Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
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Dieses Kapitel
2 Reviews
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17.01.2020
5.271
Hi Ihr Lieben,
heute werden ein paar Dinge aufgelöst. Ich hoffe, Ihr habt alle noch das 14. Kapitel im Kopf, in dem Sam mit dem Pathologen sprach ;) - das ist heute wichtig.
Klickt im Laufe des Kapitels auf den Link mit dem Bild. Ich finde, dann kann man sich besser vorstellen, wo Nayeli gerade steckt.
Wie immer interessiert mich Eure Meinung - also schreibt mir.
Viel Spaß. Lynn
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Kapitel 18 – Unter falschem Verdacht
*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels enthält blutige Szenen und kann auf vereinzelte Personen verstörend wirken.
Ab und zu sehe ich zu dem Radio mit der Funkanlage und weiß, dass wir ungefähr seit einer Stunde unterwegs sind. Leider habe ich nicht von Anfang an auf die Uhrzeit geachtet. Wir sind durch einige Tunnel gefahren und die letzten Minuten nur noch bergauf über einen verdammt holprigen Pfad gerollt, der unmöglich für Fahrzeuge gedacht sein kann. Hier ist es irgendwie düster und neblig. Einige Äste und Sträucher streifen die Türen des Wagens und ich schätze, dieser Detective Archer verflucht seinen Auftrag, dass er meinen Chauffeur spielen soll. Aber wo zur Hölle bringt er mich hin? Ich mag äußerlich ruhig wirken, allerdings bin ich es innerlich kein bisschen. Hinzu kommt, dass der Kerl kein Wort mit mir redet – vielleicht dürfen sie es auch nicht. Er kommunizierte nur immer wieder über Funk und wimmelte alle Einsätze ab, die an ihn gingen, mit der Begründung, er sei gerade mitten in einem anderen Einsatz und kann nicht.
Kurz nach 8 Uhr morgens hält er schließlich an und ich sehe müde auf. Ich bin zwar nicht eingeschlafen, aber immer wieder in einen Dämmerzustand geraten.
Als ich beim Ausschalten des Motors langsam zu mir komme, drehe ich mich verunsichert zu allen Seiten um. Denn anstatt Menschen oder Gebäude zu sehen, ist hier nichts. Ich erkenne lediglich einen Funkturm, ansonsten sehe ich nur verdammt viel Nebel, Natur und Stein. Wir sind mitten im Nirgendwo.
Fragend blicke ich nach vorn zu dem Polizisten, der aus dem Wagen aussteigt. Aus dem Seitenfenster sehe ich, dass es noch leicht ansteigend nach oben geht. An sich wundert mich das nicht, wenn ich an die Bounty Hunter Schule denke, die ebenfalls gut versteckt war. Bei einem FBI-Quartier ist es vielleicht ähnlich.
Ich finde nur, dass der Horizont eigenartig aussieht, so als würde es einige Meter vor mir nicht noch höher gehen, sondern plötzlich bergab fallen. Der Polizist steht auf dem blanken Gestein und kommt neben meine Tür, um mich herauszuholen. Doch dann holt er vor dem Fenster seine Pistole hervor und erschrocken schnalle ich mich sofort ab, rutsche zur anderen Seite rüber und rüttele an dem Türöffner herum. Natürlich ist der hintere Bereich verriegelt und mir ist klar, dass ich hier nicht rauskomme.
Er öffnet die hintere Seitentür und steckt den Kopf zu mir herein.
>Steig aus! < befiehlt er und richtet die Pistole auf mich.
>Was haben Sie vor? <
Er lässt seine Waffe klicken und schaut mich wütend an.
>Mach kein Theater Mädchen. Du wirst jetzt aussteigen oder ich zerre dich an den Haaren hier raus. <
>Hören Sie! Ich habe nicht das getan, was mir vorgeworfen wird. < keuche ich und hänge verzweifelt an der gegenüberliegenden Tür.
>Raus jetzt! < brüllt er und packt mich am Bein. Als ich versuche, mich mit dem Fuß zu wehren, treffe ich ihn nur am Brustkorb. Dann greift er noch einmal nach, zieht mich aus dem Wagen heraus, schmeißt mich grob auf das harte Gestein und schließt die Tür, als ich auf dem eisigen Boden liege. Der kalte Wind pfeift mir um die Ohren und ich sehe meinen eigenen Atem bei diesen Temperaturen.
Er geht einige Schritte von mir weg und richtet die Waffe erneut auf mich. Wenn ich näher an ihm dran wäre, dann könnte ich sie ihm entreißen, aber auf dieser Entfernung ist er am längeren Hebel. In den Lauf einer Pistole zu blicken, ist der wohl schrecklichste Anblick, den ich mir vorstellen kann und ich fühle mich völlig hilflos. Alle Alarmsirenen gehen im Körper an und der Überlebensmodus könnte nicht stärker sein.
>Es gibt niemanden vom FBI, zu dem sie mich bringen sollen, richtig? < keuche ich. Darauf grinst der Detective nur überheblich. Ich sehe mich hektisch um und bin mir darüber im Klaren, dass er sich nicht grundlos einen abgeschiedenen Weg ausgesucht hat. >Wo sind wir hier? <
>Palisade head.* Und jetzt steh auf und beweg dich schön langsam vorwärts! Deine Hände bleiben dort, wo sie sind! <
*https://www.flickr.com/photos/pmarkham/41945160730
Dieser Ort passt, denn ich kann es im Hintergrund rauschen hören. Ich war zwar selbst noch nie hier, aber ich weiß, dass vor uns das Nordufer des Lake Superiors ist. Eigentlich ist die große Felsformation eine Sehenswürdigkeit, aber ich befürchte, es ist aussichtslos, dass mich hier jemand sieht – geschweige denn um Hilfe schreien hört. Es ist viel zu kalt und zu früh, als dass es einen Kletterer zu dieser Jahreszeit hierhertreiben würde. Ich stemme mich auf ein Bein und drücke mich nach oben, laufe einfach vorwärts in Richtung der felsigen Steigung. Es raschelt als meine Beine die Sträucher berühren und die kahlen Äste beiseiteschieben. Hinter mir wird immer noch eine Waffe auf mich gerichtet und aus dem Augenwinkel versuche ich einen Fluchtweg zu finden. Noch bin ich nicht tot, also versuche ich irgendwie einen klaren Gedanken zu fassen. Kaum bin ich einige Meter durch das Gestrüpp gelaufen, da sehe ich auch schon zwischen all dem Nebel eine Lücke und blicke direkt in die Tiefe. Hier geht es nicht mehr weiter und unter mir befinden sich die Klippen. Heilige Scheiße, ist das tief und wir stehen noch nicht einmal am höchsten Punkt. Ich weiß, dass es von dort aus 90 Meter hinuntergeht. Der Ort und die Atmosphäre um uns herum sorgen zusätzlich für diese Düsternis.
Ich stolpere vor Schreck rückwärts und drehe mich, um diesem Polizisten in die Augen zu sehen.
>Ich schwöre Ihnen, ich habe nichts von dem getan, für das ich angeklagt werde. Das, was Sie gerade tun ist absolute Willkür – Sie können mich nicht einfach erschießen. < keuche ich und versuche Zeit zu schinden. Mein gesamter Körper zittert. Es ist so kalt, es ist niemand sonst hier und es ist wahrscheinlich, dass ich jeden Moment erschossen werde. Das kann er doch nicht machen.
>Als wenn es irgendwen interessieren würde, was ich mit einer Frau anstelle, die laut Medien bereits lange tot ist. Dich vermisst sowieso niemand mehr. <
Von diesem Satz bin ich so schockiert und verwundert zugleich, dass ich es erstmal damit versuche, mich herauszureden.
>Mein Name ist Kim...<
>Spar dir das! Du hast vielleicht deinen Namen geändert, aber ich weiß, wer du bist. Ich konnte es kaum glauben als ich einen Kurzbericht über deine gestrige Festnahme in Proctor fand. Diese Idioten hatten keine Ahnung, wer da vor ihnen saß. In der Datenbank gab ich deinen falschen Namen mit all den wenigen Informationen ein, die das Revier herausgab und siehe da, plötzlich tauchte ein Bild von dir auf. Ich wusste, dass ich wenige Monate zuvor ein ähnliches Bild sah und habe die anderen Daten verglichen. Mir war klar, dass ich mir schnell etwas einfallen lassen musste. Leider konnte Madjid nicht selbst so schnell herkommen, aber ich richte dir die besten Grüße von ihm aus. <
>Was? Von wem? < frage ich verständnislos aber ruhig. Viel ruhiger als ich es jemals in so einer Situation gedacht hätte. Er wiederholt den Namen zähneknirschend. Aber noch immer sagt mir dieser Vorname nichts. >Das ist ein Missverständnis – Sie haben die Falsche. Ich kenne keinen Madjid. <
>Und ob du ihn kennst. < grinst er gehässig. Und dann kommt mir ein Blitzgedanke.
>Der Taliban! < hauche ich, als es mir klar wird. Ich bin nie dazu gekommen, seinen Namen auf Sam´s schwarzer Liste zu lesen, denn ich sah mir nur sein Gesicht an.
