner Großmutter...was bedeutet das eigentlich?“
     Als er das erwähnte, hob Red eine Braue und setzte einen beinah tadelnden Ausdruck auf. „Du hast mit Nicky darüber gesprochen.“
     Sam fühlte sich ertappt. Hitze kribbelte auf seinen Wangen. Das hätte er eigentlich kommen sehen müssen. Er konnte nicht mit einer Frau aus Reds engstem Bekanntenkreis über sie sprechen, ohne dass Red selbst es erfuhr.
     „Nicht absichtlich. Es...es ist mir irgendwie so...rausgerutscht...“
     „Ah! Du hast also ein Nickerchen in deinem Büro gemacht und im Schlaf gesprochen, ja? Das würde zumindest erklären, weshalb du deine Arbeit nicht geschafft hast...“ Sie verpasste ihm einen Klaps gegen die Schulter, der ihn aufatmen ließ. Scheinbar nahm sie ihm die Unterredung mit Nicky nicht übel.
     „Na ja, ganz so war es nicht...ähm... Ich hoffe, das hat dich nicht in Schwierigkeiten gebracht.“
     Red schüttelte beschwichtigend den Kopf. „Nein, nein. In Schwierigkeiten kann ich mich selbst ganz gut bringen, dafür brauche ich keine Hilfe von anderen.“
     Sie zwinkerte ihm zu und er lachte nervös. Abermals drang die Stille auf sie ein. Statt dass sie sie voneinander entfernte, hatte Sam das Gefühl, sie würde sie immer näher zusammenführen. Denn wenn sie nicht sprachen, sahen sie einander einfach nur an. Sam fiel auf, dass Galina viel näher bei ihm saß als sie es je getan hätte, wäre auch nur eine weitere Person im Raum gewesen. Ein ums andere Mal verlor er sich in ihren blauen Augen und widerstand doch dem Drang, den kleinen Abstand zwischen ihnen zu überwinden. Jetzt da ihre Wut vom Morgen sich vollständig in Luft aufgelöst zu haben schien, verstand Sam noch viel weniger, was im Gewächshaus passiert war. Er wusste nur eins: er würde ihr nicht noch einmal Anlass zum Weglaufen geben. Und wenn das bedeutete, dass er gehen musste, um nicht noch einmal die Kontrolle zu verlieren und sie zu überrumpeln, dann würde er auch das tun. So schwer es ihm fiel.
     Das Ziffernblatt seiner Armbanduhr zog seinen Blick auf sich und versetzte ihm einen Stich in die Brust. Es war nicht so spät, dass er auf keinen Fall länger hätte bleiben können. Tatsächlich war es noch eine Weile hin, bis Red zur abendlichen Zählung in ihrem Schlafsaal würde sein müssen. Aber in diesem Moment spürte Sam, dass er an die Grenzen seiner Beherrschung stieß. Wenn er noch länger ihrem lieblichen Anblick ausgesetzt wäre, würde er sie packen und es einfach tun. Er wollte diesen Abend in schöner Erinnerung behalten. Er durfte ihn nicht in den letzten Minuten noch zerstören.
     Schweren Herzens ergriff er das Wort: „Ich fürchte...für mich wird es Zeit.“
     Als er aufschaute, war er überrascht. Red versuchte nicht einmal, ihre Enttäuschung zu verbergen. Fast sah es so aus als suchte sie nun selbst fieberhaft nach einem Grund, um ihn noch länger hier zu behalten. Obwohl Sam sich nichts sehnlicher wünschte als dass sie einen gefunden hätte, stand er auf. Red tat es ihm gleich.
     „Vielen Dank fürs Essen.“
     „Nichts zu danken. Es war sehr schön.“
     Es hätte wohl keiner von ihnen sagen können, weshalb sie so leise sprachen. Vielleicht weil sie fürchteten, die Nähe und Harmonie könnte an einem zu lauten Wort zerplatzen wie eine Seifenblase an einer Nadel.
     Sam schluckte und es fühlte sich fast so an als steckte ihm ein Kloß im Hals. Wie oft war er schon heimgefahren und hatte Galina hier zurückgelassen? Es war nie so schmerzhaft gewesen wie heute.
