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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
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25.10.2019 5.219
 
Kapitel 07 – Interessante Begegnungen

10 Tage später  
Die erste Zeit an diesem Ort verging nur schleppend, aber mittlerweile weiß ich zu schätzen, wie ruhig sie eigentlich war. Es gab zwar bereits Tumulte, die ich unangenehm fand, aber erst die Woche danach zeigte mir die volle Härte dieses Ortes. Niemand bekommt hier eine zweite Chance, geschweige denn kann man einen Neuanfang starten.
Ich glaube, heute ist irgendein Samstag und es könnte noch August sein. So genau weiß ich es allerdings nicht, denn ich arbeite sowieso jeden Tag und habe kein Gefühl mehr für den Wochentag.
Die neuen Öffnungszeiten kamen nicht wie abgesprochen nach einer Woche meiner Einarbeitung, sondern bereits nach gerade mal vier Tagen. Wenn das, was ich mit Josh Scofieldt gemacht habe, wirklich meine Feuerprobe war, dann waren die letzten Nachtschichten definitiv meine Höllenprobe.
Meine Chefin entwickelt sich mehr und mehr zu einem Fiesling und ich glaube insgeheim, dass sie mich mit dem verdienten Trinkgeld übers Ohr haut. Ich mache zwar die Endabrechnung der Kasse nach der Schließzeit, aber sie behält sich das Recht vor, das Trinkgeld zwischen uns aufzuteilen.
Es ist unumstritten, dass sie durch mich das Meiste bekommt. So wie sie es sich erhofft hat, ist die Nachtschicht durch die Bewohner und die Nachtfahrer lukrativer, da mehr Alkohol getrunken wird und dadurch ist die Kundschaft spendabler.
Teilweise kommen die Gäste bereits mit ein oder zwei Bier intus zu mir ins Diner, trinken noch etwas und fahren dann weiter. Angetrunkene Personen am Steuer wundern mich schon nicht mehr, obwohl ich strikt dagegen bin. Anfangs habe ich diesen Leuten keinen Alkohol mehr ausgehändigt, aber das fand Debra alles andere als toll.
Das vermehrte Geld in der Nachtschicht ist zwar schön, aber die erniedrigenden Sprüche, die ich mir dafür anhören muss, sind alles andere als zumutbar. Ich habe allerdings schnell damit angefangen sie zu ignorieren, anstatt sie zu kommentieren. Dafür will ich meine Energie einfach nicht mehr verschwenden.
Die Sprüche sind aber noch in Ordnung im Vergleich zu dem, was ich sonst noch über mich ergehen lassen muss. Viel schlimmer sind die Gäste, die glauben, dass sie mich ungefragt begrabschen können. Das lasse ich mir natürlich keineswegs gefallen. In diesen Momenten bin ich unglaublich dankbar für meine Selbstverteidigungsstunden. Sobald ich den richtigen Griff habe und die dreisten Handgreiflichkeiten abwehre, lassen mich die Männer in Ruhe, sodass es bisher noch zu keinem ernsten Kampf kam.
Mein Dienst startet mittlerweile erst um 17 Uhr und ich habe mir angewöhnt, alle nötigen Besorgungen am frühen Nachmittag zu erledigen. Ich schlafe tagsüber, wodurch ich immerhin zur Ruhe komme. Dafür treiben mich die Nächte beinahe in den Wahnsinn, wenn ich zu meinem Apartment laufe. Wenn ich nach 2 Uhr nachts draußen bin und an all den fragwürdigen Menschen und defekten Laternen vorbeimuss, dann ist es nicht einfach nur dunkel, sondern es ist pechschwarz. Was das angeht, musste ich in all den vorherigen Wochen nie so sehr gegen meine Angst vor der Dunkelheit ankämpfen wie jetzt.

              Im Moment befinde ich mich in Angora bevor meine Schicht beginnt. Durch Ed´s Hilfe bei der Reparatur des Fahrrads, bin ich nun mobil genug, um zu jeder Zeit herzukommen.
In diesem Augenblick gönne ich mir ein frisches Bötchen von einem Bäcker, um nicht andauernd dieses konservierte Zeug aus der Tüte essen zu müssen. Es ist unglaublich, wie schnell man den Geschmack und den Geruch von frischen Lebensmitteln vergessen kann. Und es ist noch unglaublicher, wie schnell man auch alles Andere vergessen kann, wenn man es nur stur genug verdrängt und sich lieber selbst metaphorisch gesprochene Brandwunden zufügt, als alte Gedanken aufkeimen zu lassen.
