Two Ships In The Dark
von foxinatrap
Kurzbeschreibung
Ein Jahr ist vergangen seit Sam Healy sich nach einem Selbstmordversuch in psychiatrische Behandlung begab. Für Red war es ein weiteres Jahr in Litchfield. Doch als Sam zurückkehrt, ist alles anders. Red ist sich nicht sicher, ob sie weiter an ihrer Entscheidung festhalten kann, einer Zukunft mit Sam keine Chance zu geben...
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Gen
Galina "Red" Reznikov
Sam Healy
30.05.2018
26.07.2018
7
76.775
9
30.05.2018
8.608
(1) Rückkehr
Galina Reznikov konnte die Momente, in denen sie innerhalb der letzten zehn Jahre Tränen vergossen hatte, an einer Hand abzählen. Wie jede Frau – ganz gleich wie sehr die eine oder andere es bestreiten mochte – hatte auch sie während der ersten Woche in Litchfield geweint. Nachts, wenn es dunkel war, gleichwohl das keinen Unterschied machte, da es für die Insassen ohnehin keine Privatsphäre gab. Nacht bedeutete hier Dunkelheit, aber keineswegs Ruhe oder Alleinsein. Schlafen bedeutete mit einer Ansammlung menschlicher Körper in einem Raum zu liegen und sich vorzustellen, man wäre ganz für sich. Das Wimmern und Schniefen einer oder mehrerer Personen fügte sich ganz natürlich in die übliche Geräuschkulisse atmender und schnarchender Frauen ein. Damals hatte sie es zum ersten Mal als Glück empfunden, dass sie schon früh in ihrem Leben gelernt hatte, ihre Gefühle zu schlucken und in sich zu behalten, egal wie schwer und unverdaulich sie ihr im Magen liegen mochten, egal wie dringend sie aus ihr herausplatzen wollten. Über all die langen Jahre im Gefängnis hatte sie diese Fähigkeit ausgebaut und perfektioniert, hatte sich nur einige wenige Male gestattet, einen Anflug von Schwäche zu zeigen. Und das auch nur, wenn sie sich absolut sicher gewesen war, dass es niemand sah, der es gegen sie hätte verwenden können.
Als sie die Küche an diesem Morgen verließ und die von Stimmen, Gelächter und dem Klappern von Plastikbesteck erfüllte Cafeteria durchquerte, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, dass sie für die Zählung ihrer Tränenausbrüche von diesem Tage an vier Finger würde heben müssen. Gemächlich schlenderte Red an den voll besetzten Tischen und den Pechvögeln an den Wänden vorbei, die zu spät gekommen waren, um einen der begehrten Sitzplätze zu ergattern. Sie ersparte es sich, in ihre Gesichter zu blicken. Mittlerweile hatte sie sich mit der allgemeinen Unzufriedenheit und dem Ekel über die angebotenen Speisen abgefunden, denn sie wusste, dass sie keinen Anteil daran hatte, und sie hatte mit Nachdruck dafür gesorgt, dass es auch jede andere Seele unter diesem gottverdammten Dach wusste. Sie konnte nicht behaupten, dass es das leichter machte, die tägliche Erniedrigung zu ertragen, wenn ihre Untergebenen in der Küche diese schwabbeligen, grausigen Säcke vorgefertigter Gerichte aufschnitten und diese sich wie Durchfall aus dem Hintern eines Elefanten in die metallenen Behälter ergossen.
Obwohl sie jeglichen Blick auf die Speisetabletts der Insassen gemieden hatte, stieß Red ein leises Seufzen aus, als sie die Schwelle zum Flur übertrat. Dieser Tage war es nicht leicht, auch nur für einen Moment zu vergessen, wo sie sich befand. In einem verfluchten Gefängnis, vollgestopft mit kriminellen Frauen, überwacht von korrupten, scheinheiligen, unqualifizierten, arroganten COs. Früher war ihr das tatsächlich täglich gelungen. Ohne weiteres. Alles, was es dafür gebraucht hatte, war die harte, doch erfüllende Arbeit in der Küche gewesen. Das Zubereiten genießbarer, köstlicher Gerichte hatte ihre Umgebung in jene Küche verwandelt, in der sie früher in Freiheit gestanden und voller Leidenschaft geschuftet hatte. Und jedes Lob für ihre Kochkünste, jedes leergeputzte Tablett und jede zufriedene Miene hatte in ihr eine wohlige Wärme erzeugt und sie mit vor Stolz geschwollener Brust die Gänge auf und ab schreiten lassen in dem Wissen, dass sie getan hatte, was sie auf der Welt am allerbesten konnte. Seit die Fertiggerichte Einzug in Litchfield erhalten hatten, war ihre geliebte Küche, ihr einst liebster Ort hier, zu einem Gefängnis innerhalb des Gefängnisses geworden. Dort saß sie ihre Zeit ab, von 3:30 in der Früh bis 19:00 abends, wenn alle Tabletts gespült und jede Arbeitsfläche blitzblank poliert war und es ihr vorkam als wäre ihr der gesamte Tag entglitten wie ein rohes Ei, das am Boden zersprang, aufgewischt und in den Müll geworfen wurde. Die einzigen Lichtblicke waren die Stunden, die sie im Garten oder mit der Planung und Ausführung ihrer allwöchentlichen, kleinen Festmahle verbrachte. Doch das war ein schrecklich winziger Teil ihres Lebens. Als würde man einem Kettenraucher nur einmal in der Woche eine halbe Zigarette gestatten. In manch sehr dunklen Momenten dachte sie, es wäre womöglich sogar besser gewesen, man hätte ihr alle Freude genommen statt ihr hin und wieder ein paar bittersüße Krümel zuzuwerfen.
Auf dem Weg zu den Waschräumen kam Red nicht gegen die düsteren Gedanken an, die sie immer dann überfielen, wenn ihre Hände nicht irgendetwas einpflanzten, umgruben, schnitten, schälten, umrührten oder die Seite irgendeines Buches umblätterten, das sie nicht aus Interesse las sondern aufgrund der Erkenntnis, dass selbst das stümperhafteste Geschreibsel besser war als auch nur eine Sekunde ihren eigenen Gedanken zu lauschen. Aus purer Verzweiflung begann sie auf halbem Weg vor sich hin zu summen. Das hatte sie sich während der letzten Monate angewöhnt. Die meisten ihrer Mitinsassen hielten dies fälschlicherweise für ein Anzeichen von Ausgelassenheit. Ihre Familie hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass es davon nicht weiter hätte entfernt sein können. Einzig Nicky hatte es gewagt, nachzuhaken, aber Red hatte stur geleugnet, dass irgendetwas mit ihr nicht stimme. Sie machte sich keine Illusionen, dass ihre Mädchen das glaubten. Doch zumindest hatten sie verstanden, dass sie nicht bereit war darüber zu sprechen. Ihre neue Angewohnheit bereitete Red zuweilen Sorgen. Sie fragte sich, wie viel und wie oft sie in Zukunft würde summen müssen, um ihre zunehmend finster werdernde Grübelei zu überstimmen. Zumindest war das immer noch besser als nachts unter der Bettdecke zu weinen.
Vor den Toiletten hatte sich eine Schlange gebildet. Aus einer der vorderen Kabinen drang ein widerliches Würgen und Platschen. Glücklicherweise wurde ihnen der Anblick aufgrund der im letzten Jahr eingesetzten Türen erspart. Mit einem bitteren Schmunzeln und dem Gedanken, dass das Erbrechen des undefinierbaren, lieblos produzierten Frühstücksbreis ein Zeichen von Loyalität und Respekt gegenüber ihren stark vermissten Kochkünsten war, reihte Red sich in die Wartenden ein und verschränkte die Arme. Sie zwang sich an das Dinner zu denken, das sie in zwei Tagen für eine Gruppe glücklicher Gewinner zubereiten würde. Natürlich hatte sie es längst geplant und sicher gestellt, das der Garten bereitwillig alles Benötigte hergab. Doch es tröstete sie wie ein albernes, vorgeblich weises Mantra, sich jeden einzelnen Schritt der Zubereitung bis ins kleinste Detail vorzustellen, jede mögliche Katastrophe und die entsprechende Rettung durchzuspielen. Als sie endlich an der Reihe war und die Kabinentür hinter sich zuzog, spürte sie sich von einer plötzlichen Erkenntnis überkommen. Mais. In zwei Tagen würde sie Mais bei ihrem Festmahl servieren. Es war zwar nur die Zutat in einem anderen Rezept, aber sie konnte nicht umhin sich automatisch an jenes Dinner im vergangenen Jahr zu erinnern, das diesem goldenen Schatz aus der Erde gewidmet gewesen war. Und sie konnte nicht umhin an den Mann zu denken, der es vor dem Scheitern bewahrt hatte. Das Kinn auf die Hände gestützt saß sie da, den Blick glasig gegen die geschlossene Tür gerichtet. Sie bemerkte gar nicht wie ein sanftes, trauriges Lächeln über ihre roten Lippen huschte, während sich in ihrem Kopf die Erinnerung an den Moment abspielte, in dem sie den wie aus dem Nichts erschienen Maiskolben an ihre Wange gedrückt und begriffen hatte, wer der stille Retter gewesen war.
„...aber Healy hat gesagt, er hakt mal nach. Mann, ich hoff' echt der kann mehr für mich machen als diese blöde Pute Miller!“
Mit einem Mal saß Red kerzengerade da. Ihre Rücken rebellierte, doch sie schenkte dem keine Beachtung. Die Stimmen zweier Frauen, die sich offenbar vor den Waschbecken unterhielten hatten sie aus ihren Gedanken gerissen. Unbewusst hielt sie den Atem an, nicht um den üblichen Gestank in diesem Raum zu entkommen, sondern weil sie fürchtete, auch nur ein weiteres Wort verpassen zu können.
„Ich würd' mir nich' zu viele Hoffnungen machen. Healy is' auch nich' grad der Jesus unter den Beratern. Erwarte mal keine Wunder...“
„Er is' besser als Miller!“
„Ey, die Spinne da oben an der Wand könnte ihren Job besser machen als sie!“
Red hielt es keine Sekunde länger aus. Die Spülung rauschte noch hinter ihr und sie merkte nicht einmal, dass sie ihre Klopapierrolle auf dem Spülkasten zurückgelassen hatte. Die Tür der Kabine knallte gegen die benachbarte, was der dahinter hockenden Insassin einen verärgerten Ausruf entlockte. Zwei Frauen, mit den Red bisher kein einziges Wort gewechselt hatte, erwiderten halb verwirrt, halb besorgt den bohrenden Blick ihrer weit aufgerissenen, blauen Augen. Schließlich fand sie ihre Stimmung wieder, wenn auch nicht ihre Fassung.
„Healy...“, presste Red atemlos hervor als würde es sie alle Kraft kosten. Hätte ihr Verstand nicht beim ersten Klang seines Namens ausgesetzt, hätte sie sich jetzt dafür gehasst, wie schnell und heftig ihr dummes, hoffnungsvolles Herz gegen ihre Brust schlug. Ohne Vorwarnung packte sie die linke Frau an einem ihrer dünnen Oberarme. „Du hast mit ihm gesprochen?“
Die Insassin beugte sich mit leicht verängstigter Miene zurück und warf ihrer Freundin einen hilfesuchenden Blick zu. Diese ergriff an ihrer Stelle das Wort.
„Nee, ich.“
Sofort ließ Red von der Ersten ab und trat abrupt an die Zweite heran, die sich von ihrer Intensität weniger beeindruckt zeigte.
„Er ist...er ist zurück?“, keuchte Red so ungläubig als hätte man sie soeben mit einem Rezept für Piroschki konfrontiert, das besser sein sollte als ihr eigenes.
Ihr Gegenüber zuckte die Achseln. „Ja. Seit heute.“
Red bohrte sich tiefer und tiefer in ihre trüben Augen, auf der Suche nach einem Täuschungsversuch. Sie nahm es gar nicht wahr, als sich die beiden Frauen leise tuschelnd davon machten und sich die übrigen Frauen auf dem Weg herein und heraus grummelnd an ihr vorbeischoben. Nach einer halben Ewigkeit löste sie sich aus ihrer Starre und trat wie magnetisch angezogen an das nächste Waschbecken heran. Das verzerrte Abbild ihrer Selbst blickte ihr aus dem metallenen Spiegel an der Wand entgegen. Wie in Trance hob Red die rechte Hand und strich sich durch ihre rot gefärbten Locken. Die dröge Arbeit, der Frust, das Fertigessen, die Leere, der Schmerz in ihrem Rücken – für einen Augenblick war alles wie weggeblasen, verdrängt von dem einen Gedanken, der allen Platz für sich beanspruchte. Healy war zurück.
Red wusste nicht wie lang sie in den Spiegel gestarrt hatte, als sie sich endlich des Ausdrucks in ihren eigenen Augen bewusst wurde. Hastig riss sie sich von ihrem Spiegelbild los und drehte den Wasserhahn auf. Kalte Flüssigkeit rann über ihre Haut, aber das war nicht der Grund, weshalb ihre Finger zitterten. Sie atmete mehrmals tief durch, drehte das Wasser ab und hob den Kopf. Ihre Miene war jetzt steinern. Doch ihre Augen trugen noch immer denselben Ausdruck in sich. Noch einmal atmete sie tief durch. Nichts. Sie konnte nicht loswerden, wovon sie nicht mal mehr gewusst hatte, dass sie es noch in sich trug. All die Monate. Wieder hob sie die Hand, richtete ihr Haar, prüfte ihr Makeup. Es war zwecklos. Sie konnte nicht verbergen was in ihren blauen Iris funkelte. Sie konnte nur hoffen, dass es niemand sonst sehen würde. Dass es so unbemerkt bleiben würde wie die Hitze, die in ihren nervösen Eingeweiden köchelte und ihr ein Gefühl von Fieber gab.
Sie verließ die Waschräume ohne einen Gedanken an ihr zurück gelassenen Klopapier oder ihre unerfreuliche Arbeit, die in der Küche auf sie wartete, zu verschwenden. Der Weg, den sie nun einschlug, kam ihr vor wie ein alter, vertrauter Pfad, der zugewuchert und nun wieder frei geschnitten worden war. Auch nachdem Sam Healy diese Einrichtung verlassen hatte, war Red diesen Flur hinabgegangen. Viele Male. Aus Notwendigkeit. Kein einziges Mal ohne seine Tür zu passieren und einen leichten Stich in der Brust zu spüren. Sie spürte ihn auch jetzt, als sie um die Ecke bog und die Tür zu seinem Büro in Sicht kam. Doch dieses Mal barg der Schmerz eine bittersüße Note.
