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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
01.11.2019 6.052
 
Hi Ihr Lieben,

im späteren Verlauf des Kapitels kommt wieder ein kleiner Perspektivenwechsel und ein Link zu einem Song, den Ihr nebenbei in Dauerschleife laufen lassen könnt. Ich finde es immer schön, wenn im Hintergrund etwas ertönt, das zur Stimmung passt. Wie immer würde ich mich sehr darüber freuen, etwas Feedback zu erhalten.
Ich wünsche Euch viel Spaß und Ausdauer beim Lesen. (Es sind nämlich 11 Seiten – aber die brauchte ich.)
Ganz liebe Grüße
Eure Lynn
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Kapitel 08 – Bilder von dir

*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels, kann bei vereinzelten Personen eventuell emotional aufwühlend wirken.

Etwa eine halbe Stunde vor der Schließung, fange ich mit dem Kassensturz an, damit ich nicht schon wieder meinen Feierabend nach hinten schieben muss. Das Schöne ist, dass ich meine gesamte Konzentration für die Abrechnung habe, denn im Moment bin ich vollkommen allein in dem Diner.
Ab und zu kommen noch wenige Leute herein, die nur einen Kaffee zum Mitnehmen haben wollen und ich rechne sie einfach auf die Summe drauf.
Dabei komme ich auf einen Gesamtbetrag, der für die bisherigen Verhältnisse einen neuen Rekord aufwirft – zumindest seitdem ich hier bin. Dass das Wochenende besser läuft, ist mir allerdings schon letzte Woche aufgefallen.
Die Worte „letzte Woche“ klingen so eigenartig, wenn ich darüber nachdenke, wie schleppend die ersten Tage hier vergingen und dennoch habe ich schon einige überwunden. Die Welt dreht sich eben trotzdem irgendwie weiter, egal was passiert ist. Doch besonders am heutigen Tag denke ich viel darüber nach, dass ich vor genau zwei Wochen noch in seinem Bett lag. Immer wieder versuche ich ihn aus meinem Kopf zu verbannen und trotzdem taucht er auf, wenn ich einen ruhigen Moment habe. Vielleicht will ich auch aus diesem Grund permanent eine Beschäftigung haben. Sobald ich einen Mann sehe, der eine Strickmütze trägt, ein Karohemd oder sogar eine Lederjacke, dann könnte ich augenblicklich losheulen.
Ich kann mich immerhin so weit beherrschen, dass ich es nur innerlich tue.
Man kann eine taffe Person spielen und man kann sicherlich einiges verdrängen, aber bisher verging kein Tag, an dem ich nicht mindestens fünf Minuten lang an ihn dachte. Heute passiert das jede Stunde und ich weiß nicht weshalb. Ich meide es seinen Namen auch nur zu denken, aber sein Gesicht taucht trotzdem auf.

               Nach erfolgreicher Berechnung bringe ich das Geld nach hinten in den Lagerraum und verstaue ich es in einem Safe, den Debra zwangsläufig anschaffen musste. Das Ding ist ziemlich schwer und ich glaube, man könnte ihn selbst zu zweit nicht wegtragen. Leicht zu knacken sind diese Tresore auch nicht, also mache ich mir keine Sorgen um das Geld. Ich laufe wieder nach vorne und gehe durch die WC-Räume, weil ich gleich schließen will. Debra sagte mir, dass es schon vorkam, dass sich ein Junkie auf den Toiletten einen Schuss gegeben hat und sie dann den Ärger hatte, ihn wieder dort herauszubekommen.
Zu meinem Glück werde ich in der heutigen Nacht diese Erfahrung nicht mit ihr teilen und gehe wieder an den Tresen. Ich gähne und könnte auf der Stelle einschlafen, aber ich muss noch für 20 Minuten die Stellung halten. Zwar bezweifle ich, dass noch jemand auftauchen wird, aber ich will nicht, dass Debra es von einem der Bewohner gesteckt bekommt, dass ich früher den Laden geschlossen hätte. Das würde nicht nur diesen bescheuerten Job gefährden, sondern auch nicht zu meiner Arbeitsmoral passen. Um die Zeit totzuschlagen, schnappe ich mir eine der Servierten und meinen Kugelschreiber, um wahllos etwas auf dem zusammengefalteten Stück zu kritzeln. Da es in dem Diner so ruhig ist, ist der Krach von draußen enorm zu hören. Irgendjemand brüllt sich schon wieder an, was nicht unnormal ist.
Meine kleine Serviertenkunst landet nach kurzer Zeit im Müll und ich schnappe mir eine Neue. Aber anstatt zu malen, beginne ich aufzuschreiben, was in mir vorgeht.
              Allmählich wird das Gebrüll von draußen immer lauter und die Verursacher scheinen näherzukommen. Als ich den Kopf hebe und zu den Fenstern schaue, sehe ich wie sich mehrere Personen in zwei Gruppen gegenüberstehen. Trotz des schlechten Lichts ist ihre Körperhaltung bedrohlich und es sieht aus, als wenn sie jeden Moment aufeinander losgehen.
>Oh nein, nicht schon wieder. < nuschle ich monoton. >Bitte lasst es! <
Meine Hand berührt bereits das Telefon aus dem Diner, denn ich befürchte, dass es hier jeden Moment zur Sache geht. Es wäre nicht das erste Mal seitdem ich hier bin, dass sich die verschiedenen Gangs die Köpfe einschlagen. Blutspuren gibt es immerhin alle paar Tage auf dem Asphalt. Vollkommen allein bei so vielen Personen einzuschreiten wäre dumm und ich brächte mich unnötig selbst in Gefahr.