Nach zwei weiteren vergeblichen Vorstellungsgesprächen schiebe ich das Rad gemütlich neben mir her und schlendere durch die Innenstadt. Hier bin ich wirklich gern, denn alles wirkt so normal und zivilisiert.
Ich habe mir geschworen, jeden Tag aufs Neue nach einem besseren Job zu suchen. Ed steckt mir immer wieder neue Stellenanzeigen zu, denn er weiß, dass meine Arbeit im Diner nichts auf Dauer sein kann. In dem Motel kann ich ebenfalls nicht noch länger bleiben und deswegen versuche ich verzweifelt an eine bezahlbare Wohnung zu kommen. Bisher ist daran allerdings überhaupt nicht zu denken. Ein Job ohne Dokumente zu bekommen ist schon schwer zu finden. Eine Wohnung – unmöglich. Ich bin weder kreditwürdig, noch habe ich ein festes Einkommen, das ich vorweisen kann – schließlich gibt es keinen Arbeitsvertrag. An meinem Problem hängt ein ellenlanger Rattenschwanz, der alle anderen Dinge unmöglich macht.

            Ich laufe durch die Einkaufspassage und komme an einem kleinen Eckladen vorbei, der einen Haufen Schnickschnack, wie kunterbunten Modeschmuck und Souvenirs verkauft.
Früher blieb ich mit meinen Freunden gerne bei so etwas stehen, aber heute kann ich es mir noch weniger leisten als damals. Ich brauche zu viele andere wichtige Anschaffungen und es ist vergleichbar mit der ersten eigenen Wohnung. Man besitzt praktisch nichts - keinen Toaster, keine Auflaufform und nicht mal ein Verlängerungskabel.
Meine Wäsche bringe ich in der Stadt in den Salon, von dem ich mal telefonieren durfte, um meine erste Übernachtung bei Jamie sicherzustellen.
Wenn meine Uniform nach kürzester Zeit mal wieder besonders nach Fett und kaltem Qualm stinkt, wasche ich sie immerhin in dem Waschbecken im Apartment, aber das ist auf Dauer kein Zustand. Trotz der weniger guten Ausstattung komme ich jedoch relativ gut klar und das ist die Hauptsache.
Seufzend bleibe ich vor dem Laden stehen und mein Blick bleibt irgendwie an diesem Ständer mit dem Schmuck hängen. Ich drehe ihn beiläufig, ohne etwas Bestimmtes zu suchen und schaue mir augenrollend den ganzen Kitsch an. Offensichtlich sind Einhörner und übertrieben viel Glitzer im Moment der absolute Renner. Die Ketten und Armbänder sehen auch eher so aus, als wären sie etwas für 12-Jährige und ich bin nicht die Zielgruppe. Ein Schmuckstück zieht dann allerdings doch meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist eine Kette, die eigentlich einen ziemlich schnulzigen Zweck hat. Darauf ist „Wunscherfüller“ zu lesen. Ich nehme sie in die Hand und sehe, dass der längliche Anhänger aus zwei Teilen mit einem Gewinde besteht, die man horizontal auseinander drehen kann. Darin ist ein eingerollter Zettel. Offensichtlich soll man seinen sehnlichsten Wunsch aufschreiben und diesen Zettel mit sich herumtragen. Früher hätte ich so etwas niedlich gefunden und es Meg geschenkt, aber jetzt habe ich nur einen Gedanken. Die Hülle des silbernen Anhängers ist groß genug, um dort eine 9 mm Patrone hineinzusetzen.
Ich brauche keinen Wunscherfüller, denn an so etwas glaube ich nicht mehr. Das Einzige, an das ich noch glaube, ist, dass ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. Diese Kette weckt bei mir eine Faszination, dass ich sie für die zehn Dollar mitnehme. Mag sein, dass es in meiner jetzigen Lage rausgeworfenes Geld ist, aber das Schmuckstück kann mich Tag für Tag an meine Rache erinnern, bis die Kugel darin eines Tages zum Einsatz kommt. Und das wird sie!

            Mit dem Rad brauche ich etwas mehr als eine halbe Stunde, um wieder in dem Vorort anzukommen. Ich schleppe es wie immer die Metallstufen hoch, damit es weder gestohlen noch zerstört werden kann. Dieses kleine Stück an Freiheit und Mobilität will ich mir auf keinen Fall nehmen lassen.
Mit einem Keuchen lasse ich es am Anfang des Ganges wieder runter und schiebe es bis zu meinem Zimmer. Links daneben sitzt ein kleiner Junge vor der Tür, den ich bisher erst wenige Male gesehen habe. Sonst steht dort meistens seine rauchende Mutter mit einem noch kleineren Kind im Arm, die mich häufig wortlos beäugt.