Ihre Hände zitterten noch immer, als sie nur einen Meter von ihrem Ziel entfernt abrupt stehen blieb. Die Tür war geschlossen, doch die Schlitze der Jalousie des Fensters daneben ermöglichte einen Einblick in den Raum. Red schnappte nach Luft, als die Umrisse eines Mannes dahinter erschienen und wieder verschwanden. Erst in diesem Moment begriff sie, was diese Rückkehr bedeutete. In ihrem Kopf machte sich eine mahnende Stimme bemerkbar, die ihr klar zu machen versuchte, dass es eine schlechte, sehr schlechte Idee war, dieses Büro zu betreten. Als hätte sie genau das gebraucht, um es tun zu können, löste Red sich von der Stelle und klopfte mit bedeutend mehr Nachdruck als beabsichtigt gegen die Tür. Kaum dass das geschehen war, wünschte sie sich, sie hätte noch kurz gezögert, um sich sammeln zu können. Ihr Herz machte einen Hüpfer, als eine tiefe, vertraute Stimme von der anderen Seite antwortete. Als würde sie erst jetzt verstehen, dass es wirklich er war.
„Herein!“
Die Klinke drückte sich eiskalt in ihre schwitzige, warme Hand. Red gab sich alle Mühe, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren. Sie verlor jedoch jegliche Kontrolle darüber, kaum dass ihr Blick auf den Mann fiel, der hinter dem Schreibtisch saß und über einer aufgeschlagenen Akte grübelte, die rechte Hand um eine halb erhobene Kaffeetasse geschlungen. Da war er. Wo er immer gewesen war. Er war einfach verschwunden. Und nun war er einfach wieder aufgetaucht. So wie Dinge in diesem Gefängnis manchmal verschwanden und eines Tages wieder auftauchten. Alles wirkte so normal und gewöhnlich als wäre kein Tag vergangen seit dieser Mann in diesem Stuhl gesessen und seine Arbeit getan hatte.
Red stand auf der Schwelle, unfähig auch nur ein Wort hervorzubringen. Als sich kein Schwall von Beschwerden, Sorgen oder Beleidigungen über ihn ergoss, schien Sam Healy argwöhnisch zu werden. Er hob den Kopf. Seine zuvor ausdruckslose Miene entglitt in eine Mischung aus Überraschung und Erkenntnis. Ohne sich selbst sehen zu können, wusste Red, dass sie genau den gleichen Ausdruck trug.
„Red...“
„Sam...“
Beides war kaum mehr als ein Hauchen gewesen als müssten sie fürchten, der Andere würde sich in Luft auflösen wie eine Illusion, wenn sie seinen Namen zu laut und klar aussprachen. Healy war nie besonders begabt mit Worten gewesen, besonders verlegen um genau diese in den Momenten, die am meisten zählten. Red war seltsam froh, diese Schwäche an ihm erhalten zu sehen. Sie blieb wo sie war, machte keine Anstalten die Tür zu schließen oder Platz zu nehmen wie sie es in alten Zeiten ganz selbstverständlich getan hätte. Sie sah ihn, sie hörte ihn, aber sie konnte dem Ganzen noch nicht so recht vertrauten.
„So, du bist also...zurück.“
Healy nickte. Sein Gesicht kämpfte mit mehreren Emotionen und das Lächeln, das er aufsetzte, wenn es auch ehrlich war, wirkte ein wenig missraten. „Bin ich.“
„Ich wusste immer, dass du ein Wiederholungstäter bist.“
Er lachte, nicht ahnend, dass sie bei dieser Bemerkung an all die Fehler dachte, die er seit sie ihn kannte immer wieder begangen hatte. Kleine und große. Ob dies hier ein Fehler war oder nicht, hätte sie auch nicht sagen können. Es war ihr auch egal. Ihn hier in diesem Büro zu sehen, rückte alles wieder gerade, was sich während der letzten Monate so falsch und aus der Ordnung geraten angefühlt hatte. Die Veränderungen, die Red während all der Jahre im Gefängnis erlebt hatte, waren in den meisten Fällen keine guten gewesen. Dennoch war es ihr immer irgendwie gelungen, sich damit abzufinden und zu arrangieren. Healys plötzliches Verschwinden hatte sie auf schmerzlichste Weise daran erinnert, wie machtlos sie an diesem Ort war. Und dabei besaß sie von allen Insassen hier mit am meisten Macht. Nachdem sie ein Jahrzehnt stets in dieses Büro hatte stürmen und diesem Mann Gefälligkeiten hatte abluchsen können, war sie unfähig gewesen, sich damit abzufinden, dass diese Möglichkeit nicht länger bestand. Einfach weg, gestrichen wie die einst befriedigende Arbeit in der Küche. Sie stand da auf der Schwelle wie ein Kind, das das Bonbonglas geöffnet auf dem Tisch vorfand und zu verängstigt war, um sich daran gütlich zu tun.
„Warum setzt du dich nicht, Red?“ Healy deutete auf den freien Stuhl ihm gegenüber und erhob sich im gleichen Zug von seinem eigenen.
Mit einem Mal hatte Red alle Mühe, nicht fluchtartig davon zu laufen. Sie fragte sich, was sie hier tat, dabei wusste sie es genau. Sie sagte sich, sie sollte es ein lassen, und tat es trotzdem. Hilflos ließ sie ihr gespaltenes Inneres mit sich selbst ringen, während sie gleichzeitig versuchte, eine Antwort auf Healys Frage zu finden, die eigentlich mehr eine Aufforderung oder Einladung gewesen war.
„Oh, ich...ich sollte zurück in die Küche. Das Frühstück ist noch im Gange...“ Noch während ihre Zunge die Worte formte, änderte sie ihre Meinung, nicht zuletzt aufgrund des hoffnungsvollen Ausdrucks, der sich immer deutlicher in Healys Zügen niederschlug. Sie winkte ab. „Ach was! Dieses sogenannte Essen wird nicht besser schmecken, wenn ich gelangweilt daneben stehe. Ich hab' wohl ein, zwei Momente übrig...“
„Schön.“
Nach einem weiteren unsicheren Lächeln von Healy schritt Red endlich über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich. Der Weg bis zum Schreibtisch kam ihm länger vor als früher. Sie bewegte sich in diesem wohl bekannten Zimmer so zögerlich wie an jenem Tag, an dem sie es zum allerersten Mal betreten hatte. Alles war alt und vertraut. Alles bis auf das Gefühl in ihrem Innern, das sich jedes Mal intensivierte, wenn sich ihr und Healys Blicke kreuzten. Sie passierte das kleine Sofa, auf dem sie mit dem Mann gesessen und seine Schwäche für sie auszunutzen versucht hatte. Sie zog den Stuhl zurück und ließ sich langsam nieder. Dabei dachte sie an den Tag, als auf dem diesem Platz Sam Healys verwöhnte, gekaufte Ehefrau Katya gesessen hatte, ihre übliche Sauertopfmiene so präsent wie ihr zu stark aufgetragenes Makeup. Red erinnerte sich, wie ihr der Kragen geplatzt und ihre ehrliche Meinung über den Berater aus ihr herausprudelt war. An seinen ungläubigen, überraschten Ausdruck. Dann sah sie ihn an, wie er unverändert dastand. Er war nicht mehr derselbe Mann, sie war nicht mehr dieselbe Frau. Und doch erkannten sie einander. Red wusste, wenn sie gewollt hätten, hätten sie im Bruchteil einer Sekunde zu ihren alten Umgangsformen zurückfinden können. Offen, direkt, fordernd und etwas barsch von ihrer Seite aus, nachgiebig, naiv, nachtragend und zuweilen beleidigt von seiner. Aber stets freundlich und wohlwollend von beiden Seiten aus. So respektvoll wie die jeweilige Situation es eben erlaubte. Red scheiterte daran, ihre eigene Position oder auch nur irgendein Ziel oder Anliegen im Hier und Jetzt auszumachen. Ihr wurde klar, dass sie nie zuvor hierher gekommen war, ohne einen einzigen Hintergedanken im Kopf. Nun, vielleicht einmal. Ein einziges Mal, als sie ihm zum Dank für den Mais einen Teller des Gerichts auf den Schreibtisch gestellt hatte. Darüber war zwischen ihnen nie ein Wort gefallen. Alles, was über ihre Symbiose, ihr geradezu geschäftliches Geben und Nehmen hinausgegangen war, war ohne viele und oft sogar ohne jede Worte ausgekommen. Für gewöhnlich fiel es Red alles andere als schwer, Dinge offen anzusprechen. Den Elefanten, der jetzt mit ihnen im Raum stand, konnte sie allerdings nicht einfach in Worte verpacken. Sie wusste, dass er da war. Aber sie weigerte sich, ihn sich anzusehen und klar zu machen, was er zu bedeuten hatte.
„Etwas zu trinken?“
Red lehnte mit einer Geste ihrer Hand ab. „Ich brauche nichts, danke.“
Langsam sank Healy zurück auf seinen Drehstuhl. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während sie sich gegenseitig musterten, gleichwohl sie längst festgestellt hatten, dass das knappe Jahr, das seit ihrer letzten Begegnung verstrichen war, keine nennenswerten Veränderungen oder sichtbaren Spuren hinterlassen hatte. Red sah ihm an, dass er nach einem Einstieg ins Gespräch suchte, und ahnte, dass er wohl einen langen Umweg über Smalltalk und unnütze Höflichkeiten genommen hätte. So ergriff sie das Worte ehe er es tun konnte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst. Nach dem, was passiert ist.“
Die nervöse Freude, die bisher Healys Miene regiert hatte, entglitt ihm. Ihre Direktheit schmetterte ihn nicht nieder, ließ ihn nicht sprachlos zurück wie sie es vor einem Jahr noch sicher getan hätte. Er schluckte zwar schwer, fand jedoch schnell und gefasst eine Antwort.
„Du hast es also gehört...“
Red hob eine Augenbraue und las in seinem Gesicht, dass sie es nicht mehr aussprechen musste: natürlich hatte sie es gehört. Als ob ihr je etwas Wichtiges an diesem Ort entgangen wäre. Es hatte zwei Tage gedauert, bis die Nachricht von Healys Schicksal die Runde gemacht und Red erreicht hatte. Woher die Information ursprünglich gekommen war, wusste sie gar nicht. Wahrscheinlich hatte einer der Wärter geplaudert. Die drei Wochen bis Caputo einen Ersatz für den Berater gefunden und das Thema auch endlich unter den Insassen ein Ende gefunden hatte, waren eine wahre Tortur für Red gewesen. Sie hatte es nicht ertragen können wie die Frauen aus purer Langeweile wilde Vermutungen über Healys Selbstmordversuch und seinen Aufenthalt in der Psychiatrie angestellt hatten. Als eine Gruppe besonders rücksichtsloser Weiber auf die Idee gekommen war, Wetten über die Art des Selbstmordes abzuschließen, war Red der Geduldsfaden gerissen und sie hatte sie in der vollgestopften Cafeteria über matschigem Fleischbrei und bräunlichen Erbsen zur Schnecke gemacht. Von da an hatte niemand mehr auch nur ein einziges Wort über Sam Healy in ihrer Gegenwart verloren. Red hatte versucht, mehr herauszufinden. In welcher Einrichtung er war, mit der vagen Idee im Hinterkopf, ihm zu schreiben oder ihn anzurufen. Doch als Caputo ihr keine Auskunft darüber hatte geben können, hatte sie aufgegeben. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie Healy hätte sagen sollen. Jetzt, da er ihr gegenüber saß, fiel ihr so viel auf einmal ein, was sie ihm sagen wollte, sagen musste – und dennoch blieb sie stumm. Um sich selbst zu schützen oder ihn, da war sie sich nicht sicher.
Healy öffnete gerade den Mund, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen, der Red verriet, das er abermals versuchen wollte, das Gespräch in seichtere Gewässer zu lenken. Red kam ihm zuvor.
„Warum hast du es getan?“
Er wirkte nicht überrascht, diese Frage zu hören. Seine Antwort zeugte sogar davon, dass er sich sehr viele Gedanken darüber gemacht hatte. Keine unbedingt ehrliche Antwort. Eine zurecht gefeilte, eine, die nicht schockierte oder eine Flut von Mitleid auslöste. Es war eine diplomatische Antwort, mit der Red nicht das Geringste anfangen konnte.
„Na ja...“ Seine rechte Hand umschloss seine linke. „Ich war damals in schlechter Verfassung...an einem sehr düsteren Ort, wenn du so willst.“
Bevor sie sich selbst davon abhalten konnte, gab Red ein verächtliches Schnauben von sich. „Ein düsterer Ort? Du arbeitest an einem düsteren Ort. Das hat dir die letzten zwanzig Jahre auch nichts ausgemacht.“ Sie lehnte sich vor, stützte einen Arm auf den Tisch und bohrte sich tief in seine blassblauen Augen. „Jetzt wo du bewiesen hast, dass du immer noch diverse Floskeln beherrschst, wie wär's mit einer ehrlichen Antwort?“
Healy hielt ihrem Blick nicht lange stand. Er senkte den seinen und rieb sich mit einer Hand die Stirn. Ein Seufzen drang aus seiner Kehle. Es war nur allzu offensichtlich, dass er sich diese Unterhaltung ganz anders vorgestellt hatte. Er war ein hoffnungsloser Träumer. Ein Romantiker. Er konnte eine Person noch so gut kennen, er hielt stets an der unrealistischsten Version von ihr fest, einfach weil er sich so sehr wünschte, sie würde wahr werden. Selbst jetzt noch, da ihn die Realität auf so heftige Weise eingeholt hatte.