>Kommt schon, lasst es einfach sein. < brabble ich erneut in mich hinein und sehe den Leuten bei ihren Drohgebärden zu. Wenn ich jetzt die Polizei rufen muss, dann wollen die Beamten hinterher ganz sicher mit mir reden und wissen, was ich beobachtet habe. Das würde ich gern vermeiden. Zum Ersten, weil ich somit ziemlich spät in mein Bett komme, zum Zweiten, weil ich mir damit eindeutig ein paar Feinde an diesem Ort mache und zum Dritten, weil die Polizei ganz sicher meine Personalien haben möchte.  
Ich umgreife den Hörer fester und halte ihn bereits an mein Ohr, auch wenn ich noch nicht gewählt habe. Meine Hand zittert und ich blicke unruhig nach draußen. Sekunden später atme ich hörbar auf, als die beiden Gruppen plötzlich auseinander schwärmen und so kann ich den Hörer wieder auf die Anlage legen. Da ein paar Fenster geöffnet sind und das Diner keine gute Schallisolierung hat, kann ich hören, wie ein Mann der anderen Gruppe zuruft, dass wenn sie sich das nächste Mal sehen, der eine Kerl von ihnen tot sein wird.
Normalerweise würde ich das für eine leere Drohung halten, aber ich weiß, dass es das an einem Ort wie diesen nicht ist.
Die eine Gruppe verschwindet zum Glück von dem Gelände, während die Andere in Richtung der Telefonzellen verschwindet.
Leider befürchte ich, dass sich diese Streiterei nur auf später verschiebt und daher schließe ich die Fenster, mache das Licht aus und das Diner zehn Minuten vor Ladenschluss dicht.
Soll mich ruhig irgendwer an Debra verpfeifen, aber ich bin nicht lebensmüde, wenn nur zehn Meter vor mir eine aufgeheizte Stimmung herrscht.
Eilig ziehe ich den Schlüssel aus der Tür und flitze zu dem Motel rüber. Absichtlich nehme ich die andere Metalltreppe, um bloß nicht mit den Kerlen von eben aneinanderzugeraten, die weiterhin bei den Telefonzellen herumstehen.
>Hast du mitbekommen was da los war? < fragt mich die blonde Prostituierte, die ich beim letzten Mal mit Eis versorgte. Inzwischen weiß ich, dass sie sich Roxy nennt. Sie steht zitternd mit ein paar anderen Frauen in einem Minikleid draußen und wartet auf einen Kunden.
>Nein, keine Ahnung. < erwidere ich und gehe an ihnen vorbei.
>Die streiten sich doch bestimmt um ihr Revier wie kleine Pitbulls. < setzt Roxy erneut an und lacht amüsiert.
>Was weißt du denn schon, du weiße Bitch? < motzt eine weitere Prostituierte, die genau wie der Rest der Frauen eine dunklere Hautfarbe hat.
Ich schaffe es, ein genervtes Stöhnen zu unterdrücken, allerdings nicht mein Augenrollen. Ist hier überhaupt irgendjemand fähig, jemanden nicht zu beleidigen oder ihn zu verprügeln? Jetzt keifen sich auch noch die Frauen an. Ich frage mich außerdem, wer das hier ernsthaft als sein Revier bezeichnen würde und sich dafür auch noch freiwillig Ärger einhandelt.
Unbeteiligt gehe ich einfach weiter, bis ich vollkommen müde vor meiner Zimmertür stehenbleibe, die mir wieder einmal versperrt wird.
>Was tust du denn schon wieder hier? Geh nach Hause! < fordere ich die rot getigerte Katze auf. Jeden Morgen ist sie verschwunden, aber nachts liegt sie regelmäßig vor meinem Abtreter.
Sie mauzt mich an, als ich die Tür öffne und über sie drüber steige. Als ich sie verschließen will, flitzt die Katze allerdings durch den Spalt hindurch.
>Nein vergiss es. Du kannst hier nicht bleiben. <
Vollkommen selbstverständlich springt sie auf mein Bett und rollt sich zusammen.
Ich habe keine Ahnung, ob sie irgendwem gehört oder ein Streuner ist. Im Grunde ist das auch egal und ich hoffe nur, dass sie keine Flöhe hat, die sie mir hereinbringt.
Seufzend gehe ich zu ihr und greife sie mit beiden Händen am Rumpf. Sie krallt sich allerdings so fest in meine Bettdecke, dass sie gleich mit hochgezogen wird.
Als ich sie endlich davon befreit habe und sie in meinem Arm liegt, sieht sie mich an, als könnte sie kein Wässerchen trüben.
>Hör zu, ich liebe Tiere, aber ich habe schon genug Sorgen nur mit mir allein. Ich brauche nicht auch noch ein Findelkind, das mir Ärger macht. Oh Gott und jetzt rede ich ernsthaft mit einer Katze. <
Daraufhin mauzt sie erneut und dreht ihren Kopf, damit sie mich besser sehen kann. Offensichtlich hat sie Hunger, aber ich habe nun mal nichts in dem Apartment, das tauglich für sie wäre. Vielleicht sitzt sie deswegen immer vor den Türen und hofft etwas abzukriegen. Was ist, wenn sie einen Vorbesitzer hatte, der exakt hier in der Nummer 13 lebte und womöglich in diesem Zimmer gestorben ist? Allein die Vorstellung finde ich gruslig. Sie springt von meinem Arm herunter und zurück auf mein Bett.
