Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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02.08.2019
5.108
Kapitel 37 – Plan B
Als ich am nächsten Morgen wach werde, weiß ich überhaupt nicht wie ich eigentlich in mein Bett gekommen bin. Ich glaube, es war ziemlich spät. Welches Eishockeyteam hat eigentlich gewonnen? Selbst das scheine ich nicht mitbekommen zu haben. Ich ziehe die Decke etwas runter und sehe, dass ich meine Klamotten noch an habe. Bin ich einfach schlafwandelnd in das Bett gefallen?
Müde richte ich mich auf und dehne mir den Nacken. Heute klingelt kein Eulenwecker und auch niemand machte mich nachts wach, wie es Ruby öfter tat. Ich kann mich nicht mal daran erinnern etwas geträumt zu haben. Das ist immerhin gut, denn das wühlt mich sonst nur wieder innerlich auf.
Eine Weile rolle ich mich noch hin und her, weil es so gemütlich ist, aber schließlich schnappe ich mir saubere Klamotten und mache mich im Badezimmer fertig. Meine Nase ist durch das gestrige Eis abgeschwollen und sieht fast normal aus. Die Beule über meiner Augenbraue ist dafür leider etwas blau geworden, aber ich wuschele einfach den Pony darüber.
Auf dem Weg in die Küche höre ich klappernde Geräusche.
>Na Dornröschen. < sagt Sam, als ich um die Ecke komme. Er hebt seine Kaffeetasse an die Lippen.
>Morgen. Dass du vor mir wach bist, ist aber eher selten. <
>Ich hätte auch locker noch weiterschlafen können, aber dann wäre ich wohl erst am Nachmittag aufgestanden. Irgendwie habe ich noch einen totalen Jetlag. Diese Zeitverschiebung ist nichts für mich. < mault Sam müde.
>Dann schlaf doch einfach weiter. <
>Nein, ich muss wieder in meinen Rhythmus hineinkommen. Heute Nacht habe ich einen Job und ich muss noch etwas Vorarbeit leisten. <
Er greift hinter sich und reicht mir eine gefüllte Tasse, mit mehr Milch als Kaffee drin.
>Danke. Weißt du, dass es meine Mum in all den Jahren nie hinbekam, mir die richtige Mischung zu machen und du hast das in ein paar Tagen draufgehabt? <
>Kochen ist vielleicht nicht mein Spezialgebiet, aber dafür kann ich Kaffee machen. < erwidert er und grinst verschmitzt. >Willst du was frühstücken? <
Ich sehe hinter ihm auf die Uhr. Es ist 11:30 Uhr. In jedem Hotel wäre das Frühstücksbüfett seit mindestens einer Stunde geräumt.
>Klar doch. < erwidere ich unbefangen und will ihm dabei helfen. >Wie bin ich gestern eigentlich ins Bett gekommen? Ich weiß überhaupt nichts mehr. <
Sam lacht und erwidert:
>Kurz nach der Halbzeit warst du nicht mehr ansprechbar. Ich habe kurzzeitig überlegt, ob ich dich einfach so liegenlassen soll, aber dein Kopf lag auch halb auf mir und irgendwann wurde es unbequem. Du bist nicht mal wach geworden, als ich dich in dein Bett getragen habe. <
>Okay, das erklärt einiges. Und ich dachte schon, ich werde allmählich zerstreut. <
>Du bist nur ziemlich erschöpft und das zu Recht. <
Damit hat er nicht Unrecht. Bisher habe ich in meinem Leben noch nie etwas Extremeres getan als das.
Als ich gerade das Besteck aus dem Schubfach hole, greift er an mein rechtes Handgelenk und dreht es vor seinen Augen.
>Deine Handschuhe müssen runter. Die haben es hinter sich. <
>Stimmt. Die mussten gestern ziemlich was aushalten. <
Als ich das sage, verdunkelt sich Sam's Blick und er kaut auf seiner Wange herum.
>Sollen wir darüber nochmal sprechen? Gestern war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt. <
>Nein! < sage ich schärfer als ich es beabsichtigt hatte. >Ich meine … es ist alles okay und es ist nicht nötig, das Ganze nochmal aufzurollen. <
>Na schön. < sagt er achselzuckend und setzt sich an den Tisch.
Es ist nicht alles okay, denn ich habe verdammt nochmal meine Trainerin angegriffen. Ich muss es ihm sagen, bevor es ihm Henry sagt oder Cataley selbst. Sie wird jedoch die Wahrheit verdrehen, das ist mir klar. Umso dringender sollte er es von mir erfahren.
>Eine Sache wäre da vielleicht doch. < setze ich leise an und würde am liebsten im Boden versinken.
>Die wäre? < In dem Moment klingelt sein Handy und er zieht es aus seiner Hosentasche. >Sorry Kleines, da muss ich rangehen. <
Er steht auf und verschwindet in eins der anderen Zimmer. Puh, okay ein paar Minuten habe ich gewonnen. Wie fange ich das jetzt an? „Tut mir leid, ich bin ausgetickt, weil sie eine blöde Kuh ist“?
Ich höre wie Sam eindeutig etwas auf Russisch sagt. Inzwischen hat er einige Russen kennengelernt und das könnte wohl jeder sein.
Eine Weile lang sitze ich alleine am Tisch und nippe nur gelegentlich an meinem Kaffee. Ich will nicht ohne ihn essen, also warte ich.
Nach etwa zehn Minuten ist er zurück und erklärt mir, dass es tatsächlich jemand aus Sankt Petersburg war. Einer von Sam's schwarzen Liste wurde erwischt und aus dem Weg geräumt.
>An diesem Kerl war ich unter anderem die letzten zwei Wochen dran, aber er war nie dort, wo er sein sollte. Entweder hat er jedes Mal kurz vorher seine Meinung geändert oder es gab einen Maulwurf, der ihm gesteckt hatte, dass er auf keinen Fall zu einer bestimmten Uhrzeit an diesen Ort gehen soll. <
>Und jetzt haben ihn vor Ort welche erwischt? < will ich wissen.
>Exakt. Sie schicken mir sämtliche Unterlagen per E-Mail. Immerhin kann ja jeder behaupten, eine Person gekillt zu haben und derjenige läuft trotzdem noch putzmunter herum. <
>So wie ich meinst du? <
Verschmitzt grinsend nickt er.
>Jedenfalls ließen sie es mich wissen, dass sie ihr Geld haben wollen, sobald ich die Unterlagen durchgesehen habe. Wir kennen uns noch nicht lange und die Skepsis bei einer kurzfristigen Zusammenarbeit und den daraus resultierenden höheren Summen ist nicht selten. Es wurden schon viele Leute bei bedeutenden Deals gelinkt, aber noch nie war ich in der Position, dass ich jemanden linken könnte, weil ich nie zuvor einen Deal mit anderen Personen gemacht habe. Was das angeht, war ich über Dimitrijs Gesellschaft dankbar. Wenn ein Amerikaner alleine dort aufgekreuzt wäre, hätte mir wohl kaum einer getraut. <
>Also war ihnen die Bürgschaft von einem ihrer Landsleute Grund genug, dir zu vertrauen? <
>Ja offensichtlich und das ist das Beste, was mir passieren konnte. <
Er setzt sich wieder zu mir und wir frühstücken gemeinsam.
>Was ist, wenn jemand dein Gespräch mit angehört hat? < will ich wissen. Denn das ist kein Prepaidhandy, das er da benutzt hat.
>Das ist ziemlich ausgeschlossen. Wenn du dir irgendwann ein Handy zulegst – und irgendwann wirst du eines brauchen, dann lass dir eine Verschlüsselungssoftware raufspielen. <
>Ah ja, davon hatte Nigel schon geredet. <
>Ansonsten nimm ein Wegwerftelefon und werde es möglichst bald nach dem Gespräch los. Und den Rest kennst du. Achte auf Hintergrundgeräusche, wenn die andere Leitung womöglich nicht sicher ist und rede nicht über Details. <
Das war so ziemlich eines der ersten Dinge, die ich von Sam gelernt habe und ich nahm sie mir immer mehr zu Herzen.
>Was wolltest du vorhin eigentlich sagen? < fragt er und beißt von seinem Brötchen ab.
>Ohh … keine Ahnung. War wohl nicht so wichtig. < erwidere ich grinsend. Das ist sogar verdammt wichtig, ich habe nur nicht den Arsch in der Hose, es ihm zu sagen.
Nach dem Frühstück räume ich alles beiseite und fülle mir eine weitere Tasse mit Kaffee. Sam sagte, er würde seine Mails checken und ist irgendwo hier im Haus. Es ist sowohl drinnen als auch draußen recht warm und die Wäsche, die ich gestern Nachmittag wusch, ist bereits trocken zum Abnehmen. Es ist gerade mal Samstag und meine Tasche ist in nur wenigen Minuten bereits wieder fertig gepackt für den Unterricht am Montag – falls ich noch Unterricht habe. Herr Gott, das kann ich nicht die ganze Zeit in meinem Kopf haben.