Als er sprach, tat er es mit ruhiger Stimme, fast schon gelassen. Das machte das, was er von sich gab jedoch auch nicht besser. „Du musst mich das wirklich nicht fragen. Was passiert ist, ist passiert. Es geht mir besser. Ich bin drüber hinweg.“
Red starrte ihn an. Langsam wie sich das Pfeifen eines Wasserkessels aufbaute, kochte eine heiße, stechende Emotion in ihr auf, füllte sie vollständig aus und ließ alle Nervosität, Freude, Unsicherheit und Hoffnung angesichts dieses Wiedersehens in Vergessenheit geraten. Wie versteinert hockte sie da, während sich ihre Brauen verengten, ihr Mund zu einem Strich verschmälerte und sie versuchte zu entscheiden, ob sie ihrem Ärger Luft machen oder Healy mit dieser dämlichen Antwort davon kommen lassen sollte. Ein Teil von ihr wollte ihrem Wiedersehen etwas Unbeschwertes und Friedliches verleihen statt es gleich wieder kompliziert und frustrierend werden zu lassen. Es war schön und unverhofft, ihn wieder hier zu haben. Doch das änderte nichts daran, dass er ein Idiot und sie viel zu temperamentvoll war für diese Art von Nachsicht. Ein Romantiker hätte wohl den Frieden gewahrt. Red hatte früh festgestellt, dass Romantik ein Luxus war, den sie sich nicht leisten konnte. Erst recht nicht hier drin. Ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut.
„Du bist drüber hinweg? Du bist drüber hinweg?“ Sie klatschte die Hände zusammen, ein falsches, kaltes Lächeln auf den Lippen. „Wie schön für dich! Und was für eine Erleichterung für mich. Jetzt kann ich endlich aufhören so zu tun als wäre ich ein echter Mensch mit echten Gefühlen und Sorgen und kann wieder ungestört Kotze in Tüten aufwärmen. Hurra!“
Noch bevor er den Mund aufklappen konnte, war sie auf den Beinen und stapfte zur Tür hinüber.
„Red! Warte, ich-“
Sie riss die Tür auf und mit einem letzten vernichtenden Blick auf ihn stürmte sie aus dem Büro. Ihre Schritte verlangsamten sich erst, als sie den Flur hinter sich gelassen hatte. Schließlich kam sie ganz zum Stehen, ihre linke Schulter sank gegen die Wand. Frauen auf dem Weg zum Frühstück strömten an ihr vorbei, doch sie nahm sie gar nicht wahr. Red schaute hinab auf ihre Hände. Sie hatten aufgehört zu zittern. Als sei ihrem Körper etwas zugeführt worden, das er vermisst hatte. Die Wut ebbte allmählich ab. Zurück blieb ihr hämmerndes Herz, das ihr einfach nicht gestatten wollte, sie selbst zu sein. Denn das war sie nicht. Schon seit einem Jahr nicht mehr. Sie wollte es sich gar nicht eingestehen, aber es war zu offensichtlich, um es zu leugnen: Sam Healy hatte eine Leere in ihr gefüllt, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihm gegolten hatte.
Red stieß ein Seufzen aus und schüttelte leicht den Kopf. Vor einem Jahr hätte sie sich nicht vorstellen können, dass es jemals eine Belastung, ein Ärgernis sein könnte, ihre geliebte Küche zurückzubekommen. Hätte sie sich in den vergangenen Monaten gestattet, eingehend über Sam Healy nachzudenken, hätte sie sich wohl genauso wenig vorstellen können, dass seine Rückkehr etwas Anderes für sie sein könnte als ein Grund zur Freude. Doch Fakt war: es war nicht nur die Rückkehr eines umgänglichen Beraters, eines wohlwollenden Verbündeten in dieser Welt voller Hindernisse und Feinde. Es war die Rückkehr eines Mannes, den sie mehr vermisst hatte als sie je hätte zugeben wollen.
Es war ein Fehler gewesen, sein Büro zu betreten. Unvermeidlich. Aber nichtsdestotrotz ein Fehler.
Sam Healy war nie sonderlich gut mit Worten gewesen. Man hätte meinen können, ein Jahr wäre genug Zeit gewesen, sich auf dieses Gespräch vorzubereiten, von dem er gewusst hatte, es würde auf ihn zukommen, so sicher wie der Frühling auf den Winter folgte. Doch wie üblich war in seiner Vorstellung alles ganz anders und bedeutend leichter gewesen. Statt sich an die Fakten zu halten und die Sache realistisch zu betrachten, hatte er nur daran gedacht, wie schön es sein würde, Galina Reznikov wiederzusehen. Alles, was zählte, hatte er außer Acht gelassen: sein wortloses Verschwinden, den Gefängnisfunk, durch welchen den Insassen so gut wie nichts entging – schon gar nicht die Selbsteinweisung eines Wärters in die Psychiatrie. Er hatte nicht daran gedacht, wie nervös er sein würde, wenn sie ihm endlich gegenüber saß. Nicht an ihr Talent, ihn mit ihrer direkten, ehrlichen Art zu überfahren und die Sprache zu verschlagen. Nicht einmal daran, dass für sie ein weiteres Jahr in Gefangenschaft vergangen war, ein Jahr, in dem womöglich etliche Dinge geschehen waren, die sie belastet oder verletzt hatten. Dinge, bei denen er ihr vielleicht sogar hätte helfen können, wäre er hier gewesen. Einmal mehr musste er feststellen, dass seine Fantasie ihn in die Irre geführt hatte.
Nachdem Red das Büro verlassen hatte, saß er einige Minuten reglos da und starrte auf den nun leeren Stuhl vor sich. Erst jetzt fielen ihm Worte ein, die in dieser Unterhaltung sehr passend und hilfreich gewesen wären und wohl zu einem erfreulicheren Ergebnis geführt hätten. Zunächst ergriff ihn Enttäuschung. Über seine eigene Unfähigkeit, über Reds Reaktion, die er sich so viel positiver und freudiger ausgemalt hatte. Dann fiel sein Blick auf das grüne Silikonarmband, das halb unter dem Ärmel seines Uniformhemdes verborgen war. Sam zog es darunter hervor und las zum unendlichsten Mal seit seiner Entlassung aus der psychiatrischen Klinik die in weißen Lettern geschriebenen Worte: Sieh das Positive.
Abermals wanderten seine Augen zu dem leeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. Das Positive. Reds vor unterdrückter Wut bebende Stimme hallte in seinem Kopf wider. Es war wohl als positiv anzusehen, dass sie ihm keine Ohrfeige verpasst hatte. Beim Anblick ihrer vor Zorn funkelnden Augen hatte er für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich geglaubt, sie könnte es tun. Unwillkürlich musste Sam lächeln. So sehr er sich auch einen anderen Verlauf für ihre Unterhaltung gewünscht hätte, die Realität bewies zumindest, dass Galina noch dieselbe temperamentvolle, stolze Frau war, die er hier zurückgelassen hatte. Das war definitiv etwas Positives. Sie wäre nicht die Erste gewesen, die sich innerhalb eines Jahres in dieser Einrichtung komplett verändert hatte. Sam wusste nur allzu gut was dieser Ort mit einem Menschen anstellen konnte.
Noch einmal ließ er sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Und langsam, ganz langsam wurde ihm klar, was sie da eigentlich gesagt hatte. Jetzt kann ich endlich aufhören so zu tun als wäre ich ein echter Mensch mit echten Gefühlen und Sorgen... Sie war zornig geworden, weil er dieses heikle Thema einfach abgetan hatte als sei es etwas, das nur ihn allein betraf. Genauso hatte er es auch gesehen. Vor einem Jahr, als er in den See gegangen war, schien es keine Menschenseele interessiert zu haben, was mit ihm geschah. Er hatte nicht gedacht, dass Red je erfahren würde, was er sich versucht hatte anzutun. Aber vor allem hatte er nicht damit gerechnet, dass es wirklich treffen würde. Es war ihr nicht egal. Er war ihr nicht egal.
Sam atmete tief durch und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. Mit einem Mal fühlte er sich ganz leicht und alle Enttäuschung über das Gespräch war verflogen. Tatsächlich kam es ihm nun vor als hätte es gar nicht besser laufen können. Red sorgte sich um ihn. Das hatte ihr Ärger bewiesen. Damit konnte er arbeiten. Es war die beste Grundlage, um ihr vertrauliches Verhältnis zueinander auf neue Beine zu stellen. Er würde ihr etwas Zeit geben, sich zu beruhigen und an den Gedanken zu gewöhnen, dass er zurück war. Ursprünglich war es ohnehin sein Plan gewesen, sie erst am Abend aufzusuchen, wenn sein erster Tag zurück an seinem alten Arbeitsplatz überstanden war. Er würde sie in der Küche antreffen, wo sie wie immer die Letzte sein würde. Ganz wie in alten Zeiten. Darauf konnte er sich verlassen. Und dann würde er ihr endlich alles sagen, was er sich zurechtgelegt hatte. Er nahm es sich fest vor, ehe er leise summend zu den Akten vor sich zurückkehrte, in Gedanken längst in der nächsten Fantasieversion ihres nächsten Gesprächs.
Die Cafeteria lag still und dunkel da. Nur aus der Küche drang noch Licht. Alles, was Sam hörte, war das Geräusch seiner eigenen Schritte in dem großen Raum. Je näher er der Küche kam, desto bewusster wurde er sich seiner Nervosität. Bevor er sich auf den Weg hierher gemacht hatte, war er im Stillen noch mehrere Male alles durchgegangen, was er in der bevorstehenden Unterhaltung loswerden wollte. Nun da er hier und kurz davor war, die Sache anzugehen, stellte er plötzlich fest, dass all die sorgfältig zurechtgelegten Worte in seinem Kopf durcheinander flogen und keinen Sinn mehr ergeben wollten. Verunsichert blieb er stehen und lauschte in sich hinein. Seine rechte Hand schloss sich fest um den Trageriemen seiner Aktentasche, während er angestrengt versuchte, sich an den Schlachtplan zu erinnern. Ein russischer Fluch aus der Küche riss ihn aus seiner Starre. Ohne länger nachzudenken setzte er sich in Bewegung und betrat den ausladenden Raum. Auf den ersten Blick schien er menschenleer zu sein. Dann entdeckte Sam einen roten Schopf, der hinter einer der glänzenden Theken hervorlugte. Ein leises, verdrießliches Gemurmel drang an seine Ohren. Ein letztes Mal atmete er tief durch, dann ging er auf die Quelle russischen Unmuts zu.
Red kniete vor einer an die Wand gerückten Theke. Tief hinab gebeugt tastete sie mit der rechten Hand die Fliesen darunter ab.
„Alles in Ordnung hier?“
Red schreckte auf. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und sie sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie sich zu abrupt aufrichtete. Ihre linke Hand presste sich auf ihren Rücken. Besorgt überwand Sam die letzten Meter zwischen ihnen und ging vor ihr in die Hocke.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Schon gut.“ Sie winkte ab und öffnete die zuvor zusammengekniffenen Augen. Erst als sich ihre Blicke trafen, schien ihr bewusst zu werden, wen sie vor sich hatte. Für einen Moment waren sie beide wie gelähmt. Der Ausgang ihrer Unterhaltung am Morgen fegte wie eine unangenehme Duftwolke über sie hinweg. Red fing sich als Erste wieder. „Die verdammten Schlüssel sind hinter die Theke gerutscht. Ich wusste, dass würde eines Tages mal passieren, aber es war dumm zu hoffen, es würde passieren, solang mein Rücken noch halbwegs brauchbar ist.“
„Oh, ich...könnte es mal versuchen.“ Zögernd stellte Sam seine Tasche auf den Fliesen ab und beugte sich bis knapp über den Boden herab. Er entdeckte den kleinen Schlüsselbund nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt. Zumindest musste er sich keine Gedanken machen, in irgendwelchen Dreck zu fassen, denn dieser hatte in Reds Küche keinerlei Überlebenschance. Die Länge seines Armes reichte gerade so, um die Schlüssel zu erreichen. Mit einem triumphierenden Lächeln zog er sie unter der Theke hervor. „Da sind sie!“
Erleichtert stieß Red die Luft aus. „Danke, Sam! Vielen Dank.“
Ihre Hände berührten sich, als Red die Schlüssel entgegennahm. Augenblicklich wurde Sam sich des wohligen Kribbelns in seiner Magengrube bewusst, das nicht das Geringste mit dem für ihn noch ausstehenden Abendessen zu tun hatte. Es erstaunte ihn selbst, das er noch genug Vernunft aufbringen konnte, sich nicht davon übermannen zu lassen. Er zog seine Hand weg und stand auf. Red wollte es ihm gleich tun, musste jedoch mit einem leidenden Stöhnen kapitulieren. Im vollen Bewusstsein, dass er sich gerade erst dazu gezwungen hatte, von ihr abzulassen, streckte Sam die Hände nach ihr aus.
„Komm, ich helfe dir.“
„Mein verdammter Rücken!“
Dankbar ergriff Red die ihr dargebotenen Hände und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Sam konnte nicht umhin zu bemerken, dass die ihren weder weich noch samtig waren so wie er etwa Katyas in Erinnerung hatte. Nach der jahrelangen Arbeit in der Küche war das nicht überraschend. Es störte ihn auch nicht im Mindesten. Vielmehr freute er sich über diese kleine Entdeckung. Es war ihm gleich ob ihre Hände weich oder rau waren. Nur die Tatsache, zu wissen wie sich ihre Hände anfühlten, erfüllte ihn mit Freude. Als hätte sie ihn an etwas teilhaben lassen, das sie den Wenigsten zugestand.
„Man würde meinen, es wäre besser, jetzt wo ich den lieben langen Tag hier sitze und Däumchen drehe statt genießbares Essen zuzubereiten. Aber nein, es ist nur schlimmer geworden, seit ich um 3:30 aus dem Schlaf gezerrt werde, um meine tägliche Erniedrigung anzutreten. Vielleicht ist das rein psychisch. Oder vielleicht werde ich auch einfach nur älter...“
Sams Stirn legte sich in Sorgenfalten. „Wenn es so schlimm ist, solltest du dir ein Schmerzmittel verschreiben lassen.“
Ihre Reaktion war genau die, die er erwartet hatte. Dennoch war es ihm richtig erschienen, es zu sagen. Red schnaubte.
„Ich könnte mir genauso gut von einem Pferd ins Gesicht treten lassen, das wäre genauso hilfreich. Ich bin vielleicht zu alt, um einen Salto aus dem Stand zu machen, aber ich bin definitiv noch zu jung, um wie eine Tote herumzulaufen...“
Sam nahm es ihr nicht übel. Ihr unveränderter Stolz brachte ihn zum Lächeln.