Zugegeben, etwas Gesellschaft habe ich dringend nötig. Ich meine nicht die Menschen und das Geschrei, das ich den ganzen Tag auf Arbeit habe, sondern ich würde es schön finden, wenn jemand bei mir ist, der sich einfach still neben mir befindet und einfach nur existiert.
Ich gehe einen Schritt weiter und schnappe mir den weichen Reis von heute Morgen. Nach der Arbeit habe ich immer ziemlichen Hunger und im Eiltempo schaufle ich ihn in mich hinein, um endlich ins Bett zu können.
Währenddessen schleicht allerdings ein rothaariges Fellbündel um meine Beine und springt schließlich auf die Herdplatte.
>Das ist kein Katzenfutter. < brabble ich mit vollem Mund. Daraufhin gibt sie einen Klagelaut von sich und sieht mich mit großen kullernden Augen an. Seufzend schiebe ich einen weiteren Löffel in meinen Mund und stelle ihr dann den Becher vor die Nase, der noch zu einem Drittel gefüllt ist. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass sie den trockenen Reis frisst – da Katzen doch so wählerisch sein sollen, aber offensichtlich treibt der Hunger es rein. Ich bin doch bescheuert. Da habe ich selbst kaum Geld und teile mein Essen mit einer Katze.
Ich lasse sie fressen und verschwinde im Badezimmer, wo ich den Deckel des Spülkastens auseinandernehme. Dazwischen ist in einer Tüte immer noch das Geld geklemmt und ich nehme es heraus. So gut es geht, versuche ich diese Summe nicht anzufassen, aber das ist gar nicht so leicht, denn mein halber Wochenlohn ist bereits verbraten. Ich brauche aktuell zu viele Anschaffungen für das Apartment, der Inder wird schon bald seine erste Miete verlangen und eigentlich brauche ich wärmere Klamotten. Tagsüber ist es zwar noch warm, aber das dürfte nicht mehr lange so gehen. Spätestens zum Wintereinbruch kann ich nicht mehr in meinem Dinerkostüm und den freien Beinen herumlaufen.
Die versteckte Summe zähle ich durch und bin froh, dass sie immerhin noch im vierstelligen Bereich ist.
Es ist ein ziemlich blödes Gefühl, wenn man zusieht, wie das Geld schwindet und man eigentlich genau weiß, dass es vorerst nicht besser wird. So ähnlich muss es auch meinem Dad ergangen sein, der wohl Monat für Monat dabei zusah, wie unser Konto mehr in die roten Zahlen hineinrutschte.
Ich packe das Geld wieder zurück in die Tüte, klemme es trocken hinter die Halterung und verschließe den Spülkasten wieder. Zurück im Zimmer sehe ich die Katze auf meinem Bett sitzen. Der zuvor gefüllte Becher ist inzwischen komplett leer gefressen.
>Du hast bekommen was du wolltest, jetzt verschwinde wieder. <
Ich öffne die Tür und setze sie wieder raus. Offensichtlich habe ich sie zufriedengestellt, denn sie haut sofort ab. Immerhin bin ich ein Problem los, aber stattdessen braut sich da draußen etwas zusammen.
Die Gangmitglieder von vorhin, kommen offenbar gerade zurück und sind auf Krawall aus, da sie nun noch mehr Leute dabei haben. Ich sollte lieber wieder zurück in meine vier Wände laufen und nicht dazwischen gehen. Die Typen gehen sich sowieso immer wieder aufs Neue an die Gurgel und außerdem würde ich ohnehin den Kürzeren ziehen.
Trotzdem überkommt mich eine eigenartige Lust, es auszutesten wie gut ich klarkommen würde. Was ist denn nur mit mir los? Ich hätte schon längst wieder in mein Apartment verschwinden und die Tür verrammeln sollen. Schließlich tue ich es auch und verschließe meine Augen vor der Realität, so wie jeder andere Bewohner. Diese Revierkämpfe sind absolut lächerlich und ich habe nicht vor, für so etwas meinen Kopf hinzuhalten.

Zur gleichen Zeit im Osten Minnesotas
(geänderte Erzählweise)
Der blaue Pick-up fährt auf Schotter über eine wenig befahrene Strecke. Von Weitem sind schon die beleuchtete Schranke und auch das Häuschen zu sehen, aus dem jemand vom Wachdienst herauskommt. Sam lässt bereits sein Seitenfenster herunterfahren und bleibt schließlich vor der Schranke stehen.
>Haben Sie einen Ausweis? < fragt einer der Wachleute.
>Nein, ich arbeite hier nicht. Ich hole nur jemanden ab. < erklärt Sam.
>Dann müssen Sie hier warten. Ich kann Sie nicht reinlassen. <
Sam nickt nur und fährt sein Fenster wieder hoch. Er wäre lieber bis zum Sektor vorzufahren, weil es sich ziemlich eingeregnet hat und er weiß, wie eigen Sophia mit ihren Haaren sein kann, sobald sie nass werden.