Ich werfe dem Kleinen einen Blick zu. Er sieht wütend auf ein Heft und kaut auf einem Stift herum. Grüßen tut hier nie jemand und die meisten Menschen meide ich bewusst, da sie mir unheimlich sind.
Meine Tür geht knarrend auf und ich schiebe das Rad in eine Ecke, in der es am wenigsten stört.
Meine Besorgungen packe ich aus den Tüten aus und versuche sie irgendwie platzsparend in diesem engen Zimmer zu verstauen. Dann krame ich meinen falschen Ausweis und den falschen Führerschein aus der Kommode und stecke die beiden Papiere in das Portmonee, das ich mir eben besorgt habe. Ich hoffe zwar immer, dass ich niemals danach gefragt werde, aber ich sollte im Falle des Falles etwas bei mir haben, um mir nicht noch mehr Ärger einzuhandeln.
Sophia hat mir zwar versichert, dass ich damit sogar durch eine Flugzeugkontrolle komme, aber irgendwie ist mir trotzdem mulmig dabei, diese gefälschten Dokumente zu besitzen. Ich befürchte, dass irgendetwas darauf zu sehen sein könnte, wodurch jemand die Echtheit infrage stellt. Aber vielleicht ist das auch nur zu viel unbegründete Vorsicht von mir, denn immerhin kommt dieser Pass aus einem Bundesdrucker, der auch andere Papiere ausspuckt.
Um mich nicht mit noch mehr Sorgen herumzuplagen, werfe ich das Portmonee in die dazugekaufte Handtasche und stelle sie in die Ecke.
Die gewaschene und getrocknete Arbeitsuniform schüttle ich einige Male auf und lasse sie am Bügel unter der Dusche hängen, damit sich die restlichen Falten herausziehen. Eigentlich müsste ich dieses Shirtkleid jeden Tag in den Waschtrockner werfen, aber es ist einfach sinnlos und viel zu viel Aufwand. Spätestens in zwei Stunden riecht es sowieso wieder nach Qualm und Essen.
Offensichtlich bin ich in dieser Hinsicht aber deutlich eitler als Debra, denn sie läuft eine Woche lang mit ihrem Ketchupfleck auf der Brust herum und es interessiert sie nicht.
Nachdem alles ausgepackt ist, schraube ich das Gewinde des Kettenanhängers auf. Ich befürchte schon, dass ich mich mit der Patronengröße verschätzt habe, aber die Munition passt gerade so in die Hülle hinein. Sie wird ihr Ziel eines Tages finden. Ob es mir dann besser geht, wenn ich zumindest Iyes Mörder umgelegt habe, weiß ich nicht, aber es wäre ein winziger Funken Gerechtigkeit, der mir zusteht.
Diesen Funken, der mich antreibt, den darf ich nicht verlieren. Denn er ist alles, was mir geblieben ist.
Ich lege mir die Kette um den Hals und werfe mich nach hinten ins Bett.
Obwohl ich erst vor wenigen Stunden wach wurde, fühle ich mich unglaublich müde.
Es ist jedoch auch ziemlich kräftezehrend, keinen einzigen freien Tag zu haben. Wahrscheinlich kann ich mich glücklich schätzen, weil Debra noch nicht auf die Idee kam, ein 24 Stunden-Diner aus ihrem Lokal zu machen. Eines, das 19 Stunden an 7 Tagen der Woche geöffnet hat, sollte ihr wohl mit nur zwei Kellnerinnen reichen.
Ich hebe schwerfällig meinen Kopf und sehe zu dem Wecker. Es sind noch 1 ½ Stunden bis zu meinem Dienst und ich sollte eigentlich noch etwas schlafen, damit ich die Nacht besser überstehe. Stattdessen entscheide ich mich dafür, meine Freizeit zu nutzen, aufzustehen und mir einen grünen Tee zu kochen. Der macht genauso wach wie Kaffee, nur schmeckt er deutlich besser als das, was Debra in ihrem Diner verkauft. Kaum zu glauben, dass man mir Kaffee madig gemacht hat. Mir! – dem Koffeinjunkie.
Mit meiner gefüllten Tasse will ich nach draußen gehen, um noch etwas Sonne zu tanken. Dieses Zimmer ist einfach zu dunkel und macht mich depressiv. Außerdem wird es bald Herbst werden und ich genieße daher lieber die letzten warmen Tage oder Wochen.
Ich trete zwei große Schritte nach draußen, stütze meine Ellenbogen auf dem rostigen Geländer ab und atme die frische Luft ein. Im Augenblick ist es hier draußen noch relativ ruhig. Bei den Parkplätzen sehe ich bereits die jungen Frauen herumlaufen, sowie einen Dealer, der mir nun schon häufiger begegnet ist.