„Sam...“
„Ja?“
„Du kannst mich loslassen, ich stehe.“
„Oh! Klar!“ Hastig ließ er von ihren Händen ab, ohne zu wissen was er mit seinen eigenen machen sollte. Er spürte wie sich leichte Hitze auf seinen Wangen ausbreitete. Unterdessen wandte sich Red der Theke zu und legte den Schlüsselbund neben einem aufgeschlagenen Notizbuch auf. Sam hatte sie sehr oft über diesen Seiten bedeckt mit einer engen, kleinen Schrift brüten sehen. Es waren Rezepte.
„Planst du ein Dinner?“
„In zwei Tagen“, gab Red tonlos zurück, ohne ihn anzusehen.
„Und? Was zauberst du diesmal?“
Langsam drehte die Köchin den Kopf. Ihre Miene machte jegliche Erwiderung überflüssig. Sam verging das Lächeln und er wusste, dass sie auch jetzt nicht bereit war, dieses Gespräch für ihn so bequem wie möglich zu gestalten.
„Bist du nur gekommen, um dich nach meiner Dinnerplanung zu erkundigen? Willst du vielleicht kochen lernen? Planst du selber ein Dinner und brauchst ein paar Tipps von mir? Wenn nicht, warum fragst du mich das?“
Die Zeit zwischen Frühstück und Abendessen war eindeutig nicht lang genug für sie gewesen, um sich zu beruhigen. Doch Sam ahnte, dass alle Zeit der Welt ihren Ärger nicht in Luft aufgelöst hätte.
„Red, ich versuche nur-“
„Was denn? Mich so lange mit Smalltalk und dämlichen Fragen zu überschwemmen, bis ich vergesse, dass du ohne ein Wort verschwunden bist und mich – uns alle hier einfach uns selbst und dieser Bande degenerierter Wärter überlassen hast?“
Ihre Worte versetzten ihm einen Stich, denn er wusste, es steckte Wahres darin. Zu gern hätte er den Blick gesenkt, aber er zwang sich dem ihren standzuhalten. Es half zu sehen, dass in ihren blauen Augen nicht nur Wut brannte. Natürlich sah er ihren Schmerz nicht gerne. Aber er erinnerte ihn daran, dass ihm nicht nur eine wütende Insassin gegenüber stand. Vielmehr eine alte Freundin. Eine Freundin, die er verletzt hatte, ohne überhaupt zu ahnen, dass er fähig dazu war.
„Ich dachte, ich wär' dir egal.“
Reds Augen weiteten sich, ihre Brauen krümmten sich in einen schmerzlichen Bogen und Sam war sich sicher, sie war nicht länger Herrin über ihre Züge.
„Egal?“
Sam wusste, dass es falsch war, doch in diesem Augenblick fühlte er sich schwächlich, albern und jämmerlich, weil er so etwas von sich gegeben hatte. Sein Therapeut hatte ihm eingeschärft, sich nicht für seine frühere Verfassung oder seine allgegenwärtigen Schwächen zu schämen. Sie waren menschlich. Und so erbärmlich es ihm heute auch vorkommen mochte, damals war dieses Gefühl, dass sich niemand einen Dreck um ihn scherte, sein Empfinden gewesen, seine Realität.
„Egal?“, wiederholte Red noch einmal, schien es diesmal noch weniger fassen zu können. Sam erwiderte ihren Blick, als sich plötzlich ihre rechte Hand auf seine Brust legte. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als er sah, dass in ihren Tränen glitzerten. Er schluckte schwer, unfähig etwas zu sagen, unfähig sich zu rühren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
„Du solltest mir egal sein. Ich hätte mit den Schultern zucken und weiter machen sollen wie immer, als ich hörte, was du getan hast. Ein Wärter sollte mir egal sein.“ Langsam schüttelte sie den Kopf. Ihre Finger gruben sich in den Stoff seines Hemdes. „Aber ich dachte, wir hätten längst festgestellt, dass wir beide eine besondere Beziehung haben. Du hast mich immer behandelt wie einen Menschen. Habe ich es versäumt, das zu erwidern?“
„Red, nein!“ Ohne darüber nachzudenken, umfasste er ihre Schultern. Er konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass er in der Welt dieser Frau, dieser wundervollen, mächtigen, selbstbewussten, starken Frau ein solches Beben auslösen könnte. „Du hast nichts falsch gemacht! Ich wollte nicht...ich wollte dir keine Schuld zuweisen.“
Red musterte ihn. In ihrem Innern schien irgendein Kampf stattzufinden. „Aber vielleicht bin schuldig.“
„Nein, ganz sicher nicht!“, widersprach Sam und verstärkte den Griff um ihre Schultern, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Es verfehlte seine Wirkung. Niedergeschlagen senkte Red den Kopf.
„Warum entgleiten mir dann ständig all die Menschen, die mir am meisten bedeuten? Warum verletze ich sie an irgendeinem Punkt immer wieder? Warum enttäusche ich sie immer wieder? Das ist doch kein Zufall.“
Sam wollte seinen Ohren nicht trauen. Niemals hätte er damit gerechnet, diese Worte jemals aus Galina Reznikovs Mund zu hören. In seinen Augen war sie nie jemand gewesen, der das Wort Zweifel zu seinem Wortschatz zählte. Doch er verstand sie. Er wusste viel zu gut, wie es war, wenn man in all seinem Handeln nichts als Versagen erkannte. Der Unterschied zwischen ihm und Red war jedoch, dass er in der Tat viele, viele Fehler begangen und oft versagt hatte, wenn er nicht hätte versagen dürfen. Sie dagegen besaß ein Talent dafür, immer am richtigen Ort zu richtigen Zeit das Richtige zu tun und zu sagen. Zumindest war das seine Einschätzung.
„Das ist nicht wahr. Ich habe nie jemanden gekannt, der sich besser gekümmert hat um-“
„-seine eigenen Interessen?“, fiel Red ihm ins Wort und gab ein bitteres, leicht verzweifeltes Lachen von sich.
Sam seufzte. Er fühlte sich ziemlich machtlos, wusste nicht wie er ihr begreiflich machen sollte, wie er sie sah. Wie großartig sie in seinen Augen war. Und selbst wenn ihm die richtigen Worte dafür eingefallen wären, hätte er nicht gewusst, ob er auch den Mut gehabt hätte, sie auszusprechen. Er konnte es von sich schieben und in den dunklen Ecken seines Verstandes begraben, aber sie wussten beide, dass er einmal auf mehr als eine zweckdienliche Partnerschaft, auf mehr als eine Freundschaft mit dieser Frau gehofft hatte.
„Ich habe dich vermisst, Galina.“
Diese Worte ließen sie aufschauen. Eine einzelne Träne rann über ihre linke Wange.
Gehofft hatte. Oder hoffte er immer noch?
Sam löste die Hand von ihrer Schulter und wischte mit seinem Daumen die Träne weg. Red rührte sich nicht, zuckte nicht zurück. Sie sah ihn einfach nur an. Wie sie nur ein einziges Mal angesehen hatte. Auf Lorna Morellos Hochzeit. Er würde ihn nie vergessen, diesen Moment, in dem sie einander in die Augen geblickt und erkannt hatten, dass es zwischen ihnen ein Gefühl gab, ein echtes Gefühl. Red hatte es gleich darauf im Keim erstickt. Er wusste bis heute nicht, ob sie sich auch nur eine Sekunde lang danach gesehnt hatte, aus diesem Gefühl etwas entstehen zu lassen. Sam wusste nur, er hatte es getan. Für bedeutend mehr als eine Sekunde.
„Du bist eine gute Mutter. Und eine gute Freundin.“ Er ließ seine Hand zurück auf ihre Schulter sinken. „Ich hoffe, dass wir das noch sind. Freunde, meine ich...“
Endlich begann sich der Schmerz aus ihren Zügen zu lösen und machte Platz für ein sanftes Lächeln auf ihren rot bemalten Lippen. Ein Anblick, der sein Herz in einen warmen, wohligen Ball verwandelte.
„Natürlich sind wir das.“
„Schön zu hören.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „In Zukunft werde ich mich auch anständig verabschieden. Versprochen.“
Reds Mundwinkel sanken langsam herab und eine Mischung aus Verwirrung und Besorgnis nistete sich in ihren Zügen ein. Erst da wurde Sam bewusst, wonach seine letzten Worte geklungen hatten.
„Ich meine, wenn ich nach Hause gehe. Nicht dass ich nochmal versuchen würde...“
„Schon gut, Sam.“ Sie tätschelte ihm die Brust. „Ich hab's verstanden.“
Er nickte und sie verfielen in ein verlegenes Schweigen. Nun da keiner von ihnen mehr sprach, fiel ihm auf, wie nah sie beieinander standen. Ihre Hand auf seiner Brust, seine Hände auf ihren Schultern. Es hätte nicht viel zu einer Umarmung gefehlt. Red schien genau das gleiche zu denken, denn sie räusperte sich und brach mit einem Schritt rückwärts die entstandene Nähe.
„Du solltest nach Hause gehen und ich sollte mich auch auf den Weg machen. Sie werden uns bald durchzählen.“
„Ah, ja, natürlich.“ Obwohl er viel lieber noch etwas länger mit ihr hier gestanden hätte, bückte Sam sich und schulterte seine Tasche. Er schluckte alles, was ihm auf der Zunge tanzte und besser unausgesprochen blieb. Er lächelte. „Dann sehen wir uns morgen.“
Red zuckte mit den Schultern. „Ich werde wohl hier sein.“
Sie lachten beide. Seltsamerweise beschlich Sam das Gefühl, dass weder er noch sie amüsiert waren. Dieses Gefängnis mochte der Grund sein, der sie vor all den Jahren zusammengeführt hatte. Zu selben Zeit war es aber auch einer der Grunde, weshalb sie sich nicht umarmt hatten. War es vielleicht sogar der einzige Grund? Sam bemühte sich nicht, weiter darüber nachzudenken. Es führte ja doch zu nichts. Und er wollte lieber noch den süßen Nachgeschmack dieser Unterhaltung genießen statt die bittere Realität zu verdauen.
„Gute Nacht, Red.“
„Nacht, Sam.“
Sie drehte sich von ihm weg zur Theke und ließ den Schlüsselbund, den er für sie geborgen hatte, in ihre Hosentasche gleiten. Sam kehrte ihr den Rücken zu und steuerte den Durchgang zur Kantine an. Ein flaues Gefühl füllte seinen Magen, als er sich von ihr entfernte. Er war nur noch zwei Schritte von der Schwelle entfernt, als Red seinen Namen rief. Sofort drehte er sich um. Schnurstracks durchquerte die Köchin den Raum. Vor ihm machte sie Halt. Sie setzte zum Sprechen an, zögerte kurz und sprach dann doch.
„Ich würde willkommen zurück sagen, aber...was ist das überhaupt wert, wenn man...wenn man sich nicht einmal umarmen darf?“
Auf einen Schlag war ihm so heiß als hätte jemand einen Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Eine leise Stimme sagte ihm, er solle es lassen. Es war nicht angebracht. Eine sehr leise Stimme. Sie wurde nur allzu leicht übertönt vom gesamten Rest seines Körpers und Geistes, der mit rauschendem Blut, rasendem Herzen und zittrigen Händen seine Zustimmung gab.
„Ich...“ Seine Stimme klang fast atemlos. „Ich denke eine Umarmung...wäre in Ordnung.“
Reds Mundwinkel zuckten, hoben sich aber nicht zu einem Lächeln. Zum ersten Mal vermittelte sie ihm den Eindruck, eine Sache nicht gründlich durchdacht zu haben. Da standen sie wie zwei verlegene Teenager, die keinen Schimmer hatten, wie sie mit dem Körper eines anderen Menschen agieren sollten. Langsam und zögernd streckten sie die Arme nacheinander aus. Nur um schließlich festzustellen, dass es doch nicht so schwierig war. Reds Körper drückte sich warm und weich gegen den seinen. Zunächst wagte Sam es kaum, auch nur ein bisschen Druck in die Umarmung zu legen. Doch dann atmete er den Duft ihres roten Haares, ihrer blassen Haut, ihrer schlichten Kleider ein und von einer Sekunde auf die andere verlor er seine Hemmung. Er schloss Galina fest in seine Arme, ließ sie und sich selbst spüren, wie sehr er sie vermisst hatte und wie froh er war, sie wieder in seinem Leben zu haben. Und zum ersten Mal in seinen Armen. Es war eine Sache, Dinge zu sagen. Eine ganz andere, sie jemanden fühlen zu lassen. Wenn ein Blick mehr als tausend Worte sagte, was konnte eine Umarmung dann erst kommunizieren?
„Willkommen zurück“, flüsterte Red.
„Danke“, gab Sam ebenso leise zurück. Als sei es ein Geheimnis. Nur zwischen ihnen beiden. Das Brechen der Stille ließ ihn wissen, dass es Zeit war, voneinander abzulassen. Er wollte es nicht. Ganz und gar nicht. Aber er hatte bereits jetzt viel mehr erhalten als er je zu hoffen gewagt hätte, als er die Küche vorhin betreten hatte.
Es fiel kein weiteres Wort mehr zwischen ihnen. Sie lächelten sich noch einmal an. Dann machte Sam sich auf den Weg. Während er die Cafeteria durchquerte, fühlte er sich federleicht. Während seiner Therapie war immer wieder die Frage aufgekommen, ob er in seinen alten Beruf zurückzukehren gedachte. Lange Zeit hatte er darauf keine Antwort gefunden. Der Gedanke, wieder hier zu sein, konfrontiert mit den alten Problemen, die einen großen Anteil an seinem Selbstmordversuch hatten, war beängstigend gewesen. Er hätte gar nicht sagen können, was ihn letztendlich dazu gebracht hatte, seinen Posten in Litchfield wieder anzutreten. Dafür wusste er eines jetzt ganz genau: von jetzt an würde er jeden Morgen in Eile das Haus verlassen. Nicht weil es leer und einsam war. Sondern weil er einen verdammt guten, wunderschönen Grund hatte, der Arbeit mit Freude entgegen zu blicken. Hätte er seine Sinne beisammen gehabt statt an Galina Reznikovs Duft zu denken, wäre er wohl zu dem Schluss gekommen, dass es besser für ihn und für sie wäre, sich nicht kopflos der nächsten Fantasie hinzugeben. Aber er konnte sich nicht helfen.