Um mich davon abzulenken, suche ich Sam im Haus und finde ihn in seinem Wohnzimmer. Er sitzt grübelnd über seinem Laptop und scheint zu lesen.
>Hey, hast du was dagegen, wenn ich deine Halle unsicher mache? < will ich wissen.
Er schaut verwundert auf.
>Nein eigentlich nicht, aber solltest du nicht lieber mal etwas Pause machen? Ich sehe dir dein Humpeln seit gestern an. Lass dein Bein lieber in Ruhe. <
>Das war schon viel heftiger. < erwidere ich lässig und denke nur wenige Tage zurück. Daraufhin schaut Sam allerdings etwas verärgert.
>Umso schlimmer. Lass es das Wochenende abheilen. <
Ich seufze und lasse mich aufs Sofa fallen.
Er schickt offensichtlich etwas über die Entertaste ab, zieht dann sein Telefon heraus und tätigt einen Anruf. Dieses Mal verlässt er nicht das Zimmer als ich neben ihm bin. Als offensichtlich jemand rangeht, sagt er nur zwei Wörter.
>Vse sdelano. < und legt wieder auf.
>Er ist also wirklich aus dem Weg geräumt? < frage ich, da das für mich gerade sehr wie eine Abwicklung eines Geschäfts aussah.
>Ja und sie haben mir mehr Beweise geschickt als es notwendig gewesen wäre. Ich habe sie eben auf Echtheit geprüft. Als guten Willen überweist man da lieber sofort. <
Das ist wohl auch besser so. Wer zu lange auf sein Geld wartet, greift eventuell irgendwann zu mörderischen Mitteln. Bis heute frage ich mich, wie viel Geld es eigentlich wirklich war, das mein Dad diesem Mischa De Angelis schuldete. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er die Seite schließt, auf der er offensichtlich gerade die Überweisung getätigt hat und öffnet aus dem minimierten Feld ein Fenster, das mir inzwischen geläufig ist. Seine „schwarze Liste“, die auf einem USB-Stick gespeichert ist.
>Und was stellst du so an? <
>Ich plane meinen Job für heute Abend. Das wird gar nicht weit weg von hier sein. <
murmelt er vor sich hin und sieht stupide auf den Bildschirm. Ich drehe den Kopf zu seinem Fenster und überlege etwas schwimmen zu gehen. Das hat mir die letzten zwei Wochen besonders gefehlt und ich würde sogar mein Bein schonen, was Sam offensichtlich wichtig ist. Solange ich wieder hier bei ihm bin, möchte ich diese Gelegenheit gern voll ausnutzen.
>Was, keine Fragestellrunde wer es sein wird? < feixt Sam und unterbricht die kurze Stille.
>Darf ich es denn wissen? <
>Eigentlich solltest du davon überhaupt nichts wissen, aber hat dich das denn bisher davon abgehalten zu fragen? <
Ich grinse daraufhin. Abgehalten hat mich immerhin gar nichts.
>Na schön. Also wen bringst du heute um die Ecke? <
>Bis vor kurzem hat dich mein Job noch zutiefst schockiert. <
>Das kommt mir vor wie eine Ewigkeit. < nuschle ich und lehne mich an. >Also? Wer wird es sein? <
>Josh Scofieldt – ziemlich übler Kerl. Als kleines Kind war er viel mit seiner brasilianischen Mutter alleine und wurde von ihr nicht gerade gut behandelt. Sein Vater ist Amerikaner und war häufig auf Geschäftsreise. Irgendwann trennte er sich von seiner temperamentvollen Frau, weil er offenbar trotz Abwesenheit so manches bemerkt haben muss. Seinen Sohn nahm er zwar mit, aber ihm fiel auf, dass Josh irgendwann immer seltsamere Verhaltensmuster aufwies. Im Teenageralter entwickelte er sadistische Züge und inzwischen stellt er haufenweise grausame Dinge mit Frauen an, die einem ähnlichen Typ wie dem seiner Mutter entsprechen. Ein Insider hat mir verraten, wo er heute Abend sein wird. Er ist wieder heiß darauf, jemandem Gewalt anzutun und dazu sucht er sich gern Frauen in irgendwelchen Clubs aus. Das Problem ist, dass er relativ gut durch mindestens zwei Bodyguards geschützt sein wird. Er gehört zu diesen Rich Kids und sein Vater reicht ihm die Scheine rüber. Der ist nach wie vor geschäftlich viel unterwegs und kümmert sich nicht um die Angelegenheiten seines Sohnes. Offensichtlich bezahlt er seine Angestellten, dass sie weggucken, sobald Junior krumme Sachen abzieht – vorausgesetzt er weiß überhaupt etwas davon. <
>Wie alt ist er denn, wenn du „Rich Kid“ sagst? <
>Inzwischen fünfundzwanzig aber er lebt immer noch von Daddys Geld. Die Frauen die er sich aussucht sind immer zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Jahren – maximal vierundzwanzig. In diesen jungen Jahren war seine Mutter, als sie ziemlich gewalttätig ihm gegenüber war. Offensichtlich hat er das noch verdammt gut im Gedächtnis und er hat ziemlich genaue Vorstellungen von dem, was er will. <
Daraufhin dreht Sam den Laptop etwas zu mir und zeigt mir seine Fallakte. Er öffnet auch die Bilder der betroffenen Frauen. Allein auf einer Seite sind acht Porträtbilder nebeneinander von Frauen meines Alters abgebildet. Sie haben verschiedene Nationalitäten – das kann ich sehen. Aber sie haben alle eine Gemeinsamkeit. Der Hauttyp ist eher dunkel, sowie dunkle Haare und dunkle Augen.
>Ich habe noch keine Ahnung wie ich das anstellen soll. < nuschelt Sam und schaut gedankenverloren auf den Bildschirm. >Er wird heute Nacht voraussichtlich in diesen Club gehen. Draußen vor dem Eingang kann ich ihn nur schwer erwischen, da er von den Bodyguards geschützt sein wird und drinnen sind zu viele Menschen. Ich muss Scofieldt direkt im Club von ihnen abschotten und ihn irgendwo hinlocken, um ihn umzubringen. Oder vielleicht schaffe ich es doch noch irgendwie vorher, ihn von den Typen zu trennen, bevor er den Club betritt. Aber wie soll ich das anstellen, ohne dass die Kerle zu viel mitbekommen oder sie selbst dabei draufgehen? Ich ziehe für gewöhnlich niemanden mit hinein, der nicht auf meiner Liste steht. Das ist dieses Mal echt scheiße. <
Ich drehe den Laptop etwas weiter zu mir und sehe mir Scofieldts Gesicht an. Danach überfliege ich seine Akte. Er schnappt sich den dunklen Frauentyp, um sie zu schlagen, zu vergewaltigen und manchmal sogar umzubringen. Drei Frauen haben seine Taten überlebt und ihn angezeigt. Da er aber über die richtigen Mittel wie Geld und Einfluss verfügt, wurde alles mal wieder fallen gelassen. Die Frauen wurden für unzurechnungsfähig erklärt als sie sagten, dass sie zuletzt mit Scofieldt unterwegs waren. Danach konnten sie sich an nichts mehr erinnern, aber waren schlimm zugerichtet. Niemand glaubte ihnen oder wollte es einfach nicht glauben. Ich lese mir ihre Namen durch. Cláudia Rocha, Vivien Calvalho und Namula Azikiwe. Sie sind der gleiche „exotische“ Typ wie auch die anderen Frauen, die er auf dem Gewissen hat.
>Also geht es nur darum, ihn irgendwo hinzulocken, wo du mit ihm alleine bist? < frage ich.
>Exakt. Aber das wird nicht gerade leicht. Es ist nicht so, dass der Club dafür nicht auch seine Möglichkeiten hätte. Hier schau! < Sam minimiert die digitale Akte und öffnet eine Skizze, die noch nicht allzu viel Sinn für mich ergibt. >Das ist der Grundriss von dem Club. Seine übliche Vorgehensweise ist es, mit dem nächsten Opfer in einen dieser VIP-Räume zu gehen. Er hat genug Geld und kommt dort hinein, auch wenn alle gleichzeitig besetzt sein sollten. Dort spendiert er der auserwählten Frau einen Drink, der allerdings mit K.o.-Tropfen vollgepumpt ist. Entweder nimmt er sein bewusstloses Opfer mit sich und verschleppt sie über die Hintertür an eine abgelegene Stelle oder er nutzt direkt den VIP-Raum für seine Perversität. Wenn ich ihn nur irgendwie dort hinein bekäme, dann wäre das kein Problem, ihn umzubringen und über die Hintertür abzuhauen. Seine Bodyguards stehen immer brav vor der Vordertür. <
Ich sehe mir den Grundriss genauer an. Dort erkenne ich die einzelnen VIP-Räume, in die man sich zurückziehen kann. Ich dachte immer, dass dort wird heimlich gekokst wird aber offensichtlich geht es weitaus schlimmer zu. Jeder einzelne Raum hat nach hinten hin eine zweite Tür.