Ich versuche die Ruhe und den marihuanafreien Geruch in der Luft immer zu genießen so lange es andauert. Die Sonne scheint genau auf mein Gesicht und mit geschlossenen Augen halte ich es direkt hinein.
Ein genervtes Ausatmen ertönt hinter mir und mein Kopf dreht sich dorthin. Wütend sitzt der kleine Junge immer noch zusammengekauert auf dem Boden und streicht mehrfach etwas durch.  
>Brauchst du vielleicht Hilfe? < frage ich.
Verwundert blickt er zu mir nach oben. Er hat einen niedlichen Afro, haselnussbraune Augen und dunkle Haut. Bisher habe ich noch nie mit ihm gesprochen.
>Kannst du sowas denn? < will er wissen. Seine Stimme ist noch piepsig, seine Augen noch weit geöffnet, seine Lippen noch zu einem freundlichen Lächeln verzogen und er wirkt noch so unschuldig und klein.
>Zeig´ mal her. <
Ich setze mich zu ihm runter auf den Boden und stecke meine Nase in seine Hausaufgaben. Es sind Matheaufgaben und ich glaube die meisten Kinder verfluchen sie.
>In welcher Klasse bist du? < will ich wissen.
>Wenn die Ferien vorbei sind, bin ich in der Dritten und ich muss das noch fertigmachen. Das ist voll schwer. <
Mit zusammengepresstem Kiefer lasse ich sein Heft sinken und sehe ihn an. Er ist demnach acht oder neun Jahre alt, schiebt seine Hausaufgaben lange nach hinten auf und findet sie „voll schwer“.
Der Kleine sagte es in demselben niedergeschlagenen Ton wie Iye, wenn er etwas nicht verstand. Durch meinen Körper rauscht ein gemischtes Gefühl von Wehmut und Wärme. Dieser Junge erinnert mich an meinen Bruder und das versetzt mir einen ziemlich heftigen Stich. Wird dieses Vermissen jemals ein Ende nehmen?
>Und? Kannst du das nun? < fragt er erneut nach.
Ich grinse und reiche ihm sein Heft zurück.
>Ja, aber ich werde es dir nicht vorsagen. Ich erkläre dir nur, wie es geht. <
            Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich meine Zeit an diesem Ort noch nie sinnvoller verbracht, als jetzt mit diesem Jungen seine Ferienschularbeiten durchzugehen.
Seitdem mein kleiner Bruder und meine Eltern auf so grauenvolle Weise umgebracht wurden, hatte ich nicht mehr das Gefühl gebraucht zu werden.
Mein Nachbarsjunge sagt, dass er Cody heißt und öfter draußen von der Tür lernt, weil es ihm in der Wohnung einfach zu laut ist. Es ist aber nicht nur die Lautstärke, sondern es ist auch seine Mutter, die ihn rausschickt damit er die „schlimmen Dinge“ nicht sieht. Natürlich versteht ein Kind nicht, was genau damit gemeint ist. Und dennoch erklärt er mir, dass seine Mum immer etwas einnimmt, damit sie schlafen kann und dann wird sie lange Zeit nicht wach – egal wie sehr er an ihr herumrüttelt. Manchmal kann er nicht in die Schule gehen, weil sie morgens von der Dosis am Abend vollkommen fertig ist und er dann auf seine kleinsten Geschwister aufpassen muss. Die Größeren verlassen das Haus, von denen er nicht weiß, was sie den ganzen Tag tun, aber ich habe eine gewisse Vorstellung. Mir blutet das Herz als er mir all das erklärt und wieder einmal wird mir bewusst, wie dankbar ich dafür sein muss, eine so wohlbehütete Kindheit gehabt zu haben.
Ich versuche den Gedanken zu verbannen, dass dieser Ort für Cody dieselbe Einbahnstraße sein könnte, wie für mich. Inständig hoffe ich, dass es nicht so sein wird, denn der Junge ist clever und bekommt seine Ferienaufgaben mit einigen Erklärungen von mir allein vervollständigt. Mathematik macht ihm nach einer Weile sogar riesigen Spaß, als er den Dreh raus hat.

            Absichtlich habe ich meine Tür offen stehen lassen, um den gestellten Wecker besser hören zu können. Nun klingelt er laut schallend zu meinem Schichtbeginn. Der Boden, auf dem wir nun schon seit einer Weile sind, ist ziemlich hart und vom langen Sitzen tut mir der Hintern weh.
>Den Rest bekommst du sicher allein hin. Ich muss jetzt zur Arbeit. < erkläre ich Cody.