     „Dann...sehen wir uns wohl am Montag wieder.“
     „Ja, am Montag.“ Red lächelte, aber es wirkte ein wenig bitter. Ihre Hände legten sich auf seine Arme, ohne dass Sam es hatte kommen sehen. Langsam wanderten sie hinauf zu seinen Schultern. Er lenkte ein und kam ihr entgegen. Erneut wurde er umhüllt von ihrem süßen Duft, spürte ihr weiches Haar, das seine Wange streifte, die warmen Rundungen ihres Körpers, die sich an seinen drückten, ihre kleinen Hände, die sich in den Stoff seines Hemdes gruben. Er würde ersticken oder platzen, vielleicht auch einfach in Ohnmacht fallen oder in ihren Armen verglühen. Sie hatte ja keine Ahnung, was sie ihm damit antat. Durch diese Umarmung wurde es noch um einiges schwerer, diesen Ort zu verlassen, in dem Wissen, er würde zwei Nächte und einen Tag von ihr getrennt sein. Seine linke Hand drückte sie noch etwas fester an sich, seine rechte strich ihr über das weiche, rote Haar.
     Als sie sich schließlich von einander lösten, war es als müssten sie gegen eine unsichtbare Materie ankämpfen, die sie fest zusammen geschweißt hatte. Sam wusste nicht, wie er es bewerkstelligte, gänzlich von ihr abzulassen. Seine Stimme war dünn, als er sie erhob.
     „Gute Nacht, Galina.“
     Er hörte wie sie schluckte. „Gute Nacht, Sam.“
     Merkwürdig stockend wie eine eingerostete Maschine wandte er sich von ihr ab und setzte sich in Bewegung. Er hatte gerade mal drei Meter überwunden, da drang Galinas Stimme an seine Ohren.
     „Sam!“
     Er drehte sich so abrupt um, es hätte ihn nicht verwundert, hätte er sich dabei sämtliche Rückenwirbel verknackst. Die Enttäuschung traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Schon hatte sein von Glückshormonen vernebelter Verstand geglaubt, Galina hätte ihn aus überbordender Sehnsucht aufgehalten, um ihn noch einmal in die Arme zu schließen. In Wahrheit hatte sie seine Jacke und seine Tasche von einem der Stühle aufgehoben, wo er sie einfach liegen gelassen hatte. Er kam sich so albern vor, dass er kurz lachen musste, dabei empfand er dabei keinen Funken Freude.
     „Ich vergess' nochmal meinen Kopf. Danke...“
     Sie trafen sich auf halber Strecke. Während Sam seine Jacke überstreifte, hielt Galina seine Tasche weiter fest. Dann war auch die an der Reihe. Sam nahm sie ihr so langsam ab wie es nur ging, ohne dass es absurd wurde. Red strich eine Falte aus dem Stoff seiner Jacke und richtete ihre blauen Augen auf seine. In diesem Moment glaubte er all seine Empfindungen darin widergespiegelt zu sehen. Und trotzdem wagte er es nicht, danach zu handeln. Er wollte nichts überstürzen. Er wollte nichts mehr kaputt machen. Sein Herz zog sich zusammen.
     „Also dann...“
     Hätten seine Muskeln nur eine Sekunde früher den Befehl erhalten, sich zu bewegen, wäre es wohl nie dazu gekommen. Galinas Hände umschlossen sein Gesicht und einen Herzschlag später berührten ihre Lippen die seinen. Warm und weich waren sie, aber er bekam keine Gelegenheit, sie wirklich zu schmecken. Es war vorbei, ehe er überhaupt begreifen konnte, was gerade geschah.
     Als hätte sie sich an ihm verbrannt, löste Galina sich von seinem Mund und zog die Hände von seinen Wangen. Ihre Linke bedeckte für einen Moment ihre roten Lippen. Ihre blauen Augen weiteten sich vor Entsetzen über ihre eigene Tat.
     Dann war sie plötzlich fort. An ihm vorbeigerauscht, durch den Durchgang in die dunkle Kantine.
     Perplex starrte Sam in die Finsternis, die sie verschluckt hatte. Galina Reznikov war wieder vor ihm davon gelaufen. Doch diesmal störte es ihn kein bißchen. Wie in Zeitlupe hob Sam die Hand und berührte seinen eigenen Mund. Er konnte den ihren noch immer spüren. Langsam, aber sicher, drang die Erkenntnis zu ihm durch: Galina hatte ihn geküsst. Ein seliges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
     Er war verloren.
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