>Und das sind die Hinterausgänge? < frage ich und zeige darauf.
>Ja. Ich habe sie mir schon angesehen. Sobald man dort rauskommt, landet man nur in einer Gasse. Da ist an sich rein gar nichts, außer ein paar Müllcontainern, kaputten Flaschen und Erbrochenem. Von dort aus komme ich unauffällig zu meinem Auto zurück, aber das ist im Prinzip auch egal. So gut diese Option auch wäre, das bekomme ich nicht hin, also muss ich es irgendwie innerhalb des Clubs machen. Ich habe auch schon mehrfach mit Gift gearbeitet – vielleicht komme ich an seinen Drink ran. <
>Und wenn du mich mitnimmst? < wende ich ein.
>Was? < keucht er. >Wie kommst du denn auf die Idee? < Kommentarlos nehme ich seinen Laptop in die Hand, öffne das Fenster mit den Frauen, die auf Scofieldts Rechnung gehen und halte ihn genau neben mich. >Ist dir klar, dass du genau sein Beuteschema wärst? <
>Eben! Ich kann ihn von seinen Handlangern weglocken, wenn wir in diesem Raum sind. Dann hast du ihn da wo du ihn haben willst. <
Sam sagt nichts, sein Mund ist nur etwas heruntergeklappt und er starrt mich an.
>Du würdest mir dabei helfen einen Menschen umzubringen? < fragt er ungläubig.
>Wenn man es genau nimmt, dann bin ich nur die Falle. Ich fasse ihn ja nicht an. <
Er grinst schließlich, aber schüttelt den Kopf.
>Kleines, ich bewundere deinen Ehrgeiz, aber ich will nicht, dass du so etwas siehst und ich kann nicht für deine Sicherheit garantieren. <
>Das musst du auch gar nicht. Ich kann auf mich selbst aufpassen. <
>Auf gar keinen Fall spielst du für mich einen Lockvogel! <
>Wo genau ist der Unterschied, ob ich die Täter später an die Behörden ausliefere oder an dich? <
Daraufhin presst er seine Lippen aufeinander und sagt nichts mehr. Erwartungsvoll ziehe ich die Augenbrauen hoch und grinse ihn an. Na los, nimm mich mit!
>Du bist nicht ausgebildet und ich setze dich nicht so einer Gefahr aus. Er wird sich die Finger nach dir lecken und du hast eben seine Akte gelesen. <
„Du bist nicht ausgebildet“ – da hat er wohl recht. Mein Grinsen schwindet und mir ist klar, was er damit meint.
>Sam … glaube mir, ich habe wirklich alles versucht um eine Stufe aufzurücken. < erwidere ich leise und lasse den Kopf sinken. Dieser Kampf gestern war eine Tortur und für einen Moment lang dachte ich trotzdem, dass ich ihm heute von Nutzen sein könnte, aber der Boden der Tatsachen kann ziemlich hart sein.
>Was? Nein, das meinte ich damit überhaupt nicht. Aber du würdest allein mit diesem Typen in diesem Raum sein – zumindest eine kurze Weile. Glaubst du, du wirst mit ihm fertig, wenn er dich angreift? Ich kann dir vielleicht erst helfen, wenn er bereits Hand an dich angelegt hat. < zischt er.
>Die Tatsache, dass er K.o.-Tropfen in einer hohen Dosis benutzt, zeigt, dass er eigentlich unfähig ist, eine der Frauen durch eigene Kraft zu überwältigen. Er braucht das Zeug, weil er sie anders nicht in eine Lage bekommt, in der er die Macht über sie hat. Demnach darf ich nur einfach nichts von dem trinken, was er mir gibt. <
Sam sieht daraufhin ziemlich verblüfft aus, aber fängt sich schnell wieder.
>Interessante und clevere Denkweise Kleines. Aber ich bleibe dabei. Der Verlust deiner Familie ist zu frisch. Glaubst du ich will, dass du siehst, wie vor dir jemand stirbt und glaubst du ich will, dass du mich so siehst? Was ist, wenn du danach wieder schreiend vor mir wegläufst? <
>Was ist wenn nicht? <
Erneut schüttelt Sam seinen Kopf vehement, nimmt den Laptop aus meinen Händen und sagt:
>Auf keinen Fall. Du bleibst hier. <
Ich hatte ernsthaft für eine Sekunde gehofft, er würde diese gute Möglichkeit in Betracht ziehen. Nur leider hält er mich für unfähig mit diesem Kerl alleine klarzukommen. Wie soll ich es ihm auch verdenken? Vielleicht wäre es anders, wenn er gestern gesehen hätte wie ich gewinne, statt zu verlieren. Ich stehe geknickt auf und verlasse sein Zimmer. Vielleicht ist es ja sogar besser so und ich sollte lieber warten. Immerhin hänge ich an meinem Leben – auch wenn nicht mehr viel davon übrig ist.
In meinem Zimmer schnappe ich mir einen Block und lese ein bisschen meine Aufzeichnungen durch. Mehrfach bleibe ich an den gleichen Passagen hängen, die wir in Kriminalistik hatten. Es ist der Teil, ab wann ein normaler Mensch zum Täter wird – die äußeren Einflüsse versus die Gene. Der Fall den Sam heute Abend hat, der lässt mich irgendwie nicht los. Dieser Josh Scofieldt rächt sich in gewisser Weise an seiner Mutter, indem er Frauen misshandelt, die ein ähnlicher Typ sind, wie sie. Wäre sie eine bessere Mutter gewesen, könnte er dann ein vollkommen normaler Mensch sein? Ich lese mir auch die folgenden Seiten durch, obwohl ich sie auswendig kenne. Nach wie vor finde ich diese Thematik trotzdem ziemlich spannend.
Sobald ich die nächste Seite aufschlage, klopft Sam an die angelehnte Tür an und kommt hinein. Ich sehe zu ihm auf und lasse meinen Block sinken.
>Du wolltest doch vorhin in meine Halle. Na los, komm mit! <
>Und ich dachte, du wolltest, dass ich es an diesem Wochenende bleiben lasse. <
>Willst du, dass ich es mir anders überlege? < fragt er grinsend. Daraufhin werfe ich den Block auf mein Bett und springe auf. Er feixt bei meinem Aufbruch und läuft bereits vor. Vielleicht lässt er mich an seinen Boxsack oder ich finde schon irgendwas anderes mit dem ich mich beschäftigen kann. Er wird sicherlich noch eine Weile über seinem Laptop verbringen und überlegen, wie er sein heutiges Problem am besten bewerkstelligt. Sam ist schon durch die Tür, als ich ihm hinterherlaufe.
>Weshalb konnte den drei Mädels eigentlich nicht geholfen werden? Wenn sie Substanzen im Körper hatten, dann muss man das doch nachweisen können, oder? < frage ich ihn auf dem Weg zu seiner Halle.
>K.o.-Tropfen sind ein mieses Zeug. Sie sind nach 6 bis 12 Stunden nach dem Verabreichen nicht mehr nachweisbar. Es dauert eine Weile bis man wieder zu sich kommt und das eigentliche Problem ist, dass man sich an nichts mehr erinnern kann. Bis die Opfer also auf die Idee kommen, dass ihnen etwas angetan wurde, findet man den Stoff weder im Urin noch im Blut. Die Tropfen haben an Beliebtheit zugenommen, insbesondere in Clubs. Sie sind so schnell in einem Getränk gelandet, dass man es nicht mal mitbekommt und sie schmecken nach nichts. <
>Ivan aus meiner Schule hat mir einen Drink ausgegeben und ziemlich akribisch darauf geachtet, dass mir nichts in meinem Glas landete. Das Zeug scheint schon eine gewisse Bekanntheit zu genießen. <
>Höhere Stufe? < fragt Sam kurz angebunden, als er das Schloss öffnet.
>Hmm … < summe ich und kann dieses „höhere Stufe“ und „niedrige Stufe“ nicht mehr ertragen. Es degradiert einen irgendwie.
Wir betreten gemeinsam die Halle, in der es fast so warm wie draußen ist. Ich sehe mich um und überlege, was ich anstellen könnte. Das letzte Mal hatte ich sogar Bandagen für die Hände gefunden.
