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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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15.11.2019 4.705
 
Kapitel 10  – Happy Birthday to me

Einige Wochen später
Da ich jeden Tag der Woche zu immer derselben Uhrzeit arbeite, habe ich keine Ahnung mehr welches Datum wir überhaupt haben. Wenn ich nicht meine Kurse mit Rob hätte, dann wüsste ich wohl nicht einmal den Wochentag. Dieser Unterricht ist das Highlight meiner gesamten Woche und ich bin wirklich stolz auf das, was ich inzwischen hinbekomme.
Mit der größten Mühe melde ich mich regelmäßig einmal in der Woche bei Meg und setze für diesen Moment eine euphorische Stimme auf. Sie weiß bis heute nicht wo ich stecke und auch nicht, dass ich allein umherziehe. Stattdessen denkt sie, dass ich mein Dilemma in einer Blockhütte aussitze.
Nur um meine beste Freundin mit den regelmäßigen Anrufen zu beruhigen, muss ich mir immer wieder diese Wegwerfhandys kaufen. Eigentlich habe ich dafür kein Geld über, aber es muss sein, damit ich die Nummer unterdrücken kann. Ab und zu von einer Telefonzelle aus mit ihr zu sprechen ist schon mal in Ordnung, aber Meg soll nicht auffallen, dass es immer dieselbe Vorwahl ist, unter der ich anrufe.
Im Vergleich dazu, werden meine anderen Probleme allmählich aber immer größer. Das Geld, das in dem Spülkasten versteckt ist, muss immer wieder aushelfen, obwohl ich es eigentlich nicht anfassen wollte. Ich arbeite inzwischen jeden verdammten Tag 12 Stunden lang und ich kann dieses Geld nur für mein Apartment, etwas Essen und meine PC-Stunden ausgeben. Für etwas anderes ist kaum Luft, da ich auch noch versuche, für einen Laptop zu sparen. Debra nimmt sich von ihren Arbeitsstunden immer weiter zurück und nun bin ich inzwischen weitaus länger im Laden als sie. Trotzdem bekomme ich offiziell nur 50 % des Trinkgeldes. Inoffiziell zahlt sie mir schätzungsweise um die 30 % oder weniger und erzählt mir, dass es am Tag zuvor so schlecht in ihrer Schicht lief.

             Es ist kurz vor 14 Uhr und ich will die Gelegenheit nutzen, meinen wöchentlichen Anruf zu tätigen. Leider habe ich vergessen ein neues Prepaidhandy zu besorgen, also laufe ich seit Wochen zum ersten Mal wieder zu den Münztelefonen am Motel. Ich krame etwas Kleingeld zusammen und wähle Megs Nummer. Zu dieser Tageszeit ist sie meistens besser zu erreichen und ich bin vor meiner Schicht weniger launisch. Eine Pause habe ich bei Debra noch nicht erlebt und meine Arbeitszeit hat sich nun schon zum dritten Mal geändert. Das führte auch dazu, dass ich Robert anflehen musste, mittwochs etwas früher mit dem Kurs zu starten, sonst könnte ich nur eine dreiviertel Stunde bei ihm sein oder ich würde meinen Dienst nicht pünktlich beginnen können. Andererseits kommt Mitch andauernd zu spät und bekam immer noch keine Abmahnung.
Das Telefon piept einige Male und kurz darauf geht die freundliche Stimme ran, die ich nun seit über 20 Jahren kenne.
>Hey Meg. Ich bin's. < erwidere ich lässig auf ihr kurzes „hallo?“.
>Yeli! Ich habe so sehr gehofft, dass du heute anrufen würdest. Ich muss doch für dich singen. < jubelt sie.
>Singen? < frage ich, weil ich denke, dass ich mich nur verhört habe. >Weshalb das denn? <
Und plötzlich beginnt sie lautstark „Happy Birthday to you“ ins Telefon zu trällern.
Als sie damit fertig ist und mir noch alles Gute wünscht, erwidere ich nur verwirrt:
>Heute… ist mein Geburtstag? <
>Ja Dummerchen. Oder hat der sich etwa geändert? < kichert sie.