Wenig später kommt sie schon angelaufen und hält ihre Tasche über ihren Kopf. Damit sie nicht noch länger als nötig im Regen ist, lehnt er sich zur anderen Seite rüber und öffnet bereits die Beifahrertür für sie. Hier an diesem Ort wurde Nayeli Misra zu Kimberly Grant.
Er presst die Lippen aufeinander und versucht nicht daran zu denken. Abgehetzt steigt Sophia ein, legt ihre Arme um ihn und küsst ihn auf die Wange.
>Was für ein Mistwetter. Danke Sam, du bist meine absolute Rettung. Mein Auto ist noch bis Mittwoch in der Werkstatt. Ich bin noch nie so lange ohne Wagen gewesen. <
>Das ist kein Problem, ich war wegen eines Auftrags sowieso gerade in der Gegend. < Als sie wieder auf ihrer Seite ist, greift er auf den mittleren Sitz zu einer Tüte und reicht sie Sophia. >Hier das ist noch deins. <
Sie sieht hinein und entdeckt das Kleid, das sie Nayeli geliehen hatte. Sam lässt den Motor an und wendet den Wagen, um endlich nach Hause zu kommen.
>Lief alles glatt? < will sie wissen.
>Unproblematisch. < erwidert er knapp.
>Also machte sie sich gut? <
Irritiert sieht er zu Sophia.
>Wie kann man sich im Sterben denn schlecht machen? <
Jetzt schaut sie ihn genauso verwirrt an, wie Sam zuvor sie.
>Warte mal, redest du gerade von deinem erledigten Auftrag? <
>Ja, von was redest du denn? <
Sie wedelt mit der Tüte herum, in der das schwarze Kleid ist.
>Na von dem Job, wo dir Nayeli half. Hat sie sich gut gemacht? <  
Ihm war schon klar, dass dieses Thema irgendwie aufkommen würde und er hatte gehofft, er könne das umgehen.
>Sie war super. < erwidert er beiläufig und richtet seinen Blick auf die Straße. Das Unwetter scheint schlimmer zu werden und es ist ihm ganz lieb, dass Sophia ihn darum bat, sie von der Arbeit abzuholen. Sie hat immerhin ein Kind und sollte heil zu Hause ankommen.
>Wow, so wie du es erzählst, könnte ich glatt denken, ich war dabei. < feixt sie. Aus ihrer Tasche holt sie ihr Privathandy heraus und stellt es an. Es scheinen einige Nachrichten einzugehen, denn es macht unaufhörlich „Ping“.
Innerlich atmet Sam auf, denn mit ihren zu tippenden Antworten wird sie eine Weile beschäftigt sein und sie kann ihn umso weniger mit Fragen löchern.
             Nach etwa zehn Minuten ist er aus dem Wald raus und steht an einer Ampel. Ohne etwas zu sagen, hält er seinen Blick weiterhin gefestigt geradeaus.
>Was ist denn los mit dir? < fragt Sophia vorsichtig und mustert ihn im Schein der Stadtbeleuchtung. Ihr Telefon verschwindet in der Tasche. Das bedeutet, sie ist jetzt voll und ganz bei ihm.
>Ich bin nur müde. < wimmelt er ab.
>Ja das sehe ich. Wann hast du eigentlich das letzte Mal so richtig geschlafen? Du siehst scheiße aus. <
>Danke. Sehr taktvoll. <
>Entschuldige, aber ich meine ja nur. Du siehst aus, als hättest du seit Tagen nicht geschlafen. Ist alles okay? <
>Sicher. <
Die Blondine schürzt daraufhin die Lippen und lehnt sich mit verschränkten Armen an.
>Oh sind wir jetzt wieder in der „ich-hasse-Menschen-Phase“ und antworten nur einsilbig? <
>Wer sagt, dass ich Menschen hasse? <
Sophia runzelt die Stirn. Klar ist Sam wortkarg. Aber so?
>Das letzte Mal als du so drauf warst, da warst du sauer, weil du in Nayelis Fall in einer Sackgasse warst. <
Das scheint das richtige Stichwort gewesen zu sein, denn bei diesem Namen sieht sie, wie Sam seine Hände ins Lenkrad krallt.
Die Ampel schaltet auf Grün und Sam gibt Gas.
>Hey, was ist eigentlich los mit dir? Habt ihr euch etwa gestritten? <
>Nein, nicht wirklich. < entgegnet er monoton.
Sophia neigt ihren Kopf verständnislos zur Seite. Kann er denn wenigstens mal Klartext reden? Er macht sie total wuschig. Sam blickt seitlich zu ihr und sieht ihrem Gesicht an, dass sie etwas mehr erwartet als drei Worte.
Er atmet tief ein und blickt wieder zur Straße. In etwa fünf Minuten ist Sophia zu Hause. Es ist mitten in der Nacht, sie wird also sicher in ihr Bett wollen und ihn mit ihrer Fragerei in Ruhe lassen.
Dann weiten sich Sophias Augen und sie ahnt Schreckliches.
>Sam? Wo ist sie? <
>Ich nehme an, sie ist in der Schule. Sie wird wieder bei ihrer Zimmergenossin sein, die zwei habe sich offenbar gut verstanden. <
>Moment mal, was heißt hier „Ich nehme an“? Hat sie dir nicht gesagt, was los ist? < Sam steht an der nächsten Ampel und schaut Sophia plötzlich so merkwürdig an, ohne etwas zu sagen und blitzartig fällt der Groschen bei ihr. >Du  hast sie weggeschickt. <
>Das war nur eine Frage der Zeit. <
Sie haut ihm erbost auf den Oberarm.
