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Two Ships In The Dark

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Gen
Galina "Red" Reznikov Sam Healy
30.05.2018
26.07.2018
7
76.775
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15.07.2018 8.459
 
(2) Kleinigkeiten

Galina Reznikov ließ den Lippenstift sinken. Im Lichtkegel der Schreibtischlampe prüfte sie zum hundertsten Mal an diesem Morgen ihr Makeup in dem viel zu kleinen Taschenspiegel in ihrer linken Hand. Sie fühlte sich wie unter Strom gesetzt – nicht gerade die Empfindung, die sie für gewöhnlich um 3:24 hatte, während der Rest des Gefängnisses noch in tiefem Schlummer lag und sie ihre niederschmetternden Pflichten in der Küche antreten musste. Doch heute war alles anders. Obwohl im Grunde alles beim Alten war. Der Saal war vom Schnarchen und Atmen ihrer Mitinsassinnen erfüllt, draußen war es noch stockfinster und vor ihr lag ein Tag endloser Ödnis und Bedeutungslosigkeit. Und dennoch: in ihr sah es ganz anders aus. Als wäre sie in einem völlig neuen Leben erwacht. Ihr Körper befand sich nicht wie üblich um diese Zeit noch im Halbschlaf, erfüllt von Müdigkeit und bleierner Schwere. Ihre Gedanken waren nicht zäh und trüb wie kalter, zu lang herumgestandener Haferbrei. Sie war hellwach und fühlte sich von einer Energie durchströmt, die ausgereicht hätte, um den gesamten Garten dreimal hintereinander vollständig umzugraben. Und das obwohl sie erst gegen Mitternacht eingeschlafen war und somit lediglich drei Stunden geschlafen hatte. Reglos saß sie da und betrachtete ihre rot bemalten Lippen. Zum ersten Mal seit Langem dachte sie bei diesem Anblick nicht daran, wie schmal sie über die Jahre geworden waren, wie viel schöner, voller und sinnlicher sie früher einmal gewesen waren. Stattdessen versuchte sie sich an das Gefühl eines anderen Mundes auf ihrem zu erinnern.
     „Red! Was is' los? Du brauchst doch sonst nich' stundenlang, um dein Gesicht aufzutragen...“
     Piper Chapmans Worte drangen in einem gedämpften Grummeln an Reds Ohren und riss sie aus ihrer träumerischen Nachdenklichkeit. Sie löste sich von ihrem Spiegelbild und blickte über die Schulter. Piper lag mit geschlossenen Augen auf dem Bauch, das Gesicht halb in ihrer Armbeuge und dem Kopfkissen vergraben. Das Licht der kleinen Lampe schien sie geweckt zu haben.
     „Ich brauche genauso lange wie jeden Tag“, gab Red trocken zurück, wurde sich gleichzeitig allerdings bewusst, dass sie heute schon viel länger hier saß und sich zurechtmachte als sonst. Pipers schwere Lider begannen sich zu heben und nach einer Weile des angestrengten Blinzelns formten sich ihre dunklen, dünnen Brauen zu einer argwöhnischen Wölbung. Ihre Starren wurde immer intensiver und wurde Red zunehmend unangenehm.
     „Hab' ich irgendwas verpasst? Kommt George Clooney heute zum Frühstück vorbei und du brezelst dich deshalb so auf?“
     Red hob eine Braue. „Wie kommst du darauf, dass ich mich für George Clooney aufbrezeln würde? Ich kann mir was Knackigeres vorstellen als den...“
     Piper gab ein Geräusch von sich, das wohl ein Lachen sein sollte, aber aufgrund der viel zu frühen Morgenstunde gründlich missriet. Plötzlich hob sie den Kopf und stützte sich mit den Unterarmen aufs Kissen.
     „Wem gilt denn dann deine sexy Aufmachung? Soweit ich weiß bist du immer noch hetero und in der Küche gibt’s nach wie vor nur Frauen, Pfannen und Säcke voll ekligem Brei – und für den wirst du dich wohl kaum hübsch machen...“
     Das schelmische Lächeln, das sich auf Pipers Lippen ausbreitete, gefiel Red ganz und gar nicht. Hastig, aber nicht so schnell, dass es fluchtartig wirken würde, wandte sich Red von ihr ab und schaute abermals in den Spiegel. Eine Hitzewelle jagte über ihr Gesicht, als ihr klar wurde, dass ihre Zellengenossin recht hatte. Sie war so darin vertieft gewesen, ihre Möglichkeiten, hübsch auszusehen, voll auszuschöpfen, dass ihr nicht mal aufgefallen war, dass sie einen für sie dieser Tage sehr untypischen Aufwand betrieben hatte. Sie achtete immer auf ihr Äußeres, denn es war ihre Rüstung. Doch heute hatte sie diese mit schmückenden Ornamenten und Verzierungen versehen, die nur einem einzigen Zweck dienen sollten: einem anderen Menschen zu gefallen. Einem ganz bestimmten Menschen. Sie konnte beobachten, wie sich ein Hauch von Röte auf ihren Wangen abzeichnete.
     „Dir muss wirklich erschreckend langweilig sein, wenn du deinen kostbaren Schlaf für solche hirnrissigen Überlegungen unterbrichst!“
     Aus dem Augenwinkel sah Red wie Piper die Bettdecke zurückschlug und die Beine aus dem Bett schwang. „Gib dir keine Mühe. Das Flattern der Schmetterlinge in deinem Bauch ist genauso wenig zu überhören wie deine nächtlichen Seufzer...“
     Red beschloss, diese Bemerkung zu ignorieren, denn sie hatte so eine Ahnung, dass sie es von hieran nur noch schlimmer für sich selbst machen konnte. Sie hatte schon vor ihrer Zeit in Litchfield gelernt, dass es zuweilen klüger war, den Mund zu halten. In ihrer jetzigen Situation war sie ohnehin im Nachteil. Denn so ungern sie es auch zugab, Piper hatte im Wesentlichen leider recht.
     Die blonde Frau schlurfte in Badelatschen zur mit Büchern beladenen Ablage am Ende ihres Bettes und nahm eine halb verbrauchte Klopapierrolle an sich. Zu Reds Bedauern machte sie sich nicht einfach auf den Weg zu den Waschräumen, sondern kam zu ihr herüber und blieb hinter ihr stehen. Einen Moment später erschien Pipers wissendes Lächeln im Taschenspiegel, in welchem sie nun ebenfalls Galinas Gesicht betrachtete. Ihre Stimme war auf ein Flüstern gesenkt.
     „Ob George Clooney oder nicht – er wird dahin schmelzen...“
     Nach einem flüchtigen, kleinen Kuss auf Reds Wange richtete sich Piper auf und schlenderte davon in Richtung Flur. Red starrte in den Spiegel. Die sorglose Leichtigkeit, die ihren sonst so messerscharfen Verstand vernebelt hatte, erhielt einen gewaltigen Dämpfer. Wenn sogar eine mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissene Frau ihr im Halbdunkel ansah, was in ihr vorging, wie offensichtlich würde es dann erst für die Person sein, die ihr all das eingebrockt hatte? Red verfluchte ihr unüberlegtes Handeln. Sie hatte sich hinreißen lassen von Gefühlen so süß und weich und rosa wie Zuckerwatte, gespeist von lieblichen Worten und einer einzigen, warmen Umarmung. An diesem Morgen war nicht Galina, die vom Schicksal gebeutelte und von ihrem Ehemann geschiedene Frau aufgestanden. Sondern Galina, die junge, von naiven Hoffnungen erfüllte Frau. Sie war nicht aufgestanden, um ihren alltäglichen Pflichten nachzukommen. Sie war aufgestanden, um Sam Healy wiederzusehen, um über seine unbeholfenen Witze zu lachen und ihn beiläufig zu berühren. Piper lag goldrichtig: er würde in ihren Händen schmelzen wie ein Stück Butter in einer heißen Pfanne.