Wow, es ist kaum zu glauben wie die Zeit vergangen ist. Heute ist der 21. September. Das bedeutet, ich bin jetzt seit etwa sechs Wochen an diesem Ort.
Mein aktuelles Vorgehen ist, einen Tag auf den Nächsten folgen zu lassen, ohne viel zu erwarten. Offenbar gelang es mir besser, als ich dachte.
>Ich hatte es überhaupt nicht im Kopf. < hauche ich.
>Das merke ich. Na dann verklickere das mal lieber ganz schnell Sam. Der soll sich gefälligst was für dich einfallen lassen. < lacht sie in den Hörer.
Das ist immer das Schlimmste, wenn sie ihn erwähnt. Ich versuche so sehr ihn zu vergessen und dennoch ist er allgegenwärtig. Manchmal sehe ich ihn in anderen Männern, die vor mir stehen, aber er ist es nie. In meinem Kopf höre ich manchmal seine Stimme, die mir sagt, wie ich jetzt vorgehen soll. Schmerzlich kneife ich die Augen zusammen und entgegne meiner besten Freundin:
>Gute Idee. Das werde ich machen <
Sobald ich die Möglichkeit habe, lenke ich das Thema schnell wieder um. Ich höre ohnehin lieber schöne Dinge von Meg. Das war anfangs nicht so und ich habe es manchmal schwer ertragen zu hören, dass in ihrem Leben alles perfekt läuft, während es in meinem immer weiter bergab geht.
Inzwischen ist es für mich aber etwas Aufheiterndes, denn wer wünscht sich nicht Glück und Erfolg für den Menschen, den er am liebsten hat?
Sie sagt, dass sie etwas zu meinem Geburtstag besorgt hat und es mir so gern geben würde. Schon seit einiger Zeit will sie sich unbedingt mit mir treffen, aber das kann ich nicht zulassen.
Sie würde mich ohnehin nicht wiedererkennen, selbst wenn ich vor ihr stehen würde. Ich selbst bin von mir erschrocken. Denn das Gewicht, das ich mir zulegte, verliere ich immer mehr.
Wie immer halte ich unser Gespräch recht kurz und kümmere mich ausschließlich darum, für Megs Seelenheil zu sorgen.
Dieses Mal habe ich allerdings noch weniger Zeit, weil ich gleich zu meinem Dienst muss. Die Ferien sind inzwischen vorbei und Cody brauchte wieder Unterstützung bei seinen Hausaufgaben. Ich helfe ihm mit Vergnügen, aber ich habe währenddessen nicht auf die Zeit geachtet.
Der Kleine ist mir ans Herz gewachsen und verdient eine Chance in diesem Leben. Vor ein paar Tagen bekam seine Mutter in einem klaren Moment ohne Drogen mit, dass ich ihrem Sohn half. Anstatt sich bei mir zu bedanken, giftete sie mich an und sagte, dass sie mich sowieso nicht bezahlen könne. Mir wäre es niemals in den Sinn gekommen, dafür Geld zu verlangen und ich versicherte ihr, dass ich ihm kostenlos zur Hand gehe, weil es mir Spaß macht. Am liebsten würde ich den Kleinen auch noch zur Schule bringen, da er die ganze letzte Woche nicht dort war. Ich fühle mich so hilflos, wenn ich diese Zustände mitansehen muss. Cody fühlt sich für seine kleinen Geschwister verantwortlich und bleibt zu Hause, weil sich seine Mutter im Drogenrausch nicht um sie kümmern kann. Ich finde, das erfordert ziemlich viel Reife von so einem kleinen Kind und vor allem Aufopferung, da er gern zur Schule geht.
Aber leider ist mir klar, dass ich nicht jeden an diesem verfluchten Ort retten kann – am wenigsten mich selbst.
Die einzigen sozialen Kontakte, die ich mag, hindern mich daran durchzudrehen.
Und das sind nun einmal ein 9-jähriger Junge, Megan und Ed, der immer versucht mich bei Laune zu halten. Noch dazu lässt sich fast jeden Abend der Kater Garfield bei mir blicken, mit dem ich inzwischen rede, als würde mir eine Person gegenüberstehen.