Sam Healy war und blieb ein hoffnungsloser Romantiker.
Galina Reznikov konnte die Momente, in denen sie innerhalb der letzten zehn Jahre Tränen vergossen hatte, an einer Hand abzählen. Wie jede Frau – ganz gleich wie sehr die eine oder andere es bestreiten mochte – hatte auch sie während der ersten Woche in Litchfield geweint. Nachts, wenn es dunkel war, gleichwohl das keinen Unterschied machte, da es für die Insassen ohnehin keine Privatsphäre gab. Nacht bedeutete hier Dunkelheit, aber keineswegs Ruhe oder Alleinsein. Schlafen bedeutete mit einer Ansammlung menschlicher Körper in einem Raum zu liegen und sich vorzustellen, man wäre ganz für sich. Das Wimmern und Schniefen einer oder mehrerer Personen fügte sich ganz natürlich in die übliche Geräuschkulisse atmender und schnarchender Frauen ein. Damals hatte sie es zum ersten Mal als Glück empfunden, dass sie schon früh in ihrem Leben gelernt hatte, ihre Gefühle zu schlucken und in sich zu behalten, egal wie schwer und unverdaulich sie ihr im Magen liegen mochten, egal wie dringend sie aus ihr herausplatzen wollten. Über all die langen Jahre im Gefängnis hatte sie diese Fähigkeit ausgebaut und perfektioniert, hatte sich nur einige wenige Male gestattet, einen Anflug von Schwäche zu zeigen. Und das auch nur, wenn sie sich absolut sicher gewesen war, dass es niemand sah, der es gegen sie hätte verwenden können.
Als sie die Küche an diesem Morgen verließ und die von Stimmen, Gelächter und dem Klappern von Plastikbesteck erfüllte Cafeteria durchquerte, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, dass sie für die Zählung ihrer Tränenausbrüche von diesem Tage an vier Finger würde heben müssen. Gemächlich schlenderte Red an den voll besetzten Tischen und den Pechvögeln an den Wänden vorbei, die zu spät gekommen waren, um einen der begehrten Sitzplätze zu ergattern. Sie ersparte es sich, in ihre Gesichter zu blicken. Mittlerweile hatte sie sich mit der allgemeinen Unzufriedenheit und dem Ekel über die angebotenen Speisen abgefunden, denn sie wusste, dass sie keinen Anteil daran hatte, und sie hatte mit Nachdruck dafür gesorgt, dass es auch jede andere Seele unter diesem gottverdammten Dach wusste. Sie konnte nicht behaupten, dass es das leichter machte, die tägliche Erniedrigung zu ertragen, wenn ihre Untergebenen in der Küche diese schwabbeligen, grausigen Säcke vorgefertigter Gerichte aufschnitten und diese sich wie Durchfall aus dem Hintern eines Elefanten in die metallenen Behälter ergossen.
Obwohl sie jeglichen Blick auf die Speisetabletts der Insassen gemieden hatte, stieß Red ein leises Seufzen aus, als sie die Schwelle zum Flur übertrat. Dieser Tage war es nicht leicht, auch nur für einen Moment zu vergessen, wo sie sich befand. In einem verfluchten Gefängnis, vollgestopft mit kriminellen Frauen, überwacht von korrupten, scheinheiligen, unqualifizierten, arroganten COs. Früher war ihr das tatsächlich täglich gelungen. Ohne weiteres. Alles, was es dafür gebraucht hatte, war die harte, doch erfüllende Arbeit in der Küche gewesen. Das Zubereiten genießbarer, köstlicher Gerichte hatte ihre Umgebung in jene Küche verwandelt, in der sie früher in Freiheit gestanden und voller Leidenschaft geschuftet hatte. Und jedes Lob für ihre Kochkünste, jedes leergeputzte Tablett und jede zufriedene Miene hatte in ihr eine wohlige Wärme erzeugt und sie mit vor Stolz geschwollener Brust die Gänge auf und ab schreiten lassen in dem Wissen, dass sie getan hatte, was sie auf der Welt am allerbesten konnte. Seit die Fertiggerichte Einzug in Litchfield erhalten hatten, war ihre geliebte Küche, ihr einst liebster Ort hier, zu einem Gefängnis innerhalb des Gefängnisses geworden. Dort saß sie ihre Zeit ab, von 3:30 in der Früh bis 19:00 abends, wenn alle Tabletts gespült und jede Arbeitsfläche blitzblank poliert war und es ihr vorkam als wäre ihr der gesamte Tag entglitten wie ein rohes Ei, das am Boden zersprang, aufgewischt und in den Müll geworfen wurde. Die einzigen Lichtblicke waren die Stunden, die sie im Garten oder mit der Planung und Ausführung ihrer allwöchentlichen, kleinen Festmahle verbrachte. Doch das war ein schrecklich winziger Teil ihres Lebens. Als würde man einem Kettenraucher nur einmal in der Woche eine halbe Zigarette gestatten. In manch sehr dunklen Momenten dachte sie, es wäre womöglich sogar besser gewesen, man hätte ihr alle Freude genommen statt ihr hin und wieder ein paar bittersüße Krümel zuzuwerfen.
Auf dem Weg zu den Waschräumen kam Red nicht gegen die düsteren Gedanken an, die sie immer dann überfielen, wenn ihre Hände nicht irgendetwas einpflanzten, umgruben, schnitten, schälten, umrührten oder die Seite irgendeines Buches umblätterten, das sie nicht aus Interesse las sondern aufgrund der Erkenntnis, dass selbst das stümperhafteste Geschreibsel besser war als auch nur eine Sekunde ihren eigenen Gedanken zu lauschen. Aus purer Verzweiflung begann sie auf halbem Weg vor sich hin zu summen. Das hatte sie sich während der letzten Monate angewöhnt. Die meisten ihrer Mitinsassen hielten dies fälschlicherweise für ein Anzeichen von Ausgelassenheit. Ihre Familie hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass es davon nicht weiter hätte entfernt sein können. Einzig Nicky hatte es gewagt, nachzuhaken, aber Red hatte stur geleugnet, dass irgendetwas mit ihr nicht stimme. Sie machte sich keine Illusionen, dass ihre Mädchen das glaubten. Doch zumindest hatten sie verstanden, dass sie nicht bereit war darüber zu sprechen. Ihre neue Angewohnheit bereitete Red zuweilen Sorgen. Sie fragte sich, wie viel und wie oft sie in Zukunft würde summen müssen, um ihre zunehmend finster werdernde Grübelei zu überstimmen. Zumindest war das immer noch besser als nachts unter der Bettdecke zu weinen.
Vor den Toiletten hatte sich eine Schlange gebildet. Aus einer der vorderen Kabinen drang ein widerliches Würgen und Platschen. Glücklicherweise wurde ihnen der Anblick aufgrund der im letzten Jahr eingesetzten Türen erspart. Mit einem bitteren Schmunzeln und dem Gedanken, dass das Erbrechen des undefinierbaren, lieblos produzierten Frühstücksbreis ein Zeichen von Loyalität und Respekt gegenüber ihren stark vermissten Kochkünsten war, reihte Red sich in die Wartenden ein und verschränkte die Arme. Sie zwang sich an das Dinner zu denken, das sie in zwei Tagen für eine Gruppe glücklicher Gewinner zubereiten würde. Natürlich hatte sie es längst geplant und sicher gestellt, das der Garten bereitwillig alles Benötigte hergab. Doch es tröstete sie wie ein albernes, vorgeblich weises Mantra, sich jeden einzelnen Schritt der Zubereitung bis ins kleinste Detail vorzustellen, jede mögliche Katastrophe und die entsprechende Rettung durchzuspielen. Als sie endlich an der Reihe war und die Kabinentür hinter sich zuzog, spürte sie sich von einer plötzlichen Erkenntnis überkommen. Mais. In zwei Tagen würde sie Mais bei ihrem Festmahl servieren. Es war zwar nur die Zutat in einem anderen Rezept, aber sie konnte nicht umhin sich automatisch an jenes Dinner im vergangenen Jahr zu erinnern, das diesem goldenen Schatz aus der Erde gewidmet gewesen war. Und sie konnte nicht umhin an den Mann zu denken, der es vor dem Scheitern bewahrt hatte. Das Kinn auf die Hände gestützt saß sie da, den Blick glasig gegen die geschlossene Tür gerichtet. Sie bemerkte gar nicht wie ein sanftes, trauriges Lächeln über ihre roten Lippen huschte, während sich in ihrem Kopf die Erinnerung an den Moment abspielte, in dem sie den wie aus dem Nichts erschienen Maiskolben an ihre Wange gedrückt und begriffen hatte, wer der stille Retter gewesen war.
„...aber Healy hat gesagt, er hakt mal nach. Mann, ich hoff' echt der kann mehr für mich machen als diese blöde Pute Miller!“
Mit einem Mal saß Red kerzengerade da. Ihre Rücken rebellierte, doch sie schenkte dem keine Beachtung. Die Stimmen zweier Frauen, die sich offenbar vor den Waschbecken unterhielten hatten sie aus ihren Gedanken gerissen. Unbewusst hielt sie den Atem an, nicht um den üblichen Gestank in diesem Raum zu entkommen, sondern weil sie fürchtete, auch nur ein weiteres Wort verpassen zu können.
„Ich würd' mir nich' zu viele Hoffnungen machen. Healy is' auch nich' grad der Jesus unter den Beratern. Erwarte mal keine Wunder...“
„Er is' besser als Miller!“
„Ey, die Spinne da oben an der Wand könnte ihren Job besser machen als sie!“
Red hielt es keine Sekunde länger aus. Die Spülung rauschte noch hinter ihr und sie merkte nicht einmal, dass sie ihre Klopapierrolle auf dem Spülkasten zurückgelassen hatte. Die Tür der Kabine knallte gegen die benachbarte, was der dahinter hockenden Insassin einen verärgerten Ausruf entlockte. Zwei Frauen, mit den Red bisher kein einziges Wort gewechselt hatte, erwiderten halb verwirrt, halb besorgt den bohrenden Blick ihrer weit aufgerissenen, blauen Augen. Schließlich fand sie ihre Stimmung wieder, wenn auch nicht ihre Fassung.
„Healy...“, presste Red atemlos hervor als würde es sie alle Kraft kosten. Hätte ihr Verstand nicht beim ersten Klang seines Namens ausgesetzt, hätte sie sich jetzt dafür gehasst, wie schnell und heftig ihr dummes, hoffnungsvolles Herz gegen ihre Brust schlug. Ohne Vorwarnung packte sie die linke Frau an einem ihrer dünnen Oberarme. „Du hast mit ihm gesprochen?“
Die Insassin beugte sich mit leicht verängstigter Miene zurück und warf ihrer Freundin einen hilfesuchenden Blick zu. Diese ergriff an ihrer Stelle das Wort.
„Nee, ich.“
Sofort ließ Red von der Ersten ab und trat abrupt an die Zweite heran, die sich von ihrer Intensität weniger beeindruckt zeigte.
„Er ist...er ist zurück?“, keuchte Red so ungläubig als hätte man sie soeben mit einem Rezept für Piroschki konfrontiert, das besser sein sollte als ihr eigenes.
Ihr Gegenüber zuckte die Achseln. „Ja. Seit heute.“
Red bohrte sich tiefer und tiefer in ihre trüben Augen, auf der Suche nach einem Täuschungsversuch. Sie nahm es gar nicht wahr, als sich die beiden Frauen leise tuschelnd davon machten und sich die übrigen Frauen auf dem Weg herein und heraus grummelnd an ihr vorbeischoben. Nach einer halben Ewigkeit löste sie sich aus ihrer Starre und trat wie magnetisch angezogen an das nächste Waschbecken heran. Das verzerrte Abbild ihrer Selbst blickte ihr aus dem metallenen Spiegel an der Wand entgegen. Wie in Trance hob Red die rechte Hand und strich sich durch ihre rot gefärbten Locken. Die dröge Arbeit, der Frust, das Fertigessen, die Leere, der Schmerz in ihrem Rücken – für einen Augenblick war alles wie weggeblasen, verdrängt von dem einen Gedanken, der allen Platz für sich beanspruchte. Healy war zurück.
Red wusste nicht wie lang sie in den Spiegel gestarrt hatte, als sie sich endlich des Ausdrucks in ihren eigenen Augen bewusst wurde. Hastig riss sie sich von ihrem Spiegelbild los und drehte den Wasserhahn auf. Kalte Flüssigkeit rann über ihre Haut, aber das war nicht der Grund, weshalb ihre Finger zitterten. Sie atmete mehrmals tief durch, drehte das Wasser ab und hob den Kopf. Ihre Miene war jetzt steinern. Doch ihre Augen trugen noch immer denselben Ausdruck in sich. Noch einmal atmete sie tief durch. Nichts. Sie konnte nicht loswerden, wovon sie nicht mal mehr gewusst hatte, dass sie es noch in sich trug. All die Monate. Wieder hob sie die Hand, richtete ihr Haar, prüfte ihr Makeup. Es war zwecklos. Sie konnte nicht verbergen was in ihren blauen Iris funkelte. Sie konnte nur hoffen, dass es niemand sonst sehen würde. Dass es so unbemerkt bleiben würde wie die Hitze, die in ihren nervösen Eingeweiden köchelte und ihr ein Gefühl von Fieber gab.
Sie verließ die Waschräume ohne einen Gedanken an ihr zurück gelassenen Klopapier oder ihre unerfreuliche Arbeit, die in der Küche auf sie wartete, zu verschwenden. Der Weg, den sie nun einschlug, kam ihr vor wie ein alter, vertrauter Pfad, der zugewuchert und nun wieder frei geschnitten worden war. Auch nachdem Sam Healy diese Einrichtung verlassen hatte, war Red diesen Flur hinabgegangen. Viele Male. Aus Notwendigkeit. Kein einziges Mal ohne seine Tür zu passieren und einen leichten Stich in der Brust zu spüren. Sie spürte ihn auch jetzt, als sie um die Ecke bog und die Tür zu seinem Büro in Sicht kam. Doch dieses Mal barg der Schmerz eine bittersüße Note.