>Ich wusste, dass du es versauen würdest. < sie tut es nochmal und nochmal. Sam lässt sich davon nicht beirren, denn ihre Schläge sind beinahe putzig. >Bitte sag mir, dass sie wenigstens annähernd so reagiert hat wie ich. <
>Kein Stück. < erklärt er und schluckt. Nayelis Reaktion war eigenartig, eingefroren, fast roboterartig. Er ging davon aus, sie würde ihn anschreien oder zumindest sagen, was er für ein Mistkerl ist. Aber da war nichts.
>Wann war das? Wann hast du ihr gesagt, dass sie verschwinden soll? <
>Was tut das zur Sache? <
>Sag es endlich! < motzt sie und hat sich mehr zu Sam rübergelehnt.
Die Ampel ist nun von Grün zurück auf Rot gesprungen. Sie stehen immer noch an derselben Stelle und sehen sich beide ernst an.
>Am Morgen, nachdem du ihr das Kleid geliehen hast. <
Ungläubig schnaufend lässt sich Sophia in ihren Sitz fallen und schüttelt langsam den Kopf.
>Oh mein Gott. Und ich hatte sie noch gewarnt. < flüstert sie zu sich selbst und schlägt sich die Hand auf die Stirn.
>Gewarnt? <
>Ja Sam, vor dir! Ich sagte ihr, dass sie nicht zu viel von sich geben soll. Sie hat dir doch geholfen und danach wirfst du sie raus? Was zur Hölle stimmt denn nicht mit dir? <
Sam seufzt wütend. Er hat darauf keine Lust. Das geht niemandem etwas an.
>Nayeli wusste das von Anfang an. <
>Tja das sagte sie mir auch, aber ganz offensichtlich hat sie das verdrängt. Ich habe gesehen, wie sie dich angesehen hat und das hat mir das Herz gebrochen, weil ich wusste, dass du es ruinieren wirst. Sie hoffte wohl, wenn sie eine bessere Version von sich selbst sein würde und versucht, deine Erwartungen zu erfüllen, würdest du dich umentscheiden. Aber weit gefehlt. <
>Sophia hör auf damit. Ich will darüber nicht reden. <
>Nein natürlich nicht. Du redest ja nie über sowas. Herr Gott nochmal Sam! Obwohl sie so viel durchgemacht hat, hat sie dich einfach akzeptiert wie du warst, selbst als sie erfahren hat, dass du ein Killer bist. Sie sollte jetzt neben dir sein und nicht ich. Wie ich sie kennengelernt habe, kann sie sich wohl nicht mal dazu durchringen, dich zu hassen, obwohl du es verdient hast. Du hast ein gutes Mädchen verloren und das ist deine Schuld. Sie wollte bleiben, aber du hast sie weggestoßen und das, obwohl sie keine himmelhohen Erwartungen hatte. <
Etwas atemlos nach ihrem Gemecker, lehnt sich Sophia erneut an den Autositz an und blickt stur geradeaus.
>Hast du alles gesagt oder möchtest du noch etwas loswerden? < fragt Sam sachlich.
>Nein. Ich bin fertig. Du gibst mir darauf sowieso keine Antwort. < giftet sie. >Und jetzt fahr endlich weiter. Das war schon die dritte Grünphase. <
Er tritt wieder aufs Gas, um sie endlich nach Hause zu fahren. Den Rest der Fahrt schweigen beide. Sophia hält jedoch ihre Arme vor der Brust verschränkt und sieht sauer aus. Ab und zu schüttelt sie den Kopf und zischt leise vor sich hin, was Sam allerdings ignoriert.
Schließlich hält er vor ihrer Wohnung und Sophia schnallt sich ab. Als sie die Tür öffnet und aussteigt, hält sie ihren Kopf noch einmal hinein und sagt:
>Das hat sie nicht verdient. Sie hat sich Hals über Kopf in dich verliebt, das sieht ein Blinder, nur du nicht. <
Sie schlägt die Autotür zu und läuft zu ihrer Wohnung. Sam atmet tief ein und schließt die Augen. Was ist das nur für ein abstruser Tag? Er dreht um und will nun endlich selbst nach Hause.
               Die Räder seines Pick-ups kämpfen sich durch den Matsch bis zu seinem Haus vor. So wie in dieser Nacht hat es bei ihm schon eine Weile nicht mehr geschüttet und gestürmt. Seine Scheibenwischer sind auf der stärksten Stufe eingestellt und er befürchtet jeden Moment völlig die Sicht zu verlieren. Es hieß, das Unwetter würde Richtung Süden und somit an ihm vorbeiziehen, aber das tat es nicht. Als er sich schließlich weiter durch den Wald gekämpft hat und in seiner Einfahrt steht, schnappt er sich seinen Rucksack und steigt aus. So schnell es geht, rennt er zum Haus. Er findet seinen Schlüssel nicht sofort, wodurch er nur binnen weniger Sekunden pitschnass ist und kurz darauf tropfend in seinem Flur steht.
Die nasse Jacke hängt er an den Haken, streift seine schmutzigen Boots ab und läuft durchnässt in das untere Bad. Die nasse Kleidung klatscht auf den Boden und er stellt sich seufzend unter die heiße Dusche.