              Zum Abschluss unseres Telefonats wünscht mir Megan noch einen schönen Geburtstag, schickt mir eine Menge Küsse durch den Hörer und legt dann schließlich auf.
Es ist mein 22. Geburtstag, an dem ich zum ersten Mal ohne Familie und Freunde bin. Ich beiße mir auf die Unterlippe, sehe an mir herunter und zupfe an der Uniform herum. Das habe ich mir ganz sicher nicht mit diesem Alter vorgestellt.
Die restlichen Pennys werden von dem Münztelefon ausgespuckt. Ich hole sie heraus und laufe seufzend auf die andere Seite zu dem Diner rüber.
Als ich die Ladentür öffne, sehe ich schon Ed an seinem Tisch sitzen. Nachdem ich den Gästen ein kurzes „Hallo“ durch den Raum geworfen habe, laufe ich zu meinem Arbeitsplatz.
Meine Handtasche stopfe ich sicher unter den Tresen hinter eine Schranktür und sehe nach, wie viel Kaffee noch in den Kannen ist.
Abgehetzt kommt meine Chefin mit einem vollen Tablett aus der Küche gelaufen und will sofort weiterrennen, aber ich fange sie direkt ab.
>Hey Debra, was ist mit dem Gehalt der letzten Woche? <
>Was soll damit sein? Du hast doch welches bekommen. < erwidert sie überrumpelt.
>Aber nicht in voller Höhe. Die beiden Wochen davor auch nicht. Inzwischen sind noch 270 $ offen und du weißt, ich brauche das Geld. <
>Unsinn, ich habe dir alles ausgezahlt und in einen Briefumschlag gelegt. Du hast dich einfach nur verzählt. <
>Ich verzähle mich nicht. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich es anspreche. < erwidere ich zähneknirschend.
>Ich habe jetzt keine Zeit. Kannst du das mal zu Tisch 15 bringen? Ich muss noch ein paar telefonische Bestellungen machen. Wir haben kaum noch Cheesecake und Apple Pie. <
Mit einem vollen Tablett lässt sie mich stehen und verschwindet. Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Schon mehrere Male machte sie das mit mir und ich könnte platzen vor Wut. Ich freute mich zwar sehr darüber, als sie mir das Angebot unterbreitete mehr Geld zu bekommen, wenn ich die 12 Stunden-Schicht besetzen würde, aber es wäre klasse, wenn ich das zusätzliche Geld auch in die Hände bekäme.
Genervt über diese Ungerechtigkeit laufe ich zu dem besagten Tisch mit drei Gästen und gebe ihnen ihre Bestellung.
In der ersten Stunde meiner Schicht habe ich eine Menge zu tun, da alle Kaffee und Kuchen haben wollen. Debra habe ich in dieser Zeit kaum gesehen und ich frage mich, was daran so lange dauert, ein paar Bestellungen zu machen. Sie nennt ohnehin nur ihre Kundennummer und beschafft somit die Tiefkühlware. Allerdings muss ich zugeben, dass der aufgetaute Cheesecake hundertmal besser schmeckt, als das was Mitch kocht. Dadurch dass ich nun noch früher beginne, überschneiden wir uns neuerdings für eine Stunde. In dieser sollte es zwischen meiner Chefin und mir eigentlich eine Übergabe geben, aber ich habe eher das Gefühl, dass Debra in ihrer letzten Stunde vor dem Feierabend immer lustloser wird.
Als ich vorn an der Bar stehe und einen Haufen Gläser und Tassen abtrockne, kommt eine Person herein. Diese rückt in einer etwas geduckten Haltung an, trägt ein Basecap und eine Kapuze darüber, sowie eine Sonnenbrille auf der Nase.
Dieser Look ist relativ normal in dieser Gegend.
Bei den tiefen Augenringen, Einstichstellen, schlechten Zähnen und den körperlichen Problemen durch den Drogenkonsum, wollen sich die Menschen offensichtlich vor den Blicken den Anderen schützen. Die Klamotten des Gastes sehen allerdings nicht heruntergekommen aus und ich kenne die Person nicht, die bei näherem Herankommen eindeutig ein Mann ist.