Ihre Hände zitterten noch immer, als sie nur einen Meter von ihrem Ziel entfernt abrupt stehen blieb. Die Tür war geschlossen, doch die Schlitze der Jalousie des Fensters daneben ermöglichte einen Einblick in den Raum. Red schnappte nach Luft, als die Umrisse eines Mannes dahinter erschienen und wieder verschwanden. Erst in diesem Moment begriff sie, was diese Rückkehr bedeutete. In ihrem Kopf machte sich eine mahnende Stimme bemerkbar, die ihr klar zu machen versuchte, dass es eine schlechte, sehr schlechte Idee war, dieses Büro zu betreten. Als hätte sie genau das gebraucht, um es tun zu können, löste Red sich von der Stelle und klopfte mit bedeutend mehr Nachdruck als beabsichtigt gegen die Tür. Kaum dass das geschehen war, wünschte sie sich, sie hätte noch kurz gezögert, um sich sammeln zu können. Ihr Herz machte einen Hüpfer, als eine tiefe, vertraute Stimme von der anderen Seite antwortete. Als würde sie erst jetzt verstehen, dass es wirklich er war.
„Herein!“
Die Klinke drückte sich eiskalt in ihre schwitzige, warme Hand. Red gab sich alle Mühe, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren. Sie verlor jedoch jegliche Kontrolle darüber, kaum dass ihr Blick auf den Mann fiel, der hinter dem Schreibtisch saß und über einer aufgeschlagenen Akte grübelte, die rechte Hand um eine halb erhobene Kaffeetasse geschlungen. Da war er. Wo er immer gewesen war. Er war einfach verschwunden. Und nun war er einfach wieder aufgetaucht. So wie Dinge in diesem Gefängnis manchmal verschwanden und eines Tages wieder auftauchten. Alles wirkte so normal und gewöhnlich als wäre kein Tag vergangen seit dieser Mann in diesem Stuhl gesessen und seine Arbeit getan hatte.
Red stand auf der Schwelle, unfähig auch nur ein Wort hervorzubringen. Als sich kein Schwall von Beschwerden, Sorgen oder Beleidigungen über ihn ergoss, schien Sam Healy argwöhnisch zu werden. Er hob den Kopf. Seine zuvor ausdruckslose Miene entglitt in eine Mischung aus Überraschung und Erkenntnis. Ohne sich selbst sehen zu können, wusste Red, dass sie genau den gleichen Ausdruck trug.
„Red...“
„Sam...“
Beides war kaum mehr als ein Hauchen gewesen als müssten sie fürchten, der Andere würde sich in Luft auflösen wie eine Illusion, wenn sie seinen Namen zu laut und klar aussprachen. Healy war nie besonders begabt mit Worten gewesen, besonders verlegen um genau diese in den Momenten, die am meisten zählten. Red war seltsam froh, diese Schwäche an ihm erhalten zu sehen. Sie blieb wo sie war, machte keine Anstalten die Tür zu schließen oder Platz zu nehmen wie sie es in alten Zeiten ganz selbstverständlich getan hätte. Sie sah ihn, sie hörte ihn, aber sie konnte dem Ganzen noch nicht so recht vertrauten.
„So, du bist also...zurück.“
Healy nickte. Sein Gesicht kämpfte mit mehreren Emotionen und das Lächeln, das er aufsetzte, wenn es auch ehrlich war, wirkte ein wenig missraten. „Bin ich.“
„Ich wusste immer, dass du ein Wiederholungstäter bist.“
Er lachte, nicht ahnend, dass sie bei dieser Bemerkung an all die Fehler dachte, die er seit sie ihn kannte immer wieder begangen hatte. Kleine und große. Ob dies hier ein Fehler war oder nicht, hätte sie auch nicht sagen können. Es war ihr auch egal. Ihn hier in diesem Büro zu sehen, rückte alles wieder gerade, was sich während der letzten Monate so falsch und aus der Ordnung geraten angefühlt hatte. Die Veränderungen, die Red während all der Jahre im Gefängnis erlebt hatte, waren in den meisten Fällen keine guten gewesen. Dennoch war es ihr immer irgendwie gelungen, sich damit abzufinden und zu arrangieren. Healys plötzliches Verschwinden hatte sie auf schmerzlichste Weise daran erinnert, wie machtlos sie an diesem Ort war. Und dabei besaß sie von allen Insassen hier mit am meisten Macht. Nachdem sie ein Jahrzehnt stets in dieses Büro hatte stürmen und diesem Mann Gefälligkeiten hatte abluchsen können, war sie unfähig gewesen, sich damit abzufinden, dass diese Möglichkeit nicht länger bestand. Einfach weg, gestrichen wie die einst befriedigende Arbeit in der Küche. Sie stand da auf der Schwelle wie ein Kind, das das Bonbonglas geöffnet auf dem Tisch vorfand und zu verängstigt war, um sich daran gütlich zu tun.
„Warum setzt du dich nicht, Red?“ Healy deutete auf den freien Stuhl ihm gegenüber und erhob sich im gleichen Zug von seinem eigenen.
Mit einem Mal hatte Red alle Mühe, nicht fluchtartig davon zu laufen. Sie fragte sich, was sie hier tat, dabei wusste sie es genau. Sie sagte sich, sie sollte es ein lassen, und tat es trotzdem. Hilflos ließ sie ihr gespaltenes Inneres mit sich selbst ringen, während sie gleichzeitig versuchte, eine Antwort auf Healys Frage zu finden, die eigentlich mehr eine Aufforderung oder Einladung gewesen war.
„Oh, ich...ich sollte zurück in die Küche. Das Frühstück ist noch im Gange...“ Noch während ihre Zunge die Worte formte, änderte sie ihre Meinung, nicht zuletzt aufgrund des hoffnungsvollen Ausdrucks, der sich immer deutlicher in Healys Zügen niederschlug. Sie winkte ab. „Ach was! Dieses sogenannte Essen wird nicht besser schmecken, wenn ich gelangweilt daneben stehe. Ich hab' wohl ein, zwei Momente übrig...“
„Schön.“
Nach einem weiteren unsicheren Lächeln von Healy schritt Red endlich über die Schwelle und schloss die Tür hinter sich. Der Weg bis zum Schreibtisch kam ihm länger vor als früher. Sie bewegte sich in diesem wohl bekannten Zimmer so zögerlich wie an jenem Tag, an dem sie es zum allerersten Mal betreten hatte. Alles war alt und vertraut. Alles bis auf das Gefühl in ihrem Innern, das sich jedes Mal intensivierte, wenn sich ihr und Healys Blicke kreuzten. Sie passierte das kleine Sofa, auf dem sie mit dem Mann gesessen und seine Schwäche für sie auszunutzen versucht hatte. Sie zog den Stuhl zurück und ließ sich langsam nieder. Dabei dachte sie an den Tag, als auf dem diesem Platz Sam Healys verwöhnte, gekaufte Ehefrau Katya gesessen hatte, ihre übliche Sauertopfmiene so präsent wie ihr zu stark aufgetragenes Makeup. Red erinnerte sich, wie ihr der Kragen geplatzt und ihre ehrliche Meinung über den Berater aus ihr herausprudelt war. An seinen ungläubigen, überraschten Ausdruck. Dann sah sie ihn an, wie er unverändert dastand. Er war nicht mehr derselbe Mann, sie war nicht mehr dieselbe Frau. Und doch erkannten sie einander. Red wusste, wenn sie gewollt hätten, hätten sie im Bruchteil einer Sekunde zu ihren alten Umgangsformen zurückfinden können. Offen, direkt, fordernd und etwas barsch von ihrer Seite aus, nachgiebig, naiv, nachtragend und zuweilen beleidigt von seiner. Aber stets freundlich und wohlwollend von beiden Seiten aus. So respektvoll wie die jeweilige Situation es eben erlaubte. Red scheiterte daran, ihre eigene Position oder auch nur irgendein Ziel oder Anliegen im Hier und Jetzt auszumachen. Ihr wurde klar, dass sie nie zuvor hierher gekommen war, ohne einen einzigen Hintergedanken im Kopf. Nun, vielleicht einmal. Ein einziges Mal, als sie ihm zum Dank für den Mais einen Teller des Gerichts auf den Schreibtisch gestellt hatte. Darüber war zwischen ihnen nie ein Wort gefallen. Alles, was über ihre Symbiose, ihr geradezu geschäftliches Geben und Nehmen hinausgegangen war, war ohne viele und oft sogar ohne jede Worte ausgekommen. Für gewöhnlich fiel es Red alles andere als schwer, Dinge offen anzusprechen. Den Elefanten, der jetzt mit ihnen im Raum stand, konnte sie allerdings nicht einfach in Worte verpacken. Sie wusste, dass er da war. Aber sie weigerte sich, ihn sich anzusehen und klar zu machen, was er zu bedeuten hatte.
„Etwas zu trinken?“
Red lehnte mit einer Geste ihrer Hand ab. „Ich brauche nichts, danke.“
Langsam sank Healy zurück auf seinen Drehstuhl. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während sie sich gegenseitig musterten, gleichwohl sie längst festgestellt hatten, dass das knappe Jahr, das seit ihrer letzten Begegnung verstrichen war, keine nennenswerten Veränderungen oder sichtbaren Spuren hinterlassen hatte. Red sah ihm an, dass er nach einem Einstieg ins Gespräch suchte, und ahnte, dass er wohl einen langen Umweg über Smalltalk und unnütze Höflichkeiten genommen hätte. So ergriff sie das Worte ehe er es tun konnte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst. Nach dem, was passiert ist.“
Die nervöse Freude, die bisher Healys Miene regiert hatte, entglitt ihm. Ihre Direktheit schmetterte ihn nicht nieder, ließ ihn nicht sprachlos zurück wie sie es vor einem Jahr noch sicher getan hätte. Er schluckte zwar schwer, fand jedoch schnell und gefasst eine Antwort.
„Du hast es also gehört...“
Red hob eine Augenbraue und las in seinem Gesicht, dass sie es nicht mehr aussprechen musste: natürlich hatte sie es gehört. Als ob ihr je etwas Wichtiges an diesem Ort entgangen wäre. Es hatte zwei Tage gedauert, bis die Nachricht von Healys Schicksal die Runde gemacht und Red erreicht hatte. Woher die Information ursprünglich gekommen war, wusste sie gar nicht. Wahrscheinlich hatte einer der Wärter geplaudert. Die drei Wochen bis Caputo einen Ersatz für den Berater gefunden und das Thema auch endlich unter den Insassen ein Ende gefunden hatte, waren eine wahre Tortur für Red gewesen. Sie hatte es nicht ertragen können wie die Frauen aus purer Langeweile wilde Vermutungen über Healys Selbstmordversuch und seinen Aufenthalt in der Psychiatrie angestellt hatten. Als eine Gruppe besonders rücksichtsloser Weiber auf die Idee gekommen war, Wetten über die Art des Selbstmordes abzuschließen, war Red der Geduldsfaden gerissen und sie hatte sie in der vollgestopften Cafeteria über matschigem Fleischbrei und bräunlichen Erbsen zur Schnecke gemacht. Von da an hatte niemand mehr auch nur ein einziges Wort über Sam Healy in ihrer Gegenwart verloren. Red hatte versucht, mehr herauszufinden. In welcher Einrichtung er war, mit der vagen Idee im Hinterkopf, ihm zu schreiben oder ihn anzurufen. Doch als Caputo ihr keine Auskunft darüber hatte geben können, hatte sie aufgegeben. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie Healy hätte sagen sollen. Jetzt, da er ihr gegenüber saß, fiel ihr so viel auf einmal ein, was sie ihm sagen wollte, sagen musste – und dennoch blieb sie stumm. Um sich selbst zu schützen oder ihn, da war sie sich nicht sicher.
Healy öffnete gerade den Mund, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen, der Red verriet, das er abermals versuchen wollte, das Gespräch in seichtere Gewässer zu lenken. Red kam ihm zuvor.
„Warum hast du es getan?“
Er wirkte nicht überrascht, diese Frage zu hören. Seine Antwort zeugte sogar davon, dass er sich sehr viele Gedanken darüber gemacht hatte. Keine unbedingt ehrliche Antwort. Eine zurecht gefeilte, eine, die nicht schockierte oder eine Flut von Mitleid auslöste. Es war eine diplomatische Antwort, mit der Red nicht das Geringste anfangen konnte.
„Na ja...“ Seine rechte Hand umschloss seine linke. „Ich war damals in schlechter Verfassung...an einem sehr düsteren Ort, wenn du so willst.“
Bevor sie sich selbst davon abhalten konnte, gab Red ein verächtliches Schnauben von sich. „Ein düsterer Ort? Du arbeitest an einem düsteren Ort. Das hat dir die letzten zwanzig Jahre auch nichts ausgemacht.“ Sie lehnte sich vor, stützte einen Arm auf den Tisch und bohrte sich tief in seine blassblauen Augen. „Jetzt wo du bewiesen hast, dass du immer noch diverse Floskeln beherrschst, wie wär's mit einer ehrlichen Antwort?“
Healy hielt ihrem Blick nicht lange stand. Er senkte den seinen und rieb sich mit einer Hand die Stirn. Ein Seufzen drang aus seiner Kehle. Es war nur allzu offensichtlich, dass er sich diese Unterhaltung ganz anders vorgestellt hatte. Er war ein hoffnungsloser Träumer. Ein Romantiker. Er konnte eine Person noch so gut kennen, er hielt stets an der unrealistischsten Version von ihr fest, einfach weil er sich so sehr wünschte, sie würde wahr werden. Selbst jetzt noch, da ihn die Realität auf so heftige Weise eingeholt hatte.