>Du bist das Misra-Mädchen und aus irgendeinem unerklärlichen Grund lebst du noch, obwohl sie dich doch eigentlich erschossen haben und du im Lake gelandet bist. Da habe ich mir doch die größte Mühe gegeben, alles so einzufädeln, dass du das schwarze Schaf der Familie bist und dann gefährdest du alles. <
>Sie waren das die ganze Zeit und haben alles gefälscht? < keuche ich. Es hieß von Anfang an, dass es einen Maulwurf gäbe. Irgendjemanden bei den Behörden, der die falsche Beweislage herausgab und erst dann die Meldung mit der Einäscherung veröffentlichte, als meine Familie schon lange aus dem Krematorium heraus war. Niemand von Sam´s Leuten konnte noch eingreifen. Dieser Polizist, der eine Waffe auf mich richtet, hat die ganzen Informationen unter den Tisch fallen lassen, die meine Unschuld bezeugt hätten. >Haben Sie eigentlich die geringste Ahnung, was Sie mir angetan haben? < zische ich.
>Du bist eine unwichtige Person in einem viel zu großen Raster. Es wird Zeit, dich endgültig aus dem Weg zu räumen, ehe Madjid und ich auch noch dran sind. Was hast du mit Phillipe und den Anderen angestellt hmm? Wo sind sie und warum verschwinden plötzlich unsere Clan-Mitglieder? <
>Ich? < keuche ich. >Was soll das heißen, dass eure Leute verschwinden? <
>Dass einer nach dem anderen auf mysteriöse Weise wie vom Erdboden verschluckt wurde. Wie hast du herausgefunden wer dazugehört? < brüllt er.
Anstatt ich anfange zu schreien, zu schluchzen oder zu flehen, beginne ich sanft zu grinsen und hauche leise:
>Sam. <
>Was hast du gesagt? < fragt er wütend.
>Ich habe niemanden von deinen Leuten aus dem Weg geräumt, aber ich hätte es gern. Und du wirst trotzdem noch dran sein, egal was du mit mir tust. <
Er lacht hasserfüllt und richtet seine Waffe exakt auf meinen Kopf. Mein Herz beginnt zu wummern, als er auf mich zuläuft. Automatisch gehe ich rückwärts und näher an die Klippe heran, die an dieser Stelle sicher immer noch gut 70 Meter tief hinuntergeht.
Ich denke an die Menschen, die ich über alles liebe und an all die Dinge, die ich noch gern tun würde. Die Gesichter rauschen wie ein Film vor meinen Augen vorbei, aber dann ganz plötzlich ist da eine Stimme in meinem Kopf. Es ist meine Eigene, die mir sagt, dass ich auf keinen Fall sterben will, dass ich nicht grundlos zweimal dem Tod entkommen bin und ich denke an das, was Sam zu seinem Bruder sagte, bevor sie ins Gefecht mussten. „Nein! Heute nicht!“
>Du machst mir mit deiner leeren Drohung keine Angst. Endlich kenne ich den Grund, weshalb unser Clan immer kleiner wird. Madjid wird sich freuen, dass wir dich los sind. Willst du mir noch irgendetwas sagen Püppchen? <
Ich laufe langsam weiterhin mit erhobenen Händen rückwärts zur Klippe, bis ich an meiner Ferse spüre, dass ich am Rand stehe.
>Ja! Fick dich! < fauche ich ihm entgegen.
Und dann drehe ich mich schnell und springe in einem Köpper den Abhang hinunter. Ich höre den Kerl fluchen und schließlich auch die darauffolgenden Schüsse, die an mir vorbeifliegen. Das Gefühl im Magen ist eigenartig, als ich so tief hinunterfalle und
es ist nicht gerade hilfreich zu wissen, dass das Klippenspringen unglaublich gefährlich ist und es schon Tote gab. Aber das ist immer noch besser, als von diesem Kerl erschossen zu werden.
Bevor ich ins Wasser falle, kneife ich vor lauter Schmerzerwartung die Augen zusammen und hole noch einmal tief Luft. Sobald ich in den Lake eintauche, versuche ich gegen das sofortige Krampfen meiner Muskeln anzukämpfen und den stechenden Schmerz in meinem linken Ohr zu verdrängen.
Es ist so unfassbar kalt und der Aufprall auf das Wasser ist ziemlich hart gewesen. Trotzdem bleibe ich unter der Oberfläche und schwimme vorwärts, aber meine Kleidung hat sich mit dem Wasser vollgesaugt, dass mich die schwere Weste herunterzieht. Ich ziehe sie aus und komme sofort besser vorwärts, als sie wegtreibt.
Neben mir schlagen die Kugeln verlangsamt ein und verlassen in einer Kurve ihre Flugbahn.
Ich darf mich nicht umsehen und nicht auftauchen. Das Wasser ist mein Element und ich bin in diesem Lake groß geworden – hier kann er mich nicht bekommen. Mein Leben liegt nicht in den Händen dieses korrupten Polizisten, der von Mischa De Angelis gekauft wurde und der offenbar noch loyal genug ihm gegenüber ist, obwohl sein Boss nicht mehr zu leben scheint. Sam ist so weit gekommen und ich werde nicht aufgeben. Wenn mir mein Lebensretter weiterhin den Weg freischießt, dann werde ich mich bis zum Schluss durchkämpfen. Hätte dieser Kerl auf der Klippe keine Waffe gehabt, dann hätte ich ihn angegriffen. Aber so hätte er mich schneller erschossen noch ehe ich bei ihm gewesen wäre.
Die Strömung hilft mir schnell voranzukommen und ich versuche nahe an der Gesteinswand zu bleiben. Tief nach Luft ringend komme ich wieder hoch und sehe mich um. Mit zusammengekniffenen Augen kann ich ihn zwischen der leichten Nebelschicht erkennen. Dieser Ort wurde in seinem natürlichen Zustand belassen und hat nur sehr wenige Leitplanken. Nur so war es diesem Detectiv möglich, mit mir überhaupt so nah an den Abgrund heranzukommen, an dem er immer noch steht. Er hat mich von dort aus nicht im Visier und bereut es sicher, dass er mich nicht bereits im Wald erschossen hat. Ich ziehe den Sauerstoff ein und tauche wieder unter. Es fällt ihm wegen der gegebenen Witterung offensichtlich schwer, mich unter Wasser zu erkennen, drum schießt er lediglich einem vermuteten Schatten hinterher. Nun weiß er, dass ich am Leben bin und darum wird er nicht aufhören, mich zu suchen. Selbst wenn ich ihm heute entkomme und irgendwo untertauche, dann wird er eine landesweite Fahndung herausgeben und mich trotzdem kriegen. Dann bin ich nirgends mehr sicher, auch nicht in Texas.
Also muss ich ihn ausschalten, ehe er es mit mir tun kann. Ich habe gelernt mich zu verteidigen, ich habe Männer auf der Matte zu Fall gebracht, die weit über mir standen und ich hatte die besten Lehrer, die ich mir vorstellen könnte.
Etwas in mir tobt, das sich nicht mehr demütigen und kleinhalten lassen will. Es wird Zeit, dass ich mich wehre. Ich tauche gegen meine Instinkte wieder auf, aber ich muss nun mal Luft holen. Meine Muskeln schmerzen, meine Kraft schwindet wegen der Strömung und ich zittere wegen der Kälte. Wenn ich hier nicht bald herauskomme, dann ertrinke ich, weil mein Körper zuvor kollabiert.
Ich sehe mich sofort nach dem Cop um. Er hat sich seinen Wagen näher an die Klippen herangeholt und fährt entlang der Steilküste. Wenn sich doch nur ein Stein seiner Fahrbahn lösen würde, der ihn in die Tiefe reißt.
Das Wetter spielt allmählich gegen mich, denn der Nebel verzieht sich aufgrund des starken Winds. Mein Herz rast und ich suche nach einer Möglichkeit hier herauszukommen, ohne dass er mich sieht.
Ich bin ihm entkommen – fürs Erste. Aber ich will überhaupt nicht fliehen, ich will ihn mir holen. Vielleicht kann ich ihn irgendwie von hinten überwältigen und ihm seine Waffe entnehmen.
Wenn nur noch er und Madjid übrig sind und ich das Ganze überlebe, dann ist der Albtraum womöglich bald vorbei.
Ich kann ihn von meiner unteren Position deutlich besser sehen, als er mich von dort oben und ich erkenne, wie er wutentbrannt noch mehr Gas gibt. Er will mich einkreisen, obwohl er nicht weiß, wo ich bin. Aber dann passiert es und ich gerate in einen Bereich, wo der Nebel gänzlich verschwunden ist.
Ich komme in sein Visier und tauche sofort unter, als er eine Vollbremsung einlegt und seine Waffe aus dem offenen Fenster hält. Wie zuvor schießen die Kugel fern von mir in das Wasser ein und werden sofort in einer Kurve abgebremst. An der Oberfläche ist es viel anstrengender gegen die Strömung anzukämpfen, als unter Wasser, also habe ich jetzt den Vorteil, mich schneller fortzubewegen.