Er setzt sich vorn an die Theke, legt die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkt die Arme. Sein Kopf ist gesenkt, aber neigt sich immer wieder leicht zu den Seiten.
>Hi, willkommen in Deb´s Diner. Was darf es sein? < frage ich.
Er hat bis eben hinter sich gesehen, blickt dann kurz zu mir und will offensichtlich wieder wegschauen, aber dann geht sein Kopf ruckartig zurück zu mir.
>Hallo. < erwidert er angenehm überrascht und grinst.
>Was kann ich Ihnen bringen? < frage ich erneut nach.
>Ehm… keine Ahnung… irgendwas. <
Sein Kopf geht schon wieder über seine Schulter und er wirkt abgelenkt und nervös.
>Alles in Ordnung? <
>Ja sicher. < erwidert er und räuspert sich. Diese Haltung und Ruhelosigkeit kenne ich. Denn so ging es mir, als ich das erste Mal in einem Geschäft herumlief, als ich meine neue Identität hatte. Noch nie zuvor kam ich mir so beobachtet vor, wie in diesem Moment und der Typ vor mir scheint eine regelrechte Paranoia zu haben. Er hält eindeutig Ausschau nach irgendwem. Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten, wird verfolgt und braucht Hilfe.  
>Wollen Sie hier drin nicht lieber die Sonnenbrille abnehmen? Ich sehe den Gästen lieber direkt ins Gesicht. < sage ich freundlich.
Er schnaubt belustigt und zieht schließlich seine Brille herunter. Dadurch entblößt er zwei grüne Augen, sowie einen frischen Schnitt unter der linken Braue. Als er seine Brille festhält, sehe ich eine Tätowierung auf den Fingerknöcheln und noch dazu zittert seine Hand rhythmisch. Für einen kurzen Moment komme ich ins Schwitzen. Er sieht gut aus, aber das ist es nicht, was mich aus dem Konzept bringt.
Ich fange mich wieder, lehne mich mit den Ellenbogen etwas über den Tisch zu ihm und frage grinsend:
>Was halten Sie von einem Apple Pie? <
Debra kommt gerade von hinten durch die Küche und ist beladen mit aufgetauten Kuchen für die Vitrine. Als sie an mir vorbeiläuft und sieht, wie ich mich zu dem Kerl rüber lehne, wirft sie mir einen komischen Blick zu.
>Klar gern. < erwidert er und starrt mir in den Ausschnitt.
>Bin gleich wieder da. Vielleicht erbarmt sich ja in der Zwischenzeit jemand und wirft einen viertel Dollar in die Jukebox. <
Das muss ich gar nicht zweimal sagen. Durch meinen Smalltalk wirkt er gleich viel lockerer und steht grinsend auf, um zur Musikanlage zu laufen. Debra rennt wieder an mir vorbei in die Küche. Ich hingegen gehe nur einige Schritte in diese Richtung, aber behalte den Kerl noch im Blick. Als er mit der Musikbox beschäftigt ist, laufe ich ein paar Schritte rückwärts und nehme unbemerkt einen Zettel von der Fahndungswand ab.
Sobald ich in der Küche bin, sehe ich mir das Blatt genauer an, das ich mir gegriffen habe. Ich wusste es!
Merkmale: Männlich, Weiß, 1,80 Meter groß, normaler Körperbau, dunkle Haare, grüne Augen, Tätowierungen an beiden Händen bis zu den Armen und zittrige Hände wegen einer Nervenkrankheit.
>Du beugst dich zu dem Kerl rüber, als würdest du ihn am liebsten anspringen. Hast du das Trinkgeld so nötig Schätzchen? < lacht Debra mit hochgezogenen Augenbrauen.
>Deswegen tue ich es nicht. Ich will diesen Kerl hier eine Weile festzuhalten. Ruf die Polizei an und sage ihnen, dass Patrick Lambert hier ist. < Daraufhin drehe ich das Blatt in meinen Händen zu ihr und halte es auf ihre Augenhöhe, damit sie sein Fahndungsbild sehen kann.
>Was? Ach du Scheiße. Werde den verdammt nochmal los! < keucht sie.