Als er sprach, tat er es mit ruhiger Stimme, fast schon gelassen. Das machte das, was er von sich gab jedoch auch nicht besser. „Du musst mich das wirklich nicht fragen. Was passiert ist, ist passiert. Es geht mir besser. Ich bin drüber hinweg.“
Red starrte ihn an. Langsam wie sich das Pfeifen eines Wasserkessels aufbaute, kochte eine heiße, stechende Emotion in ihr auf, füllte sie vollständig aus und ließ alle Nervosität, Freude, Unsicherheit und Hoffnung angesichts dieses Wiedersehens in Vergessenheit geraten. Wie versteinert hockte sie da, während sich ihre Brauen verengten, ihr Mund zu einem Strich verschmälerte und sie versuchte zu entscheiden, ob sie ihrem Ärger Luft machen oder Healy mit dieser dämlichen Antwort davon kommen lassen sollte. Ein Teil von ihr wollte ihrem Wiedersehen etwas Unbeschwertes und Friedliches verleihen statt es gleich wieder kompliziert und frustrierend werden zu lassen. Es war schön und unverhofft, ihn wieder hier zu haben. Doch das änderte nichts daran, dass er ein Idiot und sie viel zu temperamentvoll war für diese Art von Nachsicht. Ein Romantiker hätte wohl den Frieden gewahrt. Red hatte früh festgestellt, dass Romantik ein Luxus war, den sie sich nicht leisten konnte. Erst recht nicht hier drin. Ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut.
„Du bist drüber hinweg? Du bist drüber hinweg?“ Sie klatschte die Hände zusammen, ein falsches, kaltes Lächeln auf den Lippen. „Wie schön für dich! Und was für eine Erleichterung für mich. Jetzt kann ich endlich aufhören so zu tun als wäre ich ein echter Mensch mit echten Gefühlen und Sorgen und kann wieder ungestört Kotze in Tüten aufwärmen. Hurra!“
Noch bevor er den Mund aufklappen konnte, war sie auf den Beinen und stapfte zur Tür hinüber.
„Red! Warte, ich-“
Sie riss die Tür auf und mit einem letzten vernichtenden Blick auf ihn stürmte sie aus dem Büro. Ihre Schritte verlangsamten sich erst, als sie den Flur hinter sich gelassen hatte. Schließlich kam sie ganz zum Stehen, ihre linke Schulter sank gegen die Wand. Frauen auf dem Weg zum Frühstück strömten an ihr vorbei, doch sie nahm sie gar nicht wahr. Red schaute hinab auf ihre Hände. Sie hatten aufgehört zu zittern. Als sei ihrem Körper etwas zugeführt worden, das er vermisst hatte. Die Wut ebbte allmählich ab. Zurück blieb ihr hämmerndes Herz, das ihr einfach nicht gestatten wollte, sie selbst zu sein. Denn das war sie nicht. Schon seit einem Jahr nicht mehr. Sie wollte es sich gar nicht eingestehen, aber es war zu offensichtlich, um es zu leugnen: Sam Healy hatte eine Leere in ihr gefüllt, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihm gegolten hatte.
Red stieß ein Seufzen aus und schüttelte leicht den Kopf. Vor einem Jahr hätte sie sich nicht vorstellen können, dass es jemals eine Belastung, ein Ärgernis sein könnte, ihre geliebte Küche zurückzubekommen. Hätte sie sich in den vergangenen Monaten gestattet, eingehend über Sam Healy nachzudenken, hätte sie sich wohl genauso wenig vorstellen können, dass seine Rückkehr etwas Anderes für sie sein könnte als ein Grund zur Freude. Doch Fakt war: es war nicht nur die Rückkehr eines umgänglichen Beraters, eines wohlwollenden Verbündeten in dieser Welt voller Hindernisse und Feinde. Es war die Rückkehr eines Mannes, den sie mehr vermisst hatte als sie je hätte zugeben wollen.
Es war ein Fehler gewesen, sein Büro zu betreten. Unvermeidlich. Aber nichtsdestotrotz ein Fehler.
Sam Healy war nie sonderlich gut mit Worten gewesen. Man hätte meinen können, ein Jahr wäre genug Zeit gewesen, sich auf dieses Gespräch vorzubereiten, von dem er gewusst hatte, es würde auf ihn zukommen, so sicher wie der Frühling auf den Winter folgte. Doch wie üblich war in seiner Vorstellung alles ganz anders und bedeutend leichter gewesen. Statt sich an die Fakten zu halten und die Sache realistisch zu betrachten, hatte er nur daran gedacht, wie schön es sein würde, Galina Reznikov wiederzusehen. Alles, was zählte, hatte er außer Acht gelassen: sein wortloses Verschwinden, den Gefängnisfunk, durch welchen den Insassen so gut wie nichts entging – schon gar nicht die Selbsteinweisung eines Wärters in die Psychiatrie. Er hatte nicht daran gedacht, wie nervös er sein würde, wenn sie ihm endlich gegenüber saß. Nicht an ihr Talent, ihn mit ihrer direkten, ehrlichen Art zu überfahren und die Sprache zu verschlagen. Nicht einmal daran, dass für sie ein weiteres Jahr in Gefangenschaft vergangen war, ein Jahr, in dem womöglich etliche Dinge geschehen waren, die sie belastet oder verletzt hatten. Dinge, bei denen er ihr vielleicht sogar hätte helfen können, wäre er hier gewesen. Einmal mehr musste er feststellen, dass seine Fantasie ihn in die Irre geführt hatte.
Nachdem Red das Büro verlassen hatte, saß er einige Minuten reglos da und starrte auf den nun leeren Stuhl vor sich. Erst jetzt fielen ihm Worte ein, die in dieser Unterhaltung sehr passend und hilfreich gewesen wären und wohl zu einem erfreulicheren Ergebnis geführt hätten. Zunächst ergriff ihn Enttäuschung. Über seine eigene Unfähigkeit, über Reds Reaktion, die er sich so viel positiver und freudiger ausgemalt hatte. Dann fiel sein Blick auf das grüne Silikonarmband, das halb unter dem Ärmel seines Uniformhemdes verborgen war. Sam zog es darunter hervor und las zum unendlichsten Mal seit seiner Entlassung aus der psychiatrischen Klinik die in weißen Lettern geschriebenen Worte: Sieh das Positive.
Abermals wanderten seine Augen zu dem leeren Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. Das Positive. Reds vor unterdrückter Wut bebende Stimme hallte in seinem Kopf wider. Es war wohl als positiv anzusehen, dass sie ihm keine Ohrfeige verpasst hatte. Beim Anblick ihrer vor Zorn funkelnden Augen hatte er für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich geglaubt, sie könnte es tun. Unwillkürlich musste Sam lächeln. So sehr er sich auch einen anderen Verlauf für ihre Unterhaltung gewünscht hätte, die Realität bewies zumindest, dass Galina noch dieselbe temperamentvolle, stolze Frau war, die er hier zurückgelassen hatte. Das war definitiv etwas Positives. Sie wäre nicht die Erste gewesen, die sich innerhalb eines Jahres in dieser Einrichtung komplett verändert hatte. Sam wusste nur allzu gut was dieser Ort mit einem Menschen anstellen konnte.
Noch einmal ließ er sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Und langsam, ganz langsam wurde ihm klar, was sie da eigentlich gesagt hatte. Jetzt kann ich endlich aufhören so zu tun als wäre ich ein echter Mensch mit echten Gefühlen und Sorgen... Sie war zornig geworden, weil er dieses heikle Thema einfach abgetan hatte als sei es etwas, das nur ihn allein betraf. Genauso hatte er es auch gesehen. Vor einem Jahr, als er in den See gegangen war, schien es keine Menschenseele interessiert zu haben, was mit ihm geschah. Er hatte nicht gedacht, dass Red je erfahren würde, was er sich versucht hatte anzutun. Aber vor allem hatte er nicht damit gerechnet, dass es wirklich treffen würde. Es war ihr nicht egal. Er war ihr nicht egal.
Sam atmete tief durch und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. Mit einem Mal fühlte er sich ganz leicht und alle Enttäuschung über das Gespräch war verflogen. Tatsächlich kam es ihm nun vor als hätte es gar nicht besser laufen können. Red sorgte sich um ihn. Das hatte ihr Ärger bewiesen. Damit konnte er arbeiten. Es war die beste Grundlage, um ihr vertrauliches Verhältnis zueinander auf neue Beine zu stellen. Er würde ihr etwas Zeit geben, sich zu beruhigen und an den Gedanken zu gewöhnen, dass er zurück war. Ursprünglich war es ohnehin sein Plan gewesen, sie erst am Abend aufzusuchen, wenn sein erster Tag zurück an seinem alten Arbeitsplatz überstanden war. Er würde sie in der Küche antreffen, wo sie wie immer die Letzte sein würde. Ganz wie in alten Zeiten. Darauf konnte er sich verlassen. Und dann würde er ihr endlich alles sagen, was er sich zurechtgelegt hatte. Er nahm es sich fest vor, ehe er leise summend zu den Akten vor sich zurückkehrte, in Gedanken längst in der nächsten Fantasieversion ihres nächsten Gesprächs.
Die Cafeteria lag still und dunkel da. Nur aus der Küche drang noch Licht. Alles, was Sam hörte, war das Geräusch seiner eigenen Schritte in dem großen Raum. Je näher er der Küche kam, desto bewusster wurde er sich seiner Nervosität. Bevor er sich auf den Weg hierher gemacht hatte, war er im Stillen noch mehrere Male alles durchgegangen, was er in der bevorstehenden Unterhaltung loswerden wollte. Nun da er hier und kurz davor war, die Sache anzugehen, stellte er plötzlich fest, dass all die sorgfältig zurechtgelegten Worte in seinem Kopf durcheinander flogen und keinen Sinn mehr ergeben wollten. Verunsichert blieb er stehen und lauschte in sich hinein. Seine rechte Hand schloss sich fest um den Trageriemen seiner Aktentasche, während er angestrengt versuchte, sich an den Schlachtplan zu erinnern. Ein russischer Fluch aus der Küche riss ihn aus seiner Starre. Ohne länger nachzudenken setzte er sich in Bewegung und betrat den ausladenden Raum. Auf den ersten Blick schien er menschenleer zu sein. Dann entdeckte Sam einen roten Schopf, der hinter einer der glänzenden Theken hervorlugte. Ein leises, verdrießliches Gemurmel drang an seine Ohren. Ein letztes Mal atmete er tief durch, dann ging er auf die Quelle russischen Unmuts zu.
Red kniete vor einer an die Wand gerückten Theke. Tief hinab gebeugt tastete sie mit der rechten Hand die Fliesen darunter ab.
„Alles in Ordnung hier?“
Red schreckte auf. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und sie sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie sich zu abrupt aufrichtete. Ihre linke Hand presste sich auf ihren Rücken. Besorgt überwand Sam die letzten Meter zwischen ihnen und ging vor ihr in die Hocke.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Schon gut.“ Sie winkte ab und öffnete die zuvor zusammengekniffenen Augen. Erst als sich ihre Blicke trafen, schien ihr bewusst zu werden, wen sie vor sich hatte. Für einen Moment waren sie beide wie gelähmt. Der Ausgang ihrer Unterhaltung am Morgen fegte wie eine unangenehme Duftwolke über sie hinweg. Red fing sich als Erste wieder. „Die verdammten Schlüssel sind hinter die Theke gerutscht. Ich wusste, dass würde eines Tages mal passieren, aber es war dumm zu hoffen, es würde passieren, solang mein Rücken noch halbwegs brauchbar ist.“
„Oh, ich...könnte es mal versuchen.“ Zögernd stellte Sam seine Tasche auf den Fliesen ab und beugte sich bis knapp über den Boden herab. Er entdeckte den kleinen Schlüsselbund nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt. Zumindest musste er sich keine Gedanken machen, in irgendwelchen Dreck zu fassen, denn dieser hatte in Reds Küche keinerlei Überlebenschance. Die Länge seines Armes reichte gerade so, um die Schlüssel zu erreichen. Mit einem triumphierenden Lächeln zog er sie unter der Theke hervor. „Da sind sie!“
Erleichtert stieß Red die Luft aus. „Danke, Sam! Vielen Dank.“
Ihre Hände berührten sich, als Red die Schlüssel entgegennahm. Augenblicklich wurde Sam sich des wohligen Kribbelns in seiner Magengrube bewusst, das nicht das Geringste mit dem für ihn noch ausstehenden Abendessen zu tun hatte. Es erstaunte ihn selbst, das er noch genug Vernunft aufbringen konnte, sich nicht davon übermannen zu lassen. Er zog seine Hand weg und stand auf. Red wollte es ihm gleich tun, musste jedoch mit einem leidenden Stöhnen kapitulieren. Im vollen Bewusstsein, dass er sich gerade erst dazu gezwungen hatte, von ihr abzulassen, streckte Sam die Hände nach ihr aus.
„Komm, ich helfe dir.“
„Mein verdammter Rücken!“
Dankbar ergriff Red die ihr dargebotenen Hände und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Sam konnte nicht umhin zu bemerken, dass die ihren weder weich noch samtig waren so wie er etwa Katyas in Erinnerung hatte. Nach der jahrelangen Arbeit in der Küche war das nicht überraschend. Es störte ihn auch nicht im Mindesten. Vielmehr freute er sich über diese kleine Entdeckung. Es war ihm gleich ob ihre Hände weich oder rau waren. Nur die Tatsache, zu wissen wie sich ihre Hände anfühlten, erfüllte ihn mit Freude. Als hätte sie ihn an etwas teilhaben lassen, das sie den Wenigsten zugestand.
„Man würde meinen, es wäre besser, jetzt wo ich den lieben langen Tag hier sitze und Däumchen drehe statt genießbares Essen zuzubereiten. Aber nein, es ist nur schlimmer geworden, seit ich um 3:30 aus dem Schlaf gezerrt werde, um meine tägliche Erniedrigung anzutreten. Vielleicht ist das rein psychisch. Oder vielleicht werde ich auch einfach nur älter...“
Sams Stirn legte sich in Sorgenfalten. „Wenn es so schlimm ist, solltest du dir ein Schmerzmittel verschreiben lassen.“
Ihre Reaktion war genau die, die er erwartet hatte. Dennoch war es ihm richtig erschienen, es zu sagen. Red schnaubte.
„Ich könnte mir genauso gut von einem Pferd ins Gesicht treten lassen, das wäre genauso hilfreich. Ich bin vielleicht zu alt, um einen Salto aus dem Stand zu machen, aber ich bin definitiv noch zu jung, um wie eine Tote herumzulaufen...“
Sam nahm es ihr nicht übel. Ihr unveränderter Stolz brachte ihn zum Lächeln.