>Komm her Kleines! Wollen wir mal sehen, was Lukaz bei dir herausgekitzelt hat. <
Als er das sagt, drehe ich mich stirnrunzelnd zu ihm um.
Sam hält etwas in seiner Faust, das ich erst nicht sehen kann. Aber dann hebt er provokativ den Arm und lässt aus seiner Hand ein Stück Stoff herunterbaumeln.
>Hast du vor mich zu fesseln? < frage ich grinsend.
>Nicht heute. < lacht er auf. >Na los dreh dich um. Ich will wissen was du kannst. <
>Ich soll mit dir trainieren? Hast du keine Lust mehr auf deine Fallakten? <
>Nein, ich brauche mal den Kopf frei. Meistens kommen danach die guten Ideen. <
Das Phänomen kenne ich auch. Sam ist allerdings ein Gegner für mich, gegen den ich sowieso keine Chance habe. Lukaz ist für mich schon der Endgegner, aber dann auch noch Sam?
Trotzdem drehe ich mich achselzuckend von ihm weg und er kommt zu mir gelaufen. Vor meinem Gesicht senkt sich ein Schatten und bedeckt schließlich vollständig meine Augen. Das kenne ich schon und es ist nicht gänzlich dunkel. Allerdings ist der Stoff an den Wimpern unangenehm und ich schließe meine Augen einfach. Das letzte Mal sorgte es für eine bessere Konzentration. Die brauche ich im Moment so sehr wie selten, denn ich will vor Sam nicht panisch werden. Cataley hat mir gestern zugesetzt, wegen dieses „Spiels“ und das einfach nur, weil es dunkel war und ich angegriffen wurde. Das darf sich nicht vor Sam wiederholen. Ich spüre den Druck an meinem Hinterkopf, als er die Enden verknotet.
>Weißt du was du tun musst? < fragt er leise. Ich nicke und versuche mir den Schauer nicht anmerken zu lassen, weil er die Frage so dicht gegen mein Ohr gehaucht hat. Normal weiteratmen sage ich mir wieder selbst und rufe mir ins Gedächtnis, dass hier drin nur Sam und ich sind. Mein Kopf dreht sich etwas zu ihm ein, denn ich glaube er geht um mich herum. Was mir allerdings sofort auffällt ist, dass er sich sogar noch leiser bewegt als Lukaz. In dieser Halle ist der Boden aus Sand, statt aus Beton und dadurch höre ich seine Schuhe nicht schleifen. Lediglich das kaum wahrnehmbare Verdrängen der Sandkörnchen ist zu erahnen. Ich warte ab und versuche ihn nicht nur zu hören, sondern seine Bewegungen um mich herum zu spüren. Das muss jetzt funktionieren und ich darf mich nicht in die Knie zwingen lassen.
Ein paar Sekunden später greift er an und ich habe es gewusst. Demnach konnte ich ihn abwehren, mich aus dem Weg ducken und ihn dorthin laufen lassen, wo ich schon längst nicht mehr stand. Er lässt mir allerdings weitaus weniger Zeit als Lukaz. Bei ihm war es so, als würde er mir immer noch einen Moment geben, um meine Sinne zu schärfen. Innerhalb von fünf Minuten bringt mich Sam ganz schön ins Schwitzen. Mir fällt sofort auf, dass er vor zwei Wochen bei unserem ersten Training zurückhaltender und netter zu mir war.
Einmal haut er mich nach hinten um, aber ich falle zumindest in den weichen Sand hinein. Es war meine eigene Schuld, weil ich mich nicht schnell genug aus seinem Griff herausgedreht habe, obwohl ich wusste, wo er war. Meine Ohren funktionieren nach etwas Eingewöhnung recht gut und ich bin nicht so hilflos wie in meiner ersten Stunde. Er greift von vorn an und ich reiße mein gesamtes Repertoire ab, um ihn loszuwerden. Als ich ihn zum wiederholten Male von mir weg habe und immerhin noch stehe, höre ich ihn leise lachen. Bin ich so lächerlich? Immerhin war das hier nicht direkt ein Kampf. Er war nicht darauf aus, mich zu verletzen, so wie es Cataley gestern in unserem persönlichen Zweikampf tat.
>Mach die Augenbinde ab! < bestimmt er. Mich ärgern einige Dinge, die ich hätte besser machen können, aber davon abgesehen, steckt nicht mehr in meinen bisherigen Fähigkeiten. Das ist alles, was ich bei Sam geben kann und im Gegensatz zu seiner Leistung, muss das schäbig aussehen.
Ich ziehe mir den zusammengeknoteten Stoff nach oben über den Kopf und drehe mich zu ihm um. Er lächelt immer noch. >Wer hätte gedacht, dass du so souverän mit der Dunkelheit umgehen kannst? <
Dabei runzle ich die Stirn. So souverän? Macht er sich jetzt wirklich über mich lustig? Mein Puls rast, als wäre ich einen Marathon gerannt.
>Im Vergleich zum ersten Mal geht es. < erwidere ich wahrheitsgetreu.
>Glaube ich gern. Und ich würde auch gern glauben, dass du dich gegen einen Angriff zur Wehr setzen kannst, wenn es jemand auf dich abgesehen hat. <
Irritiert sehe ich weiterhin zu ihm. Das tut irgendwie weh, wenn er das so sagt. Ich würde es auch gern glauben. Als ich nichts erwidere, kommt er näher, legt seinen Zeigefinger unter mein Kinn und hebt meinen Kopf dadurch an.
>Ich frage dich ganz direkt Kleines. Traust du dir das wirklich zu, dich mit einem üblen Kerl anzulegen? <
>Für diese Frage ist es zu spät, oder? < grinse ich etwas verlegen. >Immerhin bin ich mittendrin in der Ausbildung und irgendwann kommt das erste Mal, wo ich nicht drüber nachdenken darf, ob ich es mir zutraue. <
>In Ordnung. < sagt er leise und zückt ein anderes Telefon. Er stellt es an und gibt einen Pin ein.
>Was hast du vor? < frage ich verdutzt.
>Ich rufe Sophia an. Mit Jeans und Turnschuhen bekomme ich dich nicht in den Club rein. <
>Moment … was? < keuche ich, aber da wählt er auch schon und legt das Telefon an sein Ohr.
>Hey Sophia. Ich brauche deine Hilfe. Hast du ein Partykleid für Nayeli? Wir haben heute Abend etwas vor. < Er hat seine Meinung geändert? Das ist doch kein Scherz, oder? Er hat mich das ein oder andere Mal auf den Boden befördert und er hat womöglich keinen Kratzer von mir abbekommen. >Völlig egal, aber irgendetwas Einfaches, Schlichtes. Ich will nicht, dass das Kleid heraussticht, sondern sie. < er macht eine Pause und hört ihr zu. Gespannt sehe ich zu ihm, da ich irgendwie denke, dass er gleich „reingelegt“ sagt. >Okay danke, ich warte noch auf die genaue Zeit, aber ich schätze spätestens um Mitternacht müssen wir von hier weg. Dann bis später. <
Er legt auf und blickt in mein erstauntes Gesicht.
>Ist das dein Ernst? Du warst so vehement dagegen. <
>Ich bin immer noch dagegen, aber deine Einwände sind berechtigt. Scofieldt benutzt K.o.-Tropfen, weil er die Frauen wohl anders nicht überwältigen könnte und ich komme alleine einfach zu schwer an ihn heran. In der Nähe sind keine hohen Gebäude, sonst hätte ich mit einem Scharfschützengewehr auf ihn gewartet, aber nicht mal das funktioniert. Ich könnte dich daher wirklich gut gebrauchen, aber sobald etwas schiefgeht, brechen wir das sofort ab. Wir pauken den Plan gemeinsam bis ins kleinste Detail durch und du lernst den kompletten Grundriss des Gebäudes auswendig. Du tust genau was ich dir sage, kapiert? <
>Etwas anderes habe ich nicht von dir erwartet. < erwidere ich und kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. >Danke. <
Etwas widerwillig ergänzt er:
>Dir sollte klar sein, dass ich das nicht täte, wenn ich dich für unfähig halten würde – du hast ein gutes Gespür entwickelt, das hast du gerade gezeigt. Aber leider weiß ich nicht, wie du in einer solchen Situation tickst. Hoffentlich übermannt dich deine Panik nicht. Wenn dir währenddessen etwas zu viel wird, dann verzieh dich sofort. Kein Auftrag ist es wert, dass du verletzt wirst oder schlimmeres. Ich werde ihn mir, wenn nötig, ein anderes Mal holen. <
>Sam, ich bekomme das hin. < erkläre ich ihm selbstsicher. Ich will das machen – unbedingt.