>Pscht, schrei nicht so herum! Tu es einfach – ruf sie an und bleib ruhig. Ich mache den Rest. Versuche dich einfach normal zu verhalten. <
Eilig schnappe ich mir den Apfelkuchen, den Debra gerade noch zitternd festhielt und gebe ein großes Stück auf einen Teller. Als ich nach vorn gehe, sitzt er wieder an dem Platz und sieht sich immer noch nervös um. Zu Anfang dachte ich, er steckt einfach in Schwierigkeiten – was er ja tatsächlich auch tut, aber ich bin von anderen Gründen ausgegangen und wollte ihm helfen. Vielleicht sollte ich allmählich damit aufhören allen unter die Arme greifen zu wollen.
Immerhin lerne ich mit Cody und lasse mich als Dank dafür von seiner Mutter anmotzen oder füttere einen fremden, ausgehungerten Kater durch, der mich mit Nichtachtung bestraft, sobald der Becher leer ist. Zum Glück war ich bisher schlau genug, mich nicht bei all den Gangkriegen einzumischen, die sich da draußen abspielen.
Was ich jetzt bei Patrick Lambert brauche, ist Zeit. Also laufe ich um die Theke herum und setze mich genau neben ihn auf einen der Barstühle.
Oh Mann, was tue ich hier bloß? Mein Herzschlag gleicht dem Impuls eines Presslufthammers.
Ich stelle ihm den Kuchen vor die Nase und mache ihm einen Klecks Sprühsahne auf den Tellerrand.
>Hier bitte. < sage ich lächelnd.
Er grinst daraufhin und zieht den Teller näher zu sich. Ich merke, wie er mich währenddessen beäugt. Auf dem Steckbrief unter seinem Fahndungsfoto stand auch, dass er wegen mehrfacher Körperverletzung, Totschlag in zwei Fällen und Erpressung angeklagt ist.
Ich checke ihn beiläufig ab. Er trägt eine Jacke, in der sich durchaus eine Waffe verstecken könnte. Ansonsten trägt er keine Tasche oder sonstigen Ballast mit sich. In meinem Kopf gehe ich durch, was ich gelernt habe. Es gibt einen vorderen Ein- und Ausgang und eine Hintertür, über die wir unsere Ware bekommen. Somit gibt es zwei Fluchtwege.
>Woher kommen Sie? Ich habe Sie noch nie hier gesehen. < frage ich und führe damit meinen Smalltalk fort.
>Ich komme nicht aus dieser Gegend. Daher haben wir uns zu meinem Bedauern wohl noch nie gesehen. <
Als würde ich mich davon zutiefst geschmeichelt fühlen, grinse ich.
>Hey ich will bestellen! < brüllt einer der Gäste von hinten.
>Debra kommt gleich. < rufe ich zurück und wende mich wieder an Patrick Lambert, auch wenn er mir nicht geheuer ist. >Was führt Sie denn hierher? <
Er gluckst und zeigt mit der Gabel hinter sich.
>Müssen Sie nicht eigentlich bedienen? <
>Doch schon, aber ich bin nicht die einzige Kellnerin. Außerdem kommt es nicht so häufig vor, dass hier jemand in dieses Lokal kommt, mit dem ich mich unterhalten möchte. <
Er setzt ein noch breiteres Grinsen auf und wird allmählich lockerer. Das ist gut so, denn er soll vergessen, dass er eigentlich eine gesuchte Person ist und jeder öffentliche Ort eine Gefahr für ihn darstellt. Es vergehen ein paar Minuten, in denen ich mit ihm rede. Debra wirkt leider alles andere als normal und würde wohl am liebsten von hier abhauen. Sie knallt die Teller lauter als nötig auf die Tische, weil sie so nervös ist. Damit sie nicht alles versaut, muss ich mehr in die Vollen gehen.
>Ich hoffe, dass Sie nicht nur auf der Durchreise sind und stattdessen etwas länger bleiben. Es wäre schade, Sie gleich wieder gehen lassen zu müssen. < säusle ich. Mein geheucheltes Interesse gefällt ihm eindeutig und er scheint einen Moment lang zu überlegen.