     Red stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann griff sie nach einer Packung Taschentücher und zog eines heraus. Gerade hob sie es an ihre Lippen, um ihr Äußeres ein wenig zu entschärfen, da hielt sie inne. Genau wie am Tag zuvor, als sie im Waschraum vor dem Spiegel gestanden und dem ersten Wiedersehen mit Healy entgegengeblickt hatte, sah sie in ihre eigenen Augen. Sie bargen noch immer denselben Ausdruck. Er war auch über Nacht nicht verschwunden. Er verschwand nicht, wenn sie mehr Makeup auftrug, es entfernte, eine steinerne Miene aufsetzte oder versuchte sich wie immer zu geben. Es war ganz egal was sie tat, er würde ihr anhaften und sie verraten. Sie hätte sich ihre Gefühle ebenso gut auf die Stirn tätowieren lassen können. Was Sam betraf, musste sie sich keine Sorgen machen, er könnte erkennen, was sich in ihrem Innern abspielte. Denn es machte gar keinen Unterschied. So wie er sie am gestrigen Abend in der Küche gehalten hatte, nach dem, was er zu ihr gesagt hatte, war es nur allzu offensichtlich, dass er sich schon längst in der Fortsetzung ihrer begrabenen und niemals aufgeblühten Romanze befand. Im Grunde war es gleich was sie tat oder nicht tat, er würde sich wieder in seiner Version der Realität verlieren. Ihr eigenes Handeln an diesem Morgen zeigte deutlich, wie leicht es war, sich von diesen warmen, wohligen Gefühlen fortschwemmen zu lassen, die einen schneller übermannten als eine ausbrechende Erkältung. Sie kam sich albern vor. Aber zur selben Zeit tat es viel zu gut, von diesem wohligen Kribbeln erfüllt zu sein, um sich dagegen zur Wehr zu setzen.
     Red knüllte das Taschentuch unbenutzt zusammen, legte den Spiegel weg und stand auf. Wenn sie eines genoss, dann war es Butter auf gekonnte Weise in heißen Pfannen zu schmelzen und darin wahre Köstlichkeiten entstehen zu lassen.

     Der Song im Radio wurde von den Acht-Uhr-Nachrichten unterbrochen, doch Sam Healy summte weiter munter vor sich hin, während er sich das frisch rasierte Gesicht mit einem Handtuch abtupfte. Von einem Haken an der Wand hinter sich nahm er das hellblaue Uniformhemd, das er am Abend zuvor extra noch gebügelt hatte. Er zog es vom Kleiderbügel und streifte es sich über. Sein Blick ruhte auf seiner eigenen Reflexion im von der heißen Dusche noch leicht beschlagenen Spiegel, während er die Knöpfe des Hemdes schloss. Der Nachrichtensprecher hätte das Ende der Welt verkünden können, es hätte Sam nicht erreicht. In Gedanken war er längst in Litchfield. In Gedanken hatte er es eigentlich gar nicht verlassen. Sein Körper war nach Hause gefahren, hatte zu Abend gegessen und die Nacht in seinem Haus verbracht, aber im Geiste war er dort geblieben. Nicht in seinem Büro. Sondern in der spärlich beleuchteten, verlassenen Küche, die Arme um Galina Reznikovs warmen, weichen Körper geschlungen.
     „...heute noch Sonnenschein vorherrscht, werden wir ab morgen mit starkem Gewitter rechnen müssen.“
     Als er den vorletzten Knopf von oben erreichte, hielt Sam inne. Unwillkürlich verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Eine Erinnerung hatte sich in sein Bewusstsein geschlichen. Red hatte ihm im Flur vor seinem Büro gegenüber gestanden.
     „Du hast einen Knopf vergessen...“
     Er hörte ganz deutlich wie sie das sagte, konnte fast spüren wie ihre Hände den Stoff seines Hemdes berührt und seine Brust getätschelt hatten, nachdem sie den Knopf geschlossen hatte. Ein vertrautes Kribbeln breitete sich von seiner Magengrube in seinen gesamten Körper aus. Wie in Stein gemeißelt stand er da und ließ sich von seinen Gefühlen davon tragen, während die Realität in immer weitere Ferne glitt. Automatisch wanderten seine Gedanken zur Umarmung zurück, in deren Genuss er gestern gekommen war, so selbstverständlich als gäbe es nichts Bedeutsameres, über das er sich je hätte Gedanken machen können. Als wäre diese Erinnerung der Ursprung von einfach allem. Sam brauchte keinen Schlag vor den Kopf, um zu erkennen, was mit ihm geschah. Er hatte es kommen sehen, spätestens von dem Moment an, da Red am gestrigen Tag sein Büro betreten hatte. Ein Jahr lang war es gewesen als hätte sich sein Herz im Standby-Modus befunden. Ein Blick auf sie und die Maschine war wieder angesprungen, von einer Sekunde auf die andere wieder entflammt und in voller Fahrt. Die Frage war nur, ob er sich auf der Zielgeraden befand oder geradewegs gegen die nächste Wand brettern würde. Vor einem Jahr, bevor Red ihm klar gemacht hatte, dass es für sie beide nicht den Hauch einer Chance gab, hätte Sam nach der gestrigen Unterhaltung mit ihr in der Küche ohne Weiteres sein Leben darauf verwettet, dass Galina Reznikov sich nach ihm verzehrte. So beflügelt er sich von der Sache auch fühlte, er konnte nicht umhin, sich selbst im Stillen immer wieder zu ermahnen: er wusste nicht, was Red fühlte. In seinem Kopf schwirrten tausend schöne Versionen dessen, was die Umarmung und ihre gestrigen Worte bedeuten könnten. Er wollte an jede einzelne davon nur zu gerne glauben. Aber dafür erinnerte er sich zu gut daran, was sie ihm nach Lorna Morellos Hochzeit gesagt hatte. Es sei zu spät für sie. Jedes Mal, wenn Sam daran dachte, wie diese Worte über ihre Lippen gegangen waren, wie sie ihm die papierene Blume von ihrem Arm in seine Hand gelegt hatte, spürte er einen leichten Stich in der Brust. Reds Wiedersehensfreude war nicht gespielt, ebenso wenig wie der Schmerz, die Wut, die Trauer und die Verzweiflung über sein plötzliches Verschwinden. Sie hatte einen Schritt auf ihn zugemacht und die Umarmung vorgeschlagen. Nicht umgekehrt. Und dennoch konnte er nicht sicher sein, dass das nicht aus Sentimentalität oder Mitleid oder einer Mischung aus beidem geschehen war. Es konnte alles heißen. Oder nichts.
     Die schrillen Klänge eines Werbejingles zogen Sam zurück in die Wirklichkeit. Er blinzelte und merkte, dass seine Hände noch immer sein Hemd auf Höhe des vorletzten Knopfes festhielten. Einen Augenblick zögerte er noch. Dann hob er die Hände zum nächsten Knopf, ohne den darunter durch das Loch gefädelt zu haben. Seine Mundwinkel zuckten. Er mochte keine Gewissheit über Reds Gefühle und Absichten haben. Doch er war zuversichtlich, sie auf dem einen oder anderen Weg erlangen zu können.