>Wo hast du denn deine Arbeit? < will er wissen.
>Siehst du das Diner da drüben? Da kellnere ich. <
Er runzelt die Stirn und blickt dann wieder zu mir.
>Obwohl du so gut rechnen kannst? <
Ich grinse und kann ihm dafür keineswegs böse sein. Er ist eben ein Kind und verstehen könnte er meine Lage sowieso nie.
>Ja, aber eigentlich wollte ich etwas ganz anderes machen. Also erledige lieber immer deine Hausaufgaben. < erwidere ich und zwinkere ihm zu. Dann gehe ich in mein Apartment, stelle den lärmenden Wecker aus und ziehe mir meine Uniform und die schwarzen Pumps an. Mein Bein betupfe ich etwas mit dem Make-up und verstecke somit wieder alle Zeichen meines alten Ichs.
Im Spiegel rede ich mir hoffnungsvoll zu, dass ich auch heute wieder relativ gut und unbeschadet durch den Nachtdienst kommen werde.
Als ich in meinem Dress aus der Tür trete und sie abschließe, wünscht mir Cody viel Spaß. Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, laufe ich auf die andere Seite des Parkplatzes, um Debra abzulösen.
Ich habe das Lokal noch nicht mal betreten, da höre ich schon, wie sie sich zum wiederholten Male mit Mitch streitet. Das ist leider vollkommen normal und es ist meiner Chefin nicht mal peinlich, wenn die Gäste das Gezanke mitbekommen.
Beim Eintreten fällt mir sofort Ed auf. Er grinst mich breit an und prostet mir mit seiner Kaffeetasse zu. Auf den ersten Blick sind einige Gäste in dem Lokal, die sich mal wieder auf der Durchreise hierher verirrt haben. In den meisten Fällen erkennt man es daran, dass die Leute allein an einem großen Tisch oder an der Bar sitzen. Am Wochenende scheinen allerdings viele Familienausflüge zu sein und das Lokal ist so wie letzte Woche zu dieser Uhrzeit gefüllter. Offensichtlich wollen die Eltern ihren Kindern die Nationalparks in der Nähe zeigen. Manchmal würde ich ihnen gern ins Ohr flüstern, dass sie lieber noch fünfzehn Minuten weiter Richtung Stadt fahren sollten, anstatt hier zu essen.
Diese Tageszeit ist mir am Wochenende noch die Liebste, denn an den anderen Tagen und besonders zu den späten Stunden, brauche ich ganz sicher keine glückliche Familie zu erwarten. Ich habe in kürzester Zeit gelernt Scheuklappen zu tragen und nehme die sonstigen Leute hin, die normalerweise das Lokal betreten.
Aus der Küche kommt das Gekeife von Mitchel und Debra noch lauter heraus und um die beiden Streithähne zu beruhigen, gehe ich dorthin und mische mich ein.
>Was ist denn schon wieder los? < frage ich.
Mit einem drohenden, erhobenen Zeigefinger fuchtelt meine Chefin vor Mitchel herum und motzt:
>Dieser Idiot hat schon wieder die Bestellungen durcheinandergebracht. <
>Weil kein Mensch deine Schrift lesen kann. < verteidigt sich unser junger Koch. Da muss ich ihm zustimmen, denn ihre Hieroglyphen sorgten schon an so manchem Tag für Verwirrung. Ich bin bereits entnervt, noch ehe ich überhaupt nur einen Finger in diesem Schuppen gerührt habe und gehe wieder nach vorn zu meinem Arbeitsbereich. Sofort geht meine Hand zu der Kaffeekanne, aber die ist komplett leer. Eigentlich soll es ein fließender Übergang zwischen den Schichten sein, aber wirklich funktionieren tut das bisher nicht. Also koche ich erst mal neuen Kaffee. Stöhnend kommt Debra aus dem hinteren Raum nach vorn, stellt sich neben mich und fummelt in ihrer Schürze herum.
>Hier dein Trinkgeld von gestern Abend. < erklärt sie kurz angebunden und legt es auf den Tisch. Ich schiebe die Münzen und Scheine von links nach rechts und zähle sie zusammen. Debra betrügt mich, ich weiß es!
Sie sackt sich das meiste andere Geld ein aber leider kann ich es ihr nicht beweisen. Sobald das Geld in der Trinkgeldkasse landet, komme ich dort ohne Schlüssel nicht mehr ran. Allerdings rechne ich abends im Kopf zusammen, wie viel Geld ich extra bekam und das, was Debra mir am nächsten Tag gibt, kann niemals die Hälfte von unseren gemeinsamen Almosen sein.