„Sam...“
„Ja?“
„Du kannst mich loslassen, ich stehe.“
„Oh! Klar!“ Hastig ließ er von ihren Händen ab, ohne zu wissen was er mit seinen eigenen machen sollte. Er spürte wie sich leichte Hitze auf seinen Wangen ausbreitete. Unterdessen wandte sich Red der Theke zu und legte den Schlüsselbund neben einem aufgeschlagenen Notizbuch auf. Sam hatte sie sehr oft über diesen Seiten bedeckt mit einer engen, kleinen Schrift brüten sehen. Es waren Rezepte.
„Planst du ein Dinner?“
„In zwei Tagen“, gab Red tonlos zurück, ohne ihn anzusehen.
„Und? Was zauberst du diesmal?“
Langsam drehte die Köchin den Kopf. Ihre Miene machte jegliche Erwiderung überflüssig. Sam verging das Lächeln und er wusste, dass sie auch jetzt nicht bereit war, dieses Gespräch für ihn so bequem wie möglich zu gestalten.
„Bist du nur gekommen, um dich nach meiner Dinnerplanung zu erkundigen? Willst du vielleicht kochen lernen? Planst du selber ein Dinner und brauchst ein paar Tipps von mir? Wenn nicht, warum fragst du mich das?“
Die Zeit zwischen Frühstück und Abendessen war eindeutig nicht lang genug für sie gewesen, um sich zu beruhigen. Doch Sam ahnte, dass alle Zeit der Welt ihren Ärger nicht in Luft aufgelöst hätte.
„Red, ich versuche nur-“
„Was denn? Mich so lange mit Smalltalk und dämlichen Fragen zu überschwemmen, bis ich vergesse, dass du ohne ein Wort verschwunden bist und mich – uns alle hier einfach uns selbst und dieser Bande degenerierter Wärter überlassen hast?“
Ihre Worte versetzten ihm einen Stich, denn er wusste, es steckte Wahres darin. Zu gern hätte er den Blick gesenkt, aber er zwang sich dem ihren standzuhalten. Es half zu sehen, dass in ihren blauen Augen nicht nur Wut brannte. Natürlich sah er ihren Schmerz nicht gerne. Aber er erinnerte ihn daran, dass ihm nicht nur eine wütende Insassin gegenüber stand. Vielmehr eine alte Freundin. Eine Freundin, die er verletzt hatte, ohne überhaupt zu ahnen, dass er fähig dazu war.
„Ich dachte, ich wär' dir egal.“
Reds Augen weiteten sich, ihre Brauen krümmten sich in einen schmerzlichen Bogen und Sam war sich sicher, sie war nicht länger Herrin über ihre Züge.
„Egal?“
Sam wusste, dass es falsch war, doch in diesem Augenblick fühlte er sich schwächlich, albern und jämmerlich, weil er so etwas von sich gegeben hatte. Sein Therapeut hatte ihm eingeschärft, sich nicht für seine frühere Verfassung oder seine allgegenwärtigen Schwächen zu schämen. Sie waren menschlich. Und so erbärmlich es ihm heute auch vorkommen mochte, damals war dieses Gefühl, dass sich niemand einen Dreck um ihn scherte, sein Empfinden gewesen, seine Realität.
„Egal?“, wiederholte Red noch einmal, schien es diesmal noch weniger fassen zu können. Sam erwiderte ihren Blick, als sich plötzlich ihre rechte Hand auf seine Brust legte. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als er sah, dass in ihren Tränen glitzerten. Er schluckte schwer, unfähig etwas zu sagen, unfähig sich zu rühren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
„Du solltest mir egal sein. Ich hätte mit den Schultern zucken und weiter machen sollen wie immer, als ich hörte, was du getan hast. Ein Wärter sollte mir egal sein.“ Langsam schüttelte sie den Kopf. Ihre Finger gruben sich in den Stoff seines Hemdes. „Aber ich dachte, wir hätten längst festgestellt, dass wir beide eine besondere Beziehung haben. Du hast mich immer behandelt wie einen Menschen. Habe ich es versäumt, das zu erwidern?“
„Red, nein!“ Ohne darüber nachzudenken, umfasste er ihre Schultern. Er konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass er in der Welt dieser Frau, dieser wundervollen, mächtigen, selbstbewussten, starken Frau ein solches Beben auslösen könnte. „Du hast nichts falsch gemacht! Ich wollte nicht...ich wollte dir keine Schuld zuweisen.“
Red musterte ihn. In ihrem Innern schien irgendein Kampf stattzufinden. „Aber vielleicht bin schuldig.“
„Nein, ganz sicher nicht!“, widersprach Sam und verstärkte den Griff um ihre Schultern, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Es verfehlte seine Wirkung. Niedergeschlagen senkte Red den Kopf.
„Warum entgleiten mir dann ständig all die Menschen, die mir am meisten bedeuten? Warum verletze ich sie an irgendeinem Punkt immer wieder? Warum enttäusche ich sie immer wieder? Das ist doch kein Zufall.“
Sam wollte seinen Ohren nicht trauen. Niemals hätte er damit gerechnet, diese Worte jemals aus Galina Reznikovs Mund zu hören. In seinen Augen war sie nie jemand gewesen, der das Wort Zweifel zu seinem Wortschatz zählte. Doch er verstand sie. Er wusste viel zu gut, wie es war, wenn man in all seinem Handeln nichts als Versagen erkannte. Der Unterschied zwischen ihm und Red war jedoch, dass er in der Tat viele, viele Fehler begangen und oft versagt hatte, wenn er nicht hätte versagen dürfen. Sie dagegen besaß ein Talent dafür, immer am richtigen Ort zu richtigen Zeit das Richtige zu tun und zu sagen. Zumindest war das seine Einschätzung.
„Das ist nicht wahr. Ich habe nie jemanden gekannt, der sich besser gekümmert hat um-“
„-seine eigenen Interessen?“, fiel Red ihm ins Wort und gab ein bitteres, leicht verzweifeltes Lachen von sich.
Sam seufzte. Er fühlte sich ziemlich machtlos, wusste nicht wie er ihr begreiflich machen sollte, wie er sie sah. Wie großartig sie in seinen Augen war. Und selbst wenn ihm die richtigen Worte dafür eingefallen wären, hätte er nicht gewusst, ob er auch den Mut gehabt hätte, sie auszusprechen. Er konnte es von sich schieben und in den dunklen Ecken seines Verstandes begraben, aber sie wussten beide, dass er einmal auf mehr als eine zweckdienliche Partnerschaft, auf mehr als eine Freundschaft mit dieser Frau gehofft hatte.
„Ich habe dich vermisst, Galina.“
Diese Worte ließen sie aufschauen. Eine einzelne Träne rann über ihre linke Wange.
Gehofft hatte. Oder hoffte er immer noch?
Sam löste die Hand von ihrer Schulter und wischte mit seinem Daumen die Träne weg. Red rührte sich nicht, zuckte nicht zurück. Sie sah ihn einfach nur an. Wie sie nur ein einziges Mal angesehen hatte. Auf Lorna Morellos Hochzeit. Er würde ihn nie vergessen, diesen Moment, in dem sie einander in die Augen geblickt und erkannt hatten, dass es zwischen ihnen ein Gefühl gab, ein echtes Gefühl. Red hatte es gleich darauf im Keim erstickt. Er wusste bis heute nicht, ob sie sich auch nur eine Sekunde lang danach gesehnt hatte, aus diesem Gefühl etwas entstehen zu lassen. Sam wusste nur, er hatte es getan. Für bedeutend mehr als eine Sekunde.
„Du bist eine gute Mutter. Und eine gute Freundin.“ Er ließ seine Hand zurück auf ihre Schulter sinken. „Ich hoffe, dass wir das noch sind. Freunde, meine ich...“
Endlich begann sich der Schmerz aus ihren Zügen zu lösen und machte Platz für ein sanftes Lächeln auf ihren rot bemalten Lippen. Ein Anblick, der sein Herz in einen warmen, wohligen Ball verwandelte.
„Natürlich sind wir das.“
„Schön zu hören.“ Er erwiderte ihr Lächeln. „In Zukunft werde ich mich auch anständig verabschieden. Versprochen.“
Reds Mundwinkel sanken langsam herab und eine Mischung aus Verwirrung und Besorgnis nistete sich in ihren Zügen ein. Erst da wurde Sam bewusst, wonach seine letzten Worte geklungen hatten.
„Ich meine, wenn ich nach Hause gehe. Nicht dass ich nochmal versuchen würde...“
„Schon gut, Sam.“ Sie tätschelte ihm die Brust. „Ich hab's verstanden.“
Er nickte und sie verfielen in ein verlegenes Schweigen. Nun da keiner von ihnen mehr sprach, fiel ihm auf, wie nah sie beieinander standen. Ihre Hand auf seiner Brust, seine Hände auf ihren Schultern. Es hätte nicht viel zu einer Umarmung gefehlt. Red schien genau das gleiche zu denken, denn sie räusperte sich und brach mit einem Schritt rückwärts die entstandene Nähe.
„Du solltest nach Hause gehen und ich sollte mich auch auf den Weg machen. Sie werden uns bald durchzählen.“
„Ah, ja, natürlich.“ Obwohl er viel lieber noch etwas länger mit ihr hier gestanden hätte, bückte Sam sich und schulterte seine Tasche. Er schluckte alles, was ihm auf der Zunge tanzte und besser unausgesprochen blieb. Er lächelte. „Dann sehen wir uns morgen.“
Red zuckte mit den Schultern. „Ich werde wohl hier sein.“
Sie lachten beide. Seltsamerweise beschlich Sam das Gefühl, dass weder er noch sie amüsiert waren. Dieses Gefängnis mochte der Grund sein, der sie vor all den Jahren zusammengeführt hatte. Zu selben Zeit war es aber auch einer der Grunde, weshalb sie sich nicht umarmt hatten. War es vielleicht sogar der einzige Grund? Sam bemühte sich nicht, weiter darüber nachzudenken. Es führte ja doch zu nichts. Und er wollte lieber noch den süßen Nachgeschmack dieser Unterhaltung genießen statt die bittere Realität zu verdauen.
„Gute Nacht, Red.“
„Nacht, Sam.“
Sie drehte sich von ihm weg zur Theke und ließ den Schlüsselbund, den er für sie geborgen hatte, in ihre Hosentasche gleiten. Sam kehrte ihr den Rücken zu und steuerte den Durchgang zur Kantine an. Ein flaues Gefühl füllte seinen Magen, als er sich von ihr entfernte. Er war nur noch zwei Schritte von der Schwelle entfernt, als Red seinen Namen rief. Sofort drehte er sich um. Schnurstracks durchquerte die Köchin den Raum. Vor ihm machte sie Halt. Sie setzte zum Sprechen an, zögerte kurz und sprach dann doch.
„Ich würde willkommen zurück sagen, aber...was ist das überhaupt wert, wenn man...wenn man sich nicht einmal umarmen darf?“
Auf einen Schlag war ihm so heiß als hätte jemand einen Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Eine leise Stimme sagte ihm, er solle es lassen. Es war nicht angebracht. Eine sehr leise Stimme. Sie wurde nur allzu leicht übertönt vom gesamten Rest seines Körpers und Geistes, der mit rauschendem Blut, rasendem Herzen und zittrigen Händen seine Zustimmung gab.
„Ich...“ Seine Stimme klang fast atemlos. „Ich denke eine Umarmung...wäre in Ordnung.“
Reds Mundwinkel zuckten, hoben sich aber nicht zu einem Lächeln. Zum ersten Mal vermittelte sie ihm den Eindruck, eine Sache nicht gründlich durchdacht zu haben. Da standen sie wie zwei verlegene Teenager, die keinen Schimmer hatten, wie sie mit dem Körper eines anderen Menschen agieren sollten. Langsam und zögernd streckten sie die Arme nacheinander aus. Nur um schließlich festzustellen, dass es doch nicht so schwierig war. Reds Körper drückte sich warm und weich gegen den seinen. Zunächst wagte Sam es kaum, auch nur ein bisschen Druck in die Umarmung zu legen. Doch dann atmete er den Duft ihres roten Haares, ihrer blassen Haut, ihrer schlichten Kleider ein und von einer Sekunde auf die andere verlor er seine Hemmung. Er schloss Galina fest in seine Arme, ließ sie und sich selbst spüren, wie sehr er sie vermisst hatte und wie froh er war, sie wieder in seinem Leben zu haben. Und zum ersten Mal in seinen Armen. Es war eine Sache, Dinge zu sagen. Eine ganz andere, sie jemanden fühlen zu lassen. Wenn ein Blick mehr als tausend Worte sagte, was konnte eine Umarmung dann erst kommunizieren?
„Willkommen zurück“, flüsterte Red.
„Danke“, gab Sam ebenso leise zurück. Als sei es ein Geheimnis. Nur zwischen ihnen beiden. Das Brechen der Stille ließ ihn wissen, dass es Zeit war, voneinander abzulassen. Er wollte es nicht. Ganz und gar nicht. Aber er hatte bereits jetzt viel mehr erhalten als er je zu hoffen gewagt hätte, als er die Küche vorhin betreten hatte.
Es fiel kein weiteres Wort mehr zwischen ihnen. Sie lächelten sich noch einmal an. Dann machte Sam sich auf den Weg. Während er die Cafeteria durchquerte, fühlte er sich federleicht. Während seiner Therapie war immer wieder die Frage aufgekommen, ob er in seinen alten Beruf zurückzukehren gedachte. Lange Zeit hatte er darauf keine Antwort gefunden. Der Gedanke, wieder hier zu sein, konfrontiert mit den alten Problemen, die einen großen Anteil an seinem Selbstmordversuch hatten, war beängstigend gewesen. Er hätte gar nicht sagen können, was ihn letztendlich dazu gebracht hatte, seinen Posten in Litchfield wieder anzutreten. Dafür wusste er eines jetzt ganz genau: von jetzt an würde er jeden Morgen in Eile das Haus verlassen. Nicht weil es leer und einsam war. Sondern weil er einen verdammt guten, wunderschönen Grund hatte, der Arbeit mit Freude entgegen zu blicken. Hätte er seine Sinne beisammen gehabt statt an Galina Reznikovs Duft zu denken, wäre er wohl zu dem Schluss gekommen, dass es besser für ihn und für sie wäre, sich nicht kopflos der nächsten Fantasie hinzugeben. Aber er konnte sich nicht helfen.
Sam Healy war und blieb ein hoffnungsloser Romantiker.