Das tut er fast immer, weil er sich schmutzig fühlt - egal ob er näheren Kontakt zu der Zielperson hatte oder von Weitem schoss. Heute tut er es, weil er durchnässt ist und vor allem, weil er den Kopf freibekommen muss.
Der geschaffte Auftrag war mental kräftezehrend und er hat das Gefühl, als wenn er nicht einfach so ins Bett verschwinden kann, wie er es normalerweise tut. Irgendetwas hängt ihm wie ein übler Beigeschmack nach und es ist nicht nur wegen Sophias Geschrei – das war nur das i-Tüpfelchen des Tages.
Die Männerquote bei den Kriminellen ist unbestreitbar höher, aber heute stand kein Mann auf seiner Liste, sondern eine hübsche Frau Anfang dreißig. Er nahm diesen Job erst in letzter Sekunde an, obwohl er nicht in sein sonstiges Schema passte.
Manches in der Welt wird er niemals verstehen und schon gar nicht diese Selbstverständlichkeit, einem unschuldigen Menschen etwas anzutun.
Manche Täter gelten als unantastbar. Sie haben hunderte von Morden zu verantworten und trotzdem kommen die Strafverfolgungsbehörden nicht an sie ran.
Häufig sind es eine Menge Geld, Beziehungen und Einfluss, weshalb sie so immun sind und nicht gefasst werden. Manchmal ist es aber auch schlicht und ergreifend Angst, die die Behörden haben. Wer würde sich mit einer so mächtigen Bestie wie einem Kartellboss oder einer gesamten Lobby anlegen und dafür sein Leben und eventuell das seiner Familie aufs Spiel setzen? Sam weiß, dass diese Personen immer auf Rache aus sind.
Aber sein heutiges Opfer hatte weder Einfluss noch Geld – die Täterin war praktisch ein Niemand im Vergleich zu den sonstigen Personen, die er erledigt. Sicher hätte man sie auch auf anderem Wege zur Strecke bringen können und sie wäre mit dem richtigen Staatsanwalt und den richtigen durchschlagenden Beweisen im Gefängnis gelandet. Aber es gibt nun einmal Vergehen, die mit keiner Gefängnisstrafe wieder gutzumachen sind.
Menschenhandel, Morde, Vergewaltigungen, schwere und zielgerichtete Körperverletzungen oder Kindesmissbrauch sind die Verbrechen, die für Sam unentschuldbar und nie wieder gutzumachen sind. Er nahm diesen Auftrag an, der kaum mehr als 500 Dollar einbrachte an und weichte dadurch von seinen sonstigen gefährlichen Jobs ab.
Diese Frau namens Agnes Brava war nach außen hin eine Krankenschwester, der man vertrauen sollte und dessen Job Sam´s Meinung nach, Respekt verdient.
Für ihre Opfer ging sie allerdings regelmäßig in fremde Einrichtungen und gab sich als Hilfsschwester aus. Niemand stellte dort Fragen, denn ein Krankenhaus hat des Öfteren Leasingkräfte, die kaum eine Woche bleiben und das angestellte Personal ist froh über jede Hilfe. Während der Nachtschicht entführte sie Neugeborene von der Entbindungsstation. Die Klagen der betroffenen Eltern stapelten sich auf den Revieren, aber keiner konnte diese Fälle bisher lösen. Jedenfalls so lange nicht, bis schließlich einer von Sam´s Insidern einen Tipp über das Darkweb bekam, in dem die Säuglinge zum Verkauf angeboten wurden. Während die Behörden mit den Entführungen überfordert waren, gingen Leute wie Sam dieser Sache nach, die zwar nicht die Auftragsmorde verüben, aber die Akten für die Killer zusammenstellen.
Agnes Brava gab die Babys häufig an Paare ab, die keine Kinder bekommen konnten und bei denen eine Adoption nicht klappte. Dafür verlangte sie eine horrende Summe Geld. Da sie aber nach einigen geglückten Übergaben offenbar keine finanziellen Probleme mehr hatte und nie erwischt wurde, konnte sie ihren Neigungen weiterhin nachgehen und sie sogar noch vertiefen. Es war eindeutig das Machtgefühl und der Adrenalinausstoß der ihr gefiel, wenn sie die Entführungen ausführte.
So blieb es nicht mehr bei dem anfänglichen Verkauf eines kleinen Menschen, sondern sie brachte die Säuglinge zu ihrem Vergnügen schließlich auch noch um. Das ist eine Tat, die für Sam deswegen so abscheulich ist, weil sie sich an Schutzbefohlenen vergreift, die überhaupt keine Chance hatten sich zu wehren oder überhaupt richtig zu leben. Weshalb nahm Sam diesen Auftrag aber so persönlich? Immerhin ist er sich ziemlich sicher, dass seine Eltern seine Leiblichen sind – auch wenn er keinen Kontakt zu ihnen hat. Als sein jüngerer Bruder starb, war dieser bereits erwachsen und stellt daher auch keine Parallele zu diesem Auftrag her.
              Seufzend lässt er sich das heiße Wasser über den Kopf und den Körper laufen und denkt daran, was in ihm vorging, als er die digitale Akte von Agnes Brava ansah. Da derartige und unvorstellbare Personen mit vergleichbaren Vergehen auch auf seiner nie endenden Liste stehen, war es nicht die Tat an sich die ihn dazu bewegte, alle anderen Aufträge warten zu lassen, sondern es war der gesamte Inhalt der Klagen der Eltern, der ihn wohl dazu trieb.