Wäre ich nicht auf diesen Job angewiesen, dann würde ich sie zur Rede stellen und ihr deshalb Feuer unter dem Hintern machen. Mir bleibt aber nichts anderes übrig, als es stillschweigend zu nehmen und wegzustecken.
>Ich bleibe noch zehn Minuten. < verkündet sie, obwohl sie doch normalerweise auf die Minute genau verschwindet, sobald ihre Schicht um ist. >Ich halte hier vorn die Stellung. Kannst du mal schnell das Klo saubermachen? <
Irritiert sehe ich sie an.
>Du willst, dass ich die Toiletten putze? Was ist mit der Putzfirma? <
>Einsparungen. < erwidert sie knapp. Und wo genau gehen diese Einsparungen hin? Ganz sicher nicht in mein Gehalt oder in eine bessere Qualität der Lebensmittel. Ich hätte es verstanden, wenn sie sich statt der alten Putzfirma eine Neue gesucht hätte, aber sie völlig abzubestellen, halte ich für eine ziemlich schlechte Idee.
Bei dieser Anweisung beiße ich mir auf die Lippe, aber schließlich schnappe ich mir ein Paar Handschuhe und beseitige nun auch noch den Dreck von Anderen, der nicht nur auf den Tischen oder auf dem Boden liegen bleibt.
Ich versuche mich von dieser tiefen Verbitterung nicht zu sehr übermannen zu lassen und knie mich ernsthaft über die Toiletten.

            Sobald ich die Drecksarbeit erledigt habe, streife ich die Gummihandschuhe ab, werfe sie direkt in den Müll und wasche mir trotzdem noch dreimal die Hände.
>Na wurde ja Zeit. < murrt Debra mich an. >Das waren mehr als zehn Minuten. <
>Hättest du es besser gefunden, wenn ich mittendrin aufgehört hätte oder willst du nun, dass es sauber ist? <
>Ich will, dass es sauber ist und ein bisschen schneller geht. Das ist immerhin mein Feierabend. <
Am liebsten würde ich loslachen. Mein Feierabend verschiebt sich schließlich jedes Mal und ich nehme es stillschweigend hin. Die Nacharbeiten, die ich im Dienst habe, erledigt meine Chefin in ihrer Schicht nämlich nicht.
Debra holt ihre Tasche unter dem Tresen hervor, schwingt sie sich über die Schulter und läuft plötzlich völlig gut gelaunt aus dem Lokal.
>Miststück. < zische ich ganz leise vor mich hin. Der Kaffee ist inzwischen durchgelaufen und wird nur noch warmgehalten. Ich gehe meine übliche Runde und schenke den Gästen nach, falls sie es wollen.
Jedes Mal, wenn ich an Ed vorbeilaufe, muss ich grinsen. Inzwischen macht er immer Pfeile bei seinen Kreuzworträtseln an die Seite, bei den Fragen, die er nicht weiß. Er hofft, dass ich ihm ein paar Antworten geben kann und das hält mich geistig immerhin fit. Bei meinem Dinerjob würde ich ohne meinen Lieblingsgast nach geraumer Zeit verblöden. Ich brauche irgendetwas, das mich fordert.
Die Eingangstür klingelt, als sie jemand öffnet und ich sehe dabei überrascht zu einem jungen Kerl. Ich bin nicht besonders gut darin das Alter von Personen zu schätzen, aber er sieht so aus, als wäre er noch nicht volljährig. Er hat außerdem einen lustigen Kleidungsstil und kann demnach nicht von hier kommen. Seine Augen wandern durch das Diner und bleiben an mir hängen.
Offensichtlich will er etwas fragen, denn er hält ein paar Zettel in der Hand. Wir laufen aufeinander zu.
>Hi, willkommen in Deb´s Diner. Brauchst du nur einen Tisch für dich oder kommt noch jemand dazu? < rattere ich meinen bescheuerten Text mit diesem bescheuerten Namen hinunter.
>Nein, ich wollte nichts bestellen. Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich die hier aufhängen kann. < er hält mir einen der Zettel in seinem Arm vor die Nase, den ich ihm abnehme. Darauf steht, dass er privat Computerkurse anbietet und welche Kategorien man wählen kann. Vom kleinen 1 mal 1 bis zum Fortgeschrittenenkurs. >Aber ich glaube, ich bin hier etwas falsch. < ergänzt er und sieht sich im Diner um. Mir geht bei diesem Angebot jedoch nur eines durch den Kopf. Es gibt Dinge, die mir auch die Hunterschule nicht beibringen konnte und es heißt doch so schön: Schließt sich eine Tür, dann öffnet sich eine Andere.