     
     Mit einem Seufzen ließ Red das Kochbuch in ihren Händen auf den Schreibtisch sinken. Noch nie hatten geschriebene Worte weniger Sinn ergeben. Das lag weder an den mangelnden Fähigkeiten des Autors noch an fehlendem Interesse für die Rezepte ihrerseits. Sie konnte sich schlichtweg nicht lang genug auf die Buchstaben konzentrieren, um auch nur eine Zeile zu lesen und ihre Bedeutung zu verinnerlichen. Red prüfte die Zahl in der unteren Ecke der Seite und stellte fest, dass sie seit dem Morgen nur einmal umgeblättert hatte. Kopfschüttelnd klappte sie das Buch zu und ließ ihre Lesebrille auf die Brust sinken. Die Tür zum Büro stand offen und ließ die Geräusche aus der Küche und der zum Mittag gerammelt vollen Kantine zu ihr hereindringen. Ihrem Gefühl nach hockte sie schon drei Tage am Stück hier, dabei war es gerade mal zwölf Uhr. Die Zeit zog sich wie klebriger Kaugummi und jedes Mal, wenn Red einen Blick auf die Uhr an der Wand warf, schien sie nur noch langsamer zu vergehen. Gerade überlegte sie, einen gelangweilten Streifzug durch die Küche zu machen, um ihren Untergebenen beim Austeilen der sogenannten Mahlzeit zuzusehen, da streckte sich ein blonder Lockenkopf in den Türrahmen. Nicky brauchte nicht mal den Mund aufzumachen, um zu verraten, dass dies kein Besuch aus Sehnsucht war. Sie grinste.
     „Na, wieder mal alle Hände voll zu tun?“
     Red würdigte diese Frage keiner Antwort und winkte bloß verdrießlich ab. Schweigend beobachtete sie, wie Nicky sich lässig gegen den Türrahmen drapierte und den Kopf schief legte. Bis zu diesem Moment hatte Red beinah vergessen, dass sie heute eine etwas andere Maske zur Schau trug. Die Damen in der Küche hatten ihre Aufmachung mit eingehenden Blicken und leisem Getuschel hinter ihrem Rücken bedacht, aber seit Piper hatte keiner eine Bemerkung dazu gemacht. Nicky würde sich das jedoch nicht nehmen lassen. Hätte sie Red beim Frühstück aufgesucht, hätte sie ihren Senf wohl schon eher dazu gegeben.
     „Du siehst...anders aus. Scharf, irgendwie.“
     Red runzelte die Stirn. „Sollte ich anfangen, mich in deiner Gegenwart unwohl zu fühlen?“
     Nickys Grinsen wurde noch etwas breiter. „Keine Sorge, in den Genuss kommen hier ganz andere...“
     „Was kann ich für dich tun, Nicky?“
     Die junge Frau schüttelte leicht den Kopf. „Nicht so eilig, wir waren mit dem Thema noch nich' durch. Erzähl doch mal: wer hat das Vorhängeschloss für die Tiefkühltruhe geknackt?“
     Red schnaubte leise. „Interessant wie du mich siehst.“
     Nicky zuckte unbekümmert die Schultern. „Na ja, mal ehrlich, sexuell gesehen warst du die letzten Jahre hier drinnen ja nich' gerade aktiv.“
     „Darf ich dich – wenn auch nur ungern – daran erinnern, dass ich verheiratet war?“ Red zog das Kochbuch wieder zu sich heran und schlug wahllos auf irgendeiner Seite auf. Für gewöhnlich genoss sie Nickys Gesellschaft, doch heute kam ihr jegliche soziale Interaktion wie eine Verzögerung dessen vor, worauf sie wartete, seit sie in aller Herrgottsfrühe die Augen aufgeschlagen hatte. „Und trotz deiner Beteuerungen, dass Frauen die besseren Liebhaber sind, bleibe ich doch lieber auf meiner Uferseite...“
     Während Nicky lachte, schob Red sich wieder die Brille auf die Nase und simulierte Interesse an einem Rezept für irgendeinen Gemüseauflauf. Es war wohl weniger ihrem schwachen Versuch, beschäftigt zu wirken, zu verdanken, dass Nicky nun endlich auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen kam. Dafür betrat sie den kleinen Raum und setzte sich auf die Kante des Schreibtischs. Die Art und Weise wie sie sprach, machte Red auf Anhieb klar, dass sie sie um etwas bitten wollte, wovon sie im Grunde genau wusste, dass Red es ihr abschlagen würde.
     „Also...auf meiner Uferseite tut sich gerade wieder was. Da ist diese Kleine, erst zwei Wochen hier. Na ja, sie hat gehört, dass es bei deinem Dinner am Samstag Hackbraten gibt und sie liebt Hackbraten über alles. Ich hab' ihr gesagt, dass ich 'nen ganz guten Draht zu dir habe und da vielleicht was machen könnte...sie hatte nämlich kein Glück und hat keinen Platz gekriegt...“
     Langsam hob Red den Kopf, nachdem sie zum dritten Mal die Zutatenliste des Rezepts überflogen hatten, ohne wirklich zu lesen. Die Hoffnung in Nickys Zügen wurde bereits von Ernüchterung angeknabbert.
     „Es gibt am Samstag keinen Hackbraten.“
     „Ich weiß. Aber ich dachte-“
     „Erst pfuschst du mir in meiner Gästeliste herum und jetzt in meinem Speiseplan? Hör auf mit deiner Vagina zu denken und schalte dein Gehirn wieder ein!“ Red klatschte ihr sanft aber bestimmt mit der flachen Hand gegen die Stirn. Nicky verzog das Gesicht und rieb sich die Stelle. Ehe sie dazu kam, irgendeine Frechheit zu erwidern, klopfte jemand an die offene Tür und beide wandten die Köpfe. Reds Herz machte einen Hüpfer und mit einem Mal war ihr so heiß als hätte sie die letzte halbe Stunde vor einer geöffneten Ofentür gestanden. Sie hatte so angestrengt und ungeduldig auf diesen Moment gewartet und fühlte sich nun so plötzlich davon überrumpelt, dass ihr erster Impuls war, aufzuspringen und ihr breitestes Lächeln aufzusetzen. Nun war sie fast dankbar, dass Nicky sich entschlossen hatte, sie im Büro aufzusuchen und zu nerven, denn ihre Anwesenheit hielt sie davon ab, genau diese Dummheit zu begehen. Sam Healy schien etwas ganz Ähnliches zu denken, denn obgleich ein erfreutes, leicht unsicheres Lächeln seine Lippen umspielte, wirkte es ganz so als versuchte er sich in Gegenwart der jungen Frau zusammen zu reißen.
     „Hallo, Red. Nichols.“ Er nickte der Blonden zu, ließ die Augen aber kaum länger als den Bruchteil einer Sekunde auf ihr ruhen. Sie kehrten unverzüglich zu Red zurück, der zum ersten Mal auffiel, wie schwierig es war, einen anderen Menschen ununterbrochen anzusehen ohne zu starren. Sie fragte sich, wie sie das früher getan hatte, als zwischen ihnen noch alles normal und unverfänglich gewesen war. Doch darauf konnte sie keine Antwort finden. Allein schon deshalb, weil ihre Sicht auf diese Zeiten versperrt wurde von einer nur allzu deutlichen Erinnerung an eine Umarmung im benachbarten Küchenraum.
     „Ich hoffe, ich störe nicht.“
     „Nein, gar nicht. Von meiner Seite ist alles gesagt.“ Diesen letzten Satz richtete sie an Nicky, die die Augen verdrehte, aber alles andere als überrascht war. „Nicky wollte gerade gehen und sich über das köstliche Mittagessen hermachen.“
     Die junge Frau schenkte ihr ein mattes Lächeln, bedachte Healy eines teilnahmslosen Blickes und schob sich wortlos an ihm vorbei. Als sie verschwunden war, drängte sich der Lärm aus der Kantine in das kleine Büro als hätte jemand den Lautstärkeregler hochgedreht. Red nahm die Brille ab und fuhr sich anschließend mit einer Hand durch das rote Haar, ohne es überhaupt zu bemerken. Dabei tasteten ihre Augen den Mann im Türrahmen von Kopf bis Fuß ab als hätte sich in den wenigen Stunden, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, irgendeine gravierende Veränderung ergeben können. Sie spürte wie Sam zeitgleich genau dasselbe tat. Schließlich trafen sich ihre Blicke abermals. Schmelzende Butter. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Was auch immer er sich als Vorwand zurechtgelegt hatte, um hier aufzukreuzen – und das hatte er ganz sicher getan –, es schien seinem Bewusstsein vorübergehend entglitten zu sein. Red machte keine Anstalten, das Schweigen zwischen ihnen zu brechen. Sie genoss es zu sehen wie er sich in der Betrachtung ihres Gesichtes verlor. Und auf einmal störte es sie auch gar nicht mehr, dass die Zeit nur noch zu schleichen schien.