>Na schön. Dann geh jetzt duschen und danach besprechen wir die Einzelheiten für deine Feuerprobe. <
Als ich am nächsten Morgen wach werde, weiß ich überhaupt nicht wie ich eigentlich in mein Bett gekommen bin. Ich glaube, es war ziemlich spät. Welches Eishockeyteam hat eigentlich gewonnen? Selbst das scheine ich nicht mitbekommen zu haben. Ich ziehe die Decke etwas runter und sehe, dass ich meine Klamotten noch an habe. Bin ich einfach schlafwandelnd in das Bett gefallen?
Müde richte ich mich auf und dehne mir den Nacken. Heute klingelt kein Eulenwecker und auch niemand machte mich nachts wach, wie es Ruby öfter tat. Ich kann mich nicht mal daran erinnern etwas geträumt zu haben. Das ist immerhin gut, denn das wühlt mich sonst nur wieder innerlich auf.
Eine Weile rolle ich mich noch hin und her, weil es so gemütlich ist, aber schließlich schnappe ich mir saubere Klamotten und mache mich im Badezimmer fertig. Meine Nase ist durch das gestrige Eis abgeschwollen und sieht fast normal aus. Die Beule über meiner Augenbraue ist dafür leider etwas blau geworden, aber ich wuschele einfach den Pony darüber.
Auf dem Weg in die Küche höre ich klappernde Geräusche.
>Na Dornröschen. < sagt Sam, als ich um die Ecke komme. Er hebt seine Kaffeetasse an die Lippen.
>Morgen. Dass du vor mir wach bist, ist aber eher selten. <
>Ich hätte auch locker noch weiterschlafen können, aber dann wäre ich wohl erst am Nachmittag aufgestanden. Irgendwie habe ich noch einen totalen Jetlag. Diese Zeitverschiebung ist nichts für mich. < mault Sam müde.
>Dann schlaf doch einfach weiter. <
>Nein, ich muss wieder in meinen Rhythmus hineinkommen. Heute Nacht habe ich einen Job und ich muss noch etwas Vorarbeit leisten. <
Er greift hinter sich und reicht mir eine gefüllte Tasse, mit mehr Milch als Kaffee drin.
>Danke. Weißt du, dass es meine Mum in all den Jahren nie hinbekam, mir die richtige Mischung zu machen und du hast das in ein paar Tagen draufgehabt? <
>Kochen ist vielleicht nicht mein Spezialgebiet, aber dafür kann ich Kaffee machen. < erwidert er und grinst verschmitzt. >Willst du was frühstücken? <
Ich sehe hinter ihm auf die Uhr. Es ist 11:30 Uhr. In jedem Hotel wäre das Frühstücksbüfett seit mindestens einer Stunde geräumt.
>Klar doch. < erwidere ich unbefangen und will ihm dabei helfen. >Wie bin ich gestern eigentlich ins Bett gekommen? Ich weiß überhaupt nichts mehr. <
Sam lacht und erwidert:
>Kurz nach der Halbzeit warst du nicht mehr ansprechbar. Ich habe kurzzeitig überlegt, ob ich dich einfach so liegenlassen soll, aber dein Kopf lag auch halb auf mir und irgendwann wurde es unbequem. Du bist nicht mal wach geworden, als ich dich in dein Bett getragen habe. <
>Okay, das erklärt einiges. Und ich dachte schon, ich werde allmählich zerstreut. <
>Du bist nur ziemlich erschöpft und das zu Recht. <
Damit hat er nicht Unrecht. Bisher habe ich in meinem Leben noch nie etwas Extremeres getan als das.
Als ich gerade das Besteck aus dem Schubfach hole, greift er an mein rechtes Handgelenk und dreht es vor seinen Augen.
>Deine Handschuhe müssen runter. Die haben es hinter sich. <
>Stimmt. Die mussten gestern ziemlich was aushalten. <
Als ich das sage, verdunkelt sich Sam's Blick und er kaut auf seiner Wange herum.
>Sollen wir darüber nochmal sprechen? Gestern war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt. <
>Nein! < sage ich schärfer als ich es beabsichtigt hatte. >Ich meine … es ist alles okay und es ist nicht nötig, das Ganze nochmal aufzurollen. <
>Na schön. < sagt er achselzuckend und setzt sich an den Tisch.
Es ist nicht alles okay, denn ich habe verdammt nochmal meine Trainerin angegriffen. Ich muss es ihm sagen, bevor es ihm Henry sagt oder Cataley selbst. Sie wird jedoch die Wahrheit verdrehen, das ist mir klar. Umso dringender sollte er es von mir erfahren.
>Eine Sache wäre da vielleicht doch. < setze ich leise an und würde am liebsten im Boden versinken.
>Die wäre? < In dem Moment klingelt sein Handy und er zieht es aus seiner Hosentasche. >Sorry Kleines, da muss ich rangehen. <
Er steht auf und verschwindet in eins der anderen Zimmer. Puh, okay ein paar Minuten habe ich gewonnen. Wie fange ich das jetzt an? „Tut mir leid, ich bin ausgetickt, weil sie eine blöde Kuh ist“?
Ich höre wie Sam eindeutig etwas auf Russisch sagt. Inzwischen hat er einige Russen kennengelernt und das könnte wohl jeder sein.
Eine Weile lang sitze ich alleine am Tisch und nippe nur gelegentlich an meinem Kaffee. Ich will nicht ohne ihn essen, also warte ich.
Nach etwa zehn Minuten ist er zurück und erklärt mir, dass es tatsächlich jemand aus Sankt Petersburg war. Einer von Sam's schwarzen Liste wurde erwischt und aus dem Weg geräumt.
>An diesem Kerl war ich unter anderem die letzten zwei Wochen dran, aber er war nie dort, wo er sein sollte. Entweder hat er jedes Mal kurz vorher seine Meinung geändert oder es gab einen Maulwurf, der ihm gesteckt hatte, dass er auf keinen Fall zu einer bestimmten Uhrzeit an diesen Ort gehen soll. <
>Und jetzt haben ihn vor Ort welche erwischt? < will ich wissen.
>Exakt. Sie schicken mir sämtliche Unterlagen per E-Mail. Immerhin kann ja jeder behaupten, eine Person gekillt zu haben und derjenige läuft trotzdem noch putzmunter herum. <
>So wie ich meinst du? <
Verschmitzt grinsend nickt er.
>Jedenfalls ließen sie es mich wissen, dass sie ihr Geld haben wollen, sobald ich die Unterlagen durchgesehen habe. Wir kennen uns noch nicht lange und die Skepsis bei einer kurzfristigen Zusammenarbeit und den daraus resultierenden höheren Summen ist nicht selten. Es wurden schon viele Leute bei bedeutenden Deals gelinkt, aber noch nie war ich in der Position, dass ich jemanden linken könnte, weil ich nie zuvor einen Deal mit anderen Personen gemacht habe. Was das angeht, war ich über Dimitrijs Gesellschaft dankbar. Wenn ein Amerikaner alleine dort aufgekreuzt wäre, hätte mir wohl kaum einer getraut. <
>Also war ihnen die Bürgschaft von einem ihrer Landsleute Grund genug, dir zu vertrauen? <
>Ja offensichtlich und das ist das Beste, was mir passieren konnte. <
Er setzt sich wieder zu mir und wir frühstücken gemeinsam.
>Was ist, wenn jemand dein Gespräch mit angehört hat? < will ich wissen. Denn das ist kein Prepaidhandy, das er da benutzt hat.
>Das ist ziemlich ausgeschlossen. Wenn du dir irgendwann ein Handy zulegst – und irgendwann wirst du eines brauchen, dann lass dir eine Verschlüsselungssoftware raufspielen. <
>Ah ja, davon hatte Nigel schon geredet. <
>Ansonsten nimm ein Wegwerftelefon und werde es möglichst bald nach dem Gespräch los. Und den Rest kennst du. Achte auf Hintergrundgeräusche, wenn die andere Leitung womöglich nicht sicher ist und rede nicht über Details. <
Das war so ziemlich eines der ersten Dinge, die ich von Sam gelernt habe und ich nahm sie mir immer mehr zu Herzen.
>Was wolltest du vorhin eigentlich sagen? < fragt er und beißt von seinem Brötchen ab.
>Ohh … keine Ahnung. War wohl nicht so wichtig. < erwidere ich grinsend. Das ist sogar verdammt wichtig, ich habe nur nicht den Arsch in der Hose, es ihm zu sagen.
Nach dem Frühstück räume ich alles beiseite und fülle mir eine weitere Tasse mit Kaffee. Sam sagte, er würde seine Mails checken und ist irgendwo hier im Haus. Es ist sowohl drinnen als auch draußen recht warm und die Wäsche, die ich gestern Nachmittag wusch, ist bereits trocken zum Abnehmen. Es ist gerade mal Samstag und meine Tasche ist in nur wenigen Minuten bereits wieder fertig gepackt für den Unterricht am Montag – falls ich noch Unterricht habe. Herr Gott, das kann ich nicht die ganze Zeit in meinem Kopf haben.