In der Akte waren Interviewausschnitte von ihnen dabei, die sich an die Presse gewandt hatten und verzweifelt in die Kamera schrien, dass sie ihr Kind zurückhaben wollen. Er ließ sich bisher von Hass gegen die Täter antreiben und nicht von Mitleid für die Opfer, aber dieses Mal war es anders.
Dasselbe unaufhörliche Leiden und den Verlust über die getötete Familie, sah er über Wochen hinweg schon einmal und es ging ihm näher, als er es für möglich hielt.
Er dachte immer, er hätte sich von solchen Gefühlen abgekapselt, aber Nayeli so zu sehen, weckte etwas in ihm. Als sie das erste Mal in Dimitrijs Gegenwart über das Geschehene reden musste und sie es kaum schaffte, über ihren Bruder zu sprechen, musste selbst er schlucken. Er sah zu, wie sie beinahe daran zerbrach, er hielt sie im Arm, als sie es kaum ertrug das Grab zu sehen und er lag bei ihr, sobald sie Alpträume hatte. Immer wieder bekam sie glasige Augen als sie von Iye berichtete und diesen Blick sah er auch bei den interviewten Eltern. Sam dachte, dass er sich seinem kleinen Schützling durch diesen erledigten Job vielleicht etwas näher fühlen würde, aber das tut er nicht.
Er stellt das Wasser aus, wickelt sich ein Handtuch um die Hüften und steigt aus der dampfenden Dusche heraus. Die Fensterscheiben und der Spiegel sind von der warmen Feuchtigkeit vollkommen beschlagen. Mit der Hand wischt er über den Spiegel und streicht sich durch die nassen Haare. Im Spiegelbild ist die Bauchwunde sichtbar, die ihn womöglich umgebracht hätte, wenn er bewusstlos und ohne Hilfe gewesen wäre. Kopfschüttelnd wendet er sich von seinem eigenen Erscheinungsbild ab.

(--> „you won´t find me“ von Narrow Skies) - https://www.youtube.com/watch?v=BfHElZZRfro
Nachdem er sich ein paar bequeme Sachen angezogen und ein Bier aus dem fast leeren Kühlschrank geholt hat, geht er nicht direkt zu seiner Couch, sondern es zieht ihn in sein Gästezimmer. Am Türrahmen angelehnt blickt er hinein und nippt an seiner Flasche.
Bis auf ein paar Staubkörner sieht es noch genauso aufgeräumt aus, wie Nayeli es verlassen hat. Meistens ignorierte er das Zimmer, da er es zuvor kaum nutze, aber seit ihrer Abwesenheit, mied er diesen Raum erst recht. Selbst die Bettwäsche hatte er nicht einmal abgezogen und dort liegt auch noch sein zusammengefaltetes Shirt von den Tennessee Titans, das sie immer trug und das ihr viel zu groß war.
Er macht die Tür zu und denkt, dass es besser gewesen wäre, das Zimmer weiterhin verschlossen zu halten. Nach ihrem Verschwinden stürzte er sich in seine Arbeit, dachte nicht viel über Belanglosigkeiten nach und tat, was er eben immer tat.
Sein Gemütszustand war halbwegs okay, aber gestern hatte er einen gewaltigen Fehler begangen, bevor er seinen heutigen Auftrag von seinem Insider erhielt. Wahrscheinlich ist er seitdem etwas neben der Spur.
Ein Teil von ihm wollte das eigentlich nicht tun, aber er ging ins Netz und suchte bewusst nach Daten von Nayeli. Sam ist Henrys Anrufversuchen bisher nicht nachgegangen und wollte von ihren Fortschritten nichts wissen. Er ist sich absolut sicher, dass sie ihre Lizenz bekommen wird und er wollte ihr auf keinen Fall hinterherspionieren. Im Gegenteil – er wollte sie nicht in der Gegenwart sehen, sondern so, wie sie früher voller Lebensfreude war. Die Wärme, die mit ihr in sein Haus einkehrte, ist vollkommen aus seinen vier Wänden gedrängt worden, seitdem sie gegangen ist – seitdem er sie weggeschickt hat, trifft es wohl eher. Aber Sam hatte Schlimmeres durchlebt und das merkwürdige Gefühl der Einsamkeit würde schon vergehen. Es vergeht doch immer alles.
Erledigt läuft er in sein Wohnzimmer, macht das Kaminfeuer an und setzt sich mit seinem Bier auf das Sofa. Den Fernseher lässt er aus und hört stattdessen, wie der Regen gegen seine Scheiben peitscht. Die Stille lässt seine Gedanken erneut abschweifen.
Er wollte unbedingt etwas anderes von Nayeli sehen, als diese verlogene Akte, die sie in einem falschen Licht dastehen lässt und er wurde ohne viel Mühe fündig.
Es gibt die gesammelten Daten von jedem Menschen, in jedem Teil der Welt.
Jeder teilt seinen Standort, ohne es zu wissen oder zu wollen. Jeder vergibt seine Adresse, seine E-Mail oder seine noch so privaten Details, sobald er oder sie sich im Internet anmeldet. Passwörter schützen rein gar nichts und über jeden kann man die peinlichste Vergangenheit herausfinden, wenn nur tief genug gegraben wird. Bei dem Einen findet man mehr und bei dem Anderen weniger. Bei Nayeli ist es zu wenig für Sam's Geschmack und gleichzeitig ist es zu viel.