Um überhaupt näher an mich heranzukommen, wird er ein Stück an den Bäumen vorbeifahren müssen, die sehr nahe an den Klippen gewachsen sind. Sie werden ihm jeden Moment im Weg stehen und daher muss er den Blick von mir abwenden, ob er will oder nicht. Als mir der Sauerstoff in meinen Lungen ausgeht, bin ich erneut gezwungen, nach oben zu schwimmen.
>Du nimmst mir nicht mein Leben. < zische ich leise und steuere direkt auf die Felswand drauf zu.
Ich werde angetrieben durch das Adrenalin, das mir durch den Körper rauscht und schwimme schneller. Ich bin kein Opfer – nicht mehr!
Mit dem Kopf schlage ich fast an das Gestein vor dem Fuß des Felsens an, so schnell treibt mich die Strömung dorthin. Meine Hände gehen gerade noch schützend davor und damit reiße ich mir etwas die Haut auf. Ich hieve mich aus dem Wasser raus, laufe wenige Meter über die glitschigen Steine zur Felswand und presse ich mich eng an das Gestein. Ich hatte vorhin mehr Glück als Verstand. Wäre ich von dieser Stelle abgesprungen, an der ich soeben bin, dann hätte ich nicht einmal das Wasser erreicht, sondern mein Körper wäre auf dem Weg dahin auf der Steinplatte zerschellt.
Um mich zu vergewissern, wo dieser Archer ist, schaue ich wieder hoch. Mit jeder weiteren Minute, die ich zögere, verschwinden der Nebel und somit auch mein Sichtschutz. Irgendwo über mir muss er stehen und ich werde ihn irgendwie kriegen. Wenn er unaufmerksam ist, werde ich schneller sein. Er muss angehalten haben, denn es ist so ruhig geworden – keine Schüsse, keine Reifengeräusche, nichts. Dass er aufgegeben hat, mich zu suchen, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich.
Wenn ich den Palisade Head entlang schaue, befürchte ich, dass es keine flachere Stelle gibt, an der ich mich hochziehen kann, um schnell wieder festen Boden unter meinen Füßen zu haben. Diese Felswand ist eine Aufforderung für jeden Hobbykletterer und es ist nicht unmöglich, dort hochzukommen. Aber ich zweifle daran, dass ich es schaffen kann – allerdings zweifelte ich auch daran, diesen Sprung in die Tiefe zu überleben.
>Du verdammtes Miststück, wo bist du? < brüllt der Cop plötzlich wütend aus Leibeskräften. Der Schall verteilt sich und ich kann nicht ausmachen, wo er gerade steht.
Die Felsenlandschaft macht eine leichte Kurve und danach sehe ich nichts weiter als Wasser. Ich bin tatsächlich nahezu eingekreist und er weiß, dass ich hier irgendwo sein muss, vorausgesetzt ich bin nicht bereits ertrunken, erfroren oder schwer verletzt. Zwar befinde ich mich nicht mehr in dem eiskalten Wasser, sondern auf den herausragenden Steinen, aber ich kann die Situation hier unten nicht einfach aussitzen. Diesem Cop kann ich mit Zeit schinden sicher nicht glaubhaft machen, nicht mehr am Leben zu sein. Er hat mich offenbar zu akribisch gesucht, drum wird er mich auch jetzt so lange weitersuchen, bis er mich tot oder lebendig vor Augen hat.
Wieder schaue ich nach oben. Wenn ich gar nichts unternehme, dann bringt mich die Kälte um und wenn ich es riskiere zu ihm zu kommen, dann sterbe ich nur vielleicht. Es ist zwar heikel, aber nicht unmöglich ihn zu überwältigen.
Für Sam galt ein Versprechen, das ich mehr als alles andere auf der Welt halten will. Ich werde für ihn leben.
Einen Moment lang versuche ich meine Kraft zu tanken und dann, als ich es nicht mehr länger hier unten aushalte, sammle ich all meinen Mut, greife mir einen Vorsprung und ziehe mich daran hoch.
Meter um Meter und Stein um Stein versuche ich diese Wand hochzukommen. Das Adrenalin rauscht durch meinen Körper und bringt mich dazu etwas zu tun, das ich von mir selbst niemals gedacht hätte. Es ist das Benzin der Angst, das meinen Körper auf Kämpfen eingestellt hat und obwohl ich so stark unterkühlt bin, wird mir plötzlich richtig heiß.
Meine Konzentration gilt einzig und allein dem Felsen, von dem ich nicht hinunterstürzen will. Solange ich noch nicht weiß, wo sich dieser Polizist aufhält, versuche ich mich diagonal fortzubewegen und suche mir die beste Auftrittsfläche heraus, um wenigstens ein Fünkchen Sicherheit zu haben.
Ich habe etwa die Hälfte geschafft, aber hinterlasse immer mehr meine blutigen Handabdrücke am Gestein, das mir die Haut aufreißt. Umso höher ich komme, desto windiger wird es und der verwehte Nebel gibt mir keinen Schutz mehr. Nicht mehr lange und ich bin ein leichtes Ziel, wenn der Detectiv hinunterblickt.
Von der Stelle, an der ich mich jetzt gerade befinde, sollte ich auf keinen Fall hinunterstürzen. Denn hier würde ich nicht einfach nur ins Wasser hineingleiten, sondern zuerst auf den Steinen aufkommen. Mit aller Macht versuche ich meine Atmung, meinen Puls und meine klappernden Zähne zu beruhigen. Der Blutfluss erscheint mir in meinem rechten Ohr so verdammt laut, während es links viel gedämpfter ist. Dennoch nehme ich alles um mich herum viel deutlicher wahr. Meine Augen sind überall und meine Entschlossenheit am Leben zu bleiben ist kaum zu übertreffen und das, obwohl ich es erst vor wenigen Tagen beenden wollte.
Ich muss noch etwa fünfzehn Meter schaffen, in denen mich der Nebelschleier nicht mehr schützt. In der Zeit muss ich mir überlegen, wie ich diesen Kerl in einem Überraschungsmoment überwältige, bevor er seine Waffe auf mich richten kann.
Und plötzlich höre ich ihn fluchen und eine Autotür zuschlagen. Dann rieseln kleine Steine auf meinen Kopf und ich erstarre. Zitternd verharre ich an der Stelle, drücke mich enger an die Klippenwand und versuche, nicht zu laut zu atmen. Er steht genau über mir. Meine Muskeln brennen und krampfen so sehr, dass ich den Schmerz kaum noch aushalte.
>Verdammt noch mal! < brüllt er erneut und schießt offenbar ziellos wütend in das Wasser.
Ich nehme wahr, wie er sich wieder in Bewegung setzt, da seine Schuhe geräuschvoll über dem Gestein schleifen und er erneut kleine Steinchen die Klippe hinunterbefördert.
Ohne Zeit zu verlieren, klettere ich sofort wieder höher, denn ich will nicht, dass er weiter vorfährt. Ich brauche ihn hier, am besten mit dem Rücken zur Klippe stehend. Meine Hände tun so weh, da ich inzwischen mehrere offene Stellen habe, in die sich die Felswand tiefer hineinbohrt. Das Blut läuft mir inzwischen das Handgelenk bis zum Ellenbogen hinunter. Ich bin so konzentriert, dass ich erst gar nicht mitbekomme, was sich weiterhin über meinem Kopf abspielt.
Ich höre plötzlich quietschende Reifen, Geschrei und schließlich auch einen weiteren Schuss. Eilig sehe ich mich um, aber der Cop kann mich nicht entdeckt haben. Mit dem Fuß bleibe ich auf einem herausstehenden Stein stehen und presse mich wieder gegen die Wand. Keuchend kneife ich die Augen zusammen und versuche die Schmerzen auszuhalten. Ich hatte schon schlimmere – viel schlimmere. Eine Autotür knallt und ich befürchte, dass er mir nun doch noch davonfährt, aber plötzlich höre ich wutentbrannt einen weiteren Mann brüllen.
>Wo ist sie? <
Das Blut in meinem Körper gefriert schlagartig. Sofort klettere ich wieder höher. Es sind keine drei Meter mehr.
>Verschwinden Sie hier Sir, das ist Polizeiarbeit. Ich muss Sie auffordern zu gehen. < gibt definitiv mein Verfolger zurück. Panischer sagt er nur einen kurzen Augenblick später: >Bleiben Sie stehen! Stehenbleiben! <
Dann höre ich einen weiteren Schuss und die Geräusche von Gerangel und Gekeuche.
>Wo ist sie? < schreit der andere Mann erneut. Es gleicht beinahe einem Knurren.
Beim Klang dieser Stimme werde ich unaufmerksamer und will viel zu schnell dort hoch. Diese Ablenkung sorgt dafür, dass ich ein Stück vom Felsen abrutsche. Mit einem nicht zu unterdrückenden Schrei, schaffe ich es Gott sei Dank, mich wieder zu fangen, aber ich knalle mit meinem Kopf und der Schulter hart gegen das Gestein.