Um mich davon abzulenken, suche ich Sam im Haus und finde ihn in seinem Wohnzimmer. Er sitzt grübelnd über seinem Laptop und scheint zu lesen.
>Hey, hast du was dagegen, wenn ich deine Halle unsicher mache? < will ich wissen.
Er schaut verwundert auf.
>Nein eigentlich nicht, aber solltest du nicht lieber mal etwas Pause machen? Ich sehe dir dein Humpeln seit gestern an. Lass dein Bein lieber in Ruhe. <
>Das war schon viel heftiger. < erwidere ich lässig und denke nur wenige Tage zurück. Daraufhin schaut Sam allerdings etwas verärgert.
>Umso schlimmer. Lass es das Wochenende abheilen. <
Ich seufze und lasse mich aufs Sofa fallen.
Er schickt offensichtlich etwas über die Entertaste ab, zieht dann sein Telefon heraus und tätigt einen Anruf. Dieses Mal verlässt er nicht das Zimmer als ich neben ihm bin. Als offensichtlich jemand rangeht, sagt er nur zwei Wörter.
>Vse sdelano. < und legt wieder auf.
>Er ist also wirklich aus dem Weg geräumt? < frage ich, da das für mich gerade sehr wie eine Abwicklung eines Geschäfts aussah.
>Ja und sie haben mir mehr Beweise geschickt als es notwendig gewesen wäre. Ich habe sie eben auf Echtheit geprüft. Als guten Willen überweist man da lieber sofort. <
Das ist wohl auch besser so. Wer zu lange auf sein Geld wartet, greift eventuell irgendwann zu mörderischen Mitteln. Bis heute frage ich mich, wie viel Geld es eigentlich wirklich war, das mein Dad diesem Mischa De Angelis schuldete. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er die Seite schließt, auf der er offensichtlich gerade die Überweisung getätigt hat und öffnet aus dem minimierten Feld ein Fenster, das mir inzwischen geläufig ist. Seine „schwarze Liste“, die auf einem USB-Stick gespeichert ist.
>Und was stellst du so an? <
>Ich plane meinen Job für heute Abend. Das wird gar nicht weit weg von hier sein. <
murmelt er vor sich hin und sieht stupide auf den Bildschirm. Ich drehe den Kopf zu seinem Fenster und überlege etwas schwimmen zu gehen. Das hat mir die letzten zwei Wochen besonders gefehlt und ich würde sogar mein Bein schonen, was Sam offensichtlich wichtig ist. Solange ich wieder hier bei ihm bin, möchte ich diese Gelegenheit gern voll ausnutzen.
>Was, keine Fragestellrunde wer es sein wird? < feixt Sam und unterbricht die kurze Stille.
>Darf ich es denn wissen? <
>Eigentlich solltest du davon überhaupt nichts wissen, aber hat dich das denn bisher davon abgehalten zu fragen? <
Ich grinse daraufhin. Abgehalten hat mich immerhin gar nichts.
>Na schön. Also wen bringst du heute um die Ecke? <
>Bis vor kurzem hat dich mein Job noch zutiefst schockiert. <
>Das kommt mir vor wie eine Ewigkeit. < nuschle ich und lehne mich an. >Also? Wer wird es sein? <
>Josh Scofieldt – ziemlich übler Kerl. Als kleines Kind war er viel mit seiner brasilianischen Mutter alleine und wurde von ihr nicht gerade gut behandelt. Sein Vater ist Amerikaner und war häufig auf Geschäftsreise. Irgendwann trennte er sich von seiner temperamentvollen Frau, weil er offenbar trotz Abwesenheit so manches bemerkt haben muss. Seinen Sohn nahm er zwar mit, aber ihm fiel auf, dass Josh irgendwann immer seltsamere Verhaltensmuster aufwies. Im Teenageralter entwickelte er sadistische Züge und inzwischen stellt er haufenweise grausame Dinge mit Frauen an, die einem ähnlichen Typ wie dem seiner Mutter entsprechen. Ein Insider hat mir verraten, wo er heute Abend sein wird. Er ist wieder heiß darauf, jemandem Gewalt anzutun und dazu sucht er sich gern Frauen in irgendwelchen Clubs aus. Das Problem ist, dass er relativ gut durch mindestens zwei Bodyguards geschützt sein wird. Er gehört zu diesen Rich Kids und sein Vater reicht ihm die Scheine rüber. Der ist nach wie vor geschäftlich viel unterwegs und kümmert sich nicht um die Angelegenheiten seines Sohnes. Offensichtlich bezahlt er seine Angestellten, dass sie weggucken, sobald Junior krumme Sachen abzieht – vorausgesetzt er weiß überhaupt etwas davon. <
>Wie alt ist er denn, wenn du „Rich Kid“ sagst? <
>Inzwischen fünfundzwanzig aber er lebt immer noch von Daddys Geld. Die Frauen die er sich aussucht sind immer zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Jahren – maximal vierundzwanzig. In diesen jungen Jahren war seine Mutter, als sie ziemlich gewalttätig ihm gegenüber war. Offensichtlich hat er das noch verdammt gut im Gedächtnis und er hat ziemlich genaue Vorstellungen von dem, was er will. <
Daraufhin dreht Sam den Laptop etwas zu mir und zeigt mir seine Fallakte. Er öffnet auch die Bilder der betroffenen Frauen. Allein auf einer Seite sind acht Porträtbilder nebeneinander von Frauen meines Alters abgebildet. Sie haben verschiedene Nationalitäten – das kann ich sehen. Aber sie haben alle eine Gemeinsamkeit. Der Hauttyp ist eher dunkel, sowie dunkle Haare und dunkle Augen.
>Ich habe noch keine Ahnung wie ich das anstellen soll. < nuschelt Sam und schaut gedankenverloren auf den Bildschirm. >Er wird heute Nacht voraussichtlich in diesen Club gehen. Draußen vor dem Eingang kann ich ihn nur schwer erwischen, da er von den Bodyguards geschützt sein wird und drinnen sind zu viele Menschen. Ich muss Scofieldt direkt im Club von ihnen abschotten und ihn irgendwo hinlocken, um ihn umzubringen. Oder vielleicht schaffe ich es doch noch irgendwie vorher, ihn von den Typen zu trennen, bevor er den Club betritt. Aber wie soll ich das anstellen, ohne dass die Kerle zu viel mitbekommen oder sie selbst dabei draufgehen? Ich ziehe für gewöhnlich niemanden mit hinein, der nicht auf meiner Liste steht. Das ist dieses Mal echt scheiße. <
Ich drehe den Laptop etwas weiter zu mir und sehe mir Scofieldts Gesicht an. Danach überfliege ich seine Akte. Er schnappt sich den dunklen Frauentyp, um sie zu schlagen, zu vergewaltigen und manchmal sogar umzubringen. Drei Frauen haben seine Taten überlebt und ihn angezeigt. Da er aber über die richtigen Mittel wie Geld und Einfluss verfügt, wurde alles mal wieder fallen gelassen. Die Frauen wurden für unzurechnungsfähig erklärt als sie sagten, dass sie zuletzt mit Scofieldt unterwegs waren. Danach konnten sie sich an nichts mehr erinnern, aber waren schlimm zugerichtet. Niemand glaubte ihnen oder wollte es einfach nicht glauben. Ich lese mir ihre Namen durch. Cláudia Rocha, Vivien Calvalho und Namula Azikiwe. Sie sind der gleiche „exotische“ Typ wie auch die anderen Frauen, die er auf dem Gewissen hat.
>Also geht es nur darum, ihn irgendwo hinzulocken, wo du mit ihm alleine bist? < frage ich.
>Exakt. Aber das wird nicht gerade leicht. Es ist nicht so, dass der Club dafür nicht auch seine Möglichkeiten hätte. Hier schau! < Sam minimiert die digitale Akte und öffnet eine Skizze, die noch nicht allzu viel Sinn für mich ergibt. >Das ist der Grundriss von dem Club. Seine übliche Vorgehensweise ist es, mit dem nächsten Opfer in einen dieser VIP-Räume zu gehen. Er hat genug Geld und kommt dort hinein, auch wenn alle gleichzeitig besetzt sein sollten. Dort spendiert er der auserwählten Frau einen Drink, der allerdings mit K.o.-Tropfen vollgepumpt ist. Entweder nimmt er sein bewusstloses Opfer mit sich und verschleppt sie über die Hintertür an eine abgelegene Stelle oder er nutzt direkt den VIP-Raum für seine Perversität. Wenn ich ihn nur irgendwie dort hinein bekäme, dann wäre das kein Problem, ihn umzubringen und über die Hintertür abzuhauen. Seine Bodyguards stehen immer brav vor der Vordertür. <
Ich sehe mir den Grundriss genauer an. Dort erkenne ich die einzelnen VIP-Räume, in die man sich zurückziehen kann. Ich dachte immer, dass dort wird heimlich gekokst wird aber offensichtlich geht es weitaus schlimmer zu. Jeder einzelne Raum hat nach hinten hin eine zweite Tür.