>Ich kann deine Annonce an der Wand dort aufhängen. Aber du hast damit recht, dass der Zettel hier falsch hängen könnte. Die meisten Gäste bleiben nicht lange in dem Ort und die, die hier leben … ehm naja… sie geben ihr Geld eher anderweitig aus, um es gelinde auszudrücken. <
>Das habe ich irgendwie befürchtet. Ich glaube, in dem Fall nehme ich den Zettel wohl lieber wieder mit. <
Er will bereits danach greifen, aber ich ziehe ihn weg.
>Was willst du für eine Stunde haben? < will ich wissen.
>Ich dachte an 10 Dollar pro Einheit. Bisher habe ich sowas noch nie gemacht und weiß gar nicht, ob ich so etwas überhaupt gut erklären kann, aber ich will mir etwas zu meinem IT-Studium dazuverdienen. Ich würde später gern selbst mal offizielle Schulungen geben, aber bevor ich mich dazu entscheide, sollte ich vielleicht mal sehen, ob mir das überhaupt liegt. <
Er grinst etwas verschüchtert und schiebt verlegen seine Brille zurück auf die Nase.
Ich sehe ihn mir genauer an. Er trägt etwas zerwuschelte Haare, eine Brille mit breitem dunkeln Rahmen, ein Marvelshirt und ein offenes Hemd darüber. Vor mir steht ein Computernerd der Nachhilfe gibt und hierbei wittere ich eine Chance.
>Das finde ich gut. Wann hast du Zeit? < will ich wissen und gehe damit direkt in die Vollen.
Verwundert sieht er mich an.
>Ehrlich gesagt bin ich es eher gewohnt, dass die Leute in einem fortgeschrittenen Alter dabei Hilfe brauchen. Meine Oma ruft mich beinahe jede Woche wegen irgendetwas an. Ich meine… nimm es mir nicht übel, aber unsere Generation lernt das doch im Schlaf. <
Ich neige mich mehr zu ihm hin und sage deutlich leiser:
>Was Computer angeht bin ich nicht unbeholfen, aber es gibt Dinge die ich nicht weiß und da bräuchte ich einen tieferen Einblick. Ich will keine Datei umbenennen, Fotos speichern oder einen Ordner anlegen. Bei einem IT-Studium weißt du doch sicher, wie man programmiert und einen anderen PC hackt. Deine Geräte sind wahrscheinlich voll mit Datenmaterial, auf das andere Personen nicht zugreifen können. <
Er macht große Augen, schluckt schwer und fühlt sich wohl ertappt. Mir fällt auch sofort auf, wie er seine Hände an der Hose abwischt. Es ist ziemlich leicht, ihn zu durchschauen.
>Hör zu, ich will mich auf IT-Sicherheit und Forensik spezialisieren. Das, was ich zu Hause mache, ist nur zu Übungszwecken und wenn du mich deswegen bei der Polizei anschwärzen willst…<
>Quatsch nein, das ist es nicht. < unterbreche ich ihn sofort, damit er nicht noch panischer wird. Er hat sich ja schon selbst verraten, ohne dass ich nachbohren musste. >Ich zahle dir fünf Dollar mehr die Stunde, wenn du mir das Hacken zeigst. <
>Aber wozu? < fragt er skeptisch.
>Persönliches Interesse. Also, kannst du das? <
Er überlegt und sieht kurz an mir vorbei zu den anderen Gästen, aber uns wird hier vorn an der Fahndungswand niemand hören, da die Jukebox spielt.
>Ich kenne mich damit inzwischen ziemlich gut aus. Als Teenager hatte ich in der Highschool alle PCs meiner damaligen Klasse gleichzeitig heruntergefahren. Nachdem das geklappt hatte, habe ich mich privat eine Zeit lang ausschließlich damit befasst. Es ist aber auch ein Teil meines Studiums. <
>Das ist gut, denn ich will wissen wie ich das Darkweb nutze, wie ich IP-Adressen knacke, wie ich etwas decodiere und all diese Dinge. <
Schockiert sieht er sich wieder hektisch um.
>Nicht so laut, das ist illegal – also zumindest in gewisser Weise eine rechtliche Grauzone. Weshalb sollte ich so etwas in meinem Privatkurs anbieten? Ich weiß doch nicht mal wer du bist, du könntest auch ein Cop sein. <
Ich ziehe ungläubig eine Augenbraue hoch und deute dann auf meine senfgelbe Uniform.
>Glaubst du wirklich, dann würde ich hier stehen und Kaffee servieren? <
>Auch wieder wahr. < nuschelt er und überlegt schließlich. Er wirkt nervös und ich glaube, dass ich doch etwas direkt war. Offensichtlich habe ich ihn verunsichert und das war blöd von mir. Immerhin verführe ich gerade einen völlig fremden Studenten dazu, mir etwas über Cybercrime-Angriffe beizubringen.