Kurz darauf kehrt für einen Moment Ruhe über mir ein, so als wären beide Männer für einen Augenblick durch meinen Schrei geschockt. Scheiße, sie haben mich gehört.
>Nayeli? < höre ich ihn rufen und kaum danach kämpfen ganz offensichtlich wieder zwei Personen miteinander. Meine Stirn blutet wegen des Aufpralls und ich wische sie an dem Sweatshirt ab, damit mir das Blut nicht über die Augen läuft.
Nur noch zwei Meter, die ich erklimmen muss und ich kann überhaupt nicht mehr klar denken. Es ist Sam – ich weiß es. Diese Stimme und diese Besorgnis höre ich von Hunderten heraus. Wer sonst sollte meinen Namen auf diese Weise aussprechen? Wer sonst sollte wissen, dass ich ihn jetzt mehr als alles andere auf der Welt brauche?
Meine Kraft schwindet, aber ich beiße die Zähne zusammen und schaffe es, mich nach mehreren Versuchen hochzuziehen. Ein Bein schwinge ich über den Rand der Klippe und ziehe mich schnaufend auf den festen, steinernen Boden. Kraftlos hebe ich meinen Kopf und ich sehe Sam, der tatsächlich diesen Polizisten attackiert. Ich wusste, dass er es ist! Einer von beiden hat eine Pistole während des Kampfes verloren und sie liegt außerhalb ihrer Reichweite. Egal wem sie gehört, Sam braucht für einen solchen Kampf keine Waffe. Gegen ihn hat dieser korrupte Mistkerl keine Chance.
Ich raffe mich ungeschickt auf, während Sam diesem Typen eine verpasst. Aber dann erblickt er mich und schaut mich an, als könnte er nicht glauben mich zu sehen. Ein ungläubiges aber erleichtertes Lächeln umspielt seine Lippen. Bei meinem Schrei muss er gedacht haben, dass ich in die Tiefe gestürzt bin.
Auch ich bin für einen kurzen Moment einfach nur froh ihn zu sehen, aber es ist der wohl schlechteste Augenblick für so etwas.
>Pass auf! < rufe ich ihm zu.
Der Polizist windet sich aus Sam´s Griff und greift ihn an. Da er durch mich abgelenkt war, hat er es auch nicht kommen sehen. Er bekommt plötzlich einen Kick in die Kniekehlen, wodurch er einsackt und sich der Spieß umdreht. Im Eifer des Gefechts zückt der Cop blitzschnell das Erste, was er kriegen kann und greift die längeren Handschellen aus seinem Gürtel.
Er zielt nicht darauf ab, einen von uns abzuführen, sondern uns umzubringen. Ihm ist klar, dass Sam zu viel weiß und zu viel gesehen hat – er kann ihn nicht gehen lassen.
Dieser Archer legt ihm von hinten die Kette der Handschellen um den Hals und kreuzt die beiden Enden, um sie zusammenzuziehen. Er drückt Sam die Luftröhre zu und er wird ersticken, wenn ihm niemand hilft. Wehren kann er sich in dieser Position nicht, denn seine Hände sind an den Kettengliedern und versuchen ihn aus dieser Lage zu befreien.
Ich denke nicht nach und werfe mich auf den Boden zu der weggeschlitterten Pistole. Der Cop zählt sofort eins und eins zusammen als er meine Bewegungen sieht und fuchtelt panisch mit einer Hand an seiner Hose herum.
In dem Moment passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Ich ziele auf den Kopf des Polizisten und drücke ab, während die ungeladene Waffe nur klickt. So ein Fehler würde Sam niemals passieren, also weiß ich, dass die Pistole Archer gehört. Dieser gekaufte Mistkerl zieht plötzlich ein Taschenmesser heraus und ich habe nur diesen einen Gedanken, mein Leben und das von Sam zu retten. Ich halte eine 9 mm Glock 19 in meinen Händen – dieselbe Pistole, mit der ich immer in der Schule geschossen habe. Wie vom Donner gerührt fuchtle ich an meiner Halskette herum und lasse diese eine Patrone in meine offene Hand fallen, die ich seit drei Monaten mit mir herumtrage. Ich sehe die wachsende Panik in den Augen des Polizisten, der das Messer soeben zu Sam´s Kehle hinbewegt, der durch die Gliederkette keine Luft mehr bekommt und es nicht schafft, sich selbst zu befreien.
Im selben Moment lege ich die Patrone in das Magazin und schiebe es in die Waffe. Der Detective merkt sofort, dass ich damit umgehen kann – ich hoffe nur, dass ich immer noch so zielsicher bin, wie damals.
>Na, na, na. Überstürze lieber nichts. < zischt Archer. >Ich hätte wissen müssen, dass du sie nicht alle allein kaltgemacht hast. Das war er, oder? < wendet er sich an mich, aber nickt zu Sam hinunter. Ich richte die Waffe direkt auf den Polizisten ohne ihm zu antworten. Er hockt hinter Sam auf dem Boden und ihre Köpfe sind nur wenige Zentimeter auseinander.
>Leg die Pistole weg, sonst ziehe ich ihm die Klinge über den Hals! < japst er unbändig und bekommt es langsam mit der Angst zu tun.
>Pistolen sind schneller. < hauche ich und drücke ab. Er schneidet Sam zwar am Hals, aber er hatte keinen Druck mehr auf der Klinge, wodurch sie nicht tief genug in die Haut eindringen konnte. Mit einem dumpfen Laut des Aufpralls geht er zu Boden und ich starre in die toten Augen dieses Kerls, der die Munition in seiner Stirn hat. Der Anblick ist schrecklich, aber trotzdem kann ich nicht wegsehen.
Sofort löst Sam die Kette um seinen Hals und keucht auf, als er endlich wieder die Luft einziehen kann.
Ich sinke in einer Schockstarre auf die Knie und spüre förmlich, wie mich der Adrenalinpegel verlässt. Was ich da eben getan habe, kann ich nicht fassen.
Sam hustet, sieht ebenfalls zu dem Kerl am Boden und schaut dann zurück zu mir. Seine eine Gesichtshälfte ist etwas mit Archers Blut besprenkelt.
>Kleines. < flüstert er rau.
Stocksteif und vor Kälte zitternd, hocke ich da und sehe zu dem Toten. Sam springt auf und kommt mit schnellen Schritten zu mir, kniet sich runter auf die Erde und reißt mich in seine Arme.
>Als ich dich nicht gesehen habe, dachte ich, er hätte dich umgebracht. Hat er dir irgendwas getan? < ich sage nichts, mein Körper bibbert nur enorm und ich kann meinen Blick nicht von der blutenden Eintrittswunde abwenden, die nun mal genau in meine Richtung zeigt. >Nayeli, was ist los? < fragt er sorgenvoll und nimmt mein Gesicht in seine Hände, damit ich ihn ansehe.
>I... ich hab ihn... < keuche ich und sehe mich um. >Ich habe einen Cop getötet. <
>Mach dir deswegen keine Sorgen. Besser er, als du. <
>Das gibt noch mal lebenslänglich. <
>Du kommst nicht ins Gefängnis. <
Noch immer hält er mein Gesicht in seinen Händen. Das Blut von meiner aufgeschlagenen Stirn läuft über seine Hand.
Ich zittere am ganzen Körper und fühle mich so durchgefroren, dass ich mich kaum noch bewegen kann. Dann starre ich Sam an und kann nicht glauben, dass er vor mir steht. Meine Fassung kehrt ein wenig zurück und ich lasse mich wimmernd in seine Arme fallen.
>Woher wusstest du, dass ich hier bin? <
>Lass uns das später klären. Erst einmal bringe ich dich von hier weg. <
Und schon drückt er mich sanft von sich, zieht seine Jacke aus, um sie um mich zu legen und springt auf.
Verwirrt sehe ich ihm nach, als er zurück zu dem Polizisten läuft. Mit gerunzelter Stirn hockt er sich zu ihm herunter und macht große Augen. Er reift zu dem Brustkorb des Cops und rüttelt daran herum, wodurch sein Kopf zur anderen Seite fällt.
Mir ist bisher noch nicht klar, was Sam da mit ihm tut, aber ich bin auch nicht in der Lage, um ihn danach zu fragen. Denn als ich den Hinterkopf von diesem Archer sehe, wende ich den Blick sofort davon ab und muss mir meinen Handrücken vor den Mund halten. Als Josh Scofieldt durch einen Kopfschuss starb, sah es bei Weitem nicht so aus.
Ich habe inzwischen meine Arme um den Körper geschlungen und zittere wie Espenlaub. Als ich erneut zu Sam sehe, steckt er irgendetwas Eckiges in seine Hosentasche. Er kommt zu mir zurück, nimmt die Pistole des Polizisten aus meiner Hand und sieht, dass mein Blut von den aufgerissenen Händen daran klebt. Er steckt sie schließlich in seinen Gürtel und greift entlang meines Unterarmes, um mich hochzuziehen. Ich drehe mich hektisch zu der Klippe um und schaue, ob uns irgendjemand gesehen haben könnte.
>Hattest du irgendetwas bei dir? < fragt Sam.