>Sind Sie immer so direkt? <
>Häufig, ja. <
>Ehrlich gesagt, muss ich weiter. Aber vielleicht muss ich das nicht jetzt sofort. Wann haben Sie hier Schluss? <
>Leider erst in ein paar Stunden. <
Ich höre schließlich Polizeisirenen und ändere meine Haltung. Jetzt darf ich nicht nervös werden. Meine überschlagenen Beine löse ich und ich drehe mich auf dem Stuhl in eine Position, von der aus ich leichter und schneller aufstehen kann. Lambert wird jetzt allerdings sichtlich unruhiger und schiebt den Teller mit dem halben Kuchen darauf beiseite. Er steht mit weit geöffneten Augen auf, so wie ich.
Hektisch sieht er aus den Fenstern und kann die Polizeiwagen erkennen, die immer näher kommen. Sofort will er losrennen, aber ich halte ihn am Arm und lege meinen Ellenbogen um seinen Hals.
>Hör auf! < brüllt er und versucht an mir herumzureißen. Pumps sind dafür zwar ganz und gar ungeeignet, aber ich trete ihm von hinten in die Kniekehle, damit er einsackt. Die Panik überkommt ihn, da er mein falsches Spiel nun durchschaut hat. Er versucht aus meinem Griff zu kommen und keift mich erneut an:
>Du blödes Miststück. Lass mich los! <
Die Gäste greifen sich erschrocken an die Brust und auch meine Chefin hat sich in die letzte Ecke des Raumes verkrochen. In diesem Moment kommt die Polizei hereingestürmt und sieht, wie ich diesen Kerl am Boden halte. Er schafft es einen Arm freizubekommen und versucht an seine Jacke zu kommen. Vielleicht hat er ein Messer. Soweit lasse ich es nicht kommen und schlage ihm ins Gesicht.
Die Beamten fackeln nicht lange und packen sofort ihre Handschellen aus. Lambert flucht und schreit mich an. Er hat Beleidigungen für mich auf Lager, die ich meinen Lebtag noch nicht gehört habe.
Erst dann, als die Beamten ihn offensichtlich im Griff haben, lasse ich ihn los. Sie sind alles andere als zimperlich und brechen ihm beinahe den Arm, als sie ihn hochreißen. Einer von ihnen liest ihm seine Rechte vor.
Einen kurzen Moment schlucke ich, denn so nah wie jetzt wollte ich der Polizei eigentlich vorerst nicht kommen, aber ich hatte keine Wahl.
>Du verdammtes Miststück. Ich finde dich! Hast du gehört? Ich komme zurück und finde dich! < schreit er zu mir.
Daraufhin verpasst ihm einer von den Beamten einen Schock mit dem Taser, worauf er schmerzvoll aufschreit und zusammenzuckt. Als er von zwei Polizisten abgeführt wird, kommt der Cop mit dem Schockgerät auf mich zugelaufen und will wissen:
>Alles okay bei Ihnen Miss? <
>Sicher. < antworte ich und verziehe mein Gesicht zu einem leichten Lächeln. Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade getan habe.
>Haben Sie keine Angst vor diesem Kerl. Er kann sich bereits als eingesperrt betrachten. Er wird Ihnen also nichts tun. <
>Oh schon gut, ich habe keine Angst. Sagen Sie, wie ist das mit dem Kopfgeld? Auf den Kerl sind 3500 $ ausgesetzt. <
Verdutzt sieht er mich an und dann seinen Kollegen. Die anderen beiden Cops schaffen den Flüchtigen bereits in das Auto.
>Ehm, dafür stelle ich Ihnen gleich eine Bescheinigung für das Kautionsbüro aus. Dort bekommen Sie einen Scheck, wenn Sie sie vorzeigen. Aber sind Sie sich sicher, dass es Ihnen gut geht? Vor Ihnen stand eben ein Krimineller. <
>Das weiß ich, deswegen habe ich Sie ja auch rufen lassen. <
>Ja exakt. < mischt sich meine Chefin ein und drängt sich an mir vorbei. >Mein Name ist Debra Wild. Ich habe Sie angerufen, weil ich diesen Mann erkannt habe. Meine Mitarbeiterin hat ihn festgehalten, bis zu Ihrem Eintreffen. Mir war sofort klar, wer er ist. <
Mit offenem Mund stehe ich hinter ihr. Das ist ja wohl nicht ihr Ernst.