>Und das sind die Hinterausgänge? < frage ich und zeige darauf.
>Ja. Ich habe sie mir schon angesehen. Sobald man dort rauskommt, landet man nur in einer Gasse. Da ist an sich rein gar nichts, außer ein paar Müllcontainern, kaputten Flaschen und Erbrochenem. Von dort aus komme ich unauffällig zu meinem Auto zurück, aber das ist im Prinzip auch egal. So gut diese Option auch wäre, das bekomme ich nicht hin, also muss ich es irgendwie innerhalb des Clubs machen. Ich habe auch schon mehrfach mit Gift gearbeitet – vielleicht komme ich an seinen Drink ran. <
>Und wenn du mich mitnimmst? < wende ich ein.
>Was? < keucht er. >Wie kommst du denn auf die Idee? < Kommentarlos nehme ich seinen Laptop in die Hand, öffne das Fenster mit den Frauen, die auf Scofieldts Rechnung gehen und halte ihn genau neben mich. >Ist dir klar, dass du genau sein Beuteschema wärst? <
>Eben! Ich kann ihn von seinen Handlangern weglocken, wenn wir in diesem Raum sind. Dann hast du ihn da wo du ihn haben willst. <
Sam sagt nichts, sein Mund ist nur etwas heruntergeklappt und er starrt mich an.
>Du würdest mir dabei helfen einen Menschen umzubringen? < fragt er ungläubig.
>Wenn man es genau nimmt, dann bin ich nur die Falle. Ich fasse ihn ja nicht an. <
Er grinst schließlich, aber schüttelt den Kopf.
>Kleines, ich bewundere deinen Ehrgeiz, aber ich will nicht, dass du so etwas siehst und ich kann nicht für deine Sicherheit garantieren. <
>Das musst du auch gar nicht. Ich kann auf mich selbst aufpassen. <
>Auf gar keinen Fall spielst du für mich einen Lockvogel! <
>Wo genau ist der Unterschied, ob ich die Täter später an die Behörden ausliefere oder an dich? <
Daraufhin presst er seine Lippen aufeinander und sagt nichts mehr. Erwartungsvoll ziehe ich die Augenbrauen hoch und grinse ihn an. Na los, nimm mich mit!
>Du bist nicht ausgebildet und ich setze dich nicht so einer Gefahr aus. Er wird sich die Finger nach dir lecken und du hast eben seine Akte gelesen. <
„Du bist nicht ausgebildet“ – da hat er wohl recht. Mein Grinsen schwindet und mir ist klar, was er damit meint.
>Sam … glaube mir, ich habe wirklich alles versucht um eine Stufe aufzurücken. < erwidere ich leise und lasse den Kopf sinken. Dieser Kampf gestern war eine Tortur und für einen Moment lang dachte ich trotzdem, dass ich ihm heute von Nutzen sein könnte, aber der Boden der Tatsachen kann ziemlich hart sein.
>Was? Nein, das meinte ich damit überhaupt nicht. Aber du würdest allein mit diesem Typen in diesem Raum sein – zumindest eine kurze Weile. Glaubst du, du wirst mit ihm fertig, wenn er dich angreift? Ich kann dir vielleicht erst helfen, wenn er bereits Hand an dich angelegt hat. < zischt er.
>Die Tatsache, dass er K.o.-Tropfen in einer hohen Dosis benutzt, zeigt, dass er eigentlich unfähig ist, eine der Frauen durch eigene Kraft zu überwältigen. Er braucht das Zeug, weil er sie anders nicht in eine Lage bekommt, in der er die Macht über sie hat. Demnach darf ich nur einfach nichts von dem trinken, was er mir gibt. <
Sam sieht daraufhin ziemlich verblüfft aus, aber fängt sich schnell wieder.
>Interessante und clevere Denkweise Kleines. Aber ich bleibe dabei. Der Verlust deiner Familie ist zu frisch. Glaubst du ich will, dass du siehst, wie vor dir jemand stirbt und glaubst du ich will, dass du mich so siehst? Was ist, wenn du danach wieder schreiend vor mir wegläufst? <
>Was ist wenn nicht? <
Erneut schüttelt Sam seinen Kopf vehement, nimmt den Laptop aus meinen Händen und sagt:
>Auf keinen Fall. Du bleibst hier. <
Ich hatte ernsthaft für eine Sekunde gehofft, er würde diese gute Möglichkeit in Betracht ziehen. Nur leider hält er mich für unfähig mit diesem Kerl alleine klarzukommen. Wie soll ich es ihm auch verdenken? Vielleicht wäre es anders, wenn er gestern gesehen hätte wie ich gewinne, statt zu verlieren. Ich stehe geknickt auf und verlasse sein Zimmer. Vielleicht ist es ja sogar besser so und ich sollte lieber warten. Immerhin hänge ich an meinem Leben – auch wenn nicht mehr viel davon übrig ist.
In meinem Zimmer schnappe ich mir einen Block und lese ein bisschen meine Aufzeichnungen durch. Mehrfach bleibe ich an den gleichen Passagen hängen, die wir in Kriminalistik hatten. Es ist der Teil, ab wann ein normaler Mensch zum Täter wird – die äußeren Einflüsse versus die Gene. Der Fall den Sam heute Abend hat, der lässt mich irgendwie nicht los. Dieser Josh Scofieldt rächt sich in gewisser Weise an seiner Mutter, indem er Frauen misshandelt, die ein ähnlicher Typ sind, wie sie. Wäre sie eine bessere Mutter gewesen, könnte er dann ein vollkommen normaler Mensch sein? Ich lese mir auch die folgenden Seiten durch, obwohl ich sie auswendig kenne. Nach wie vor finde ich diese Thematik trotzdem ziemlich spannend.
Sobald ich die nächste Seite aufschlage, klopft Sam an die angelehnte Tür an und kommt hinein. Ich sehe zu ihm auf und lasse meinen Block sinken.
>Du wolltest doch vorhin in meine Halle. Na los, komm mit! <
>Und ich dachte, du wolltest, dass ich es an diesem Wochenende bleiben lasse. <
>Willst du, dass ich es mir anders überlege? < fragt er grinsend. Daraufhin werfe ich den Block auf mein Bett und springe auf. Er feixt bei meinem Aufbruch und läuft bereits vor. Vielleicht lässt er mich an seinen Boxsack oder ich finde schon irgendwas anderes mit dem ich mich beschäftigen kann. Er wird sicherlich noch eine Weile über seinem Laptop verbringen und überlegen, wie er sein heutiges Problem am besten bewerkstelligt. Sam ist schon durch die Tür, als ich ihm hinterherlaufe.
>Weshalb konnte den drei Mädels eigentlich nicht geholfen werden? Wenn sie Substanzen im Körper hatten, dann muss man das doch nachweisen können, oder? < frage ich ihn auf dem Weg zu seiner Halle.
>K.o.-Tropfen sind ein mieses Zeug. Sie sind nach 6 bis 12 Stunden nach dem Verabreichen nicht mehr nachweisbar. Es dauert eine Weile bis man wieder zu sich kommt und das eigentliche Problem ist, dass man sich an nichts mehr erinnern kann. Bis die Opfer also auf die Idee kommen, dass ihnen etwas angetan wurde, findet man den Stoff weder im Urin noch im Blut. Die Tropfen haben an Beliebtheit zugenommen, insbesondere in Clubs. Sie sind so schnell in einem Getränk gelandet, dass man es nicht mal mitbekommt und sie schmecken nach nichts. <
>Ivan aus meiner Schule hat mir einen Drink ausgegeben und ziemlich akribisch darauf geachtet, dass mir nichts in meinem Glas landete. Das Zeug scheint schon eine gewisse Bekanntheit zu genießen. <
>Höhere Stufe? < fragt Sam kurz angebunden, als er das Schloss öffnet.
>Hmm … < summe ich und kann dieses „höhere Stufe“ und „niedrige Stufe“ nicht mehr ertragen. Es degradiert einen irgendwie.
Wir betreten gemeinsam die Halle, in der es fast so warm wie draußen ist. Ich sehe mich um und überlege, was ich anstellen könnte. Das letzte Mal hatte ich sogar Bandagen für die Hände gefunden.