     Nach einer halben Ewigkeit fand Sam seine Sprache wieder. Mit einem verlegenen Räuspern beendete er das Schweigen. „Wie war dein Tag bisher?“
     Red schmunzelte. Sie hatte geahnt, dass er wieder den langen Bogen zum Ziel nehmen würde statt direkt darauf zuzugehen. Obwohl sie ehrlich gesagt selbst nicht genau hätte sagen können, was in diesem Fall das Ziel war.
     „Eintönig und austauschbar. Aber ich freue mich auf morgen, da steht die Tomatenernte an.“
     „Oh, schön.“ Offenbar fiel ihm nichts ein, was er über Tomaten hätte sagen können, denn er ruderte unbeholfen weiter zum nächsten Thema. „Ich hab' gehört morgen soll es regnen.“
     Wäre Sam nicht Sam gewesen, hätte Red ihn mit einer spitzen Erwiderung abgewürgt. Dimitri hatte sie stets dafür gestraft, wenn er es gewagt hatte, sie mit Belanglosigkeiten und Smalltalk abzuspeisen, wenn es eigentlich viel Wichtigeres zu besprechen gab. Sam dagegen schaffte es irgendwie, aus seinem ständigen Tanz um den heißen Brei eine liebenswerte Angewohnheit zu machen. Zudem war Red sich nicht einmal sicher, ob sie tatsächlich auf den heißen Brei zu sprechen kommen wollte. Sie ahnte, dass sie sich beide leicht daran hätten verbrennen können.
     Red seufzte als wäre sie vom Wetterbericht enttäuscht, dabei hätte es ihr gar nicht egaler sein können. „Das ist wohl mein Glück. Wenn ich mal hier rauskomme, dann nur an den grauen Tagen...“
     Sam versuchte es mit einer bedauernden Miene, ließ diesen Ausdruck aber schnell wieder fallen. Das kurze Schweigen in das sie verfielen, bereitete ihm sichtliches Unbehagen. Allmählich gewann Red den Eindruck, er würde auf etwas Bestimmtes warten. Sie fragte sich wie weit entfernt die Realität ihrer derzeitigen Begegnung bereits von seiner mit Puderzucker bedeckten Wunschvorstellung entfernt war. Sie unterdrückte ein Lachen.
     Sam warf einen Blick über die Schulter in den Küchenraum. An ihm vorbei konnte Red sehen wie drei der spanischen Frauen, die für sie arbeiteten, an einer der Theken herumlungerten und sich unterhielten. Ihr entging keineswegs, dass sie hin und wieder herüber spähten. Alles, was vom täglichen Trott in der Küche abwich, kam einer willkommenen Attraktion gleich.
     „Hey, ist mit Nichols alles in Ordnung? Ich weiß, sie hatte früher ein Drogenproblem. Ich hatte vorhin ihre Akte auf dem Tisch, da steht sie sei seit fast einem Jahr clean.“
     Leicht überrascht, dass er ein so ernstes Thema anschnitt, löste sich Red von ihren Beobachtern in der Ferne und kehrte zu Sams Gesicht zurück. Ob er die Frage nun gestellt hatte, um eine andere hinauszuschieben oder nicht, in seinen Zügen erkannte sie echte Besorgnis. Vielleicht nicht unbedingt um Nicky. Ihr Schicksal mochte Sam nicht egal sein, doch worum es ihm hierbei wirklich ging, lag auf der Hand.
     „Ja, sie ist clean. Sie hatte schwer zu kämpfen, aber jetzt geht es ihr gut.“ Es war ein schönes Gefühl, diese Worte ohne jede Bitterkeit aussprechen zu können. Die Zeiten, in denen Nickys Anblick Red stets ein wenig geschmerzt hatte, waren glücklicherweise vorüber. Jetzt tat etwas Anderes weh. Nur daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie wollte sich einfach nur gut fühlen, leicht.
     „Gut. Das ist gut. Es freut mich zu hören...ich meine, ich weiß, dass du immer sehr besorgt bist um das Wohlergehen deiner Mädchen.“
     Er schenkte ihr ein Lächeln. Und entlockte ihr die Worte, ehe sie Gelegenheit gehabt hatte, sie solange zu überdenken, bis sie sie für unaussprechlich befunden hatte.
     „Nicht nur um meine Mädchen...“
     Es war kaum mehr als ein Flüstern gewesen. Obwohl die wahre Bedeutung ihrer Worte noch nicht zu Sam durchgedrungen zu sein schien, hätte Red sich am liebsten dafür geohrfeigt. Hitze wallte in ihr auf.
     „Oh, ja, natürlich auch um deine Söhne.“
     Sie hatte eben erst festgestellt, dass es dumm gewesen war, das zu sagen. Und trotzdem nahm sie nicht die Ausfahrt in die Unverfänglichkeit, die er ihr eben nichtsahnend gezeigt hatte. Stattdessen raste sie ungebremst weiter in Richtung Verderben.
     „Das ist wahr, aber das meinte ich nicht...“
     Es verstrichen drei Sekunden bis bei Sam der Groschen fiel. Das Lächeln wich und seine Lippen spalteten sich in überraschter Erkenntnis. Die gleich darauf in überschwängliche Freude resultierte. Red konnte förmlich spüren, wie ihm die Brust schwoll, als ihm klar wurde, dass Galina Reznikov sich um ihn sorgte. Es war nichts Neues. Das hatte sie ihm bereits gestern deutlich gezeigt. Aber es sah ihr nicht gerade ähnlich, es ihm ein zweites Mal zu sagen. Sie war keine Freundin von Wiederholungen, wenn längst alles gesagt war. Aber hier saß sie von Hitze übermannt und musste feststellen, dass sie falsch gelegen hatte: Sam Healy mochte ein Stück schmelzende Butter sein. Doch sie war nicht die heiße Pfanne. Sie war das zweite Stück Butter neben ihm. Sie war vielleicht tiefgefroren und nicht ganz so leicht zu zersetzen. Aber letztendlich war auch sie nur ein hilfloses Stück Butter.
     Red hielt dem Blick seiner funkelnden Augen nicht länger stand. Es kam ihr vor als wäre sie innerlich entzwei gerissen. Ein Teil blieb ihr kontrolliertes, vernünftiges Selbst, das sie über all die Jahre in Litchfield um die größten Schlaglöcher und Misthaufen herum manövriert hatte. Der andere Teil zerrte sie in die entgegengesetzte Richtung und ließ sie blind und hilflos voran taumeln, dem Ärger direkt in die Arme. Im Vergleich zu Sam Healy würde sie immer wie eine Realistin wirken. Aber das änderte nichts daran, dass ihre Sicht auf das Wesentliche dabei war zu verschwimmen. In diesem Moment hätte Red nur zu gern beschlossen, all das zu begraben und hinter sich zu lassen, sodass sie nicht länger um ihre Zurechnungsfähigkeit hätte bangen müssen. Doch sie tat es nicht. Vielleicht hatte sie sich zu lange auf ihren realistischen Verstand verlassen, hatte zu lange von der Vernunft gezehrt. Ging nicht alles irgendwann einmal zur Neige? Sie hatte so viel Zeit auf dem Boden der Tatsachen verbracht. Womöglich hatte sie vergessen, wie hart der Aufprall war, wenn man aus allen Wolken fiel, wie schmerzhaft die Heilung der dadurch entstehenden Wunden. Wenn es nicht anders ging, würde sie ihre Erinnerung eben auffrischen müssen.