Mir ist so kalt, dass ich nicht reden kann, also nicke ich nur und deute auf den Kofferraum des Polizeiwagens.
heute werden ein paar Dinge aufgelöst. Ich hoffe, Ihr habt alle noch das 14. Kapitel im Kopf, in dem Sam mit dem Pathologen sprach ;) - das ist heute wichtig.
Klickt im Laufe des Kapitels auf den Link mit dem Bild. Ich finde, dann kann man sich besser vorstellen, wo Nayeli gerade steckt.
Wie immer interessiert mich Eure Meinung - also schreibt mir.
Viel Spaß. Lynn
-----------------------
Kapitel 18 – Unter falschem Verdacht
*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels enthält blutige Szenen und kann auf vereinzelte Personen verstörend wirken.
Ab und zu sehe ich zu dem Radio mit der Funkanlage und weiß, dass wir ungefähr seit einer Stunde unterwegs sind. Leider habe ich nicht von Anfang an auf die Uhrzeit geachtet. Wir sind durch einige Tunnel gefahren und die letzten Minuten nur noch bergauf über einen verdammt holprigen Pfad gerollt, der unmöglich für Fahrzeuge gedacht sein kann. Hier ist es irgendwie düster und neblig. Einige Äste und Sträucher streifen die Türen des Wagens und ich schätze, dieser Detective Archer verflucht seinen Auftrag, dass er meinen Chauffeur spielen soll. Aber wo zur Hölle bringt er mich hin? Ich mag äußerlich ruhig wirken, allerdings bin ich es innerlich kein bisschen. Hinzu kommt, dass der Kerl kein Wort mit mir redet – vielleicht dürfen sie es auch nicht. Er kommunizierte nur immer wieder über Funk und wimmelte alle Einsätze ab, die an ihn gingen, mit der Begründung, er sei gerade mitten in einem anderen Einsatz und kann nicht.
Kurz nach 8 Uhr morgens hält er schließlich an und ich sehe müde auf. Ich bin zwar nicht eingeschlafen, aber immer wieder in einen Dämmerzustand geraten.
Als ich beim Ausschalten des Motors langsam zu mir komme, drehe ich mich verunsichert zu allen Seiten um. Denn anstatt Menschen oder Gebäude zu sehen, ist hier nichts. Ich erkenne lediglich einen Funkturm, ansonsten sehe ich nur verdammt viel Nebel, Natur und Stein. Wir sind mitten im Nirgendwo.
Fragend blicke ich nach vorn zu dem Polizisten, der aus dem Wagen aussteigt. Aus dem Seitenfenster sehe ich, dass es noch leicht ansteigend nach oben geht. An sich wundert mich das nicht, wenn ich an die Bounty Hunter Schule denke, die ebenfalls gut versteckt war. Bei einem FBI-Quartier ist es vielleicht ähnlich.
Ich finde nur, dass der Horizont eigenartig aussieht, so als würde es einige Meter vor mir nicht noch höher gehen, sondern plötzlich bergab fallen. Der Polizist steht auf dem blanken Gestein und kommt neben meine Tür, um mich herauszuholen. Doch dann holt er vor dem Fenster seine Pistole hervor und erschrocken schnalle ich mich sofort ab, rutsche zur anderen Seite rüber und rüttele an dem Türöffner herum. Natürlich ist der hintere Bereich verriegelt und mir ist klar, dass ich hier nicht rauskomme.
Er öffnet die hintere Seitentür und steckt den Kopf zu mir herein.
>Steig aus! < befiehlt er und richtet die Pistole auf mich.
>Was haben Sie vor? <
Er lässt seine Waffe klicken und schaut mich wütend an.
>Mach kein Theater Mädchen. Du wirst jetzt aussteigen oder ich zerre dich an den Haaren hier raus. <
>Hören Sie! Ich habe nicht das getan, was mir vorgeworfen wird. < keuche ich und hänge verzweifelt an der gegenüberliegenden Tür.
>Raus jetzt! < brüllt er und packt mich am Bein. Als ich versuche, mich mit dem Fuß zu wehren, treffe ich ihn nur am Brustkorb. Dann greift er noch einmal nach, zieht mich aus dem Wagen heraus, schmeißt mich grob auf das harte Gestein und schließt die Tür, als ich auf dem eisigen Boden liege. Der kalte Wind pfeift mir um die Ohren und ich sehe meinen eigenen Atem bei diesen Temperaturen.
Er geht einige Schritte von mir weg und richtet die Waffe erneut auf mich. Wenn ich näher an ihm dran wäre, dann könnte ich sie ihm entreißen, aber auf dieser Entfernung ist er am längeren Hebel. In den Lauf einer Pistole zu blicken, ist der wohl schrecklichste Anblick, den ich mir vorstellen kann und ich fühle mich völlig hilflos. Alle Alarmsirenen gehen im Körper an und der Überlebensmodus könnte nicht stärker sein.
>Es gibt niemanden vom FBI, zu dem sie mich bringen sollen, richtig? < keuche ich. Darauf grinst der Detective nur überheblich. Ich sehe mich hektisch um und bin mir darüber im Klaren, dass er sich nicht grundlos einen abgeschiedenen Weg ausgesucht hat. >Wo sind wir hier? <
>Palisade head.* Und jetzt steh auf und beweg dich schön langsam vorwärts! Deine Hände bleiben dort, wo sie sind! <
*https://www.flickr.com/photos/pmarkham/41945160730
Dieser Ort passt, denn ich kann es im Hintergrund rauschen hören. Ich war zwar selbst noch nie hier, aber ich weiß, dass vor uns das Nordufer des Lake Superiors ist. Eigentlich ist die große Felsformation eine Sehenswürdigkeit, aber ich befürchte, es ist aussichtslos, dass mich hier jemand sieht – geschweige denn um Hilfe schreien hört. Es ist viel zu kalt und zu früh, als dass es einen Kletterer zu dieser Jahreszeit hierhertreiben würde. Ich stemme mich auf ein Bein und drücke mich nach oben, laufe einfach vorwärts in Richtung der felsigen Steigung. Es raschelt als meine Beine die Sträucher berühren und die kahlen Äste beiseiteschieben. Hinter mir wird immer noch eine Waffe auf mich gerichtet und aus dem Augenwinkel versuche ich einen Fluchtweg zu finden. Noch bin ich nicht tot, also versuche ich irgendwie einen klaren Gedanken zu fassen. Kaum bin ich einige Meter durch das Gestrüpp gelaufen, da sehe ich auch schon zwischen all dem Nebel eine Lücke und blicke direkt in die Tiefe. Hier geht es nicht mehr weiter und unter mir befinden sich die Klippen. Heilige Scheiße, ist das tief und wir stehen noch nicht einmal am höchsten Punkt. Ich weiß, dass es von dort aus 90 Meter hinuntergeht. Der Ort und die Atmosphäre um uns herum sorgen zusätzlich für diese Düsternis.
Ich stolpere vor Schreck rückwärts und drehe mich, um diesem Polizisten in die Augen zu sehen.
>Ich schwöre Ihnen, ich habe nichts von dem getan, für das ich angeklagt werde. Das, was Sie gerade tun ist absolute Willkür – Sie können mich nicht einfach erschießen. < keuche ich und versuche Zeit zu schinden. Mein gesamter Körper zittert. Es ist so kalt, es ist niemand sonst hier und es ist wahrscheinlich, dass ich jeden Moment erschossen werde. Das kann er doch nicht machen.
>Als wenn es irgendwen interessieren würde, was ich mit einer Frau anstelle, die laut Medien bereits lange tot ist. Dich vermisst sowieso niemand mehr. <
Von diesem Satz bin ich so schockiert und verwundert zugleich, dass ich es erstmal damit versuche, mich herauszureden.
>Mein Name ist Kim...<
>Spar dir das! Du hast vielleicht deinen Namen geändert, aber ich weiß, wer du bist. Ich konnte es kaum glauben als ich einen Kurzbericht über deine gestrige Festnahme in Proctor fand. Diese Idioten hatten keine Ahnung, wer da vor ihnen saß. In der Datenbank gab ich deinen falschen Namen mit all den wenigen Informationen ein, die das Revier herausgab und siehe da, plötzlich tauchte ein Bild von dir auf. Ich wusste, dass ich wenige Monate zuvor ein ähnliches Bild sah und habe die anderen Daten verglichen. Mir war klar, dass ich mir schnell etwas einfallen lassen musste. Leider konnte Madjid nicht selbst so schnell herkommen, aber ich richte dir die besten Grüße von ihm aus. <
>Was? Von wem? < frage ich verständnislos aber ruhig. Viel ruhiger als ich es jemals in so einer Situation gedacht hätte. Er wiederholt den Namen zähneknirschend. Aber noch immer sagt mir dieser Vorname nichts. >Das ist ein Missverständnis – Sie haben die Falsche. Ich kenne keinen Madjid. <
>Und ob du ihn kennst. < grinst er gehässig. Und dann kommt mir ein Blitzgedanke.
>Der Taliban! < hauche ich, als es mir klar wird. Ich bin nie dazu gekommen, seinen Namen auf Sam´s schwarzer Liste zu lesen, denn ich sah mir nur sein Gesicht an.