Sobald sie auf irgendeinem Bild war, das einer ihrer Freunde in einem Portal hochlud, landete es in einem Datennetz, aus dem es ein Amateur nicht mehr herauskommt – selbst wenn die Fotos oder Einträge gelöscht werden. Das Spinnennetz geht in alle möglichen Richtungen und innerhalb einer halben Stunde wusste Sam auf welchen Schulen sie war, welche Noten sie schrieb, wer zu ihrem gesamten Freundeskreis gehörte und selbst mit welchen Jungs sie sich früher einmal traf. All das erfuhr er nicht, weil Nayeli diese Informationen preisgab, sondern überwiegend Megan, die offensichtlich häufig und gern Bilder von allem macht. Wie ein Baum mit Verzweigungen fand Sam durch Verlinkungen andere Freunde, die Nayeli ebenfalls kannten und über diese Leute fand er wiederum brauchbares Material. Ein Teil von ihm wollte die Accounts am liebsten hacken und die Bilder von den Homepages nehmen. Das würde allerdings Aufsehen erregen, wenn alle Aufnahmen von Nayeli auf den Seiten fehlen würden. Da Megan in einigen Dingen eingeweiht ist, würde sie sich wahrscheinlich zu Tode erschrecken und befürchten, dass jemand nun auch hinter ihr her. Aus diesem Grund beschloss er, sich nicht einzumischen, auch wenn es ihm schwerfiel.
Sobald er erst einmal angefangen hatte zu suchen, machte er immer weiter und sein Bild über diese junge Frau, hat sich nur noch weiter gefestigt. Die Fotos und Videos von ihrem Collegeabschluss waren ebenfalls problemlos über die anderen Absolventen zu finden. Manchmal war sie zufällig im Hintergrund zu sehen und bei anderen Bildern wurde sie bewusst aufgenommen. Er bewunderte sie in diesem goldenen Kleid und sie sah so aus, wie sie es ihm beschrieben hatte. Mehrere Male wollte er wirklich damit aufhören, denn schließlich sind es die Kriminellen, die er bis ins kleinste Detail studiert, aber doch nicht seine Kleine. Bei ihm war es lediglich Interesse, aber einem irren Stalker wird es durch die heutige Technik immer leichter gemacht, sein Opfer auszuspionieren. Sam brauchte bis zu diesem Punkt noch nicht einmal die speziellen Programme und Kniffe, die ihm sonst zur Verfügung stehen.
Als er nur ein kleines Bisschen tiefer grub, konnte er sogar Daten erfassen, die normalerweise schwierig zu bekommen sind, da sie auf gesicherten Servern gespeichert sind. Die Rede ist von Aufzeichnungen der Verkehrskameras, die sich auf ihrem Schulweg befanden.
Sogar wenn sie sich unbeobachtet fühlte, lächelte sie andauernd und es war das Lächeln, das sie Sam auch so oft schenkte. Aber es gibt da noch ein anderes. Ein ganz spezielles, liebevolles und warmes Lächeln mit dem sie nur ihren Bruder ansah. Immer wieder stieß er darauf und ihm wurde klar, dass dieser kleine Junge dieses Lächeln bei ihr nie wieder auslösen wird. Sam fand außerdem ein sechs Jahre altes Gutachten, in dem es darum ging, wie schwerwiegend die Verletzungen von ihrer Mutter nach einem Autounfall waren. Huyana Misra war nach einem massiven Trümmerbruch des Beines monatelang nicht in der Lage, sich um ihren dreijährigen Sohn zu kümmern. Also übernahm es Nayeli – eine Teenagerin von 15 Jahren, die plötzlich die Rolle einer Mutter übernehmen musste. Kein Wunder, dass sie und Iye ein so inniges Verhältnis hatten, wie sie es oft beschrieb. Die veröffentlichten Aufnahmen von Megan hielten dieses Verhältnis unzweifelhaft fest.
Nur eine knappe Stunde später ging der Auftrag mit Agnes Brava auf seinem Rechner ein. Vielleicht nahm Sam den ausgeführten Job deswegen persönlich, weil ihm die vorher angeseheneren Bilder nicht mehr aus dem Kopf gingen. Sein Schützling liebte dieses kleine Kind so innig, wie nur Eltern ein leibliches Kind lieben können. Als er in der Fallakte von den Entführungen las, dachte er daran, dass die betroffenen Eltern ebenso ihr Lächeln verloren haben, wie Nayeli, als ihr Bruder viel zu früh sterben musste.
Während sie bei ihm untertauchte, übertrugen sich ihr Kummer und ihr Leid auf ihn. Nie zuvor kam er einer Überlebenden so nah. Normalerweise erledigte er einfach nur seinen Job, bekam seinen Lohn und die Sache war erledigt. Er teilte das Leid der Opfer niemals, aber bei ihr war es nun einmal vollkommen anders. Er lachte mit ihr und er litt mit ihr. Vielleicht suchte er deswegen im Netz nach Nayeli, um ein letztes Mal ein Lächeln von ihr zu sehen und nicht weiterhin die Szenerie im Kopf zu haben, als er sie wegschickte. Das Schlimmste für ihn ist, dass kein Granatsplitter im Körper jemals so schmerzen kann, wie dieser letzte Blick von ihr, als sie gehen musste.
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