     Sam Healy kam nicht dazu, zum nächsten Punkt auf seiner Liste möglicher Gesprächsthemen zu stolpern. Red erhob sich von ihrem Stuhl und blieb vor dem Mann stehen. Sie hatte den offenen Knopf schon bei ihrer ersten Musterung seiner heutigen Erscheinung bemerkt. So wie sie ihn kannte, war das kein Zufall. Sie fand diese Vermutung bestätigt, als sie die Hände hob, um den Fehler zu korrigieren und dabei in sein Gesicht aufschaute. Er hatte sich an diesen Moment erinnert und ihn noch einmal heraufbeschwören wollen. Red hatte ihn auf Anhieb durchschaut und sich vorgenommen, nicht mitzuspielen. Die vernünftige Red hätte es auch nicht getan. Denn die wusste, dass sie sowohl ihn als auch sich selbst damit auf glattes, sehr dünnes Eis führte. Red strich über den nun sorgfältig geschlossenen Knopf.
     „Ich...sollte wirklich besser darauf achten...“, murmelte Sam in einem kläglichen Versuch, es nicht nach Absicht aussehen zu lassen.
     Red lächelte. „Das musst du nicht. Ich habe ein Auge auf dich.“
     Er schluckte so laut, dass sie es hören konnte.
     „Danke“, gab er mit dünner Stimme zurück.
     Reds Hand ruhte nach wie vor auf seiner Brust. Sie mochte die Vernunft vorübergehend in den Wind geschlagen haben, vollkommen lebensmüde war sie allerdings nicht. Sie tat es nur, weil sie genau wusste, dass die Zuschauerinnen im Nebenraum es nicht sehen konnten. Alles, was sie sahen war, wie sich ein Mann und eine Frau gegenüberstanden. Ein Wärter und eine Insassin. Aus ihrer Sicht hätte es auch um irgendein Machtspiel oder ein Krisengespräch gehen können.
     „Ich bin gestern gar nicht dazu gekommen, zu fragen...“ Das Wort gestern schien auf einen Schlag die Atmosphäre ihrer letzten Begegnung wieder heraufzubeschwören. Einen Moment lang hätte Red schwören können, dass sie beide vergessen hatten, dass es nicht später Abend, sondern mitten am Tag und die Küche keineswegs entvölkert war. Sie fing sich rasch wieder und fuhr fort. „Wie kommst du zurecht? Wie ist es zurück zu sein?“
     Sie stand so nah vor ihm, dass es unmöglich gewesen wäre, nicht zu sehen wie sich sein Blick zunächst von ihren roten Lippen lösen musste, um zu ihren blauen Augen zu finden. Als er antwortete, wirkte er noch leicht benommen.
     „Es...ähm...es ist gut. Ja, ein gutes Gefühl. Ich saß ein Jahr lang nur herum – ich meine, das war nötig, ich musste...aber... Na ja, ich glaube, wenn man zu lange die Füße still hält, dreht man irgendwann durch.“ Er lachte, aber Red konnte es nur halbherzig erwidern. Seine Mundwinkel senkten sich wieder und Besorgnis legte seine Stirn in Falten. „Du weißt natürlich wie das ist. Die Veränderungen hier...“ Er machte eine Geste in Richtung der Küche hinter sich. „...belasten dich wirklich sehr, nicht wahr?“
     Der Seufzer, den Red daraufhin ausstieß, war sehr lang und tief und bedauerlicherweise kein bißchen aufgesetzt. Sie nickte. Aber noch bevor sie zu einer Antwort ansetzte, spürte sie wie ein Teil der Schwere, die auf ihrem Herzen lag, sich löste. Nur weil das Mitgefühl in seinen blauen Augen sah. „Es ist nicht leicht, hier drinnen etwas zu finden, wofür es sich jeden Morgen aufzustehen lohnt. Ehrlich gesagt war ich immer überzeugt, die Küche wäre mir sicher. Gegessen wird schließlich immer...“
     Sie konnte nicht anders als bei diesen Worten, leise und leicht verzweifelt aufzulachen. Sams Mundwinkel zuckten, aber er lächelte nicht. Unwillkürlich hob er die Hand und berührte sie an der Schulter.
     „Ich wünschte, ich könnte irgendwas für dich tun.“
     Red ließ ihre Hand auf seiner Brust etwas höher wandern, bis ihre Finger den Stoff des weißen T-Shirts berührten, das er wie üblich unter seinem Uniformhemd trug. Sie konnte seine warme Haut darunter spüren, ebenso wie seine enorme menschliche Wärme.
     „Ich auch, Sam. Ich auch...“
     Bevor einer von ihnen noch etwas sagen oder sie gemeinsam durch das dünne Eis unter ihren Füßen brechen konnten, zerschmetterte ein lautes, metallenes Scheppern aus der Küche den intimen Moment. Sie fuhren auseinander als hätte jemand eine Granate zwischen sie geworfen. Red erlangte ihre Fassung als Erste zurück und schob sich am perplexen Sam vorbei, um die Quelle des Lärms auszumachen. Eine der Frauen am Spülbecken hatte einen der großen, metallenen Behälter fallen lassen. Er lag halb mit braunem Brei, halb mit weißen Schaum bedeckt auf den Fliesen zu ihren Füßen. Unter anderen Umständen hätte Red mit einem Schulterzucken darüber hinweggesehen und sich in ihr Büro zurückgezogen. Dieser Tage war es ihr völlig gleichgültig, was die Frauen in der Küche trieben, solang am Abend wieder alles blitzte und glänzte. Hier und jetzt war es aber nicht die zerstörte Sauberkeit, die sie verärgerte.
     „Geht das vielleicht auch leiser? Hier unterhalten sich gerade die Erwachsenen?“
     „Sorry, Red!“, gab die Frau leicht verwirrt angesichts des Zornes der Köchin zurück und hob den Metallbehälter auf.
     Red atmete tief durch und bedachte die übrigen Küchenhelferinnen mit einem scharfen Blick. Sofort wandten sich alle von ihr ab und gaben vor, beschäftigt zu sein. Red musterte die drei Spanierinnen an der nur wenige Meter entfernten Theke einen Moment. Sie schauten zwar nicht mehr zu ihr, aber Red wusste genau, dass sie über sie sprachen. Im Stillen ermahnte sie sich, sich zusammen zu reißen. Auch wenn es dafür wohl ein wenig zu spät war.
     „Ich sollte mal langsam an meinen Schreibtisch zurück...“
     Sams Stimme ließ Red herumwirbeln. Der Wärter stand noch immer auf der Schwelle, nun jedoch mit dem Rücken zum Büro. Auf seinen Wangen lag noch ein Hauch von Röte. Er lächelte. Red hasste es, wie groß das Bedauern war, das sie mit einem Mal empfand. Schon sah sie sich den Rest des endlos langen Tages seufzend und ruhelos auf dem Stuhl im Büro hocken, mit den Augen alle paar Minuten nach der Wanduhr spähend.
     „Oh, sicher. Manchmal vergesse ich, dass es ihr Leute gibt, die tatsächlich was zu tun haben...“ Mit einem matten Lächeln wollte sie zurück ins Büro treten. Aber ehe sie die Schwelle erreichte, hob Sam plötzlich die Hand und umschloss sanft ihren Oberarm. Seine Stimme senkte sich fast bis auf ein Flüstern.
     „Hey, ähm...könntest du eventuell später zu mir ins Büro kommen...wenn es dir passt? Es gibt da etwas, das ich...das ich gern unter vier Augen besprechen würde.“
     Da war er also endlich – der heiße Brei. Red musterte seine von Nervosität und Hoffnung erfüllten Züge. Sie hoffte inständig, dass es ihr nur halb so gut wie sonst gelang, ihre eigenen Gefühle zu verbergen. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, herauszufinden, was er auf dem Herzen hatte. Andererseits fürchtete sie sich davor. Die unsterbliche Vernunft in ihrem Innern ließ bereits jetzt alle Alarmglocken läuten.