>Du bist das Misra-Mädchen und aus irgendeinem unerklärlichen Grund lebst du noch, obwohl sie dich doch eigentlich erschossen haben und du im Lake gelandet bist. Da habe ich mir doch die größte Mühe gegeben, alles so einzufädeln, dass du das schwarze Schaf der Familie bist und dann gefährdest du alles. <
>Sie waren das die ganze Zeit und haben alles gefälscht? < keuche ich. Es hieß von Anfang an, dass es einen Maulwurf gäbe. Irgendjemanden bei den Behörden, der die falsche Beweislage herausgab und erst dann die Meldung mit der Einäscherung veröffentlichte, als meine Familie schon lange aus dem Krematorium heraus war. Niemand von Sam´s Leuten konnte noch eingreifen. Dieser Polizist, der eine Waffe auf mich richtet, hat die ganzen Informationen unter den Tisch fallen lassen, die meine Unschuld bezeugt hätten. >Haben Sie eigentlich die geringste Ahnung, was Sie mir angetan haben? < zische ich.
>Du bist eine unwichtige Person in einem viel zu großen Raster. Es wird Zeit, dich endgültig aus dem Weg zu räumen, ehe Madjid und ich auch noch dran sind. Was hast du mit Phillipe und den Anderen angestellt hmm? Wo sind sie und warum verschwinden plötzlich unsere Clan-Mitglieder? <
>Ich? < keuche ich. >Was soll das heißen, dass eure Leute verschwinden? <
>Dass einer nach dem anderen auf mysteriöse Weise wie vom Erdboden verschluckt wurde. Wie hast du herausgefunden wer dazugehört? < brüllt er.
Anstatt ich anfange zu schreien, zu schluchzen oder zu flehen, beginne ich sanft zu grinsen und hauche leise:
>Sam. <
>Was hast du gesagt? < fragt er wütend.
>Ich habe niemanden von deinen Leuten aus dem Weg geräumt, aber ich hätte es gern. Und du wirst trotzdem noch dran sein, egal was du mit mir tust. <
Er lacht hasserfüllt und richtet seine Waffe exakt auf meinen Kopf. Mein Herz beginnt zu wummern, als er auf mich zuläuft. Automatisch gehe ich rückwärts und näher an die Klippe heran, die an dieser Stelle sicher immer noch gut 70 Meter tief hinuntergeht.
Ich denke an die Menschen, die ich über alles liebe und an all die Dinge, die ich noch gern tun würde. Die Gesichter rauschen wie ein Film vor meinen Augen vorbei, aber dann ganz plötzlich ist da eine Stimme in meinem Kopf. Es ist meine Eigene, die mir sagt, dass ich auf keinen Fall sterben will, dass ich nicht grundlos zweimal dem Tod entkommen bin und ich denke an das, was Sam zu seinem Bruder sagte, bevor sie ins Gefecht mussten. „Nein! Heute nicht!“
>Du machst mir mit deiner leeren Drohung keine Angst. Endlich kenne ich den Grund, weshalb unser Clan immer kleiner wird. Madjid wird sich freuen, dass wir dich los sind. Willst du mir noch irgendetwas sagen Püppchen? <
Ich laufe langsam weiterhin mit erhobenen Händen rückwärts zur Klippe, bis ich an meiner Ferse spüre, dass ich am Rand stehe.
>Ja! Fick dich! < fauche ich ihm entgegen.
Und dann drehe ich mich schnell und springe in einem Köpper den Abhang hinunter. Ich höre den Kerl fluchen und schließlich auch die darauffolgenden Schüsse, die an mir vorbeifliegen. Das Gefühl im Magen ist eigenartig, als ich so tief hinunterfalle und
es ist nicht gerade hilfreich zu wissen, dass das Klippenspringen unglaublich gefährlich ist und es schon Tote gab. Aber das ist immer noch besser, als von diesem Kerl erschossen zu werden.
Bevor ich ins Wasser falle, kneife ich vor lauter Schmerzerwartung die Augen zusammen und hole noch einmal tief Luft. Sobald ich in den Lake eintauche, versuche ich gegen das sofortige Krampfen meiner Muskeln anzukämpfen und den stechenden Schmerz in meinem linken Ohr zu verdrängen.
Es ist so unfassbar kalt und der Aufprall auf das Wasser ist ziemlich hart gewesen. Trotzdem bleibe ich unter der Oberfläche und schwimme vorwärts, aber meine Kleidung hat sich mit dem Wasser vollgesaugt, dass mich die schwere Weste herunterzieht. Ich ziehe sie aus und komme sofort besser vorwärts, als sie wegtreibt.
Neben mir schlagen die Kugeln verlangsamt ein und verlassen in einer Kurve ihre Flugbahn.
Ich darf mich nicht umsehen und nicht auftauchen. Das Wasser ist mein Element und ich bin in diesem Lake groß geworden – hier kann er mich nicht bekommen. Mein Leben liegt nicht in den Händen dieses korrupten Polizisten, der von Mischa De Angelis gekauft wurde und der offenbar noch loyal genug ihm gegenüber ist, obwohl sein Boss nicht mehr zu leben scheint. Sam ist so weit gekommen und ich werde nicht aufgeben. Wenn mir mein Lebensretter weiterhin den Weg freischießt, dann werde ich mich bis zum Schluss durchkämpfen. Hätte dieser Kerl auf der Klippe keine Waffe gehabt, dann hätte ich ihn angegriffen. Aber so hätte er mich schneller erschossen noch ehe ich bei ihm gewesen wäre.
Die Strömung hilft mir schnell voranzukommen und ich versuche nahe an der Gesteinswand zu bleiben. Tief nach Luft ringend komme ich wieder hoch und sehe mich um. Mit zusammengekniffenen Augen kann ich ihn zwischen der leichten Nebelschicht erkennen. Dieser Ort wurde in seinem natürlichen Zustand belassen und hat nur sehr wenige Leitplanken. Nur so war es diesem Detectiv möglich, mit mir überhaupt so nah an den Abgrund heranzukommen, an dem er immer noch steht. Er hat mich von dort aus nicht im Visier und bereut es sicher, dass er mich nicht bereits im Wald erschossen hat. Ich ziehe den Sauerstoff ein und tauche wieder unter. Es fällt ihm wegen der gegebenen Witterung offensichtlich schwer, mich unter Wasser zu erkennen, drum schießt er lediglich einem vermuteten Schatten hinterher. Nun weiß er, dass ich am Leben bin und darum wird er nicht aufhören, mich zu suchen. Selbst wenn ich ihm heute entkomme und irgendwo untertauche, dann wird er eine landesweite Fahndung herausgeben und mich trotzdem kriegen. Dann bin ich nirgends mehr sicher, auch nicht in Texas.
Also muss ich ihn ausschalten, ehe er es mit mir tun kann. Ich habe gelernt mich zu verteidigen, ich habe Männer auf der Matte zu Fall gebracht, die weit über mir standen und ich hatte die besten Lehrer, die ich mir vorstellen könnte.
Etwas in mir tobt, das sich nicht mehr demütigen und kleinhalten lassen will. Es wird Zeit, dass ich mich wehre. Ich tauche gegen meine Instinkte wieder auf, aber ich muss nun mal Luft holen. Meine Muskeln schmerzen, meine Kraft schwindet wegen der Strömung und ich zittere wegen der Kälte. Wenn ich hier nicht bald herauskomme, dann ertrinke ich, weil mein Körper zuvor kollabiert.
Ich sehe mich sofort nach dem Cop um. Er hat sich seinen Wagen näher an die Klippen herangeholt und fährt entlang der Steilküste. Wenn sich doch nur ein Stein seiner Fahrbahn lösen würde, der ihn in die Tiefe reißt.
Das Wetter spielt allmählich gegen mich, denn der Nebel verzieht sich aufgrund des starken Winds. Mein Herz rast und ich suche nach einer Möglichkeit hier herauszukommen, ohne dass er mich sieht.
Ich bin ihm entkommen – fürs Erste. Aber ich will überhaupt nicht fliehen, ich will ihn mir holen. Vielleicht kann ich ihn irgendwie von hinten überwältigen und ihm seine Waffe entnehmen.
Wenn nur noch er und Madjid übrig sind und ich das Ganze überlebe, dann ist der Albtraum womöglich bald vorbei.
Ich kann ihn von meiner unteren Position deutlich besser sehen, als er mich von dort oben und ich erkenne, wie er wutentbrannt noch mehr Gas gibt. Er will mich einkreisen, obwohl er nicht weiß, wo ich bin. Aber dann passiert es und ich gerate in einen Bereich, wo der Nebel gänzlich verschwunden ist.
Ich komme in sein Visier und tauche sofort unter, als er eine Vollbremsung einlegt und seine Waffe aus dem offenen Fenster hält. Wie zuvor schießen die Kugel fern von mir in das Wasser ein und werden sofort in einer Kurve abgebremst. An der Oberfläche ist es viel anstrengender gegen die Strömung anzukämpfen, als unter Wasser, also habe ich jetzt den Vorteil, mich schneller fortzubewegen.