>Debra entschuldige mal aber …<
>Kleinen Augenblick Kim. < unterbricht sie mich mit einem falschen Grinsen. >Ich werde mal meinen Ausweis holen Officer. Ich schätze, den brauchen Sie, um mir diese Bescheinigung auszuhändigen. <
>Ja, aber wir haben sowieso noch einige Fragen. Ihre Mitarbeiterin, die Gäste und ebenso Sie Misses Wild müssen eine Zeugenaussage machen. <
>Miss Wild bitte. Aber ich glaube, viel kann meine Mitarbeiterin sowieso nicht dazu sagen. <
Sie geht hinter den Tresen, um ihren Ausweis aus ihrer Tasche zu holen und lässt mich in einer Schockstarre neben dem Polizisten stehen. Diese hinterhältige Frau weiß, dass ich meinen Pass nicht rausrücken will und ich arbeite hier auch noch schwarz.
              Der erste Streifenwagen fährt mit dem Flüchtigen davon, während die anderen beiden Cops noch bleiben, um uns die Fragen zu stellen. Die Gäste, die während der Festnahme anwesend waren, sahen im Grunde nur, wie ich Patrick Lambert am Abhauen hinderte. Was ich zuvor zu Debra sagte, hörte niemand mit und aus diesem Grund kann ich es einfach nicht fassen, dass sie mich gerade um 3500 $ bringt. Sie schafft es bis heute nicht mein Gehalt oder mein Trinkgeld in voller Höhe zu zahlen und sackt sogar jetzt etwas ein, das mir gehört. Dieses leidige Thema bringt mich jeden Tag zur Weißglut. Ich hätte das Geld so dringend für den Laptop gebraucht.

              Als sie endlich alle weg sind und ich meine kurze und knappe Aussage hinter mich gebracht habe, lasse ich mich ermattet auf einen der Barstühle sinken und schüttle langsam den Kopf. Ich konnte den Officer glücklicherweise schnell loswerden, indem ich ihm sagte, dass ich gerade keinen Pass dabei hätte. Er gab sich mündlich mit meinem Namen zufrieden, den Debra bestätigte und hörte sich kurz an, was ich zu sagen hatte.
Da meine Chefin bereits erzählte, dass sie die Heldin sei, war die Sache schnell erledigt. Sie sackt die Summe des Kopfgeldes ein und hat nun eine tolle Geschichte für ihr Leben. Mir könnte die Galle aufsteigen, als ich sie so breit grinsend an mir vorbeilaufen sehe. Einen sehr kurzen Moment lang habe ich gehofft, dass sie die Belohnung nur für mich annimmt, um mich vor den unangenehmen Befragungen zu schützen und mir dann diese Bescheinigung für das Kautionsbüro aushändigt, sobald die Cops weg sind. Aber Fehlanzeige.
Ich beiße wütend auf meiner Lippe herum, als Ed mit seinem Gehstock auf mich zugelaufen kommt und sich auf den Barstuhl neben mich setzt.
>Wo hast du denn gelernt, einen Kerl so zu verdreschen? < fragt er lachend.
>Ich war bei den Pfadfindern. < erwidere ich monoton und ziehe verächtlich meine Mundwinkel hoch.
>Na offensichtlich muss man sich um dich keine Sorgen machen, wenn es hier dunkel wird. Wer von euch beiden hat den Kerl denn nun wirklich erkannt? <
Langsam sehe ich zu ihm und sage nach einer kurzen Gedankenpause:
>Ich muss wieder in die Küche. Sag Bescheid, falls du etwas brauchst. <
Dann laufe ich nach hinten und sehe, wie Debra strahlend mit dem Zettel für den auszustellenden Scheck vor Mitchels Augen winkt. Er hat die Arme vor dem Körper verschränkt, ist an einen Schrank angelehnt und wirkt nicht so, als würde er sich für sie freuen.