     „Ich werde es versuchen, aber bei all der Arbeit, die sich hier anhäuft, kann ich leider nichts versprechen.“
     Er lachte, ließ ihren Arm los und setzte sich in Bewegung. Red verweilte auf der Türschwelle und sah ihm nach. Es kribbelte kaum merklich in ihrer Magengrube, als Sam Healy noch einmal den Kopf wandte und ihr zulächelte, ehe er die Küche verließ. Hastig kehrte Red den übrigen Frauen den Rücken zu, unsicher was ihr eigenes Gesicht im Augenblick alles preisgab. Sie schlenderte hinüber zum Stuhl und ließ sich darauf sinken. Sogleich wanderte ihr Blick zur Uhr an der Wand und sie fragte sich, wie viel Zeit sie wohl verstreichen lassen müsste, ehe sie Sams Büro aufsuchen konnte, ohne dabei zu neugierig und sehnsüchtig zu wirken.

     Der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr passierte die winzige Zwölf und besiegelte damit seinen Feierabend. Statt dieser Erkenntnis mit einer freudigen Reaktion, wie sie die meisten Menschen wohl gezeigt hätten, zu begegnen, blieb Sam Healy reglos sitzen und sah zu wie der Zeiger weiter seine Runden drehte. Ein leises Seufzen entwich seinen Lungen. Fast sechs Stunden waren vergangen, seit er mit Red zuletzt getroffen hatte. Es war ihm nicht leicht gefallen sich seitdem auf die Arbeit zu konzentrieren, von der es für ihn wirklich mehr als genug zu erledigen gab. Als die Köchin kurz nach vier noch immer nicht an seine Tür geklopft hatte, war es ihm nur mit großer Mühe gelungen, sich davon abzuhalten, sie noch einmal in der Küche aufzusuchen und an das Gespräch zu erinnern, um das er sie gebeten hatte. Nachdem er mittags in sein Büro zurückgekehrt war, war er in Hochstimmung und überzeugt gewesen, dass diese durch nichts und niemanden getrübt werden könnte. Natürlich stimmte das nicht. Es gab eine Person, die alles wieder zunichte machen konnte, wenn sie wollte. Dieselbe, die ihn überhaupt erst so euphorisch gestimmt hatte. Geistesabwesend tastete Sam nach dem Knopf an seinem Hemd, den Red für ihn geschlossen hatte. Ihr war völlig klar gewesen, dass er ihn mit Absicht ausgelassen hatte, das hatte er ihr angesehen. Trotzdem war sie darauf eingegangen. Weil sie es wollte. Einen anderen Grund konnte es nicht geben. Sam wusste sehr wohl, sie hätte ohne Weiteres mit ihm spielen können wie sie es schon einmal getan hatte. Er wünschte sich viel zu sehr, dass ihre Zuneigung zu ihm echt und bedeutsam war, als dass er ihr Spiel je rechtzeitig hätte erkennen können. Doch er wusste, dass es diesmal anders war. Ganz sicher. Er hatte die Tränen in ihren Augen gesehen und er hatte gespürt wie sie sich an ihn gedrückt hatte, als sie einander in der leeren Küche umarmt hatten. Das war alles echt gewesen. Ganz gleich was sie sagen oder nicht sagen mochte, Sam konnte sicher sein, dass sie tief im Innern etwas für ihn empfand. Nur wie viel? Und von welcher Art? Und wenn es das war, was er sich wünschte, weshalb war sie dann nicht zu ihm gekommen?
     Alles in ihm sträubte sich dagegen, der Realität ins Auge zu blicken, aber Sam wusste, er konnte nicht die ganze Nacht hier sitzen und Trübsal blasen. Er würde niedergeschlagen nach Hause fahren und sich dort weiter den Kopf zerbrechen und seine Wunden lecken. Schweren Herzens stand er auf und begann sehr langsam und lustlos seine Tasche zu packen. Als er damit fertig war und sich gerade die Jacke überstreifen wollte, sprang plötzlich die Tür auf. Eine wohlige Wärme breitete sich in Windeseile in seinem gesamten Körper aus und mit einem Mal fühlte er sich so leicht als hätte er im Bruchteil einer Sekunde all seine überflüssigen Pfunde verloren.
     Galina Reznikov war leicht außer Atem als wäre sie in aller Eile durch die Flure gestürmt. Sam konnte sich nur an eine handvoll Gelegenheiten erinnern, bei denen er sie in erhöhtem Tempo umherlaufen gesehen hatte. Es gab nicht vieles, was Red als wichtig genug ansah, um dafür jegliche Gemächlichkeit aufzugeben.
     „Tut mir leid, Sam! Es gab ein paar Probleme in der Küche, ich hab' die Zeit aus den Augen verloren...“
     Sam machte sich nicht die Mühe, darüber nachzudenken, ob das stimmte oder nur ein weiterer Schachzug einer gewieften Frau war. Es interessierte ihn gar nicht. Er war einfach nur froh, sie zu sehen. Achtlos warf er seine Jacke auf den Stuhl hinterm Schreibtisch.
     „Gar kein Problem. Schön, dass du es noch geschafft hast. Bitte, setz dich doch.“
     „Danke.“ Ehe sie seiner Aufforderung nachkam, schloss Red sorgfältig die Tür. Für einen kurzen Moment zuckte unterdrückter Schmerz durch ihre Züge, als sie sich auf dem kleinen Sofa niederließ, auf das Sam gedeutet hatte.
     „Der Rücken?“, fragte er mitfühlend nach.
     „Immer! Egal was ich tue oder nicht tue. Arbeite ich den ganzen Tag, habe ich Schmerzen. Sitze ich den ganzen Tag rum, habe ich Schmerzen.“ Red winkte ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.
     Unterdessen trat Sam wieder hinter seinen Schreibtisch. Er öffnete seine Tasche und begann sie zu durchsuchen. „Darüber wollte ich mit dir sprechen...“
     Von Red kam ein leises Glucksen. „Oh, großartig! Lass mich raten: du hast Caputo dazu überredet, einen Physiotherapeuten einzustellen, der mich jeden Morgen und Abend massieren wird.“
     Sam warf ihr ein flüchtiges Lächeln zu. In der Tasche fingen seine Hände an zu zittern. Er hatte gefunden wonach er gesucht hatte. Aber er zog es noch nicht hervor. Es war doch erstaunlich, wie der Mensch im Laufe seines Lebens etliches dazulernte und aus seinen Fehlern Konsequenzen zog. Doch die nagende Nervosität in Gegenwart einer Person, zu der man sich hingezogen fühlte, vermochte niemand in keinem Alter je abzuschütteln.