Um überhaupt näher an mich heranzukommen, wird er ein Stück an den Bäumen vorbeifahren müssen, die sehr nahe an den Klippen gewachsen sind. Sie werden ihm jeden Moment im Weg stehen und daher muss er den Blick von mir abwenden, ob er will oder nicht. Als mir der Sauerstoff in meinen Lungen ausgeht, bin ich erneut gezwungen, nach oben zu schwimmen.
>Du nimmst mir nicht mein Leben. < zische ich leise und steuere direkt auf die Felswand drauf zu.
Ich werde angetrieben durch das Adrenalin, das mir durch den Körper rauscht und schwimme schneller. Ich bin kein Opfer – nicht mehr!
Mit dem Kopf schlage ich fast an das Gestein vor dem Fuß des Felsens an, so schnell treibt mich die Strömung dorthin. Meine Hände gehen gerade noch schützend davor und damit reiße ich mir etwas die Haut auf. Ich hieve mich aus dem Wasser raus, laufe wenige Meter über die glitschigen Steine zur Felswand und presse ich mich eng an das Gestein. Ich hatte vorhin mehr Glück als Verstand. Wäre ich von dieser Stelle abgesprungen, an der ich soeben bin, dann hätte ich nicht einmal das Wasser erreicht, sondern mein Körper wäre auf dem Weg dahin auf der Steinplatte zerschellt.
Um mich zu vergewissern, wo dieser Archer ist, schaue ich wieder hoch. Mit jeder weiteren Minute, die ich zögere, verschwinden der Nebel und somit auch mein Sichtschutz. Irgendwo über mir muss er stehen und ich werde ihn irgendwie kriegen. Wenn er unaufmerksam ist, werde ich schneller sein. Er muss angehalten haben, denn es ist so ruhig geworden – keine Schüsse, keine Reifengeräusche, nichts. Dass er aufgegeben hat, mich zu suchen, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich.
Wenn ich den Palisade Head entlang schaue, befürchte ich, dass es keine flachere Stelle gibt, an der ich mich hochziehen kann, um schnell wieder festen Boden unter meinen Füßen zu haben. Diese Felswand ist eine Aufforderung für jeden Hobbykletterer und es ist nicht unmöglich, dort hochzukommen. Aber ich zweifle daran, dass ich es schaffen kann – allerdings zweifelte ich auch daran, diesen Sprung in die Tiefe zu überleben.
>Du verdammtes Miststück, wo bist du? < brüllt der Cop plötzlich wütend aus Leibeskräften. Der Schall verteilt sich und ich kann nicht ausmachen, wo er gerade steht.
Die Felsenlandschaft macht eine leichte Kurve und danach sehe ich nichts weiter als Wasser. Ich bin tatsächlich nahezu eingekreist und er weiß, dass ich hier irgendwo sein muss, vorausgesetzt ich bin nicht bereits ertrunken, erfroren oder schwer verletzt. Zwar befinde ich mich nicht mehr in dem eiskalten Wasser, sondern auf den herausragenden Steinen, aber ich kann die Situation hier unten nicht einfach aussitzen. Diesem Cop kann ich mit Zeit schinden sicher nicht glaubhaft machen, nicht mehr am Leben zu sein. Er hat mich offenbar zu akribisch gesucht, drum wird er mich auch jetzt so lange weitersuchen, bis er mich tot oder lebendig vor Augen hat.
Wieder schaue ich nach oben. Wenn ich gar nichts unternehme, dann bringt mich die Kälte um und wenn ich es riskiere zu ihm zu kommen, dann sterbe ich nur vielleicht. Es ist zwar heikel, aber nicht unmöglich ihn zu überwältigen.
Für Sam galt ein Versprechen, das ich mehr als alles andere auf der Welt halten will. Ich werde für ihn leben.
Einen Moment lang versuche ich meine Kraft zu tanken und dann, als ich es nicht mehr länger hier unten aushalte, sammle ich all meinen Mut, greife mir einen Vorsprung und ziehe mich daran hoch.
Meter um Meter und Stein um Stein versuche ich diese Wand hochzukommen. Das Adrenalin rauscht durch meinen Körper und bringt mich dazu etwas zu tun, das ich von mir selbst niemals gedacht hätte. Es ist das Benzin der Angst, das meinen Körper auf Kämpfen eingestellt hat und obwohl ich so stark unterkühlt bin, wird mir plötzlich richtig heiß.
Meine Konzentration gilt einzig und allein dem Felsen, von dem ich nicht hinunterstürzen will. Solange ich noch nicht weiß, wo sich dieser Polizist aufhält, versuche ich mich diagonal fortzubewegen und suche mir die beste Auftrittsfläche heraus, um wenigstens ein Fünkchen Sicherheit zu haben.
Ich habe etwa die Hälfte geschafft, aber hinterlasse immer mehr meine blutigen Handabdrücke am Gestein, das mir die Haut aufreißt. Umso höher ich komme, desto windiger wird es und der verwehte Nebel gibt mir keinen Schutz mehr. Nicht mehr lange und ich bin ein leichtes Ziel, wenn der Detectiv hinunterblickt.
Von der Stelle, an der ich mich jetzt gerade befinde, sollte ich auf keinen Fall hinunterstürzen. Denn hier würde ich nicht einfach nur ins Wasser hineingleiten, sondern zuerst auf den Steinen aufkommen. Mit aller Macht versuche ich meine Atmung, meinen Puls und meine klappernden Zähne zu beruhigen. Der Blutfluss erscheint mir in meinem rechten Ohr so verdammt laut, während es links viel gedämpfter ist. Dennoch nehme ich alles um mich herum viel deutlicher wahr. Meine Augen sind überall und meine Entschlossenheit am Leben zu bleiben ist kaum zu übertreffen und das, obwohl ich es erst vor wenigen Tagen beenden wollte.
Ich muss noch etwa fünfzehn Meter schaffen, in denen mich der Nebelschleier nicht mehr schützt. In der Zeit muss ich mir überlegen, wie ich diesen Kerl in einem Überraschungsmoment überwältige, bevor er seine Waffe auf mich richten kann.
Und plötzlich höre ich ihn fluchen und eine Autotür zuschlagen. Dann rieseln kleine Steine auf meinen Kopf und ich erstarre. Zitternd verharre ich an der Stelle, drücke mich enger an die Klippenwand und versuche, nicht zu laut zu atmen. Er steht genau über mir. Meine Muskeln brennen und krampfen so sehr, dass ich den Schmerz kaum noch aushalte.
>Verdammt noch mal! < brüllt er erneut und schießt offenbar ziellos wütend in das Wasser.
Ich nehme wahr, wie er sich wieder in Bewegung setzt, da seine Schuhe geräuschvoll über dem Gestein schleifen und er erneut kleine Steinchen die Klippe hinunterbefördert.
Ohne Zeit zu verlieren, klettere ich sofort wieder höher, denn ich will nicht, dass er weiter vorfährt. Ich brauche ihn hier, am besten mit dem Rücken zur Klippe stehend. Meine Hände tun so weh, da ich inzwischen mehrere offene Stellen habe, in die sich die Felswand tiefer hineinbohrt. Das Blut läuft mir inzwischen das Handgelenk bis zum Ellenbogen hinunter. Ich bin so konzentriert, dass ich erst gar nicht mitbekomme, was sich weiterhin über meinem Kopf abspielt.
Ich höre plötzlich quietschende Reifen, Geschrei und schließlich auch einen weiteren Schuss. Eilig sehe ich mich um, aber der Cop kann mich nicht entdeckt haben. Mit dem Fuß bleibe ich auf einem herausstehenden Stein stehen und presse mich wieder gegen die Wand. Keuchend kneife ich die Augen zusammen und versuche die Schmerzen auszuhalten. Ich hatte schon schlimmere – viel schlimmere. Eine Autotür knallt und ich befürchte, dass er mir nun doch noch davonfährt, aber plötzlich höre ich wutentbrannt einen weiteren Mann brüllen.
>Wo ist sie? <
Das Blut in meinem Körper gefriert schlagartig. Sofort klettere ich wieder höher. Es sind keine drei Meter mehr.
>Verschwinden Sie hier Sir, das ist Polizeiarbeit. Ich muss Sie auffordern zu gehen. < gibt definitiv mein Verfolger zurück. Panischer sagt er nur einen kurzen Augenblick später: >Bleiben Sie stehen! Stehenbleiben! <
Dann höre ich einen weiteren Schuss und die Geräusche von Gerangel und Gekeuche.
>Wo ist sie? < schreit der andere Mann erneut. Es gleicht beinahe einem Knurren.
Beim Klang dieser Stimme werde ich unaufmerksamer und will viel zu schnell dort hoch. Diese Ablenkung sorgt dafür, dass ich ein Stück vom Felsen abrutsche. Mit einem nicht zu unterdrückenden Schrei, schaffe ich es Gott sei Dank, mich wieder zu fangen, aber ich knalle mit meinem Kopf und der Schulter hart gegen das Gestein.
Kurz darauf kehrt für einen Moment Ruhe über mir ein, so als wären beide Männer für einen Augenblick durch meinen Schrei geschockt. Scheiße, sie haben mich gehört.