>Entschuldige, das war bescheuert von mir. Vergiss es einfach. < rudere ich zurück und reiche ihm das Blatt Papier wieder. Ich sollte lieber wieder an meine Arbeit gehen. Allein weil ich ihn so etwas gefragt habe, könnte ich mich selbst verabscheuen. Die Verlockung war aber einfach zu groß, denn so schnell komme ich sicher nicht noch einmal an jemanden heran, der mir das zeigen könnte.
>Na gut. < sagt er überraschend. >Ich weiß wie diese Dinge funktionieren, aber wenn ich das mache, dann empfehle mich auf keinen Fall weiter. <
>Kein Problem. Wenn wir das machen, dann hast du mich auch niemals gesehen. <
>Klingt ja richtig geheimnisvoll. < erwidert er grinsend.
Geheimnisvoll ist gut und es ist noch besser, dass er deswegen so herumdruckst. Hätte er sofort bereitwillig zugestimmt, dann wüsste ich, dass er nicht der Richtige für mich ist. Da er allerdings sehr leise und unsicher bei dem Thema ist, ist mir klar, dass er sich perfekt mit diesen Dingen auskennt und auch weiß, wie kleinkriminell das Vorhaben ist und wie schnell es weiter abdriften kann.
>Dann sind wir uns in diesem Punkt einig. Ich habe aber keinen eigenen Laptop. Dafür muss ich wohl noch etwas sparen. <
>In dem Fall mache ich dir einen Vorschlag. Ich mache das sowieso bei mir zu Hause. Es ist gleich das zweite Haus auf der linken Seite hinter dem Ortseingang.
Dann zeige ich es dir auf meinen Geräten, denn da ist die Software ohnehin schon installiert. <
Bisher habe ich zwar noch nicht darauf geachtet, welche Häuser dort stehen, aber ich weiß, dass es nicht weit ist.
>Okay, meine Schicht startet jeden Tag 17 Uhr. Wann kannst du? < will ich wissen. Er erklärt mir, dass er bis auf mittwochs immer ziemlich lange Uni hat, aber da er bisher noch niemanden sonst für seinen Privatkurs hat, habe ich Glück und er kann mir etwas anbieten, damit es für uns beide passt.
Henry erklärte mir mal in einem Kurzverfahren, wie ich eine Person finden könnte, die nicht gefunden werden will. Es beginnt mit Kreditkartenabrechnungen und den letzten Log-In-Daten. An diese Dinge muss ich aber erst einmal herankommen.
>Also dann sehen wir uns jeden Mittwoch 13 Uhr. Bei einigen Kleinigkeiten, bei denen ich mir noch nicht ganz sicher bin, könnte ich meinen Professor um Details bitten. Aber da es recht heikel ist, was ich dir da beibringen werde, würde ich es für 20 Dollar die Stunde machen. <
>Du kannst knallhart verhandeln. < lache ich und lasse mich gern darauf ein. Unter den derzeitigen Bedingungen ist das für mich zwar viel Geld, aber es ist gut angelegt und es bringt mich näher an mein Ziel heran. >In Ordnung. Bin dabei. <
Verlegen schiebt er seine Brille hoch und ist in seinem Verhalten irgendwie niedlich. Er nimmt den Zettel aus meiner Hand, reißt seine Telefonnummer ab und reicht sie mir, um den Rest der Annonce wieder einzustecken. Den anderen Personen in diesem Ghetto will er ganz offensichtlich keinen Kurs anbieten.
>Falls du dich verfahren solltest, dann ruf kurz durch. < erklärt er.
>Danke, aber ich werde dich sicher finden. In der Gegend bin ich öfter.  <
>Okay, das ging ja schneller als gedacht mit meinem ersten Interessenten. Ich bin übrigens Robert, aber du kannst mich Rob nennen. < lacht er und schiebt zum wiederholten Male seine Brille hoch.
In dem Moment als wir die Hand des anderen drücken, habe ich endlich wieder einen Hoffnungsschimmer. Vielleicht komme ich meinem Ziel dadurch endlich näher.
Kurz darauf verschwindet er aus dem Diner.
Ich hatte ihm noch einen Kaffee angeboten, aber er sah sich noch einmal in dem Lokal um und sagte höflich, dass er jetzt weiter müsse. Immerhin eine nette Lüge, die ich ihm nicht einmal verübeln kann. Wäre ich er, dann würde ich auch von hier verschwinden wollen.
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