     „Da muss ich dich leider enttäuschen. Aber ich hoffe, die Alternative dazu wird wenigstens ein bißchen hilfreich sein...“ Er räusperte sich. Endlich zog er die Hände aus der Tasche und kam um den Schreibtisch herum und auf Red zu. Erwartungsvoll und neugierig beobachtete sie ihn. Sam blieb vor ihr stehen. Er hatte das Folgende tatsächlich ein paarmal laut vor sich hin gesprochen, um zu testen, ob es ihm gelingen würde, es beiläufig klingen zu lassen. Nun, da es soweit war, platzte es allerdings aus ihm heraus wie eine Lawine. „Meine Cousine Leanne, sie hat sechs Kinder und außerdem noch ihre eigene Gärtnerei. Jedenfalls leidet sie auch schon ihr halbes Leben unter starken Rückenschmerzen und nichts hat ihr so richtig geholfen, bis sie das hier entdeckt hat und...also, na ja, ich...ähm...ich dachte, vielleicht bringt es dir auch etwas...“
     Red beugte sich vor, um das kleine, rote Döschen, das er ihr hinhielt, entgegen zu nehmen. Wie schon am Abend zuvor, als er ihr die Schlüssel gereicht hatte, berührten sich ihre Hände für einen kurzen Augenblick. Sam war erleichtert, dass Red sogleich ihre Lesebrille aufsetzte, um die kleine Beschriftung auf der Dose entziffern zu können. So bekam sie nicht mit, dass Sam keine Ahnung hatte, was er mit seinen eigenen Händen anstellen sollte. Schließlich ließ er sie in die Hosentaschen gleiten. Wie auf glühenden Kohlen stand er da und wartete auf Reds Urteil über sein Geschenk. Angestrengt beobachtete er, wie ihre blauen Augen die Beschriftung überflogen. Er schluckte, als sie sich plötzlich auf ihn richteten. Red setzte die Brille wieder ab. Kleine Fältchen legten sich in die äußeren Winkel ihrer Augen, als sie lächelte.
     „Vielen Dank, Sam. Das ist sehr aufmerksam. Ich werde sie gleich nachher ausprobieren. Mit etwas Glück kann Caputo sich doch noch den Physiotherapeuten sparen...“
     Sam lachte und spürte ein kleines Feuerwerk in seinem Innern starten, als Red mit einstimmte. Drei Apotheken hatte er vor der Arbeit noch abgeklappert, um die Salbe zu besorgen, die Leanne ihm gestern Abend am Telefon empfohlen hatte. Sie war zurecht gründlich verwirrt gewesen, dass er sie zu so später Stunde wegen einer – in ihren Augen – solchen Nichtigkeit angerufen hatte. Zumal sie sich für gewöhnlich nur zu Geburtstagen, Weihnachten und zum Überbringen von Sterbenachrichten aus der Verwandtschaft anriefen. Doch Sam wäre sogar persönlich bei ihr in Kanada aufgelaufen, wenn es nötig gewesen wäre, um heute in diesem Moment dieses strahlende Lächeln auf Galina Reznikovs roten Lippen sehen zu können.
     Nach einer Weile wurde es sehr still im Raum. Vom Flur drang nur gedämpft der Klang verlorener Schritte herein, ansonsten war alles ruhig. Sam pochte das Blut in den Ohren. Nicht zum ersten und garantiert auch nicht zum letzten Mal in seinem Leben wünschte er sich, ungezwungene Konversation hätte zu den Dingen gehört, die ihm leicht vielen. Diese Liste war nicht sehr lang und das, was darauf stand, konnte auch nicht gerade Eindruck schinden. In seiner Vorstellung waren die Unterhaltungen mit Red stets lang, tiefsinnig und ohne jegliche Unterbrechung, ohne peinliche Pausen oder holprigen Übergängen. In echt war das so viel schwieriger. Da war seine ständige Angst, etwas Dummes zu sagen. Das passierte ihm oft genug, wenn er nervös war. Zudem fühlte er sich ihr gegenüber stark unterlegen, was Wortgewandtheit und vor allem Schlagfertigkeit anging. Sie hätte ihn in einem Atemzug komplett zusammenfalten können, wenn es ihr Wunsch gewesen wäre. Tat sie aber nicht. Sie saß auf dem Sofa und erwiderte seinen Blick. Und zu seiner großen Überraschung tat sie das nicht viel weniger verlegen und ratlos als er. War das ein gutes Zeichen? Oder eher nicht?
     „Vielleicht...vielleicht sollte ich gehen. Ich will dich nicht um deinen wohl verdienten Feierabend bringen.“
     Sie war schon halb aufgestanden, als Sam hastig die Hände aus den Taschen zog und ihr bedeutete, sitzen zu bleiben.
     „Oh nein, bitte! Ich habe noch Zeit.“ Kaum dass er das ausgesprochen hatte, wurde er unsicher und ruderte zurück. „Aber falls du noch etwas zu erledigen hast, will ich dich natürlich nicht aufhalten...“
     Red schüttelte den Kopf. „Nein, nein! Für heute ist Schluss für mich, die Sklaven kratzen nur noch meine restliche Würde vom Fußboden. Und was bringt es, früh ins Bett zu gehen, wenn ich sowieso nicht schlafen kann?“
     Sam, der gerade neben ihr Platz nahm, musterte sie von der Seite. Es entging ihm nicht, dass sie nach ihren letzten Worten rasch den Blick auf die Salbe in ihren Händen richtete und sich ein zarter, rosafarbener Hauch auf ihre Wangen legte. Er wagte es nicht, in Betracht zu ziehen, es könne die Erinnerung an ihre gestrige Umarmung gewesen sein, die sie genauso wachhielt wie ihn.
     „Wegen deinem Rücken?“
     „Ja, der Rücken, genau“, erwiderte Red vielleicht ein wenig zu rasch.
     Abermals verfielen sie in Schweigen. Nun da keiner von ihnen etwas sagte, wurde Sam sich der physischen Nähe bewusst, die derzeit zwischen ihnen herrschte. Oder vielmehr des nicht vorhandenen Abstandes. Das Sofa war recht klein, sodass sie zwangsläufig so nah beieinander sitzen mussten, dass sich ihre Körper auf einer Seite leicht berührten. Sam zwang sich, nicht an das letzte Mal zu denken, als sie hier zusammen gesessen hatten. Daran wie all seine Hoffnungen und Sehnsüchte ihren Höhepunkt erreicht hatten und Galina ihn dann innerhalb weniger Sekunden hart hatte aufprallen lassen. Das schmerzte heute noch. Aber heute war sie nicht hier, weil sie einen Gefallen wollte. Sie war wegen ihm gekommen. Doch was genau sie sich erhoffte, das wusste er noch immer nicht.
     „Irgendwelche aufregenden Pläne fürs Wochenende?“
     „Hm?“ Ihre Frage riss ihn aus seinen fieberhaften Überlegungen, was er als Nächstes sagen sollte. Als ihre Worte zu ihm durchdrangen, war er einen Moment lang zu überrascht, um über die Antwort nachzudenken. Red hielt nichts von Smalltalk. Fast glaubte er, sie wolle sich über seine Schwäche dafür lustig machen. „Fürs Wochenende?“
     Red hob ihre nachgezogenen Brauen. „Wochenende. Morgen ist Samstag. Und da ich dich wohl nicht sehen werde, dachte ich, ich frage einfach mal nach, womit du deine freien Tage in Freiheit verbringst, während wir hier drinnen Schleim aus Beuteln essen und versuchen uns nicht gegenseitig aus purer Langeweile die Köpfe einzuschlagen.“
     Sams Herz sank ihm in die Magengrube. Samstag. Das hatte er vollkommen aus den Augen verloren. Er war noch nie ein Freund von Wochenenden gewesen. Sie erinnerten ihn stets nur daran, wie verkümmert sein Sozialleben war. Der Gedanke, Red zwei ganze Tage nicht sehen zu können, gefiel ihm überhaupt nicht. Ein Blick in ihre blauen Augen und die folgenden Worte gingen über seine Lippen, ohne dass er auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hätte: „Ich werde morgen hier sein.“
     Mit überraschter Miene horchte Red auf. Bildete Sam es sich nur ein oder hatte er soeben bezeugt, wie ein Anflug von Freude durch ihre hübschen Züge gehuscht war?