>Nayeli? < höre ich ihn rufen und kaum danach kämpfen ganz offensichtlich wieder zwei Personen miteinander. Meine Stirn blutet wegen des Aufpralls und ich wische sie an dem Sweatshirt ab, damit mir das Blut nicht über die Augen läuft.
Nur noch zwei Meter, die ich erklimmen muss und ich kann überhaupt nicht mehr klar denken. Es ist Sam – ich weiß es. Diese Stimme und diese Besorgnis höre ich von Hunderten heraus. Wer sonst sollte meinen Namen auf diese Weise aussprechen? Wer sonst sollte wissen, dass ich ihn jetzt mehr als alles andere auf der Welt brauche?
Meine Kraft schwindet, aber ich beiße die Zähne zusammen und schaffe es, mich nach mehreren Versuchen hochzuziehen. Ein Bein schwinge ich über den Rand der Klippe und ziehe mich schnaufend auf den festen, steinernen Boden. Kraftlos hebe ich meinen Kopf und ich sehe Sam, der tatsächlich diesen Polizisten attackiert. Ich wusste, dass er es ist! Einer von beiden hat eine Pistole während des Kampfes verloren und sie liegt außerhalb ihrer Reichweite. Egal wem sie gehört, Sam braucht für einen solchen Kampf keine Waffe. Gegen ihn hat dieser korrupte Mistkerl keine Chance.
Ich raffe mich ungeschickt auf, während Sam diesem Typen eine verpasst. Aber dann erblickt er mich und schaut mich an, als könnte er nicht glauben mich zu sehen. Ein ungläubiges aber erleichtertes Lächeln umspielt seine Lippen. Bei meinem Schrei muss er gedacht haben, dass ich in die Tiefe gestürzt bin.
Auch ich bin für einen kurzen Moment einfach nur froh ihn zu sehen, aber es ist der wohl schlechteste Augenblick für so etwas.
>Pass auf! < rufe ich ihm zu.
Der Polizist windet sich aus Sam´s Griff und greift ihn an. Da er durch mich abgelenkt war, hat er es auch nicht kommen sehen. Er bekommt plötzlich einen Kick in die Kniekehlen, wodurch er einsackt und sich der Spieß umdreht. Im Eifer des Gefechts zückt der Cop blitzschnell das Erste, was er kriegen kann und greift die längeren Handschellen aus seinem Gürtel.
Er zielt nicht darauf ab, einen von uns abzuführen, sondern uns umzubringen. Ihm ist klar, dass Sam zu viel weiß und zu viel gesehen hat – er kann ihn nicht gehen lassen.
Dieser Archer legt ihm von hinten die Kette der Handschellen um den Hals und kreuzt die beiden Enden, um sie zusammenzuziehen. Er drückt Sam die Luftröhre zu und er wird ersticken, wenn ihm niemand hilft. Wehren kann er sich in dieser Position nicht, denn seine Hände sind an den Kettengliedern und versuchen ihn aus dieser Lage zu befreien.
Ich denke nicht nach und werfe mich auf den Boden zu der weggeschlitterten Pistole. Der Cop zählt sofort eins und eins zusammen als er meine Bewegungen sieht und fuchtelt panisch mit einer Hand an seiner Hose herum.
In dem Moment passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Ich ziele auf den Kopf des Polizisten und drücke ab, während die ungeladene Waffe nur klickt. So ein Fehler würde Sam niemals passieren, also weiß ich, dass die Pistole Archer gehört. Dieser gekaufte Mistkerl zieht plötzlich ein Taschenmesser heraus und ich habe nur diesen einen Gedanken, mein Leben und das von Sam zu retten. Ich halte eine 9 mm Glock 19 in meinen Händen – dieselbe Pistole, mit der ich immer in der Schule geschossen habe. Wie vom Donner gerührt fuchtle ich an meiner Halskette herum und lasse diese eine Patrone in meine offene Hand fallen, die ich seit drei Monaten mit mir herumtrage. Ich sehe die wachsende Panik in den Augen des Polizisten, der das Messer soeben zu Sam´s Kehle hinbewegt, der durch die Gliederkette keine Luft mehr bekommt und es nicht schafft, sich selbst zu befreien.
Im selben Moment lege ich die Patrone in das Magazin und schiebe es in die Waffe. Der Detective merkt sofort, dass ich damit umgehen kann – ich hoffe nur, dass ich immer noch so zielsicher bin, wie damals.
>Na, na, na. Überstürze lieber nichts. < zischt Archer. >Ich hätte wissen müssen, dass du sie nicht alle allein kaltgemacht hast. Das war er, oder? < wendet er sich an mich, aber nickt zu Sam hinunter. Ich richte die Waffe direkt auf den Polizisten ohne ihm zu antworten. Er hockt hinter Sam auf dem Boden und ihre Köpfe sind nur wenige Zentimeter auseinander.
>Leg die Pistole weg, sonst ziehe ich ihm die Klinge über den Hals! < japst er unbändig und bekommt es langsam mit der Angst zu tun.
>Pistolen sind schneller. < hauche ich und drücke ab. Er schneidet Sam zwar am Hals, aber er hatte keinen Druck mehr auf der Klinge, wodurch sie nicht tief genug in die Haut eindringen konnte. Mit einem dumpfen Laut des Aufpralls geht er zu Boden und ich starre in die toten Augen dieses Kerls, der die Munition in seiner Stirn hat. Der Anblick ist schrecklich, aber trotzdem kann ich nicht wegsehen.
Sofort löst Sam die Kette um seinen Hals und keucht auf, als er endlich wieder die Luft einziehen kann.
Ich sinke in einer Schockstarre auf die Knie und spüre förmlich, wie mich der Adrenalinpegel verlässt. Was ich da eben getan habe, kann ich nicht fassen.
Sam hustet, sieht ebenfalls zu dem Kerl am Boden und schaut dann zurück zu mir. Seine eine Gesichtshälfte ist etwas mit Archers Blut besprenkelt.
>Kleines. < flüstert er rau.
Stocksteif und vor Kälte zitternd, hocke ich da und sehe zu dem Toten. Sam springt auf und kommt mit schnellen Schritten zu mir, kniet sich runter auf die Erde und reißt mich in seine Arme.
>Als ich dich nicht gesehen habe, dachte ich, er hätte dich umgebracht. Hat er dir irgendwas getan? < ich sage nichts, mein Körper bibbert nur enorm und ich kann meinen Blick nicht von der blutenden Eintrittswunde abwenden, die nun mal genau in meine Richtung zeigt. >Nayeli, was ist los? < fragt er sorgenvoll und nimmt mein Gesicht in seine Hände, damit ich ihn ansehe.
>I... ich hab ihn... < keuche ich und sehe mich um. >Ich habe einen Cop getötet. <
>Mach dir deswegen keine Sorgen. Besser er, als du. <
>Das gibt noch mal lebenslänglich. <
>Du kommst nicht ins Gefängnis. <
Noch immer hält er mein Gesicht in seinen Händen. Das Blut von meiner aufgeschlagenen Stirn läuft über seine Hand.
Ich zittere am ganzen Körper und fühle mich so durchgefroren, dass ich mich kaum noch bewegen kann. Dann starre ich Sam an und kann nicht glauben, dass er vor mir steht. Meine Fassung kehrt ein wenig zurück und ich lasse mich wimmernd in seine Arme fallen.
>Woher wusstest du, dass ich hier bin? <
>Lass uns das später klären. Erst einmal bringe ich dich von hier weg. <
Und schon drückt er mich sanft von sich, zieht seine Jacke aus, um sie um mich zu legen und springt auf.
Verwirrt sehe ich ihm nach, als er zurück zu dem Polizisten läuft. Mit gerunzelter Stirn hockt er sich zu ihm herunter und macht große Augen. Er reift zu dem Brustkorb des Cops und rüttelt daran herum, wodurch sein Kopf zur anderen Seite fällt.
Mir ist bisher noch nicht klar, was Sam da mit ihm tut, aber ich bin auch nicht in der Lage, um ihn danach zu fragen. Denn als ich den Hinterkopf von diesem Archer sehe, wende ich den Blick sofort davon ab und muss mir meinen Handrücken vor den Mund halten. Als Josh Scofieldt durch einen Kopfschuss starb, sah es bei Weitem nicht so aus.
Ich habe inzwischen meine Arme um den Körper geschlungen und zittere wie Espenlaub. Als ich erneut zu Sam sehe, steckt er irgendetwas Eckiges in seine Hosentasche. Er kommt zu mir zurück, nimmt die Pistole des Polizisten aus meiner Hand und sieht, dass mein Blut von den aufgerissenen Händen daran klebt. Er steckt sie schließlich in seinen Gürtel und greift entlang meines Unterarmes, um mich hochzuziehen. Ich drehe mich hektisch zu der Klippe um und schaue, ob uns irgendjemand gesehen haben könnte.
>Hattest du irgendetwas bei dir? < fragt Sam.
Mir ist so kalt, dass ich nicht reden kann, also nicke ich nur und deute auf den Kofferraum des Polizeiwagens.