>Oh toll. < sage ich giftig. >Gibst du mir davon auch die Hälfte ab, so wie ich meinen Teil des Trinkgeldes an dich abdrücken muss? <
Daraufhin dreht sie sich zu mir. Ihr Grinsen verschwindet und plötzlich sieht sie mich mit Verachtung an.
>Sei lieber nicht so frech. Vergiss nicht, dass ich die Einzige bin, die dir einen Job gegeben hat. So wie du den Typen dort vorn attackiert hast, will ich lieber nicht wissen, woher du das kannst. Ich habe bis heute noch keine Papiere von dir gesehen. Wer sagt, dass du nicht auch vorbestraft bist und ich hier eine Kriminelle beschäftige? <
>Sehe ich für dich aus wie eine Kriminelle? < frage ich bitter und halte meine Arme vor der Brust verschränkt.
Sie mustert mich von oben herab, grinst abfällig und sagt:
>Geh wieder an deine Arbeit! Du willst doch schließlich Geld verdienen, oder nicht? <
Dann steckt sie diesen Zettel für die Belohnung in ihre Schürze und verschwindet. Mit Sicherheit wird sie jetzt Feierabend machen und sich die Anerkennung für etwas abholen, mit dem sie nichts zu tun hatte.
Dieses Verhalten war eben ein Paradebeispiel für jemanden, der kein Rückgrat hat.
Warum auch immer sehe ich zur Decke und zische leise:
>Du testest mich doch, oder? <
Mitchel folgt meinem Blick und schnaubt belustigt auf, da dort nichts ist.
>Mit wem redest du? Mit deinem Gott? <
Ohne ihm zu antworten, verlasse ich die Küche. Ich weiß nicht mehr, woran ich noch glauben soll. Ich für meinen Teil weiß nur, dass mich seit Juli jegliches Glück verlassen hat.
Debra schnappt sich bereits ihre Handtasche und ihre Jacke unter dem Tresen hervor und grinst die ganze Zeit bis über beide Ohren.
Sie bemerkt mich erst, als ich hinter ihr stehe.
>Wir sehen uns morgen. Tisch 5 und 12 wollen übrigens zahlen. < sagt sie an mich gewandt und verschwindet dann aus dem Lokal.
Ermattet schnappe ich mir das Portemonnaie und summe auf dem Weg zu der zahlenden Kundschaft deprimiert „Happy Birthday to me“.
Ich hatte noch nie einen so furchtbaren Geburtstag.
            Sobald die Stoßzeit vorüber ist und es damit zwischenzeitlich ruhiger in dem Diner wird, greife ich mir wieder eine Servierte und beginne etwas darauf zu kritzeln.
Ganz zu Anfang waren es ein paar Zeichnungen, die nichts geworden sind, weil sich die Servierte bei langen Linien zu sehr verzieht. Aber inzwischen habe ich damit begonnen zu schreiben – nichts besonders, nur Dinge, die mir manchmal durch den Kopf gehen und mir helfen, mir etwas von der Seele „zu reden“. Ich schreibe diese Dinge am häufigsten während meiner Nachtschicht, wenn Mitch bereits gegangen ist. Es lenkt mich vor allem von den unangenehmen Gästen ab. Ich muss selbstverständlich reagieren und sie immer mal im Auge behalten, aber es beruhigt mich, den Kugelschreiber über das Papier fliegen zu lassen. Heute brauche ich diese Art der Beruhigung eigentlich am dringendsten, aber sie gelingt nicht so wie sonst.
Warum klappt einfach nichts mehr? Zuvor gab es doch auch Dinge in meinem Leben, die nicht immer funktionierten, aber nie zuvor war ich so lange über etwas frustriert. Ich konnte weinen, schreien und zweifeln, aber wenn ich damit fertig war, dann habe ich weitergemacht wie immer. Jede Trennung und jeder Rückschlag waren schwer und es war menschlich auch mal ein paar Tage zu leiden, aber ich fange mich einfach nicht mehr und habe jeglichen Mut verloren. Vielleicht ist es tatsächlich dieser Ort, der das hier aus uns macht.
Ich hatte es doch fast geschafft – ich hatte einen Vertrag bei Greenfields. Doch jetzt hocke ich in einem Niemandsland fest und habe gar nichts mehr.
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