     „Tatsächlich?“
     „Ja, ähm...es ist viel Papierkram liegen geblieben...den möchte ich so schnell wie möglich aufarbeiten.“
     Ihr rechter Mundwinkel zuckte. Entgegen seiner Erwartung entlarvte sie diese Erklärung nicht als schlechten Vorwand. „Schön. Vielleicht kommst du vorbei und probierst eine von meinen Tomaten aus dem Garten...“
     Sams Körper spannte sich an. Die Nervosität über die Aussicht auf diese bevorstehende Verabredung verband sich mit der über die jetzige Situation und gab ihm in dieser übermächtigen Verbindung das Gefühl, er stünde kurz vor einem Kontrollverlust. Wie sehr hatte er sich gewünscht, ihr nah zu sein, mit ihr zu sprechen, zu lachen, ihre Nähe immer wieder und wieder zu suchen und in ihren Augen zu lesen, dass sie das genauso genoss wie er. Nun geschah all das und er fühlte sich regelrecht überfordert.
     „J-ja. Das würde ich sehr gerne, ja.“ Er nickte als hätten seine Worte allein seine Zustimmung nicht deutlich genug ausgedrückt. Neben ihm legte Red den Kopf ein wenig schief und betrachtete eine Stelle unterhalb seines linkes Ohrs. Sam störte sich nicht an der Stille, die nun wieder eintrat. Er hätte die ganze Nacht hier sitzen und sie einfach nur ansehen können. Ihm war aufgefallen, dass sie heute anders aussah als am Tag zuvor. In seinen Augen war sie immer schön, selbst wenn sie sich mal gehen ließ, was nur äußerst selten vorkam. Doch heute schien sie sich mit dem Herrichten ihres Äußeren besonders viel Mühe gegeben zu haben. Genau wie er. Sam dachte keine Sekunde daran, dass dies ihre genaue Vorgehensweise von damals widerspiegelte, als sie versucht hatte, seine Zuneigung für ihre Zwecke auszunutzen. Dieser Zweifel war für ihn restlos ausgeräumt.
     Beinah wäre Sam zurück gezuckt, als Red die rechte Hand hob und über die Stelle unter seinem Ohr strich, die sie zuvor gemustert hatte. Er hatte es einfach nicht kommen sehen.
     „Rasierschaum. Ich würde ja sagen, ein eindeutiges Zeichen, dass du nicht verheiratet bist. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Katya“, etwas an der Art, wie sie diesen Namen aussprach, klang sehr verächtlich, „dich darauf hingewiesen hätte.“
     „Oh...“ Hitze brannte auf seinen Wangen und er wischte sich mit der Hand über besagte Stelle. Vergewissernd suchte er Reds Blick. Bevor er seine Frage in Worte fassen konnte, beantwortete sie sie bereits mit einem Kopfschütteln. Ohne Vorwarnung leckte sie ihren Daumen ab und wischte damit über den getrockneten Rasierschaum. Sam hatte das Gefühl in seiner Uniform zu verglühen.
     Red verzog das Gesicht, ließ die Hand aber nicht sinken. „Das war furchtbar, entschuldige! Meine Tante hat das ständig bei mir gemacht, ich habe die Frau gehasst...“
     Sam versuchte sich an einem Lächeln, was seinem Gefühl nach aber gründlich misslang. Alles, was er noch konnte, war ihre Hand auf seiner Haut wahrzunehmen.
     „Darauf musst du wirklich besser achten. Das sollte mich besser niemand in der Küche oder auf den Fluren tun sehen.“ Ein letztes Mal strich Red mit den Finger über die nun saubere Stelle, dann löste sich ihre Hand von ihm. Die Nähe blieb dennoch bestehen.
     Sam musste verlernt haben zu atmen. Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick zu ersticken, wenn nicht endlich aus ihm rauskam, was auch immer aus ihm raus wollte. Hirn und Herz lieferten sich einen erbitterten Kampf um die Oberhand, um zu entscheiden, was er letztendlich tun würde. Galina war so nah, der Duft ihres Körpers, ihrer Haare lag ihm in der Nase. Ihr Arm drückte sich an seinen. Wie viele Zentimeter würde er wohl überwinden müssen, um sie zu küssen? Er starrte in ihre blauen Augen. Sie wandte sich ab.
     Enttäuschung und Erleichterung fielen gleichermaßen über ihn her. Im Stillen beschimpfte er sich selbst als Feigling. Doch gleich darauf beschlich ihn das Gefühl, es wäre ein Fehler gewesen, hier und jetzt diese Grenze zu überschreiten. Es war einfach zu früh. Gestern hatte er Red zum ersten Mal seit einem Jahr wieder gesehen. Er war gerade mal zwei Monate aus der Therapie raus und stürmte schon wieder der nächstbesten Gelegenheit in die Arme, sich das Herz brechen lassen. Sam machte sich keine Illusionen: er würde seine Gefühle für Galina nicht abstellen können. Es sprach nichts dagegen, diese Gefühle zu haben. Dass er immer gleich alle seine Hoffnung in einen anderen Menschen steckte und den Kopf verlor, das war das Problem. Und wenn er es einmal genauer betrachtete, war es auch ziemlich ungerecht Galina gegenüber. Er konnte ihr die Last, ihn glücklich machen zu müssen, nicht ungefragt aufbürden. Er musste mindestens drei Gänge zurückschalten.
     Sam atmete tief durch. In seinem Innern herrschten nach wie vor tropische Temperaturen, aber seinen Verstand glaubte er größtenteils wieder unter Kontrolle zu haben. Als er sich Red zuwandte, war ihre Miene bereits wieder so beherrscht als hätten sie sich die ganze Zeit nur zivilisiert über Klopapierrationen unterhalten. Es war ihm ein Rätsel, wie diese Frau das anstellte, aber zumindest machte es ihm das leichter, sich nun ebenfalls gefasst zu geben.
     „Tja, also...ich sollte mich jetzt wohl doch mal auf den Weg machen.“ Sam blickte absichtlich nicht auf seine Armbanduhr und verkniff sich die Bemerkung, es sei spät geworden, denn seinem Gefühl nach waren keine fünf Minuten vergangen, seit er sich neben Red auf die Couch gesetzt hatte.
     Zu seiner Erleichterung lenkte Red widerstandslos ein. „Ja, das solltest du. Genieß deinen Feierabend.“
     „Das werde ich.“ Sam sagte das, gleichwohl er wusste, er würde den ganzen Abend nur damit beschäftigt sein, sich vorzustellen, wie schön es wäre, ihn mit ihr zu verbringen. Hinter dem Schreibtisch holte er seine Tasche und seine Jacke hervor. Er folgte Red hinaus auf den Flur. Schweigend sah sie zu wie er das Licht im Büro ausknipste und die Tür abschloss. Sam schaute auf sie herab und fühlte sich wieder einmal der richtigen Worte beraubt. So war sie diejenige, die die Stille brach.
     „Danke für die Salbe. Wir sehen uns dann morgen...“
     Dieser letzte Satz klang fast wie eine Frage, weshalb Sam nickte. „Ja, wir sehen uns morgen. Beim Gedanken an deine Tomaten läuft mir jetzt schon das Wasser im Mund zusammen.“ Leider begriff er erst hinterher wie dämlich das klang. Am liebsten hätte er die Augen zusammengekniffen vor Scham. „Ich-ich meine, es gibt nichts Besseres als frisch geerntetes-“
     Aber Red lächelte nur breit und tätschelte ihm den Oberarm. „Gute Nacht, Sam. Fahr vorsichtig.“
     „Gute Nacht...“ Schon hatte sie ihm den Rücken gekehrt und entfernte sich von ihm. „...Galina.“
     Beim Klang ihres Namens drehte Red im Gehen noch einmal den Kopf. Sie lächelte. Sam erwiderte es. Nur mit großer Mühe konnte er sich dazu bringen, sich abzuwenden und in die andere Richtung zu gehen. Als er das Gebäude verließ, spürte er trotz der kühlen Abendluft gar nicht, dass er seine Jacke nicht angezogen hatte. Die Aussicht auf das morgige Wiedersehen mit Red wärmte ihn von innen heraus. Noch bevor er seinen Wagen erreichte, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Noch vierzehn quälend lange Stunden, bis er Litchfield wieder betreten würde.
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