>Komm her Kleines! Wollen wir mal sehen, was Lukaz bei dir herausgekitzelt hat. <
Als er das sagt, drehe ich mich stirnrunzelnd zu ihm um.
Sam hält etwas in seiner Faust, das ich erst nicht sehen kann. Aber dann hebt er provokativ den Arm und lässt aus seiner Hand ein Stück Stoff herunterbaumeln.
>Hast du vor mich zu fesseln? < frage ich grinsend.
>Nicht heute. < lacht er auf. >Na los dreh dich um. Ich will wissen was du kannst. <
>Ich soll mit dir trainieren? Hast du keine Lust mehr auf deine Fallakten? <
>Nein, ich brauche mal den Kopf frei. Meistens kommen danach die guten Ideen. <
Das Phänomen kenne ich auch. Sam ist allerdings ein Gegner für mich, gegen den ich sowieso keine Chance habe. Lukaz ist für mich schon der Endgegner, aber dann auch noch Sam?
Trotzdem drehe ich mich achselzuckend von ihm weg und er kommt zu mir gelaufen. Vor meinem Gesicht senkt sich ein Schatten und bedeckt schließlich vollständig meine Augen. Das kenne ich schon und es ist nicht gänzlich dunkel. Allerdings ist der Stoff an den Wimpern unangenehm und ich schließe meine Augen einfach. Das letzte Mal sorgte es für eine bessere Konzentration. Die brauche ich im Moment so sehr wie selten, denn ich will vor Sam nicht panisch werden. Cataley hat mir gestern zugesetzt, wegen dieses „Spiels“ und das einfach nur, weil es dunkel war und ich angegriffen wurde. Das darf sich nicht vor Sam wiederholen. Ich spüre den Druck an meinem Hinterkopf, als er die Enden verknotet.
>Weißt du was du tun musst? < fragt er leise. Ich nicke und versuche mir den Schauer nicht anmerken zu lassen, weil er die Frage so dicht gegen mein Ohr gehaucht hat. Normal weiteratmen sage ich mir wieder selbst und rufe mir ins Gedächtnis, dass hier drin nur Sam und ich sind. Mein Kopf dreht sich etwas zu ihm ein, denn ich glaube er geht um mich herum. Was mir allerdings sofort auffällt ist, dass er sich sogar noch leiser bewegt als Lukaz. In dieser Halle ist der Boden aus Sand, statt aus Beton und dadurch höre ich seine Schuhe nicht schleifen. Lediglich das kaum wahrnehmbare Verdrängen der Sandkörnchen ist zu erahnen. Ich warte ab und versuche ihn nicht nur zu hören, sondern seine Bewegungen um mich herum zu spüren. Das muss jetzt funktionieren und ich darf mich nicht in die Knie zwingen lassen.
Ein paar Sekunden später greift er an und ich habe es gewusst. Demnach konnte ich ihn abwehren, mich aus dem Weg ducken und ihn dorthin laufen lassen, wo ich schon längst nicht mehr stand. Er lässt mir allerdings weitaus weniger Zeit als Lukaz. Bei ihm war es so, als würde er mir immer noch einen Moment geben, um meine Sinne zu schärfen. Innerhalb von fünf Minuten bringt mich Sam ganz schön ins Schwitzen. Mir fällt sofort auf, dass er vor zwei Wochen bei unserem ersten Training zurückhaltender und netter zu mir war.
Einmal haut er mich nach hinten um, aber ich falle zumindest in den weichen Sand hinein. Es war meine eigene Schuld, weil ich mich nicht schnell genug aus seinem Griff herausgedreht habe, obwohl ich wusste, wo er war. Meine Ohren funktionieren nach etwas Eingewöhnung recht gut und ich bin nicht so hilflos wie in meiner ersten Stunde. Er greift von vorn an und ich reiße mein gesamtes Repertoire ab, um ihn loszuwerden. Als ich ihn zum wiederholten Male von mir weg habe und immerhin noch stehe, höre ich ihn leise lachen. Bin ich so lächerlich? Immerhin war das hier nicht direkt ein Kampf. Er war nicht darauf aus, mich zu verletzen, so wie es Cataley gestern in unserem persönlichen Zweikampf tat.
>Mach die Augenbinde ab! < bestimmt er. Mich ärgern einige Dinge, die ich hätte besser machen können, aber davon abgesehen, steckt nicht mehr in meinen bisherigen Fähigkeiten. Das ist alles, was ich bei Sam geben kann und im Gegensatz zu seiner Leistung, muss das schäbig aussehen.
Ich ziehe mir den zusammengeknoteten Stoff nach oben über den Kopf und drehe mich zu ihm um. Er lächelt immer noch. >Wer hätte gedacht, dass du so souverän mit der Dunkelheit umgehen kannst? <
Dabei runzle ich die Stirn. So souverän? Macht er sich jetzt wirklich über mich lustig? Mein Puls rast, als wäre ich einen Marathon gerannt.
>Im Vergleich zum ersten Mal geht es. < erwidere ich wahrheitsgetreu.
>Glaube ich gern. Und ich würde auch gern glauben, dass du dich gegen einen Angriff zur Wehr setzen kannst, wenn es jemand auf dich abgesehen hat. <
Irritiert sehe ich weiterhin zu ihm. Das tut irgendwie weh, wenn er das so sagt. Ich würde es auch gern glauben. Als ich nichts erwidere, kommt er näher, legt seinen Zeigefinger unter mein Kinn und hebt meinen Kopf dadurch an.
>Ich frage dich ganz direkt Kleines. Traust du dir das wirklich zu, dich mit einem üblen Kerl anzulegen? <
>Für diese Frage ist es zu spät, oder? < grinse ich etwas verlegen. >Immerhin bin ich mittendrin in der Ausbildung und irgendwann kommt das erste Mal, wo ich nicht drüber nachdenken darf, ob ich es mir zutraue. <
>In Ordnung. < sagt er leise und zückt ein anderes Telefon. Er stellt es an und gibt einen Pin ein.
>Was hast du vor? < frage ich verdutzt.
>Ich rufe Sophia an. Mit Jeans und Turnschuhen bekomme ich dich nicht in den Club rein. <
>Moment … was? < keuche ich, aber da wählt er auch schon und legt das Telefon an sein Ohr.
>Hey Sophia. Ich brauche deine Hilfe. Hast du ein Partykleid für Nayeli? Wir haben heute Abend etwas vor. < Er hat seine Meinung geändert? Das ist doch kein Scherz, oder? Er hat mich das ein oder andere Mal auf den Boden befördert und er hat womöglich keinen Kratzer von mir abbekommen. >Völlig egal, aber irgendetwas Einfaches, Schlichtes. Ich will nicht, dass das Kleid heraussticht, sondern sie. < er macht eine Pause und hört ihr zu. Gespannt sehe ich zu ihm, da ich irgendwie denke, dass er gleich „reingelegt“ sagt. >Okay danke, ich warte noch auf die genaue Zeit, aber ich schätze spätestens um Mitternacht müssen wir von hier weg. Dann bis später. <
Er legt auf und blickt in mein erstauntes Gesicht.
>Ist das dein Ernst? Du warst so vehement dagegen. <
>Ich bin immer noch dagegen, aber deine Einwände sind berechtigt. Scofieldt benutzt K.o.-Tropfen, weil er die Frauen wohl anders nicht überwältigen könnte und ich komme alleine einfach zu schwer an ihn heran. In der Nähe sind keine hohen Gebäude, sonst hätte ich mit einem Scharfschützengewehr auf ihn gewartet, aber nicht mal das funktioniert. Ich könnte dich daher wirklich gut gebrauchen, aber sobald etwas schiefgeht, brechen wir das sofort ab. Wir pauken den Plan gemeinsam bis ins kleinste Detail durch und du lernst den kompletten Grundriss des Gebäudes auswendig. Du tust genau was ich dir sage, kapiert? <
>Etwas anderes habe ich nicht von dir erwartet. < erwidere ich und kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. >Danke. <
Etwas widerwillig ergänzt er:
>Dir sollte klar sein, dass ich das nicht täte, wenn ich dich für unfähig halten würde – du hast ein gutes Gespür entwickelt, das hast du gerade gezeigt. Aber leider weiß ich nicht, wie du in einer solchen Situation tickst. Hoffentlich übermannt dich deine Panik nicht. Wenn dir währenddessen etwas zu viel wird, dann verzieh dich sofort. Kein Auftrag ist es wert, dass du verletzt wirst oder schlimmeres. Ich werde ihn mir, wenn nötig, ein anderes Mal holen. <
>Sam, ich bekomme das hin. < erkläre ich ihm selbstsicher. Ich will das machen – unbedingt.
>Na schön. Dann geh jetzt duschen und danach besprechen wir die Einzelheiten für deine Feuerprobe. <